Praxis

Religionstopographie: Gott. Historisch-kritisch-küchenpsychologische Überlegungen

Eine theologische Lieblingsfrage lautet: „Wer ist Gott?“ Aber sie führt rasant schnell ins Spekulativ-Ungefähre. Im folgenden geht es um eine Frage, die ortsfester ist: Wo ist Gott? Sie hat zwei Vorteile: Ziemlich präzise zu benennen, wo sich das Christentum von beträchtlichen Teilen der allgemeinen Religionsgeschichte wegbewegt hat, das funktioniert historisch-kritisch. Und sie führt von der Theologie in die Anthropologie und damit in die Psychologie. Für den ersten Vorteil fühle ich mich leidlich kompetent, hinsichtlich des zweiten bitte ich, mich als fröhlichen Dilettanten hinzunehmen.

Jesus und Paulus

Die topographische Frage nach Gott führt in der Antike in den Tempel, wo ein Gott oder eine Göttin wohnte, im Jerusalemer Tempel etwa Jahwe, oder an den Altar im privaten Haus, wo man in Rom die Laren als Schutzgeister verehrte. Gottheiten hatten jedenfalls Wohnorte und waren besuchbar. Im Zentrum stand ein Ritual des Gebens und Nehmens, das Opfer. Im Tempel konnte das heißen, Opfertiere verbrennen, und das geschah, in Jerusalem wie in Rom, vor dem Tempel unter freiem Himmel. In das Tempelinnere, das Wohnzimmer der Gottheit, hatten nur Priester und manchmal Priesterinnen Zutritt, die Gemeinde musste vor den Toren bleiben. Das Zentrum des Tempels war ein fanum, eine sakrale Rauminsel; die Verehrer und Verehrerinnen der Gottheit aus dem gemeinen Volk aber blieben aufgrund ihrer Unreinheit im profanum. Das „Allerheiligste“ des Jerusalemer Tempels hat es als Tabernakel in den katholischen Kirchen in die Gegenwart geschafft und ist ein Dokument der symbiotischen Verschwisterung von Katholizismus und allgemeiner Religionsgeschichte.

Gottheiten hatten Wohnorte und waren besuchbar.

Für Jesus und Paulus war all das ganz selbstverständlich, und doch versteht man die beiden nur, wenn man realisiert, dass ihre Theologie das Sakralitätskonzept der Tempeltheologie unterminiert hat. In welchem Ausmaß sie dies willentlich und wissentlich taten, lasse ich einmal außen vor. Jesus hat den Tempel jedenfalls nicht abgelehnt, die Geschichte der Tempelreinigung (Joh 2) dürfte seine Überzeugung zeigen, dass der Tempel zu reformieren, nicht aber abzuschaffen sei. Gleichwohl: Die Tempelkritik Jesu zieht sich durch seine Jerusalemer Konfliktgeschichte. Wenn man etwa das Markusevangelium genau liest, stößt man auf die arme Witwe, die nicht versteht, dass der Tempel und die Tempelbank Teil der Ökonomie sind (Mk 12,41-44), auf die man sich besser nicht verlässt (Mk 13,1-4) – und lieber in das Reich Gottes investiert. Diese Kritik traf den Tempel als religionspolitisches Machtzentrum und war wohl einer der Gründe, der Jesus in Konflikt mit dem jüdischen Establishment brachte und schließlich zu seiner Tötung führte.

Wirklich auffällig aber ist etwas anderes. Immer wieder wird von einem persönlichen Gebet berichtet, in dem sich Jesus unmittelbar an Gott als seinen Vater wendet, in einer fast intimen Ansprache, mit der Anrede „abba“. Dieses Gebet funktioniert ohne Tempel, ohne Opfer, ohne sakralen Raum. Das Johannesevangelium, dieser Text für eine exklusive Gemeinschaft, macht daraus das Gebet „im Geist“ und schleift die Unterscheidung von Gott und Mensch in Jesus: „Ich und der Vater, eins sind wir“, sagt der johanneische Gottmensch Jesus (Joh 10,30) – um damit Unverständnis und den Häresieverdacht von Überheblichkeit und Gotteslästerung zu produzieren. „(Herbei)trugen wieder Steine die Judaier, damit sie ihn steinigten“, heißt es unmittelbar anschließend. Diesen Komplex, dessen Achse der Geist (lateinisch: spiritus) ist, kann man im Wissenschaftsdeutsch Spiritualismus nennen. Bei Spiritualisten wohnt Gott nicht mehr im Tempel, sondern im Menschen.

Das Gebet Jesu funktioniert ohne Tempel, ohne Opfer, ohne sakralen Raum.

Rund zwanzig Jahre nach dem Tod Jesu radikalisiert Paulus den Spiritualismus. Dieser Jude und Pharisäer aus Kleinasien, hellenistisch geprägt und ein Wanderprediger wie Jesus auch, beansprucht, eine Erfahrung gemacht zu haben, durch die sein Leben in ein Vorher und ein Nachher zerfalle. Der Gekreuzigte sei ihm als Auferstandener begegnet, und als ob dies nicht schon bizarr genug klinge, behauptet er, „in Zungen“ geredet zu haben, und setzt noch eins drauf: Er sei in den dritten Himmel, „ad tertium caelum“, entrückt worden (2 Kor 12,2). Damit wird dieser Coelonaut überraschenderweise nicht zum Prototyp des Wahnsinnigen (was er in der Antike ohnehin nicht war), sondern zum zentralen Theologen des Neuen Testaments. Albert Schweitzer verehrte ihn als „den Schutzheiligen des Denkens im Christentum“, aber in Wahrheit war Paulus ein Ver-rückter, der, wie er sich selbst in dieser Korintherstelle gestand, nicht so recht denken konnte, was und wie da etwas mit ihm passiert war, als er in den Himmel hingerissen worden sei.

Vor diesem Hintergrund spiritualisiert es in seinen Gemeinden munter vor sich hin. Viele, namentlich Frauen, reden „in Zungen“ und gehen davon aus, dass sich in ihren schwer artikulierten Lauten der Geist selber manifestiere; viele, wieder vor allen Dingen Frauen, fühlen sich als Medien der göttlichen Offenbarung. Paulus lässt all das zu, rät Frauen allenfalls – jedenfalls wenn und nur wenn sie Offenbarungen haben – das Zeichen der Vollmacht (griechisch: exousia, 1 Kor 11,10) auf dem Kopf zu tragen. Damit ist möglicherweise wie verbreitet in der römischen Welt ein Schleier (was aber an dieser Stelle explizit nicht steht) als Auszeichnung gemeint. Damit legt Paulus die Axt an die theologische Legitimation des Tempels, denn für ihn ist die Gemeinde der Tempel, und das Allerheiligste sei in ihrer Mitte, weil in jedem und jeder von ihnen Gottes Geist (griechisch: pneuma) wohne. Dieses Tempelkonzept hat natürlich auch ganz praktische Gründe, weil seine Gemeinden irgendwo im östlichen Mittelmeerraum waren und der Jerusalemer Tempel für sie weit weg. Doch hätte sich dieses Problem auch anders lösen lassen, als Synagogengemeinde etwa, die zu Schriftlesung und Gebet zusammenkommt. Aber Paulus war eben Spiritualist.

Paulus, dieser Coelonaut, wird überraschenderweise nicht zum Prototyp des Wahnsinnigen, sondern zum zentralen Theologen des Neuen Testaments.

Zwischenfazit: Zwei der zentralen Gründerväter des Christentums, Jesus und Paulus, verlagerten den Ort der Kommunikation mit Gott (auch) ins Innere des Menschen. Der Bau von Tempeln, Kirchen und Basiliken stand nicht auf ihrer Agenda. Sie waren zwar keine Tempelstürmer, aber haben dessen Grundlagen bis zur Einsturzwahrscheinlichkeit untergraben. Ob sie wussten, welche Konsequenzen das in der Sozialgestalt einer Religionsgemeinschaft haben könnte, ob sie also wussten, was sie taten, weiß ich, wie gesagt, nicht.

Kirchengeschichte

Wenn das stimmt, wenn also Jesus und Paulus ihre Theologie spiritualistisch begründet haben, wird die Frage spannend: Warum gibt es im Christentum immer noch Kirchen, Kathedralen und Kapellen? Und wo sind die Spiritualisten geblieben? Man könnte nun eine lange Historie des Spiritualismus schreiben. Mitte des zweiten Jahrhunderts etwa trifft man auf den „Montanismus“, in dem Frauen sich als Prophetinnen des Heiligen Geistes verstehen, das Weltende erwarten und strengste Askese fordern. Tausend Jahre später gründet Franziskus seinen Orden, nachdem er glaubt, Christus habe ihn vom Kreuz von San Damiano unmittelbar angesprochen, während ungefähr zur gleichen Zeit der Zisterzienser-Abt Joachim von Fiore nach einer göttlichen Mitteilung das Zeitalter des Heiligen Geistes ankündigt. Im 17. Jahrhundert entsteht im evangelischen Christentum der Pietismus, wo idealerweise die „Wiedergeburt“ im Geist den wahren Christen ausmache; noch der amerikanische Präsident George Bush jun. verstand sich als „reborn Christian“. Heute ist die charismatische Bewegung, die die Unmittelbarkeit der Geisterfahrung verspricht, einer der schnellstwachsenden Zweige des Christentums. All diese sehr unterschiedlichen Gruppen und Bewegungen verbindet eine zentrale Überzeugung: Im Zentrum des Christentums steht der Geist, die innere Erfahrung, kein Gebäude, keine Institution.

Nun ließen sich noch Hunderte und Tausende von Offenbarungsempfängern, Visionären, Geistbegabten und Enthusiasten dokumentieren. Ihre Gesamtgeschichte ist noch ungeschrieben und schwer zu schreiben, denn neben denjenigen, die damit Reklame machten, stehen Menschen wie Blaise Pascal, die ihre Erfahrungen nur geheimen Aufzeichnungen anvertrauten. Aber insgesamt gilt, wenn man ehrlich ist: Die Spiritualisten landeten meist am Rande der Kirchen, als „Schwärmer“ in der protestantischen Tradition marginalisiert, unter dem Verdacht des „Subjektivismus“ in der katholischen Tradition misstrauisch beäugt. Wenn man mit dieser institutionellen Logik auf Jesus und Paulus zurückschaut, kann man der Feststellung kaum ausweichen: Die Kirchen haben die Spiritualisten verraten. Die großen Kirchen sind Institutionen mit Dogmen und Regeln und Prüfungen, und mit religiösen Profis, Priestern und Priesterinnen, Pfarrern und Pfarrerinnen, aber keine freie Ebene des wo auch immer wehenden Geistes.

Die Kirchen haben die Spiritualisten verraten. Man kann diesen Verrat, das Bestehen auf Prüfung und Konsens, verstehen.

Aber diese Niederlage des Geistes hat Gründe. Zum einen: Mit einer Kirche, die nur aus freien Geistern besteht, in der jede und jeder mit dem Anspruch, unmittelbaren Zugang zu Gott zu haben, die eigene Position legitimiert, kann man keine Sozialstruktur aufbauen. Wenn man auf die Feststellung, „der Herr hat mir gesagt“, bescheiden antwortet, „aber der Herr hat mir gesagt“, ist jede Kommunikation, jede Debatte, jede Konsensfindung am Ende. Der Spiritualismus hat organisationslogisch eine dramatisch asoziale Potenz und zieht Selbstdarsteller.innen jedweder Couleur an. Die Entscheidung zwischen mitbeten oder therapieren ist deshalb keine Scheinfrage. Sodann: Die Geistbegabten haben nicht nur nette Dinge verkündet, sondern auch schon einmal das Fasten bis zum Tod, das Ideal des Martyriums oder die Ausgrenzung derjenigen, die gerade nicht ihrer Meinung waren. Will sagen: Die dramatisch asoziale Potenz macht auch vor Inhalten nicht halt. Man kann also diesen Verrat, freundlicher gesagt, das Bestehen auf Prüfung und Konsens, verstehen.

Leben mit den Freigeistern

Nun sollte man bitteschön nicht meinen, man bekäme außergewöhnliche Menschen auf gewöhnlichen Lebenswegen. Was tun? Ich empfehle, Experimentaltheologie mit einem psychologischen Assessment-Center zu verbinden. Anleihen kann man bei zwei spiritualitätserfahrenen Lehrern des Christentums machen, der eine ist – wie vielleicht kaum anders zu erwarten – Paulus. Er war in Sachen Spiritualität eine Art amerikanischer Pragmatist avant la lettre: Prüft, was gut ist und nehmt, was nützt. Wenn Offenbarungen, Himmelsreisen und Zungenreden der Gemeinde nützen, o. k., ansonsten: lasst es. Und seid vorsichtig mit der Überzeugung, immer schon zu wissen, wo die Grenze zwischen Geist und Ungeist, wahr und falsch liegt.

Der matthäische Jesus war tendenziell dieser Meinung des Paulus. Solltet ihr, so erzählt er in einem Gleichnis (Mt 13,24-30), auf dem Acker den Taumel-Lolch entdecken, der dem dort angebauten Weizen zum Verwechseln ähnlich sieht und der oft von einem Parasiten, dem Pilz Neotyphodium coenophialum, befallen ist, der Menschen taumeln und sie wirre Dinge sehen lässt, dann könnt ihr vor der Ernte nicht wissen, wo wahr und falsch ist, wo Weizen und wo Unkraut wächst. Also lasst – erstmal – wachsen.

Brauchen wir eine Kirche der Spiritualisten? Wie immer, ja und nein.

Der zweite Lehrer mehr als tausend Jahre später ist Ignatius von Loyola (1491-1556), der Gründer des Jesuitenordens. In seinen Geistlichen Übungen reflektiert er religiöse Erfahrung vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Verstärkung der Rolle des Subjektes. Die Unterscheidung der Geister, die „discretio spirituum“, spielt, wenn man dem einzelnen eine religiöse Erfahrung zubilligt und Jesuiten nachgerade auf einen Weg schickt, spirituelle Erfahrungen zu machen, eine entscheidende Rolle, soll eine Gemeinschaft unter all den subjektiven Wahrheitsansprüchen nicht explodieren. Seine Antwort ist ähnlich pragmatisch wie die des Paulus: Erscheint der spirituelle Weg, wenn ich ihn beginne, gut? Ist das in der Mitte weiterhin der Fall? Und sind die Ergebnisse auch gut? Wenn man dreimal ja sagt, besitze man eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass das etwas mit dem Heiligen Geist zu tun habe.

Fazit: Brauchen wir jetzt eine Kirche der Spiritualisten? Wie immer, ja und nein, sic et non. Ja, weil der Spiritualismus das Antidot gegen dogmatische Übersicherheit und institutionelle Arroganz ist. Spiritualisten sind überlebensnotwendig. Nein, wir brauchen sie nicht, jedenfalls nicht als einzige Legitimationsgrundlage von Religion, der gerade genannten Absturzkanten wegen. Denn letztlich man weiß nie, ob das, was der Geistbegabte für Gott hält, nicht doch ein ganz irdisches Selbst ist.

Der sakrale Raum ist ein Angebot, Stress aus der religiösen Biographie herauszunehmen.

All das sind Gründe, warum es weiterhin Tempel, Kirchen und Gebetssäle gibt, warum sakrale Räume nicht totzukriegen sind. Dahinter steht eine Weisheit religiöser Praxis, die aus der nicht-christlichen Religionsgeschichte kommt, der Raum. Nicht jeder Mensch hat eine raumfreie spirituelle Offenbarung. Und wenn doch, kann sie psychisch schnell belastend werden – und auch das Gegenteil ist nicht lustig, wenn man fürchtet, der Geist habe einen jetzt verlassen. Hier schlägt die Stunde des sakralen Raumes: Er bietet einen Rahmen für religiöse Praxis auch dann, wenn man nicht auf der Pneuma-Wolke Nr. 7 lebt und nicht immer das Gefühl hat, begeistigt zu sein. Der sakrale Raum bietet an, dem Druck der Orthodoxie durch die Orthopraxie ein Schnippchen zu schlagen. Und sobald dies in Gemeinschaft, im Ritual passiert, muss man selbst nicht einmal mehr der zentrale Akteur sein und kann sich bedienen lassen. Der sakrale Raum ist sozusagen ein Angebot, Stress aus der religiösen Biographie herauszunehmen.

Wo also wohnt Gott? Die großkirchliche Antwort lautet, auch wenn Jesus und Paulus dezidiert auf das Innere verweisen: hier und dort, innen und außen. Es komme darauf an, wer man sei und was man brauche. Auf jeden Fall, mit Paulus und Ignatius: Es müsse sich gut anfühlen und nützen. Manchmal hat man den Eindruck, die beiden seien Rheinländer avant la lettre gewesen.

Praxis

Der kosmo-, sozio- und noomorphe Zugang zur Transzendenz und die Formenkreise religiöser Entwicklung

Religionssoziologie und Fundamentaltheologie beschreiben seit längerem eine Krise des traditionellen Monotheismus der jüdisch-christlichen und europäisch-philosophischen Tradition. Klassisch trennscharfe Unterscheidungen wie Theismus, Deismus und Pantheismus verlieren ihre analytische Kraft, weshalb neue Zugangswege aufgewiesen werden müssen. Darum schlägt der Fundamentaltheologe und Religionsphilosoph Bernhard Nitsche aus Münster eine neue Differenzierung vor, den Menschen als Person in seinem Welt- (ES), Sozial- (DU) und Selbstbezug (ICH) wahrzunehmen. Damit geht die Idee einher, dass sich mit diesen Grundbezügen auch Bezüge des Menschen zu einem transzendenten Anderen verbinden lassen. So ergeben sich nach Nitsche drei fundamentale Zugangsweisen:1

1 Die drei Zugangsweisen zur Transzendenz

Die erste lautet kosmomorpher Zugang. Die Immanenz trägt in sich selbst Verweise auf die Transzendenz. Gott oder das Göttliche (GoG) wird hier beispielsweise als Energie, die allem innewohnt, bezeichnet. Über GoG wird damit in weithin naturalen und unpersönlichen Metaphern von Atem, Quelle, Licht, Energie und ewigem Gesetz gesprochen, transpersonal wird GoG als höchstes ES (erste Ursache, erster Beweggrund aller Bewegung) gedacht.

Die zweite Zugangsweise zur Transzendenz sieht Nitsche im soziomorphen Zugang. Hier wird GoG als höchstes DU oder höchster ER angerufen oder als eine persönliche und beziehungsbestimmende (menschenähnliche) Handlungsmacht gekennzeichnet. Persönliche Glaubenserfahrungen mit dem persönlichen DU gehören zur soziomorphen Dimension, die für die jüdisch-christliche Tradition typisch ist. DU und ER werden in Rollen beschrieben wie Schöpfer, Erlöser, Befreier und Retter.

Die dritte Zugangsweise bezeichnet Nitsche als noomorphen Zugang. Hier wird GoG in seiner transzendentalen Bedeutung als Grund und Voraussetzung menschlicher Subjektivität thematisiert. Gott liegt und geht also allen konkreten Bewusstseins-Aktivitäten und jedem reflexiven Selbst-Bewusstsein voraus. In dieser transzendentallogischen Rückbindung wird GoG als letzte Unbedingtheit, als höchstes unpersönliches Bewusstsein oder als höchste Ich-Subjektivität vorpersonal gedacht. GoG erscheint hier einerseits als anonym, als nicht subjekt- und ichhaft, andererseits aber doch als höchste, souveräne und freie göttliche Subjektivität.

Die drei Zugänge zur Transzendenz stellen theoretisch selbstständige Dimensionen dar, die sich in der Kreuzung mit den Bezugsqualitäten der religiösen Formenkreise empirisch nachweisen lassen. Zudem lässt sich empirisch darlegen, dass unterschiedliche Gottesbilder (Referenzobjekte) und Bezugssqualitäten in den Formenkreisen auftreten.

2 Die drei Formenkreise religiöser Entwicklung

Ein religiöser Formenkreis ist ein religiöses Persönlichkeitskonstrukt mit seinen unterschiedlichen Denk- und Deutungsmustern. Das persönliche Konstrukt sitzt in der kognitiven Struktur der Persönlichkeit und steuert als Formenkreis das religiöse Erleben, Denken und Handeln. In Anlehnung an George A. Kelly blickt der Mensch „auf seine Welt durch transparente Muster oder Schablonen, welche er entwirft und dann an die realen Gegebenheiten, aus denen die Welt besteht, anzupassen sucht. Nicht immer gelingt diese Anpassung. Ohne solche Muster scheint die Welt aber ein so undifferenziertes Ganzes zu sein, daß der Mensch keinen Sinn in ihr sehen kann. Auch eine schlechte Anpassung ist hilfreicher als gar keine. Wir wollen diesen Mustern, deren Größen ausprobiert werden, den Namen Konstrukte geben. Es sind Mittel, die Welt zu konstruieren. Sie ermöglichen es dem Menschen und auch den niederen Tieren, die Richtung ihres Verhaltens festzulegen“.2 Jedes Konstruktsystem hat seinen eigenen begrenzten Gültigkeitsbereich.3

Insgesamt ergeben sich drei verschiedene religiöse Persönlichkeitstypen, die unterschiedliche religiöse Muster von Gottesbeziehungen entwickeln:4

  • Der heteronom-reziproke Persönlichkeitstyp sieht seinen Glauben als ein fertiges Produkt an und orientiert sich daran, dass er seinem vorgegebenen (Kinder-) Glauben zu folgen hat. Insofern gestaltet er seinen Glauben nicht eigenständig, sondern übernimmt ihn unreflektiert, wie er ihn gelernt hat. Sein Glaube wird durch die Autorität Gottes von außen her fremdbestimmt und nicht aus innerem Antrieb angeregt; er ist somit extrinsisch motiviert. In der Gottesbeziehung ist der Gläubige Gott hörig (Heteronomie) oder er verhandelt mit ihm. Diese Reziprozität lässt sich beschreiben als ein Tun-Ergehen-Zusammenhang oder als eine Wenn-Dann-Beziehung. Diese Beziehung zwischen Mensch und Gott gestaltet sich asymmetrisch. Deren religiöse Denkmuster fasse ich im sogenannten heteronom-reziproken Formenkreis zusammen.
  • Der autonom-narzisstische Persönlichkeitstyp betont seine Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und Eigenaktivität in seinem Glaubensleben und Gottesbezug. Dieser Persönlichkeitstyp lässt sich von der Vorstellung leiten, dass Gott und er (Mensch) jeweils für sich autonom und voneinander unabhängig sind. „Nee, manche glauben nicht an Gott und darum … lassen sie auch Gott nicht rein. … Ja, und manche … denken an Gott, aber sie sind zu böse. … Und Gott … darf rein, aber Gott geht nicht rein, weil sie böse sind.“5 So gestaltet die religiöse Person ihr gläubiges Leben eigenverantwortlich und vorwiegend aus einem inneren Antrieb und Interesse, also intrinsisch. Der Glaube dient ihr zur narzisstischen Bestätigung ihres persönlichen Lebens: „Ich glaube, dass Gott mich auch so sieht. … Na, fröhlich, lustig. … Wo ich fröhlich bin, spielt vielleicht Gott mit mir, weil ich Spaß haben will.“6 In diesem Bereich kann auch ein Atheismus formuliert werden. Diese vielfältigen Denkmuster lassen ich im sogenannten autonom-narzisstischen Formenkreis zusammenfassen.
  • Der homonom-apriorische Persönlichkeitstyps pflegt eine gleichwertige und gleichberechtigte Beziehung mit Gott, der ihn als Bedingung der Möglichkeit, als Ermöglichungsgrund oder apriorische Voraussetzung von menschlichem Sein, Entscheiden und Handeln unbedingt annimmt und so gänzlich umfängt. Der Glaubende erfährt Gott beispielsweise als absolute Freiheit, die endliche Freiheit ermöglicht und sinnhaft verbürgt. Der Gottesbezug gleicht einer Beziehung auf Augenhöhe, in der Freiheit positiv besetzt und gegenseitige Selbstständigkeit (Autonomie) akzeptiert wird. Zudem versteht dieser religiöse Typ Gott als Motiv seines Glaubens und Handelns. Seine Glaubensgestalt hat eher den Menschen und die Welt zum Ziel als Gott selbst (Beispiel: Gott motiviert mich dazu, die Welt zu verändern, aber nicht, ihn gut und wohlwollend zu stimmen). Sein Glaube gründet in Gott, den er durch individuelle Interpretation wahrnimmt. Für ihn ist der Gottesgedanke im Menschsein verankert und dadurch fassbar, beispielsweise in der Geschöpflichkeit des Menschen und der Welt. Für den 18-jährigen Elias „fängt der Glaube mit den Menschen an, die glauben. Da ist etwas passiert, was ich sehe, was man spürt. … Die menschliche Verbundenheit ist erst mal da im Namen von etwas Existierendem oder auch nicht. Das ist jetzt da und wichtig. Und das kann es nur geben, solange es Menschen gibt.“7 Der Glaube gestaltet sich durch eine relative und nicht durch eine absolute Selbststeuerung (Autonomie) und ist von intrinsischer Motivation geprägt. Die Denkmuster bündle ich im sogenannten homonom-apriorischen Formenkreis.

So gestaltet jeder Persönlichkeitstyp seine Beziehung zu Gott in unterschiedlichen Mustern, die ich in den drei genannten Formenkreisen zusammenfasse. Ein Formenkreis bezeichnet also einen Komplex von religiösen Denk- und Deutungsmustern eines Persönlichkeitstyps.

3 Empirische Operationalisierung

Um die drei Zugangsweisen zur Transzendenz empirisch operationalisieren zu können, wurden bestimmte Referenzobjekte (Gottesbilder) und Bezugsqualitäten, die in idealtypischen Aussagen die drei Zugänge (Dimensionen) kosmomorph, soziomorph und noomorph erfassen, in den unterschiedlichen religiösen Formenkreisen formuliert, sodass das inhaltliche Modell der drei Zugangsweisen mit dem strukturellen Modell der Formenkreise gekreuzt wurde.8 Diese Kreuzung stellt nun eine umfassende Typologie religiöser Konstruktsysteme dar, die in ihren Auswirkungen untersucht und beschrieben werden konnte. Die dazu verwendete Faktorenanalyse wies die kosmomorphe, soziomorphe und noomorphe Dimension als eigenständige Dimensionen aus. Die Bezugsqualitäten erklären akzeptabel die drei Dimensionen:

Tabelle 1: Faktorenanalyse: Bezugsqualitäten und die drei Dimensionen

Faktor 1
Soziomorphe Dimension
Faktor 2
Kosmomorphe Dimension
Faktor 3
Noomorphe Dimension
Ladung8,684,762,50
Varianz0.350.190.10
Kumulative Varianz0.350.540.64
Die Faktorstruktur ist stabil (= 0.92); Varianzerklärungsanteil: 64 %.

Die verwendete Datenlage ermöglicht zudem, die fundamentaltheologisch interessante Frage zu beantworten, welche Referenzobjekte und Bezugsqualitäten der drei unterschiedlichen Zugänge in welchem Formenkreis erfasst werden und sich verorten. Die dazu angewendete Regressionsanalyse schätzt den Einfluss verschiedener unabhängiger Referenzobjekte und Bezugsqualitäten auf ein abhängiges Denkmuster und wird primär für die Untersuchung von Kausalbeziehungen, die auch als „Je-Desto-Beziehungen“ bezeichnet werden, verwendet. Die Regressionsanalyse errechnete folgende starke und signifikante Beziehungseffekte, die in der nachstehenden Tabelle 2 aufgeführt sind (Multiples R-Quadrat = > 0.30; Signifikanzniveau: 0.001 bis 0.05):

Tabelle 2: Bezugsqualität, Referenzobjekt und Formenkreise

BezugsqualitätFormenkreiseReferenzobjekt
Je mehr ich Gott gehorchen muss (Heteronomie), …
desto weniger verhandle (s) ich mit Gott.
desto mehr verpflichtet (s) er mich und
desto mehr fürchte (k) ich Gott.

Je mehr ich mich reziprok verhalte (Reziprozität), …
desto mehr verhandle (s) ich mit Gott,
desto weniger verursacht (k) er mich
heteronom-reziprokJe mehr heteronom, desto mehr Vernunft und Richter; desto weniger Leben und Freund.
Je mehr reziprok, desto mehr Erleuchtung und Geist; desto weniger Liebe und Friedensfürst.
Bestätigend; „Gott unterstützt und bestätigt mich in dem, was ich will: Ich finde Gott gut, weil Gott mich gut findet.“:
Je mehr Gott mich umarmt (s), desto mehr bestätigt er mich. Je mehr er mich bestätigt, desto weniger lausche (k) ich.

„Gott und Mensch sind unabhängig voneinander“:
Je mehr Unabhängigkeit, desto weniger erscheint (n) Gott durch mich.

Ablehnend; „Selbst wenn Gott existiert, will ich von Gott nichts wissen“:
Je mehr Ablehnung, desto weniger…
bete (s) ich zu Gott.
verhandle (s) ich mit Gott.
staune (k) ich angesichts Gottes.
glaube (n) ich an Gott.

„Gott existiert überhaupt nicht“:
Je mehr ich die Nicht-Existenz Gottes ablehne,
desto mehr
lausche (k) ich Gott.
entspringe (k) ich aus Gott.
…lässt Gott mich erkennen (n).
Je weniger ich an die Nicht-Existenz-Gottes glaube,
desto mehr…
spüre (k) ich Gott.
glaube (n) ich an Gott.
sehe (k) ich Spuren von Gott.
…bin ich von Gott erschaffen (s).
autonom-narzisstischJe mehr bestätigend, desto mehr Gott als das immer Neue, desto mehr Erleuchtung und Schöpfer.

Je mehr Unabhängigkeit, desto weniger Bewusstsein.

Je mehr ablehnend, desto mehr Erleuchtung und Drang nach Leben; desto weniger Vater, Liebe und Schöpfer.

Je mehr ich die Nicht-Existenz Gottes ablehne, desto mehr bejahe ich Gott als Energie, Göttliche Ord-nung,
Lebendige Beziehung, Liebe, Schöpfer.
Je mehr ich mich homonom-apriorisch verhalte,
desto mehr…
spüre (k) ich Gott.
gründe (n) ich in Gott.
entstamme (k) ich Gott.
energetisiert (k) Gott mich.
erscheint (n) Gott durch mich.
staune (k) ich angesichts Gottes,
wirkt Gott durch mich (n).
vertraue (s) ich Gott.
erfahre (n) ich an Gott Orientierung.
homonom-apriorischJe mehr homonom-apriorisch, desto mehr Liebe, Leben, Schöpfer, Energie, Unendliches Gespräch, Lebendige Beziehung, Vollendete Gemeinschaft.
(k) = kosmomorpher Zugang | (s) = soziomorpher Zugang | (n) = noomorpher Zugang

Wie aus der Tabelle 2 entnommen werden kann, beinhalten die unterschiedlichen religiösen Formenkreise idealtypische Bezugsqualitäten und Referenzobjekte.

4 Abschließende Bemerkungen

Die Auswertung zeigt, dass die drei Zugänge zur Transzendenz im autonomen und homonomen Formenkreis vorkommen. Im heteronomen Formenkreis verortet sich nur der sozio- und kosmomorphe Zugang, da offensichtlich die kognitiven Fähigkeiten für das Denken des noomorphen Zugangs noch nicht vorhanden sind. Ferner weist jeder einzelne Formenkreis ganz typische und bestimmte Bezugsqualitäten und Referenzen vor. In dem Zusammenspiel von Bezugsqualitäten und Formenkreise zeigen sich die Zugänge zur Transzendenz als drei unabhängige Dimensionen. Des Weiteren lässt sich erkennen, dass die religiösen Formenkreise mit fundamentaltheologischen Überlegungen übereinstimmen und die drei Transzendenzzugänge sich in den einzelnen Formenkreisen widerspiegeln.

Praxis

»Gott« – Eine Entwicklungshilfe

Wir wissen längst, dass Milliarden von Galaxien das Weltall bilden, dass eine dieser Galaxien, die Milchstraße, einen Durchmesser von 100.000 Lichtjahren hat, dass die Erde im Sonnensystem 30.000 Lichtjahre vom Zentrum der Milchstraße entfernt ist. — In diesem riesigen Weltall, das sich seit 15 bis 30 Milliarden Jahren entwickelt, gibt es den Menschen, gemessen an den kosmischen Zeiträumen, erst seit einer winzigen Spanne Zeit, seit wenigen hunderttausend Jahren. Innerhalb der Geschichte des Universums bildet die Menschheitsgeschichte nur eine vorübergehende Episode von ungeheurer Kürze. Das bewusste Leben, das sich im Menschen entwickelt hat, beruht auf der Funktionstüchtigkeit organischer und neurophysiologischer Prozesse, ist also nicht das Werk eines der Natur enthobenen, selbstbestimmten und seiner selbst mächtigen Geistes, sondern an materielle Prozesse rückgebunden, die dem Menschen selbst entzogen sind.

Religion oder ein Glaube an Gott ist also nicht nötig, um einem die Welt zu erklären. Vielleicht ist so etwas nützlich, um die Welt und die Rolle des Menschen in ihr besser zu verstehen. Jedenfalls geht es einem Gottesglauben vorrangig nicht um das, was ist, sondern darum, wie sich mit dem, was ist, leben lässt. Das Leben, genauer: das gelebte, von Menschen je neu zu lebende Leben steht im Mittelpunkt. Keine empirisch gewonnenen Informationen, keine Fakten, sondern Erfahrungen, verarbeitet in Narrationen — Poesie. Denn vor dem gewaltigen Hintergrund der Naturgeschichte und der bedrohlichen Fülle an Informationen über sie erfährt sich der Mensch als klein, als entbehrlich, als letztlich unerheblich. Der Katalog der Kränkungen durch empirisches Wissen zeigt seinen ungeheuren Bedeutungsverlust.

Welchen Beitrag könnte ein Gottesglaube angesichts solcher Befunde liefern? Was hätte er beizutragen, wenn man ihn nicht als Reflex auf eine verlorene Vergangenheit, in der der Mensch davon ausging, eine Sonderstellung im Kosmos innezuhaben, missverstehen soll —, wenn man ihn also nicht als mentales Reparaturunternehmen für Selbstwertverlust betreiben will? — Gesucht wird ein Gotteskonzept, das den unermesslichen Dimensionen des Kosmos und den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen heute gerecht würde, ohne dabei selbst zu einer Fakten- und Formelsprache zu mutieren?

Ein Gotteskonzept auf der Höhe der Zeit könnte dazu beitragen, nicht in zwei Welten zu denken, in oben und unten, Himmel und Erde.

Ein überzeugender Versuch, Schöpfung und Evolution zusammenzusehen, trägt den Namen Prozesstheologie. Dieser relativ jungen theologischen Denkrichtung geht es in der Gottesfrage um einen Perspektivwechsel. Sie verabschiedet sich von der klassisch-abendländischen Anschauung, nach der Gott als ein im Prinzip ewig Unveränderlicher gedacht wird, als ein von der Welt unabhängiger Gott. Sie versucht die Geschichte der Welt und die Geschichte Gottes mit den Menschen als eine universale Entwicklungsgeschichte zu deuten.

Wir können vom Geist und von der Materie nicht mehr so sprechen, wie es die Menschen früher getan haben. Wir erkennen heute, dass Geist eine Struktureigenschaft aller komplexen Systeme ist. Alles, was nach dem „Urknall“ Materie, Raum und Zeit wird, entfaltet sich explosionsartig durch unendliche Folgen von Teilungen. Aber zugleich entstehen aus diesen Teilen überraschend neue, nie da gewesene Beziehungen. Denn Geist ist die Kraft, die zur Teilung drängt und zugleich neue Zusammenhänge schafft. Eine Kraft, die immer neue Lebensgestalten hervorbringt, die im Tod zwar ihre je irdische Gestalt aufgeben, nicht aber ihren Anteil an der Lebensenergie, dem Geist. Diese Kraft nimmt vielmehr alles, was sich im Kosmos an Bewusstseinskräften entwickelt hat, hinein in die weitere Evolution des Geistes. Gott ist in diesem Sinne etwas, das sich in der Welt als Welt selber entfaltet, also kein unveränderlicher, weltenthobener, sondern ein weltzugewandter, Freiheit stiftender Gott. Das ist ein Konzept von hoher Poesie und Kreativität und auch von Weisheit.

Schöpferisch ist ein Gotteskonzept, dass die Zukunft der Welt als radikal offen begreift.

Was mich an dem Entwurf der Prozesstheologie überzeugt, ist, dass sie theologisches, naturwissenschaftliches und tiefenpsychologisches Denken miteinander zu verbinden versteht. Sie sieht „Gott als Zug- und Schubkraft den gesamten kosmischen Prozess durchdringen. Unter seiner Anziehungskraft gestaltet sich die Materie immer komplexer und beziehungsreicher, bis sie schließlich beginnt, sich selbst zu steuern und zu organisieren. Die Geschichte des Kosmos stellt sich der Prozesstheologie sozusagen als ein Lernvorgang, als offener Lernprozess dar, dessen Ziel es ist, die eigene Entwicklung, seine Geschichte selbst zu steuern und zu bestimmen. Gott kommt im kosmischen Prozess sozusagen die Aufgabe eines Entwicklungshelfers zu (Arnulf Zitelmann: Wenn Affen beten — oder: Ein kleines ABC der Prozesstheologie. Achtseitiges Manuskript des Autors; 1995, 4).

Gott ist demnach keine allmächtige Regelungs- und Kontrollinstanz, sondern ein lebendiges Geschehen, das die Freiheit und die Kreativität seiner Geschöpfe fördert. Noch zugespitzter formuliert, sieht die Prozesstheologie in der kosmischen Evolution selbst einen Prozess der Befreiung und Selbstwerdung seiner Geschöpfe angelegt. Die biologische Evolution, die wir mit dem Namen Darwin und dem Darwinismus verbinden, wird weiter nach vorn getragen durch die Bewusstseinsevolution. Ein neuer Evolutionshorizont gerät ins Blickfeld. Religionen könnten neue Evolutionshorizonte bilden für innovative Bilder und Konzepte von Gott oder Göttlichem, die der Welt und dem Menschen nicht in ewiger Unveränderlichkeit und dogmatischer Starre gegenüberstünden, sondern schöpferische Impulse ermöglichten: Imaginationen einer göttlichen Geistkraft, die ihre Absichten nicht mit Gewalt durchsetzt, sondern sich auf einen Prozess der Liebe einlässt und so — typisch für jede Liebe — davon abhängig wird, ob sie erwidert wird. In solch freiwilliger, liebender Dialogizität lägen Impulse zu schöpferischen, wenn auch oft konflikthaften Transformationen, die — theologisch gesehen — das Motiv und die Wirkkraft der Evolution sind.

Gott ist keine handelnde Kraft neben den Geschöpfen, sondern eine schöpferische Kraft in ihnen — gerade in den Brüchen und Krisen eines Entwicklungsweges.

In jedem größeren Entwicklungsschritt steckt die Gefahr, sich zu verlieren, aber auch die Chance der Entdeckung einer neuen Selbstständigkeit. Deshalb können Menschen sich entwickeln, weil sie etwas hinter sich lassen, das die eigene Identität zu einer bestimmten Zeit konstruiert und wohl auch benötigt hat — Projektionen, Gewohnheiten, Komfortzonen … —, die aber jetzt zurückgelassen werden können, um dem (großen) UNBEKANNTEN zu begegnen. Es sind die Soll-Bruchstellen eines lebendigen Glaubens, die in ein neues Gottesverhältnis führen, um den eigenen göttlichen Heilsweg noch tiefer erleben und ‚entschlüsseln‘ zu können.

Die Prozesstheologie erkennt in Jesus von Nazareth, in der fast grenzenlosen Naivität eines galiläischen Provinzlers, die menschlich einzigartige schöpferische Liebe, wie sie im Gottesverständnis christlicher Theologie prototypisch zum Ausdruck kommt. Jesus lebte in solch innerer Übereinstimmung mit Gott, dass in ihm Gott Mensch wurde. Wer in demselben Geiste lebe wie er, der lebt — biblisch gesprochen — „in Christus. Christus ist der Vorläufer einer neuen Bewusstseinsevolution, der Erstgeborene einer neuen Menschheit: „Wenn jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden (2 Kor 5, 17).

Es ist diese Transparenzerfahrung, die den Evangelien- und Briefeschreibern des Neuen Testaments die Augen öffnet. Sie erkennen in dem Mann aus Nazareth Urbildhaft-Archetypisches. Im Menschen Jesus kommt ihnen der „Sohn“ Gottes als ‚das wahre Selbst des Menschen‘ entgegen. An den „Sohn Gottes“ glauben meint also nicht die (kirchliche) Verehrung eines Außergewöhnlichen, sondern mit der archetypischen Wirksamkeit dessen in Berührung zu kommen, der sich in vielfältiger Weise manifestiert als „Lehrer“ und „Arzt“, als „guter Hirt“, als „Tür“ zu den Menschen (…), als „Weg“,„Wahrheit“ und „Leben“.

C.G. Jung hebt den dynamisch-prozesshaften Aspekt dieses Christus-Archetyps hervor:„Das Ziel der psychologischen Entwicklung ist, wie das der biologischen, die Selbstverwirklichung resp. die Individuation. Da der Mensch sich nur als ein Ich kennt, und das Selbst als Totalität unbeschreibbar und ununterscheidbar von einem Gottesbild ist, so bedeutet die Selbstverwirklichung in religiös-metaphysischer Sprache die Inkarnation Gottes. Das ist in der Sohnschaft Christi ausgedrückt (C.G. Jung: Symbolik des Geistes. Studien über psychische Phänomenologie, Zürich 1953, 385).

Wenn der Mensch werdende Gott nun die Kraft ist, die im Entwicklungsgang der Welt zum Ausdruck kommt, könnten dann nicht auch die alten, auf Konkurrenz und Gesetz beruhenden, „archaischen“ Gottesbilder ausrangiert werden zugunsten eines  Gotteskonzepts, das vom Konkurrenzprinzip (der Natur) zum Kommunikationsprinzip der Geschwisterlichkeit führt?

Willy Obrist hat zumindest für den tiefenpsychologischen Sprachgebrauch vorgeschlagen, den Ausdruck „Gottesbild“ beim heutigen Stand des Wissens über die Mutation des Bewusstseins zu vermeiden und stattdessen vom „Selbstsymbol zu sprechen (vgl. W. Obrist: Tiefenpsychologie und Theologie, Stuttgart 2002). Das bewusst gewordene „Hereinklappen der jenseitigen Welt“ in die Psyche des Einzelnen lege dies im Grunde nahe. Kirchliche Dogmatiker tun sich an dieser Stelle bekanntermaßen schwer. Zu sehr befürchten sie wohl eine Psychologisierung des Göttlichen, eine Vorstellung vom Heil als einer rein ichbezogenen Selbstverwirklichung. Solche Befürchtungen sind nicht neu.

„Gott ist der ideale Begleiter. (…) Er ist der Spiegel, der jedem Geschöpf seine eigene Größe enthüllt“
(Alfred N. Whitehead: Wie entsteht Religion? Frankfurt 1990, 115).

Weil die Prozesstheologie Gott als die schöpferische und verwandelnde Kraft der Liebe beschreibt, tut sie dies so, dass sie sein Wirken zwar in personalen Bildern ausdrückt, Gott selbst aber nicht auf bestimmte personale Vorstellungen festlegt. Sie stellt damit klar: Gottvertrauen ist kein romantischer Restposten der Menschheitsgeschichte, keine Sonderwirklichkeit, sondern eine tief gründende Existenzerfahrung des Menschen. Durch die schöpferische Kraft der Liebe erfahren Menschen sich in einem unauslöschbaren Ur-Vertrauen auf den Wert ihrer Existenz, deren Grund und Begründung Gott ist: Es ist ein personaler Gott, weil er*sie sich in Christus dem Menschen vorstellbar und bewusst zuwendet, und es ist ein für Menschen unvorstellbarer Gott, weil er*sie als Ursprung und Ziel allen Lebens spürbar verborgen ist und bleibt.

 

Praxis

Wer glaubt noch an Gott? Religionssoziologische Gedanken zum Gottesglauben in West- und Ostdeutschland

Der Glauben an einen persönlichen Gott zählt zum Zentrum der christlichen Religion. Doch wie weit ist es mit dem Glauben in einer Gesellschaft, die von weitreichenden Austrittswellen aus den christlichen Kirchen und stetig sinkendem Gottesdienstbesuch geprägt ist? Einige gegenwärtig zu lesenden Aussagen verweisen dann auch – meist im klagenden Ton – auf eine zunehmende Gottesvergessenheit oder ein Verblassen Gottes in der modernen Gesellschaft. Auf weitere Begrifflichkeiten will ich hier erst einmal verzichten. Ob dies nun wirklich der Fall ist, kann allein der Blick auf die Antworten der Menschen selbst zeigen. Fragt man die Deutschen in Umfragen danach, wie sie glauben, so zeigt sich ein buntes Bild – sowohl in West- wie in Ostdeutschland. Mit Daten der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften kann man eine heute übersichtliche Präsenz eines festen Gottesglaubens bestimmen. Knapp über ein Fünftel der Westdeutschen (22 %) und weniger als ein Zehntel der Ostdeutschen bekunden (noch) diesen festen Gottesglauben.

Abb. 1: Wie glauben die Deutschen an Gott? – Formen des Gottesglaubens in Prozent

Quelle: Eigene Berechnungen; Allbus 1991, 2018; zustimmende Werte in Prozent.

Umgekehrt ist in Westdeutschland die Zahl derjenigen, die weder an Gott noch an irgendeine höhere Macht glauben, 2018 gerade einmal auf 15 % angewachsen. Also nicht jede und jeder Konfessionslose ist gleich vollständig ohne Glauben an Gott. Die meisten Westdeutschen bewegen sich zwischen den Polen fester Glaube und Unglaube. Der Glaube an eine höhere Macht wird dabei am häufigsten genannt. Er scheint für viele eine noch tragbare Form des Glaubens darzustellen wie auch der Glaube trotz Zweifel.

In Ostdeutschland dominiert die Gruppe der Menschen, die weder an Gott noch an eine höhere Macht glauben – und sich in diesem Nicht-Glauben auch sicher sind. Die Tradierung einer Nichtbeschäftigung mit Glauben hat in Ostdeutschland zu einer verfestigten Distanz zum Gottesglauben geführt. Die 50 % der Ostdeutschen, die nicht diese Distanz zum Gottesglauben bekunden, verteilen sich fast symmetrisch über alle anderen Antwortvorgaben. Am relational stärksten ist die Zustimmung zur Antwort „weiß nicht, was ich glauben soll“, quasi eine agnostische Position. Temporärer Glaube („manchmal glaube ich“), Glaube trotz Zweifel und Glaube an eine höhere Macht ergänzen diese Position. Selbst wenn ungefähr die Hälfte der befragten Ostdeutschen sich gegen einen überzeugten Unglauben entscheidet, bedeutet dies noch lange nicht, dass viele von ihnen starke und tiefe Glaubenselemente aufweisen.

Man kann diese Vielfalt nun als Möglichkeit und Potential für kirchliche und religiöse Angebote sehen, die Entwicklung zwischen 1991 und 2018 deutet aber in die Richtung einer anderen Interpretation.

Man kann diese Vielfalt nun als Möglichkeit und Potential für kirchliche und religiöse Angebote sehen, die Entwicklung zwischen 1991 und 2018 deutet aber in die Richtung einer anderen Interpretation. Eher wahrscheinlich scheint eine Diffusion des Glaubens mit einer langsamen, aber kontinuierlichen Bewegung in Richtung Nicht-Glauben. Diese Entwicklung findet wenig bei Personen selbst statt, sie greift über den Generationenwandel. Der Prozess ist schnell erklärt: Nachfolgende Generationen werden sich immer unsicherer im Gottesglauben. Glaubten die Großeltern noch fest an einen für sie persönlichen Gott, sind sich deren Kinder schon unsicher und glauben vielleicht noch an ein höheres Wesen trotz Zweifeln oder manchmal. Ihre Kinder wieder fragen sich noch häufiger, wie man an Gott glauben soll, warum und was dies einem in dieser Welt bringt. Oft wissen sie nicht mehr, was sie glauben sollen, und ihnen ist es weitgehend egal, wenn sie nicht schon den Glauben aufgegeben haben. Und für ihre Kinder spielt Glauben gar keine Bedeutung mehr. Dies ist natürlich kein universaler und zwingender Verlauf. Religiöse Sozialisation kann diesem genauso entgegenwirken wie individuelle Entscheidungen für Gott. Aber diese schleichenden Abbruchprozesse führen zu einem langfristigen Verblassen des Gottesglaubens, der die in Abbildung 1 aufgezeigten Ergebnisse zeitigt. In diese Richtung zu verstehen sind auch die Ergebnisse in Abbildung 2. Sie repräsentieren die Antworten auf eine Frage nach der Selbsteinschätzung der Entwicklung des Gottesglaubens bei Personen.

Abb. 2: Entwicklung des Gottesglaubens in Prozent

Quelle: Eigene Berechnungen; Allbus 2018; zustimmende Werte in Prozent.

Neben der Bestätigung der Differenz zwischen West- und Ostdeutschland wird deutlich, dass die Bewegung stärker vom Glauben weggeht als zu ihm hin. Glauben wird vermutlich mit Blick auf die Differenzierung in Abbildung 1 als genereller Glaube (fester Gottesglaube, manchmal, trotz Zweifel, höhere Macht) erachtet. Entsprechend fällt der Wert hier auf den ersten Blick positiver hinsichtlich des Glaubens aus. Der Entwicklungstrend ist deutlich und zeigt in Richtung Säkularisierung. Variationen des Gottesglaubens zwischen Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Religionszugehörigkeit setzen den generellen Prozess nicht außer Kraft. Sie sorgen aber eben für Variationen eines insgesamt stetigen Prozesses.

Es wird deutlich, dass die Bewegung stärker vom Glauben weggeht als zu ihm hin.

Der Gottesglaube ist eng an die Mitgliedschaft und religiöse Praktiken gebunden. Man könnte sagen, ohne einen Ort und Gemeinschaft für eine religiöse Praxis fällt es Menschen schwer, sich den Glauben an Gott zu erhalten. Solche Diffusionsprozesse wie oben dargestellt sind dann wenig überraschend, schrumpft ja die religiöse Kommunikation genauso wie das religiöse Wissen verbleicht. Diese engen Beziehungen zwischen dem Glauben an Gott und religiöser Praxis lassen sich relativ gut abbilden. Abbildung 3 zeigt an einem Beispiel die engen Beziehungen auf.

Abb. 3: Gottesglaubens und religiöse Praxis

Quelle: Eigene Berechnungen; Allbus 2018; zustimmende Werte in Prozent.

Mit der Häufigkeit des Gottesdienstbesuches nimmt auch ein überzeugter Gottesglaube in erheblichem Ausmaß zu. Zwar gibt es auch Menschen, die an Gott glauben und den Gottesdienst nicht besuchen, diese Zahl ist aber gering. Allein der Glauben an eine höhere Macht findet sich auch häufiger außerhalb des Gottesdienstbesuchs. Er kann als Zwischenposition auf dem Weg einer Distanz zur Kirche und dann verzögert auch einer Diffusion des Glaubens angesehen werden. Um glauben zu können, bedarf es eines Kernbestandes an religiösem Wissen und einer religiösen Gemeinschaft. Beides findet sich im kirchlichen Raum. Der Gottesdienst stellt dabei nur eine, allerdings eine häufig genutzte Möglichkeit des Aufhaltens im kirchlichen Raum dar.

Ohne einen Ort und Gemeinschaft für eine religiöse Praxis fällt es Menschen schwer, sich den Glauben an Gott zu erhalten.

Was bedeutet dies nun für die Menschen, wenn ihr Gottesbild diffundiert? Hierzu kann man viele Überlegungen anstellen und verschiedene Bereiche in den Vordergrund rücken. Ob damit die entscheidende Bedeutung des Glaubens ausgemacht werden kann, ist sicher diskutabel. Eine Möglichkeit, einen grundsätzlicheren Blick zu erhaschen, ist zu sehen, inwieweit Werte oder persönliche Überzeugungen sich mit Blick auf die Formen des Glaubens unterscheiden.

Abb. 4: Gottesglauben und Persönlichkeit

Quelle: Eigene Berechnungen; Konid-2019-Umfrage; leicht veränderte Fragestellung zu den Formen des Glaubens; zustimmende Werte in Prozent.

In der Konid-2019-Studie besteht die Möglichkeit, sogenannte Kontrollüberzeugungen, also Vorstellungen darüber, ob man das Leben im Griff zu haben denkt, zu berechnen. Sie können durch Persönlichkeitsstrukturen ergänzt werden. Selbst wenn dies nur ein grober Blick auf die potentiellen Bezüge des Gottesglaubens mit persönlichen Überzeugungen darstellt, gibt es doch einen ersten empirischen Einblick in diese Beziehungen. Das Ergebnis ist wenig spektakulär. Menschen, die nicht an Gott glauben, sind nur geringfügig weniger zufrieden mit ihrem Leben als Menschen, die an Gott oder an eine höhere Macht glauben. Umgekehrt sind Kontrollüberzeugungen, also die Überzeugung, Kontrolle über das eigene Leben zu haben, in der Gruppe der an einen persönlichen Gott Glaubenden leicht niedriger. Dies mag vielleicht mit der Offenheit gegenüber einer steuernden Transzendenz zu tun zu haben, die der Glaube an Gott ist. Denn der Aussage, dass das eigene Leben durch andere bestimmt wird, wollen auch unter Gottesgläubigen nur 20 % zustimmen.

Einfach gesagt: Menschen können auch ohne Gott glücklich werden.

Was bedeutet dies nun für den Gottesglauben und seine Relevanz für den Menschen? Es scheint Menschen auch ohne den Glauben an Gott möglich zu sein, ein selbstbestimmtes und zufriedenes Leben zu führen. Wenn man nicht glaubt, stellt sich deswegen in der Regel kein Defizit oder das Gefühl eines Defizits ein. Einfach gesagt: Menschen können auch ohne Gott glücklich werden. Dieser Gedanke ist aus kirchlicher Sicht vielleicht schwer zu verkraften, bildet aber die Wirklichkeit ab. Zudem muss man davon ausgehen, dass der Glaube nicht vom Himmel fällt, sondern auch gelernt werden muss. Vielleicht geht mit dem Glaubensverlust anderes verloren, zum Beispiel bei einigen Gläubigen die Offenheit und das Vertrauen gegenüber anderen. Da dieses aber in großen Teilen auch in der Beteiligung in der christlichen Gemeinschaft gewonnen wird, lenkt dies den Blick wieder zurück zur Kirche. So wie Glauben ohne Kirche möglich, aber in größerer Verbreitung unwahrscheinlich ist, so kann der Glaube Menschen im Alltag helfen – aber sie können auch andere Wege finden. Das soll nicht bedeuten, dass der Glaube Menschen in Notlagen nicht helfen kann und ihnen nicht wichtig ist, nur dass andere Menschen dies gerade in den modernen Industriegesellschaften, wie Deutschland eine ist, auch anders sehen können. Dessen muss man als religiöser Mensch genauso gewahr sein wie als Kirchenleitung.

Praxis

Was bleibt von Gott? Über „Catholic Aesthetics“ und „Fresh Expressions of the Gospel”

Seit einigen Jahren zeigt sich in den USA ein neuer Trend: Die „Catholic Aesthetics“. Man bedient sich, gerade unter Jüngeren, des katholischen Formenreichtums, seiner Bilder und Rituale, um sich selbst und das eigene Leben zu performen. Ein:e von 10 US-Amerikaner:innen bezeichnet sich sogar als katholisch, ohne es zu sein. Es ist, auch unter nominellen Katholik:innen, ein „Katholischsein ohne Glaube“. Hier tauchen dann klassische ästhetische Identitätsmarker an unerwarteten Stellen auf: Das Hochzeitskleid mit eingewebter Madonna, ein Herz-Jesu Bild als Tattoo oder der Rosenkranz, den man aber partout nicht umhängt, weil sich sonst wirkliche Gläubige beleidigt fühlen könnten.

Nur ein wirkliches Gegenüber, das tatsächlich völlig anders, größer und gerade nicht auf die Beschränkungen des Menschlichen festgelegt ist, kann uns retten.

Den Rosenkranz als Modeaccessoires kennt man in Deutschland auch, eine gesamte Bewegung ist daraus jedoch noch nicht geworden. Allerdings lässt sich im gesamten Bereich des Kasual- und Sakramentenpastoral etwas Vergleichbares beobachten. Die Kirche ist ähnlich einer Versicherung eine Institution, die man aufsucht, wenn man etwas Spezifisches möchte: Ein Lebensabschluss- oder Eröffnungsritual, immer weniger allerdings die Trauung. Hier scheint die Konkurrenz mittlerweile doch zuzunehmen. Es zeigt sich mehr und mehr eine Religion ohne Gott bzw. mit eher schwammigen, unpersönlichen Vorstellungen von dem, was da noch sein könnte. Gott als Person ist für immer weniger Menschen relevant und mit damit wird ein Transzendenzbezug obsolet, der noch irgendetwas mit dem eigenen Leben zu tun haben könnte. Das Ritual, die Ästhetik reicht, ist womöglich einer der Hauptgründe, dass immer noch so viele Menschen trotz der derzeitigen Krisenphänomene in der Kirche verbleiben: der potentiell mögliche Rückgriff auf einen ästhetischen Code oder ein tragendes Ritual, das mithilfe eigener Texte, Sprüche, Erzählungen bereichert werden soll, bleibt attraktiv. Zeitgleich richten Systematische Theolog:innen, wenn nicht alles täuscht, ihre eigene Gotteslehre immer mehr an diesen Transformationen aus. Dann versucht man die Metaphysik nachmetaphysisch zu denken oder Gott in seinem Personsein als Vorstellung aus einer bestimmten Zeit zu definieren, die auch ganz anders gedacht werden kann. Mitunter werden solche Transformationen dann als Befreiung aus zu engen oder dogmatischen Gottesbildern `gefeiert´. Das Problem dabei: Nur ein wirkliches Gegenüber, das tatsächlich völlig anders, größer und gerade nicht auf die Beschränkungen des Menschlichen festgelegt ist, kann uns retten. Und eine tragende Beziehung baue ich leichter zu einem „Du“ auf, als zu einem letztlich anonym bleibenden „Göttlichen“. Eben dies zeigt dann auch die empirische Forschung: Gott als „Energie“, das „Göttliche“ oder ein „Etwas“, das sich irgendwie entwickelt, wird intergenerationell irrelevant. Die Generation nach jener „Irgendwas wird es schon geben“ (Agnostizismus), zeigt sich, wie internationale Studien belegen, solchen Fragen und Tatsachen in großen Teilen indifferent gegenüber.

Zwei Optionen: Realismus und Anatheismus

Für das Sprechen über Gott ist daher insbesondere zweierlei wichtig. Einmal die „Option Realismus“: Tatsächlich zu akzeptieren, dass die eigene Religion für viele – ja für die zunehmend meisten – etwas ist, dass sie innerlich nicht mehr berührt. Allenfalls das Ästhetische, Rituelle, Caritative wirkt nach außen. In diesen Bereichen bereit zu stehen, ist tatsächlich der bleibende Auftrag der Christ:innen. Allerdings stellt sich mittel- bis langfristig die Frage: Wie lange funktioniert ein Evangelium ohne Gott? Oder: Was wird aus einem Fluss, der keine Verbindung mehr zur eigenen Quelle hat? Speist er sich dann aus anderen?

Allerdings stellt sich mittel- bis langfristig die Frage: Wie lange funktioniert ein Evangelium ohne Gott?

Andererseits – und das wäre die „Option“ Anatheismus – gälte es, neu nach Gott zu suchen, der sich mitunter inmitten der Felspalten des Säkularen zeigt. Dort wird er auch heute sichtbar, sicherlich diverser, nicht mehr dogmatisch fassbar, dafür aber wirksam. Dies wird gerade in Ländern, in denen die Säkularisierung als Haupttrend nicht mehr durch eine saturierte Kirchlichkeit zu leugnen ist, sichtbar. Der irische Philosoph Richard Kearney hat dafür den Begriff Ana-theismus entwickelt. Er meint, Gott jenseits von Gott neu zu entdecken und zu denken. Das bedeutet, einerseits nicht alles Säkulare oder jedes Transformationsphänomen („Catholic Aesthetic“) gleich für Gott, seine Offenbarung oder ein religiöses Bedürfnis zu halten. Zugleich heißt Anatheismus nicht gleich resigniert zu denken, Gott sei heute nicht mehr zu finden oder unwirksam. Der Clou scheint zu sein: Er ist auf andere Weise und woanders präsent. Dazu braucht es allerdings die Kunst der Unterscheidung. Nicht zufällig wählt Papst Franziskus diese Methode als Grunddynamik seines synodalen Prozesses. Denn nur so lässt sich Gott heute finden, wenn wir tatsächlich ernst nehmen, dass es Bereiche und Menschen gibt, die ihn überhaupt nicht brauchen, andere, sicherlich wenigere, aber nicht ohne ihn können oder sich ihm neu nähern.

Ana-theismus meint, Gott jenseits von Gott neu zu entdecken und zu denken.

Wichtig ist dafür zweierlei: Das „Licht der Offenbarung“ und das „Licht der menschlichen Erfahrung“ – beides Begriffe, die die Pastoralkonstitution des letzten Konzils nennt. Einerseits kann es nämlich nicht sein, völlig passiv zu denken, Gott sei überall schon da und wir müssten nichts mehr tun, als nur abzuwarten oder uns rein humanistisch zu profilieren. Das wird dem Offenbarungs- und Erlösungsangebot des Christentums nicht gerecht. Gott kommt immer auch von außen und ist zugleich in der Welt anwesend. Diese Spannung gilt es auszuhalten und darin nach ihm Ausschau zu halten. Dabei kommt man nicht selten einem Phänomen entgegen, von dem ein volkskirchliches Christentum nur noch wenig zu wissen schien: der Bekehrung. Das Evangelium erscheint dann als Alternative zu dem, was normal ist und was alle machen, wie alle leben. Meistens aufgrund einer einschneidenden Erfahrung, die vorher nicht dagewesene Fragen wachgerufen haben. So wie es eine Taufbewerberin nach ihrer Taufe in Frankfurt am Main einmal formulierte: „Ich habe eine Antwort auf eine Frage bekommen, die ich vorher nicht hatte.“ Die Gottesfrage als eine nicht mehr universal und allgemein vorhandene, sondern eine, die sich okkasionell, aufgrund verschiedener Erfahrungen, persönlicher Erlebnisse, Einsichten oder Begegnungen stellt.

Gott erahnen und erfahren, der sich in den Felsspalten des Säkularen ereignet

Dies führt auf die Erfahrungsebene. Von Erfahrungen kann man am besten erzählen. Kondensierte Erfahrungen finden sich in empirischen Daten, die zu diesem Thema leider (noch) nicht vorliegen. Dies zeigt einerseits ein Desiderat, andererseits ist es ein Ausweis dafür, dass es sich hier tatsächlich um ein noch weitgehend unbegangenes Land handelt. Denn lange hat man – frei nach Elisabeth Kübler-Ross – die Säkularisierung als Tatsache verdrängt. Man dachte, irgendwann finden wir den Schlüssel, die Stellschraube, das Pastoralkonzept, welche das Ganze wieder rückgängig machen würden. Leider – oder vielleicht Gott sei Dank – ist das nicht geschehen.

Säkularisierung bedeutet für Christ:innen und die Kirchen nicht nur Verlust, sondern eine neue Freiheit und Souveränität.

Denn Säkularisierung bedeutet für Christ:innen und die Kirchen nicht nur Verlust, sondern eine neue Freiheit und Souveränität: Man wird unter anderem aus staatstragenden Bezügen entlassen, muss gesellschaftlich nicht mehr „Everybody`s Darling“ sein und kann auf diese Weise womöglich die Kraft der eigenen Botschaft gerade auch in ihrer Widerspenstigkeit profilieren. Das meint mitnichten einen Rückzug in die Puppenstube des 19. Jahrhunderts, wo man sich bewusst gegen „die Welt“ profilierte. Es meint vielmehr, die Unterscheidungskraft des Evangeliums gerade um des Menschen willen und gegen alle  – etwa neoliberalen – Verzweckungen neu zu entdecken. Dass der Mensch nicht verzweckbar ist, weder für wirtschaftliche noch kirchliche Belange, sondern in seiner geschöpflichen und zugleich erlösten Freiheit und Einzigartigkeit immer zu achten ist. Vielleicht ist es ja gerade jene erlöste Freiheit, die den Unterschied machen kann und welche man heute neu entdecken und anbieten darf. Dazu nun einige – aus der Erfahrung erzählte – Beispiele.

Hinter der Entscheidung für das Studium, für das man zugleich gesalzene Studiengebühren bezahlt, steht immer eine bewusste Entscheidung, ja mehr noch: eine konkrete Erfahrung. Es ist faszinierend, diese zu hören.

Zum Hintergrund: An unserer Fakultät der „Tilburg School of Catholic Theology“ mit den Standorten Utrecht bzw. Tilburg, die die einzige kirchlich anerkannte Katholisch-Theologische Fakultät in den Niederlanden ist, belegen jedes Jahr ca. 30 Studierende den Bachelorstudiengang. Die Vorlesungen werden zweisprachig, niederländisch und englisch, angeboten. Die Kurse unterscheiden sich dabei: Während die der englischsprachige Bachelor aus einer bunten Mischung internationaler, vieler außereuropäischer Studierender besteht, finden sich in der niederländischsprachigen Gruppe insbesondere einheimische Studierende, die mitunter (auch das ist eine Option) in Teilzeit studieren können. Das Interessante in jeder der beiden Gruppen: jede:r Studierende hat ihre:seine story. Niemand studiert Theologie aus Mangel an Ideen oder Alternativen bzw. weil man damit die klassische Sakristeikarriere fortsetzt (Messdiener:in; Küster:in; Ferienlager; Ehrenamtliche in vielfältigen Gruppen und Gremien in einer Pfarrei etc.). Das heißt, hinter der Entscheidung für das Studium, für das man zugleich gesalzene Studiengebühren bezahlt, steht immer eine bewusste Entscheidung, ja mehr noch: eine konkrete Erfahrung. Es ist faszinierend, diese zu hören. Denn sie erzählen genau von den oben hergeleiteten Zusammenhängen. Auf einmal war da eine Frage, die den Glauben als realistische Antwortoption erscheinen ließ. Plötzlich reichte vieles nicht mehr, auf einmal kam die Taufe als Möglichkeit in den Blick und das Christ:insein wurde zu einer Perspektive, dem Leben eine neue Richtung zu geben.

Auf einmal war da eine Frage, die den Glauben als realistische Antwortoption erscheinen ließ.

Der Bachelorkurs in Praktischer Theologie läuft dann darauf hinaus, dass die Studierenden am Ende eine „Fresh-Expression of the Gospel“ aus der Praxis suchen, beschreiben, rekonstruieren und vor der Gruppe zur Diskussion stellen müssen. Dabei ist der Focus ein denkbar breiter: Überall, wo die Studierende ein im Sinne des Anatheismus neue Erscheinungsform des Evangeliums vermuten, kann dies unabhängig von anderen Unterscheidungen (überkonfessionell und -parochial) interessant sein. Leitend sind die oben benannten Kriterien von „Licht der Offenbarung“ und „Licht der Erfahrung“, die sich gegenseitig ausleuchten. Das Verblüffende: In einem Land wie den Niederlanden, das nachgewiesenermaßen zu den säkularisiertesten Europas gehört, lässt sich viel finden. Der Strauß der Erfahrungen ist stets sehr breit und immer überraschend. Die Studierenden treffen das Evangelium gerade in seiner Vielgestaltigkeit an, ja entdecken es in und aus der Praxis neu. Dazu drei Beispiele:

Das Verblüffende: In einem Land wie den Niederlanden, das nachgewiesenermaßen zu den säkularisiertesten Europas gehört, lässt sich viel finden.

  • Ein Student erzählt seine eigene Bekehrungsgeschichte. Der Ende-30-Jährige war alkoholabhängig und ist durch Zufall auf eine neue christliche Initiative getroffen, die Menschen in ihrer Sucht hilft. Nicht in erster Linie medizinisch, sondern durch Begleitung, Disziplin und das Lesen des Evangeliums. Stets stand die Frage im Hintergrund: Was ist der Auftrag Gottes heute an mich? Wie sieht er mich, wie will er mich? Dabei wurde, nach Aussage des Studenten, für ihn die Einsicht immer bestimmender, dass die Sucht eine fundamentale Entfremdung darstellt: Von sich selbst, von anderen und schließlich von Gottes Willen. Er merkte, dass nur der Weg aus der Sucht, der Weg zurück zu sich selbst und seiner inneren Bestimmung ist. Was er vorher nach eigenem Bekunden nicht gesehen hatte, war das Erlebnis, dass dies auch der Weg zu Gott ist.
  • Eine weitere Initiative ist ein Zusammenschluss evangelischer Christ:innen, um Menschen in Schulden zu helfen. Dazu ist es hilfreich zu wissen, dass in den Niederlanden bis zu 80% der Einwohner über eine Eigentumswohnung verfügen. Falls sich allerdings dann der Wohnungsmarkt verschiebt, die Inflation in die Höhe treibt oder aber die eigene berufliche Zukunft brüchig wird, sitzen nicht wenige zuvor gut abgesicherte Menschen vor einem großen Schuldenberg. Die christliche Initiative von zumeist finanzkundigen Ehrenamtlichen bieten aufgrund dieser Erfahrung seit einigen Jahren in der Stadt Amersfoort eine unentgeltliche Schulden- bzw. Finanzberatung an. Die Initiative „Schuldhulpmaatje“ (Schuldenhilfefreunde) ist mittlerweile in mehreren Regionen des Landes präsent. Wichtig ist ihnen, auch die Schambehaftung dieses Themas zu beachten, also diesem Thema mit Diskretion und hoher Sensibilität zu begegnen. Es geht hier in keiner Weise um Missionierung, sondern um das Tun des Angesagten aus einer christlichen Motivation.
  • Eine dritte Initiative nennt sich „YouChooze“. Sie entstand aus Teenagern, die zunächst in digitalen Räumen die in der Bibel lasen. Konfessionszugehörigkeit ist zweitrangig. Sie möchten gemeinsam aufgrund dessen, was sie von der frohen Botschaft verstehen, nach dem Willen Gottes für ihr Leben fragen. Dazu unternehmen sie Bibelabende, religiöse Camps, und sogar eine Romreise, um zu den Wurzeln des Glaubens vorstoßen zu können. Ihre Vision beschreiben sie wie folgt: „We hope that YouChooze will continue to be a place where teenagers can be themselves. […] A place where teenagers can question anything they want to, where they can struggle and relax. A place where life-changing meetings can happen. These hopes are in no way our own work and it seems fitting that we conclude with the hope and prayer that God will work through the program, through the youth workers and through the teenagers. Only in Him, only in Christ and only in the Holy Spirit.“ So bieten sie Glaubens- und Erlebniskurse an, etwa zu Themen wie „Schöpfung und Evolution“ oder Friedensgebetsabende angesichts des Ukraine-Krieges. Ebenso gehören Spendenaktionen für Geflüchtete oder in Not geratene Menschen zu ihren Aktivitäten.

Das Christentum kommt auf völlig andere Weise wieder: divers, jenseits unserer kirchlichen Kategorien bzw. Leitunterscheidungen (katholisch/evangelisch; orthodox/häretisch; etc.), allerdings quantitativ weitaus geringer als vorher.

Diese drei Beispiele können zeigen: Das Christentum verschwindet trotz einer dominanten Säkularisierung nicht. Es kommt auf völlig andere Weise wieder: divers, jenseits unserer kirchlichen Kategorien bzw. Leitunterscheidungen (katholisch/evangelisch; orthodox/häretisch; etc.), allerdings quantitativ weitaus geringer als vorher. Wesentlich dazu ist tatsächlich eine erfahrene Relevanz bzw. subjektiv erlebte Wirksamkeit des Glaubens. Dass jemand persönlich das andere, bereichernde des Glaubens erfahren hat und darin leben möchte.

Ein kurzer Ausblick auf die deutsche Kirchenlandschaft, oder: Was wohl Elisabeth Kübler-Ross sagen würde?

Oben war bereits die – sicherlich nicht unumstrittene – Theorie der Trauerphasen von Elisabeth-Kübler Ross bemüht worden. Wenn man dies – bewusst etwas dilettantisch – weiterdenkt, könnte man zu der Schlussfolgerung kommen, dass man gerade in Deutschland noch in einer anderen Phase des Abschieds von einer gesellschaftsbreiten Bedeutung des Christentums ist. Bischof Georg Bätzing erläuterte genau dies während einer Pressekonferenz zum Synodalen Weg auf dessen Hälfte. Man wolle herausfinden, wo noch etwa Stellschrauben zu finden seien, um die Entkirchlichung (Säkularisierung wird also vornehmlich durch die Kirchenbrille betrachtet) abzufedern. Das wäre nach Kübler-Ross die Phase des Verhandelns. Während der Presskonferenz zum Abschluss des Synodalen Wegs klang dies allerdings weitaus begrenzter: Die Austrittswelle derjenigen, die nie einen wirklichen Kontakt zur Kirche bekommen hätten, sei sicher nicht zu stoppen. Allerdings für diejenigen, die noch da sind, seien die Themen des Reformvorhabens durchaus entscheidend (und sicherlich auch für die Betroffenen des sexuellen Missbrauchs!).

Es hilft alles nichts, so sagen sie, man wird sich auch in Deutschland den Realitäten eines radikalen Desinteresses an Glaubensthemen mit allen Konsequenzen stellen müssen.

Aus niederländischer Sicht erscheinen solche Feststellungen – gerade in den Ohren derjenigen, die die Reformvorhaben aus den 1960er und 70er Jahren erlebt haben – wie Töne aus vergangenen Zeiten. Es hilft alles nichts, so sagen sie, man wird sich auch in Deutschland den Realitäten eines radikalen Desinteresses an Glaubensthemen mit allen Konsequenzen stellen müssen.

Sich allein „ad intra“ neu aufzustellen erweist sich lediglich als eine Seite der Medaille. Hier sollte man sich durch Phänomene einer „Catholic Aesthetic“, auch in ihren deutschen Parallelformen einer „Kultur- oder Sozialreligion“, die für ihr Bestehen keinen dezidierten Transzendenzbezug nötig hat, nicht blenden lassen. Bei all dem zeigen sich die bisherigen Strategien der katholischen Lager als nicht weiterführend. Hier steht in Deutschland insbesondere eine strukturell-organisationale Problembearbeitung einer identitätsbezogenen-traditionalen gegenüber. Sucht die eine ihr Heil in Strukturprozessen oder Umbaumaßnahmen der Organisation, proklamiert die andere eine „neue Evangelisierung“ als Königsweg in eine neue Zukunft. Die Erfahrung zeigt allerdings: Beides löst das Problem nicht.

Weiter geht es hingegen da, wo ein Gott erfahren wird, der befreit, rettet, dem Leben etwas hinzufügt, was dieses aus sich selbst nicht hat oder kann.

Weiter geht es hingegen da, wo ein Gott erfahren wird, der befreit, rettet, dem Leben etwas hinzufügt, was dieses aus sich selbst nicht hat oder kann. Dass das auch in Zukunft möglich ist, dafür braucht es eine Kirche: dass diese Botschaft vom Heilwerden der Welt auf vielerlei Weise weitererzählt werden kann. Aber es braucht nicht allein die Kirche als Erzählgemeinschaft, sondern auch den Geist, der nicht selten unabhängig von all dem wirkt. Vielleicht wäre eine Selbstrelativierung der Kirche, wie sie das Zweite Vatikanum bereits in diesem Sinne vorgedacht hat, ein (geistliches) Gebot der Stunde.

Praxis

Gott in Allem und Alles in Gott

Grundintuitionen des Panentheismus

1) „Gott“ ist ein Wort – zunächst nur ein Wort. Es wird gesagt, bedacht, gebraucht, beschwiegen. Es bedeutet etwas, kann in bestimmter Weise verstanden oder auch miss-verstanden, benutzt und gar ersetzt werden. Imponierende, aber auch ganz schlichte Bilder, Einsichten, Empfindungen, Erlebnisse, Fragen lassen sich mit ihm verbinden. Manchmal – wie bei so vielen anderen Worten unseres Alltags – gebraucht man es einfach, ohne sich ausdrücklich Rechenschaft über seine Bedeutung abgelegt zu haben; sie mag dann im jeweiligen Zusammenhang spontan einleuchten, aber ein vertiefter Sinn und ein klares Verständnis müssen dabei nicht aufgehen. Auch „Gott“ ist ein solches Wort. Man muss aufhorchen und innehalten, wenn es sich in seinem Vielklang aufschließen soll.

Viele wache Menschen empfinden ein Unbehagen darüber, dass im Getriebe der modernen Funktionsgesellschaft, aber auch im Gefüge der kodifizierten Religionen ein Sinn und Gespür für die Wirklichkeit „Gottes“ oder des „Göttlichen“ jenseits reglementierter und offizieller „Gott-Rede“ abhandengekommen ist. „Aber manche Leute wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen, und wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und des Käses und deines eigenen Nutzens. So halten’s alle jene Leute, die Gott um äußeren Reichtum oder inneren Trostes willen lieben; (…).“1

Manchmal – wie bei so vielen anderen Worten unseres Alltags – gebraucht man das Wort “Gott” einfach, ohne sich ausdrücklich Rechenschaft über seine Bedeutung abgelegt zu haben

Auch wenn dieses Diktum aus der Feder des Meister Eckart drastisch und überzeichnet sein mag, kennzeichnet es auf eine realistische Weise jedoch eine Grundform unseres Gottesverhältnisses: die der pragmatischen Nutzung seiner vermeintlich alle unsere endlichen Vermögen übersteigenden Allmacht oder einer Instanz der Letzterklärung oder -verursachung von Ereignissen und Erlebnissen, deren schiere Wucht unsere Deutungskapazitäten übersteigen. Dann ist Gott womöglich – immerhin – ein Trostpflästerchen für die körperlichen und seelischen Verwundungen, wenn uns die eingespielten Mechanismen der Leid- und Freudbewältigung endgültig auf unsere unüberwindlichen Begrenzungen zurückwerfen.

Demgegenüber äußert sich jedoch auch ein religiöses Bewusstsein, wonach das Göttliche eine Form von Präsenz habe, wonach es die erfahrbare Wirklichkeit in all ihren dinglichen und lebendigen Dimensionen formt und in sich einbegreift. Dass solche Intuitionen nicht bloß esoterisch-überspannten Charakter zum Ausdruck bringen, sondern eine Rationalität eigenen Typs darstellen, – und dies im reflektierten Überstieg über die Möglichkeiten hergebrachter und ausdrücklicher „Ding-Rede“ – gehört zu den grundlegenden Einsichten dessen, was in der religionsphilosophischen Tradition als Form und Vollzug eines „spekulativen Denkens“ gelten kann.

Zu allen Zeiten haben sich Gedanken und Vorstellungen von „Gott“ herausgebildet, die einen prägenden Einfluss auf die soziale und kulturelle Dimension von Gesellschaften ausübten.

Was also ist eigentlich gemeint, wenn wir von „Gott“ sprechen? In jedem Menschenleben und zu allen Zeiten haben sich Gedanken und Vorstellungen von „Gott“ herausgebildet, die zudem einen prägenden Einfluss auf die soziale und kulturelle Dimension von Gesellschaften ausübten. In der Geschichte menschlichen Denkens ist die Frage danach, worauf sich der Gottesgedanke bezieht, immer präsent geblieben. Sie bezeugt, dass es nicht beliebig war, als was und wie das mit dem Wort „Gott“ Bezeichnete zu verstehen sei. Es ist die überwältigend-beseligende, alles umfassende Macht, auf die sich der Mensch in kultischer Verehrung und Hingabe bezogen fühlen kann. Ganz grundlegend jedoch – und im Ansatz ausdrücklicher philosophischer Reflexion, die mit den Vorsokratikern im 6. Jahrhundert v. Chr. beginnt – steht der Gottesgedanke in engster Verbindung mit einer Reflexion auf die Ursprungsdimension der Wirklichkeit im Ganzen. Und jener „Ursprung des Ganzen“, durch den sich das Ganze der Wirklichkeit thematisieren lässt, wird in diesem Zusammenhang „als das eigentlich Göttliche“2 gedacht.

Ganz grundlegend jedoch steht der Gottesgedanke in engster Verbindung mit einer Reflexion auf die Ursprungsdimension der Wirklichkeit im Ganzen.

2) Um nun deutlicher zu begreifen, was – ungeachtet der vielen Bedeutungsvarianten – der Begriff „Panentheismus“ bezeichnet, muss der Grund-Gedanke des Verhältnisses von Einheit und Verschiedenheit erläutert werden. Dessen Evidenz zeigt sich auch im alltäglichen Erleben und Denken: etwa durch die Erfahrung der leiblichen Einheit in der Verschiedenheit ihrer Funktionen; eine Vorstellung von der Einheit des Universums in der Ordnung seiner Veränderungen, oder im Wissen um die grundlegende Bezogenheit von allem Wirklichem untereinander. Was bedeutet das? Um nämlich irgendetwas als seiend und Teil der Wirklichkeit zu denken, muss es als eine Einheit, als etwas Bestimmtes gedacht werden. Denn jedweder Denkgegenstand ist eben ein solcher und darin unterscheidbar von anderen Denkgegenständen bzw. allen anderen „Weltgehalten“. Die Idee von Einheit in Verschiedenheit muss bereits in Anspruch genommen sein, damit überhaupt etwas gedacht werden kann. Insofern also Einheit der Grund alles Seienden und Denkbaren ist, ist auch das Nicht-Eine, das Viele, letztlich durch die Einheit bedingt.

Dieses Verhältnis lässt sich noch weiter entfalten: In meiner sinnlich-geistigen Wahrnehmung identifiziere ich demgemäß einen bestimmten Gegenstand immer in Relation bzw. im Unterschied zu anderem Wahrnehmbaren (konkret anwesend im Raum oder in meinen Gedanken). Und die Bedingung der Möglichkeit von Wahrnehmung und Verstehen überhaupt ist das Bei-Sich-Sein, die Einheit des erlebenden, wissenden Bewusstseins meiner selbst, ohne das kein Denken und Handeln möglich wäre. Dieser Selbstbezug vollzieht sich zudem in der Möglichkeit einer unendlichen Beziehung auf alles Denkbare und Seiende. Und diese grundlegende einbegreifende Bezogenheit von Allem mit Allem bildet schließlich einen Sinn von Wirklichkeit, der die Intuition einer fundamentalen Einheit und Ganzheit nahelegt, die im subjektiven Bewusstsein präsent ist.

Alles einzelne Bestimmte ist nur denkbar im Aus- bzw. Vorgriff auf ein Ganzes, das die Identität-Differenz-Struktur des Wirklichen ermöglicht.

Die Pointe ist demzufolge, dass jener alle Bestimmtheit ermöglichende Bezug von Identität und Differenz nur im Horizont eines Ganzen verstehbar ist, „vor dem sich jedes bestimmte Etwas erst als von anderem Verschiedenes und mit sich Identisches abhebt.“3 Ohne ein Ganzes, das sowohl einen bestimmten Einzelgegenstand etc. als auch alle anderen Weltgehalte, von denen sich ein Einzelnes notwendig abhebt, umfasst, wäre eine Identität mit sich durch Differenz zu Anderem weder denkbar noch erkennbar; es gäbe sie nicht. Daraus folgt, dass alles einzelne Bestimmte nur denkbar ist im Aus- bzw. Vorgriff auf ein Ganzes, das die Identität-Differenz-Struktur des Wirklichen ermöglicht. Dieses Ganze ist zu verstehen als der notwendig mitzudenkende Horizont, in dem alles Bestimmte als es selbst auftreten kann. Sofern also etwas als Bestimmtes gedacht bzw. erkannt wird, wird jenes Ganze notwendig mitgedacht, weil anders das Denken selbst nicht zu verstehen ist. Das Denken der Ganzheit kann von (der Erfahrung) seiner Wirklichkeit nicht getrennt werden.

Gott, als Ursprung der Wirklichkeit im Ganzen, ist mit allem Wirklichen unendlich und innerlich eins und in dieser Einheit von allem Wirklichen unendlich und wesenhaft verschieden.

3) Hat man diese hier nur skizzierte Gedankenfolge bezüglich Einheit und Verschiedenheit erfasst, lässt sich ein Gottesgedanke, der im „Panentheismus“ seinen Ausdruck findet, folgendermaßen auslegen: Gott, als Ursprung der Wirklichkeit im Ganzen, ist mit allem Wirklichen unendlich und innerlich eins und in dieser Einheit von allem Wirklichen unendlich und wesenhaft verschieden. Dies ist eine systematische Umschreibung der etymologischen Wortbedeutung von „Panentheismus“, die besagt, dass „Alles in Gott“ ist. Damit ist jedoch lediglich eine Grund-Intuition umrissen, deren begriffliche Elemente begründungsbedürftig sind. Diese werden aber klarer, wenn man den Panentheismus im Kontext anderer Gottesgedanken betrachtet, in denen das Verhältnis Gottes zum Endlichen thematisiert wird, und von denen er abzugrenzen ist.

Die klassisch-theistische Position besagt, dass die Welt und alle Endlichen von Gott geschaffen sind und zu ihrem Fortbestand seiner wirkenden Präsenz bedürfen. Grundlegend ist hierbei die Unterscheidung zwischen dem transzendenten Gott als Schöpfer, dessen Wirklichkeit eine von der Welt prinzipiell getrennte ist, und der kontingenten Welt als Schöpfung. Damit ist dann auch das Verhältnis von Gott und Mensch als das Nebeneinander fundamental Unterschiedener zu beschreiben.

Gott und Welt sind dadurch ineins gesetzt, wobei auch ihr jeweiliges Eigensein, als voneinander Unterschieden-Sein, verschwimmt.

Als Gegenpol dazu behauptet eine pantheistische Position eine wesentliche Identität von Gott, Welt und Mensch, der keine Differenz innewohnt; Gott und Welt sind dadurch ineins gesetzt, wobei auch ihr jeweiliges Eigensein, als voneinander Unterschieden-Sein, verschwimmt.

Demgegenüber bestimmt nun der Panentheismus das Verhältnis von Gott und Welt in einer Art Differenz-Einheit, wonach zwischen dem Göttlichen und der endlichen Wirklichkeit eine besonders enge Beziehung in der Weise besteht, dass alles Endliche in einer Einheit mit Gott besteht und dem, was das Eigensein Gottes ausmacht, zugleich auch wesentlich angehört. Entscheidend dabei ist gleichermaßen die Annahme, dass diese Einheit ihre jeweilige Unterschiedenheit nicht aufhebt, insofern Gott als Ursprung der Wirklichkeit im Ganzen und darin als Grund von eigenständig-anderem Wirklichen zu denken ist. Die Grundintuition des Panentheismus als umfassende All-Einheit des Wirklichen behauptet also eine wesentliche Nicht-Differenz von göttlichem Grund und endlichem Seienden. „Diese Nicht-Differenz muss im Sinne der Nicht-Ursprünglichkeit der Differenz verstanden werden, impliziert also nicht, dass die Differenz überhaupt entfallen ist.“4

„Gott ist in Allem“ meint nicht, dass Gott sich mit dem von ihm umgriffenen Wirklichen identisch macht.

Wie lassen sich diese Gedanken konkretisieren? „Alles ist in Gott“ bedeutet nicht ein bloßes räumliches Eingeschlossen-Sein des Wirklichen in Gott. Es kann vielmehr als das, was es konkret ist, nur von Gott her bestimmt werden, weil es in all seinen Existenzvollzügen von ihm umfasst und umgriffen ist. „Gott ist in Allem“ meint nicht, dass Gott sich mit dem von ihm umgriffenen Wirklichen identisch macht. Er ist in seinem Gott-Sein unendlich über alles Wirkliche erhaben und das, wie Anselm von Canterbury sagt, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann. Nichts kann „außerhalb“ Gottes, als Ursprung des Ganzen, überhaupt wirklich sein.

Gerade durch und in der Identität der Seienden mit Gott wächst ihre Eigenständigkeit und somit Differenz von ihm, dem absoluten Sein.

Der Kerngedanke des Panentheismus, dessen Grundgedanken der Sache immer schon ein „Tiefenstrom“ christlichen Denkens (etwa bei Meister Eckart oder Nikolaus von Kues) gewesen ist,5 besagt also das In-Sein Gottes im Endlichen. Gott als absoluter Einheitsgrund ist nicht nur Schöpfer einer von ihm unendlich verschiedenen Welt, sondern hat sich in dieser Selbstmitteilung auch zum immanenten Prinzip und Ursprungsgrund dieser Welt gemacht. In seiner Immanenz in allem offenbart sich seine Transzendenz und Verschiedenheit von der Welt und ihren Geschöpfen. Auf der anderen Seite ist die dadurch gegebene geschöpfliche Einheit mit Gott, als Teilhabe an seinem unendlich-transzendenten Sein im Modus ihrer konstitutiven Endlichkeit verwirklicht, worin sie von Gott unendlich verschieden ist. Nur wenn man diesen Zusammenhang von Einheit und Verschiedenheit konsequent berücksichtigt, ist zu verstehen, dass die Selbstmitteilung Gottes und das individuelle Eigensein, die bleibende Differenz also, in gleichem Maße wachsen. „Diese Selbstmitteilung Gottes, in der Gott gerade als der absolut Transzendente sich mitteilt, ist das Immanenteste an der Kreatur.“6 Der Akzent liegt darauf, dass gerade durch und in der Identität der Seienden mit Gott ihre Eigenständigkeit und somit Differenz von ihm, dem absoluten Sein, wächst. Letztendlich ist Alles auf die einzige absolute (= göttliche) Wirklichkeit zurückzuführen. Dieser Gedanke impliziert aber eben die im Maße der Einheit mit dem göttlichen Sein bestehende wirkliche Eigenständigkeit bzw. Differenz von jeglichem Seienden, weil im Maße des je verwirklichten Eigenseins eben auch die Verschiedenheit des Geschöpflichen wächst.

4) Das Konzept des Panentheismus hat nicht nur spekulatives Gewicht. Zwei abschließende Gedanken mögen dies aufzeigen. Insofern Gott das „Nicht-Andere“ (Nikolaus von Kues) zu jedem Wirklichen ist, lässt sich auch die aus einer überzogenen Unterscheidung von Gott und Welt resultierende Kluft zwischen Glaube und Leben überbrücken. Denn Alles (Wirkliche) – der routinierte Alltag, die Erfahrung der Not, aber eben auch die Erlebnisse der Schönheit, der Natur, der Kunst – ist in diesem Sinne als Ausdrucksform der einen göttlichen Wirklichkeit erfahrbar.

Der Panentheismus glaubt mit guten Gründen, dass auch das Leid, auf Wegen, die wir nicht kennen und verstehen, noch von Gott umgriffen und erlöst ist.

„In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ (Apg 17, 28) Wenn dies stimmt: Was bedeutet das in den Erfahrungen von Not, Schuld und Leid? Offensichtlich nicht, dass Leid und Böses in Gott verschwinden. Deren Realität scheint ungebrochen, und die Frage, ob Gott sich davon überhaupt berühren lasse, hat sich wohl schon jedem glaubenden Menschen aufgedrängt. Ob wir mehr hoffen können, als das Leiden eben auch nicht außerhalb Gottes zu wähnen, sei dahingestellt. Schlimmer und kaum zu ertragen wäre es wohl annehmen zu müssen, dass das Leid noch nicht einmal einen Raum in der göttlichen Wirklichkeit habe, sondern eisiges, gnadenloses Verhängnis sei. Und selbst wenn es dies in unserem Erleben wäre, glaubt der Panentheismus mit guten Gründen, dass auch das Leid, auf Wegen, die wir nicht kennen und verstehen, noch von Gott umgriffen und erlöst ist.

Praxis

Gotteszeugnis: Das Wagnis der Selbstüberschreitung in Erinnerung an eine offene Zukunft

„Gott“ – ein riskantes Versprechen

Es ist riskant und umstritten, von Gott zu sprechen. Jedenfalls dann, wenn solche Rede sich auf die Wirklichkeit Gottes bezieht, von ihr Zeugnis gibt und damit auch bereit ist, sich von ihr bestimmen und verändern zu lassen.

Es geht dann nicht nur darum, dass Glaube und Religion in einer säkularen und pluralistischen Gesellschaft umstritten sind oder dass die Existenz Gottes bestritten wird. Gerade im Ernstnehmen Gottes, in der religiösen Beziehung zu Gott und im Wagnis des Glaubens wächst das Risiko, die Wirklichkeit Gottes auch verfehlen zu können, einer Illusion zu erliegen oder Gott mit eigenen Konstrukten zu verwechseln. Dieses Risiko potenziert sich, sobald ich gegenüber dritten diesen Gott bezeuge und verkünde, dabei aber Gefahr laufe, die Beschränkungen und Verzerrungen der eigenen Gottesbilder anderen weiterzugeben.

Das, worauf das Wort ‚Gott‘ verweist, lässt sich nicht eindeutig greifen.

Religionskritik und eine ständige Selbstaufklärung und Läuterung des Glaubens tun also Not – gerade dann, wenn ein gläubiger Mensch es ernst meint mit seiner Rede von Gott. Aber liegt hier nicht gerade das Problem? Das, worauf das Wort ‚Gott‘ verweist, lässt sich nicht eindeutig greifen: Die Wirklichkeit Gottes ist dem menschlichen Zugriff entzogen und lässt sich nicht abschließend vergewissern. Das gilt für die Versuche, Gottes Existenz und Wesen zu beweisen wie für die Versuche seine Existenz zu widerlegen oder den Gottesbegriff als unsinnig oder überflüssig beiseite zu legen.1 Mit dem Wort „Gott“ steht zur Debatte, was den Menschen unbedingt angeht, was die Wirklichkeit als Ganze begründet und worauf diese Wirklichkeit zuläuft, ob sie letztlich Sinn, Ziel und Bestand hat. Das Wort „Gott“ ist darin weniger eine Legitimations- und Begründungsvokabel für die Welt, wie wir sie faktisch vorfinden, als eine Orientierungs- und Zukunftsvokabel, die auf eine ursprüngliche, „eigentliche“ und letzte Wirklichkeit zielt, darin einen Raum des Möglichen eröffnet und die Frage aufwirft, was am Ende wirklich und möglich (gewesen) sein wird: was am Ende bleibt.2

Das Wort „Gott“ ist weniger eine Legitimations- und Begründungsvokabel für die Welt, wie wir sie faktisch vorfinden, als eine Orientierungs- und Zukunftsvokabel, die auf eine ursprüngliche, „eigentliche“ und letzte Wirklichkeit zielt.

Das Wort ‚Gott‘ ist so eng mit der Struktur des futur2 verbunden, welche dieses Magazin leitet. Es ist ein Versprechen, das in der Geschichte mit Gott (und ihren „gefährlichen Erinnerungen“) gründet, das aber in seiner Erfüllung noch nicht eingelöst ist, jedoch das Handeln im hier und jetzt ausrichten und mit Hoffnung erfüllen kann.3

Die Versuchung des Positivismus als praktischer Atheismus

Angesichts des genannten Risikos und der Unmöglichkeit, Gott zu greifen, liegt eine erste Gefahr darin, die Frage nach Gott als irrelevant, unsinnig oder überholt beiseitezulegen. Wenn in der Konsequenz die faktisch gegebene, materielle, kausal beschriebene Welt zum letzten Horizont der Wirklichkeit wird, so wird auch auf der praktischen und politischen Ebene die Macht des Faktischen zu einer letzten Instanz und die Geschichte zu einer Geschichte der Sieger. Würde das Wort ‚Gott‘ gänzlich verschwinden, würde der Horizont verschlossen, der es möglich macht, die Welt und uns selbst als Ganze zu hinterfragen, alles Faktische und die bestehenden Verhältnisse zu kritisieren und auf eine Idee von Wahrheit, Gerechtigkeit und barmherzige Güte hin zu überschreiten, die wir weder herstellen noch einholen können und an der sich menschliches Handeln doch orientieren kann. Der Mensch würde sich „zurückkreuzen zum findigen Tier“, wie Karl Rahner es formuliert hat.4

Angesichts des Risikos und der Unmöglichkeit, Gott zu greifen, liegt eine Gefahr darin, die Frage nach Gott als irrelevant beiseitezulegen. Nicht weniger gefährlich ist die gegenläufige Tendenz.

Den Horizont menschlichen Handelns bildet dann nicht eine offene, mit der Hoffnung auf die Möglichkeiten Gottes verbundene Zukunft, sondern eine Zukunft, die als Verlängerung der Vergangenheit von Tendenzen der Gegenwart bestimmt ist und in eine Dialektik von Fortschrittsglauben und Katastrophenängsten führt.5 Das persönliche und politische Handeln ist dann entweder von instrumenteller Vernunft, Zweck-Mittel-Relationen und der Herrschaft über die Natur, über Dinge und Menschen bestimmt; oder es folgt unter dem Druck drohender Katastrophen einer Logik des Krisenmanagements und des Ausnahmezustands, in dem „Experten“ als Ausleger des Faktischen unvermeidliche Sachzwänge und alternativlose Handlungsprogramme exekutieren. Glaube oder Unglaube zeigen sich mehr in der geschichtlichen Praxis einer Zeit als in der Selbstzuschreibung von Religiosität: Die politische und lebenspraktische Irrelevanz Gottes ist der eigentliche Atheismus.

Die Versuchung der Identifikation Gottes als religiöser Positivismus

Nicht weniger gefährlich ist die gegenläufige Tendenz, angesichts der Unverfügbarkeit Gottes zu eindeutigen Antworten Zuflucht zu nehmen. Einem geschlossen immanenten Weltbild steht spiegelbildlich ein religiöser Positivismus gegenüber, der die Entzogenheit Gottes und die Strittigkeit religiöser und nichtreligiöser Antworten „fundamentalistisch“ überspielt und eine Absolutheit, Gewissheit und Ausschließlichkeit beansprucht, die Zweifel und Infragestellungen nicht zulässt und in Fanatismus oder Gewalt umschlagen kann. Der offene Horizont wird in diesem Fall nicht durch die Suspension der Gottesfrage, sondern durch die Identifikation Gottes verschlossen.

Dies verweist auf die innere Gefährdung des Religiösen, den transzendenten Gott mit einem Konzept, Bild oder Gegenstand zu identifizieren oder einer menschlichen oder kirchlichen Instanz göttliche Autorität zuzusprechen, ohne zugleich die Differenz und Gebrochenheit der Repräsentation mitzumarkieren. Auch hier genügt es nicht, den religiösen Anspruch als solchen zu negieren, da die Verabsolutierung und der Anspruch auf Letztgültigkeit in säkularisierten Geschichtstheologien, in Ideologien und den „politischen Religionen“ der Moderne und Postmoderne wiederkehrt.

Die Kritik menschlicher Identifikationen des Absoluten im religiösen wie im politischen Bereich bildet in biblischer Tradition die Voraussetzung und Präambel für alle weiteren Regeln menschlichen Zusammenlebens (vgl. Ex 20,2-11; Dtn 5,6-15): Das Verbot, nichts Endliches und Kontingentes absolut zu setzen und Gott nicht mit einem Bild oder Konzept zu identifizieren, schützt auch die Unverfügbarkeit und Würde des Menschen; die Anerkennung der Unverfügbarkeit Gottes wendet sich gegen den Missbrauch seines Namens, um menschliches Handeln der Kritik zu entziehen; die menschliche Ordnung von Raum und Zeit darf nicht auf Arbeit und Zweck-Mittel-Relationen reduziert werden, muss offen bleiben für das Zweckfreie, für Staunen, Spiel, Anbetung und Nichtstun. Diese Abgrenzungen gegen eine Aneignung Gottes wenden sich nicht nur gegen religiöse Idolatrie, sondern halten zugleich jenen unabgeschlossenen Weg aus der Sklaverei durch die Wüste ins Land der Freiheit und der Verheißung offen, in dem sich im Buch Exodus der biblische Gott seinem Volk erschließt.

Die auslegungsbedürftige Erfahrung des Heiligen als Aufbruch

Jede Auslegung bleibt ambivalent und begrenzt, sie ist verwiesen auf andere Auslegungen, die sie korrigieren.

Der Exodus wird im biblischen Narrativ von einer Epiphanie des Heiligen eröffnet, in der die Berufung des Mose, die Offenbarung des Gottesnamens und der beginnende Weg der Befreiung des Volkes eng miteinander verschränkt sind (Ex 3). Die Begegnung mit Gott lässt sich nur an der Spur erkennen, die sie in der Geschichte hinterlässt. Der Gott der Väter, wie er in den Aufbrüchen Abrahams, Isaaks und Jakobs erinnert wird, zeigt sich dem Mose, indem er die Schreie seines Volkes hört und ihn dazu beruft, in seinem Namen das Volk in die Freiheit zu führen. Solche Berufung bindet die dem Mose verliehene Vollmacht an die damit verbundene Erfahrung von Ohnmacht und Überforderung: Die prophetische Sendung ist nur durchführbar, wenn sich Gott in ihr als wirksam erweist. Sie lässt sich nicht aneignen. Die Offenbarung des Namens enthält die Zusage dieser Gegenwart und macht Gott adressierbar, aber in ihr entzieht sich dieser Gott zugleich, was die hebräische Bibel darin markiert, dass der Gottesname nicht ausgesprochen wird.

Die religiöse Erfahrung und Epiphanie des Heiligen ergreift den Menschen, führt in eine Umkehr und verpflichtet in unbedingter Weise, aber sie entzieht sich zugleich einer kategorialen Vereindeutigung und bleibt auslegungsbedürftig.6 Jede Auslegung aber bleibt ambivalent und begrenzt, sie ist verwiesen auf andere Auslegungen, die sie korrigieren. Sie führt in eine Wirkungs- und Auslegungsgeschichte in der Gemeinschaft der Gläubigen, die zwar in Kanon und Dogma Grenzziehungen kennt, nicht aber die positive kategoriale Identifikation und Repräsentation Gottes. Würde eine solche beansprucht, würde die Differenz von Bild/Zeichen und Bezeichnetem aufgehoben und die Transzendenz Gottes nicht mehr gewahrt. Die Pragmatik des Gotteszeugnisses kehrt sich um: das Wagnis des Glaubens in Exodus und Nachfolge wird zu einem Versprechen von Sicherheit und „Rechtgläubigkeit“, das Identifikation und Ausschluss ermöglicht. Die Ambivalenz des Religiösen verbietet es aber umgekehrt auch, sich mit der Uneindeutigkeit der Gottesrede einfach abzufinden und in eine religiöse Beliebigkeit auszuweichen, die alles gelten lässt – damit aber auch alles beim Alten lässt und sich letztlich der Macht des Faktischen beugt. Das gilt auch dann, wenn „nur“ der Wirklichkeitsbezug und Geltungsanspruch der Rede von Gott aufgegeben wird: Würde man sich auf die hermeneutische Arbeit an Gotteskonzepten beschränken, ohne die Frage nach der Wirklichkeit Gottes aufzuwerfen, so wäre der Gottesrede ihr „Stachel“ gezogen, die Lebens- und Herrschaftsverhältnisse blieben auch hier unangetastet.

Gotteszeugnis im Futur 2

Ist es aber überhaupt möglich, sich in bestimmter Weise auf die Wirklichkeit Gottes zu beziehen? Oder beziehen sich positive Bestimmungen Gottes immer nur auf das eigene Konzept oder Bild von Gott, sodass ein Verweis auf die Transzendenz Gottes gänzlich unbestimmt, reine Negation bleiben muss? Theologie lässt sich als Austrag dieser Spannung verstehen. Entscheidend ist dabei, wie bzw. in welchem Modus von Gott gesprochen wird.

Wenn in Ex 3,14 der Gottesname mit der Imperfektform des Verbs hjh (sein, geschehen) verbunden wird, so wird die unverfügbare Gegenwart Gottes im Ereignis der Epiphanie aufs Engste mit der Zukunft verknüpft, welche diese Begegnung eröffnet und die dann im Exodusnarrativ entfaltet wird.7 Wer Gott ist, kann nicht einfach „festgestellt“ werden; es bleibt aber auch nicht beliebig oder unbestimmt, was „Gott“ bedeutet. Vielmehr gewinnt die Gottesrede ihre Bestimmtheit in der Geschichte der Menschen mit Gott und Gottes mit den Menschen: Indem im Erinnern der mit Gottes Namen verbundenen Verheißungen und im Vertrauen auf die wirksame Gegenwart dieses Gottes im Vollzug des Lebens (hier und jetzt) auf die Zukunft dieser Verheißungen gesetzt wird.

Im Glauben spiegelt sich das Wagnis einer Praxis.

Damit rückt die Performativität der Gottesrede ins Zentrum: So wie ein Wort Bedeutung durch seine Verwendung erlangt, so gewinnt der Gottesname seine Bestimmungen und Bestimmtheit im geschichtlichen Gotteszeugnis von Menschen, welche im Erinnern der mit dem Gottesnamen verbundenen Verheißungen schon jetzt auf Gottes Zukunft setzen und daraus ihre Gegenwart gestalten. An Gott zu glauben bildet dann mehr als eine Hypothese, die sich aus Distanz beurteilen und demnach entweder annehmen oder ablehnen lässt. Im Glauben spiegelt sich vielmehr das Wagnis einer Praxis, die auf Gottes Wort antwortet und die darin die Glaubenden selbst wie die Geschichte transformiert. In dieser verändernden Kraft gewinnt das Zeugnis Glaubwürdigkeit, insofern es in seiner performativen Struktur weder auf menschliches Tun reduziert noch einfach als göttliches Tun identifiziert werden kann. Nur in der menschlichen Antwort wird das Wort Gottes greifbar, aber als eine Antwort auf das Wort Gottes, welche die Antwortenden und die Geschichte verändert. So werden Gottes Wahrheit und rettende Macht, seine Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, die vielfältigen Attribute und Bestimmungen, die sich mit dem Namen Gottes verbinden, dadurch geschichtlich konkret und wirksam, dass sie im Handeln beansprucht, zugleich aber auf den je größeren Gott und seine Zukunft hin überschritten werden.8

 

Praxis

Wie körperlich befreit. Performanzkritische Theologie als Ansatz für eine heutige Rede von Gott

Eine provokante Choreographie

Am 8. März 2023 wurde ein kurzer Videoclip auf TikTok veröffentlicht, auf dem account einer namentlich nicht bekannten, jungen Iranerin aus Teheran. Das 40-sekündige Video1 zeigt fünf junge Frauen, im Alter von ca. 17 Jahren, vor einer banlieue-artigen Häuserreihe irgendwo in einem Vorort Teherans. Die fünf Frauen tanzen eine Kurzchoreographie zum Song „Cool down“ der Musiker Rema und Selena Gomez2; in urban-style-Kleidung, ohne muslimische Kopfbedeckung, in einem lässigen Stil, mit einer direkten, kommunikativen Art vor der Kamera, im einladenden Kontakt mit den potentiellen Betrachter*innen des Clips. Im Laufe der Kurzchoreographie werden einige Schrittfolgen gezeigt, Oberkörper und Arme bewegen sich rhythmisch hin und her, Haare werden cool nach hinten gewischt, Hüftmoves gezeigt, Herzen mit den Händen geformt, der Clip schließlich mit einem kraftvollen Kick in die Luft beendet. Dazu läuft Remas‘/Gomez‘ Song, der mit seinem Mix aus Reggae- und Pop-Elementen in ruhig-groovigem Sound etwas Engagiertes und zugleich Nachdenkliches hat.

Also eigentlich kein Problem – könnte man meinen. Fünf junge Frauen, in einem Kurzvideo auf TikTok… Das Video jedoch entfaltete eine enorme Wirkung, es wurde innerhalb kürzester Zeit vielfach geklickt und gewann eine weitreichende Sichtbarkeit im digitalen Öffentlichkeitsraum.3 Auch Behörden des iranischen Regimes nahmen den Clip wahr und intervenierten: Die fünf Tänzerinnen wurden identifiziert, von der iranischen „Sittenpolizei“ aufgegriffen und verbrachten u.a. für Vernehmungen 48 Stunden in Polizeigewahrsam. Im Anschluss wurde ein weiteres Video veröffentlicht, das die fünf Frauen nun in einer anderen Weise zeigte: Sie waren erneut im Banlieue-Hinterhof zu sehen, diesmal aber mit dem vorgeschriebenen hijab, und gaben eine Erklärung ab, in der sie sich vom vorherigen Video und der dortigen performance distanzierten und sich für den Tanz als unziemlich entschuldigten.

Politische Erscheinungsweisen von Leben

Der öffentliche impact des Tanzvideos und die enorme disziplinierende Intervention des iranischen Staatsapparats erklären sich vom unmittelbaren und strukturellen, politischen Kontext her. Die Vorschriften des Scharia basierten iranischen Regimes regulieren das Verhalten von Frauen und die Arten und Weisen ihrer Präsenz in der Öffentlichkeit in spezifischer Weise. Öffentliches Tanzen etwa ist Frauen untersagt. Mit dem Verbot dieser und anderer Körperpraktiken geht das Gebot einher, sich außerhalb des privaten Bereichs in bestimmten Weisen zu verhüllen, mit dem hijab, als dem den Kopf oder den Körper insgesamt verhüllenden Schleier. Es existiert in diesem Sinn im Kontext des Videos ein Dresscode, der die Erscheinungs- und Interaktionsweisen von Menschen in der Öffentlichkeit reguliert und orientiert. Als Scharia basiertes stilistisches Regelsystem stützt er sich auf Theologie: Die Erscheinungsweisen, die Präsenzformen und Interaktionsarten werden rückgebunden an die Vorstellung einer göttlichen Autorität, in der diese gründen, ihre Legitimität und Autorität erhalten eine religio-politische Ästhetik.

Im unmittelbaren zeitlichen Kontext des Videos, seit Beginn des Septembers 2022, war es im Iran zu einer starken Protestwelle u.a. gegen diese Regulierungen der öffentlichen Sphäre, der Einschränkung der Präsenz von Frauen gekommen, verbunden mit intensiven Forderungen nach gender equality und der Realisierung von Menschenrechten für Frauen und Männer gleichermaßen. In die Proteste spielten verschiedene Formen eines erstarkten iranischen Feminismus hinein, der sich in den vergangenen 15 Jahren in der iranischen Bevölkerung etabliert hat.4

Auch hier hatte die iranische Regierung bereits mehrfach interveniert. Die Proteste brandeten in besonderer Intensivität auf, nachdem eine junge Frau Mitte September 2022 in Polizeigewahrsam ums Leben gekommen war. Grund der Verhaftung war ebenso ein Verstoß gegen den öffentlichen Dress-/Disziplinarcode. Ein Brennpunkt der Proteste lag im Teheraner Stadtteil Ekbatan, eben jenem Bereich, in dem später der Videoclip der fünf Tänzerinnen gedreht wurde.

Zeichenhafte Wirksamkeit

Die Choreographie der fünf Tänzerinnen in ihrem Videoclip ist ein Akt besonderer Art mit einer eigenartigen Wirksamkeit. Das Video lässt sich zunächst einfach als ein Akt des zivilen Ungehorsams gegenüber als repressiv wahrgenommenen Autoritäten interpretieren. Deren Dresscode, der damit verbundene Disziplinarcodex und die Regulierung dessen, was „gesehen“ und öffentlich zutage treten kann, werden zurückgewiesen und überschritten.

Es handelt sich dabei um keine säkulare, sondern eine religiös imprägnierte Form des zivilen Ungehorsams. Ob sich die Tänzerinnen selbst als religiöse Personen sehen, empfinden und ihrem Tanz eine religiöse Konnotation geben, wird im Video nicht ersichtlich; die subjektive Gläubigkeit der jungen Frauen ist dabei auch weniger von Belang und nicht entscheidend. Die religiöse Imprägnierung steckt vielmehr im sozialen, politischen Kontext, in dem das Video erscheint und aus dem es hervorgeht. Als widerständiger Akt richtet es sich gegen Dress- und Disziplinarcodes und damit – wenigstens implizit – gegen die ästhetiko-politische Religiosität, welche die Codes bedingen und begründen.

Der Tanz lässt sich dabei nicht nur als ein Akt der Zurückweisung interpretieren, also als eine negative Geste, er hat auch etwas Konstruktiv-Positives, eine Kreativität eigener Art. Er vollzieht in und durch sich selbst eine andere Form der Körperlichkeit, die sonst aus der Sphäre der Öffentlichkeit ausgeschlossen, darin gewissermaßen inexistent ist. In der bisherigen, religiös grundierten Hegemonie der Erscheinungsformen hat er keine Gestalt. Jetzt aber wird diese andere Art und Weise, körperlich da zu sein, aktiv zu werden und zu interagieren wirklich umgesetzt, vollzogen.

Das auf den Boden gelegte Smartphone zeichnet und streut diese Praxis anderer Art in den digitalen Raum, gibt ihm Sichtbarkeit und erzeugt darin Körperlichkeit in einem nochmals weiteren, grundlegenderen Sinn: Dieses Leben in anderen, befreiteren, vitalisierten Formen erscheint, wird verkörpert in den mannigfaltigen Brechungen der digitalen Medien. Es handelt sich um Lebensweisen von jungen Frauen, die bisher nicht sichtbar, vielleicht nicht lebbar waren, jetzt aber zur Geltung gebracht werden. Die politische „distribution du sensible“ (Rancière) von körperlichen Existenzweisen wird hier aufgebrochen, unterlaufen und kreativ überschritten.

Die Choreographie stellt in diesem Sinn nicht einfach nur eine Forderung für die Zukunft dar, wie sie beispielweise in einem schriftlichen Manifest oder einer politischen Rede geäußert werden könnte. Eine solche Forderung wäre etwas, das für die Zukunft gefordert, jetzt aber noch als abwesend bestimmt wird.

Der Tanz funktioniert anders: Er fordert nicht nur etwas ein, das er als Gedankenspiel für die Zukunft allein entwirft, sondern er nimmt es bereits jetzt in Anspruch und vollzieht es. Der Raum einer erneuerten, veränderten Sinnlichkeit, einer befreiteren Körperlichkeit und vitalen Ästhetik, wird hier und jetzt konkret in Anspruch genommen. Er wird in und durch die Choreographie und ihre digitale repetition vervielfältigt und im Tun performativ realisiert. Zugleich steht seine politische Legitimierung, die Anerkennung des andersartigen Lebens jenseits der bisherigen dressierenden Zwänge auf Dauer noch aus. Der Tanz reißt in diesem Sinn ein „schon und noch nicht“ auf, eine Art liminale Existenzweise, in der in der Transgression der Grenzziehungen der Verteilung des Sinnlichen und seiner ästhetiko-politischen Religiosität ein Raum wirklich anders-möglichen Lebens für einen kurzen Moment Realität wird.

Soziale Verkörperungen

Diese eigenartige Wirksamkeit hat eine soziale Dimension. Die Inanspruchnahme und Realisierung (das Wirklichwerden und Sichtbarwerden, realization) dieser anderen Körperlichkeit und Vitalität findet nicht nur im Rahmen der Aufzeichnung im Tanz der fünf jungen Frauen statt. Teil dieses Vorgangs ist auch, dass viele Menschen den Clip nicht nur sehen und betrachten, sondern in seinem move sozusagen mitgehen. Konkret: Die gezeigte Choreographie der fünf jungen Iranerinnen findet in vielfältiger Weise Nachahmer*innen. Andere Menschen re-performen die Choreographie in den eigenen Kontexten in unterschiedlichsten Kontexten weltweit. Sichtbar werden diese Re-Enactments wiederum in sozialen Medien, weil die Mit-Tänzer*innen eigene Videos produzieren und diese online veröffentlichen.

Der Clip der fünf Iranerinnen geht in diesem Sinne nicht nur „viral“, er geht im wirklichen/wirksamen Sinn auch „korporal“, d.h. er setzt sich in den Körperpraktiken der Beobachter*innen fort, zeichnet sich dort selbst ein, die dadurch zu Ko-Performerinnen werden, und durchformt, performed deren Realität. Es ist mehr als eine Nachahmung, es handelt sich um einen Mitvollzug, eine participatio actuosa. In ihr wird jene andere Körperlichkeit zur Geltung und zur Gestaltung gebracht – performed, verkörpert –, die in den moves der Tänzerinnen in Ekbaktan in und aus der strittigen Situation erstmals erscheint. Es handelt sich insofern um einen Akt der Solidarität, der korporal geteilt und realisiert wird. Wo die performance der fünf Iranerinnen mitvollzogen wird, wird deren andersartige Präsenz, Sichtbarkeit, Körperlichkeit im Akt der Re-Performance als erstrebenswert anerkannt und im Vollzug geteilte soziale Wirklichkeit. Der Tanz ist zeichenhaft wirksam.

In dieser Dynamik öffnet sich dann zugleich ein Raum der Entscheidung: Es stellt sich die Frage, ob die hier in Anspruch genommene andere soziale Realität auch zu einer politischen Realität wird, und ob aus der korporalen Solidarität der Menschen, die mittanzen, auch ein politisches Engagement wird, um die strukturellen politischen Bedingungen der Möglichkeit für dieses Leben anderer Art und seiner verkörperten Freiheit Wirklichkeit bleiben zu lassen.

Ist der Mitvollzug nur ein temporärer Hype, oder wird er zum Versprechen auf eine zukünftige Realisierung, die das auf Dauer stellt, was jetzt schon interaktiv und sozial angebrochen ist? Futur 2: Wird der Tanz heute in Zukunft als etwas gesehen sein, das Bedingungen der Sichtbarkeit und Lebbarkeit auf Dauer wirksam verändert hat? Können wir daran glauben und darauf vertrauen, dass die participatio actuosa diese Versprechensdimension und konsequente Entschiedenheit annimmt?

Frage nach Gott: eine Frage der sozialen und politischen Erscheinungsformen

Im Tanz der fünf Iranerinnen gibt es zusammen mit der politischen Dimension, wie oben angeklungen ist, auch eine theologische.

Diese theologische Dimension hängt aus meiner Sicht nicht primär mit der Frage zusammen, ob die fünf Frauen an einen Gott glauben, ihre andere Art zu sein und Körperlichkeit in Anspruch zu nehmen, mit Glaubensthemen in Bezug setzen oder sie theologisch reflektieren. Das Video erzählt davon nichts. Die theologische Dimension steckt vielmehr in den Kontexten, in den Diskursen und Praktiken, auf die sich die performance der fünf Iranerinnen bezieht und von denen sie herkommt: Ihre ästhetiko-politische Lage ist religiös imprägniert, und sie hat damit wenigstens latent eine theologische Dimension. Indem nun die performance das religiös grundierte Regime der Sichtbarkeit verhandelt, verhandelt sie damit auch implizit, im korporalen Vollzug, die theologische Dimension.

Es gibt in diesem Sinn eine (nicht subjektbasierte, aber strukturell angelegte) performative Theologie in der ästhetiko-politischen performance der fünf Iranerinnen. Sie ist ein theologischer und politscher Ort, eine theologische und politische Form, in der ästhetiko-politische Regularien inklusive ihrer Religiosität verhandelt und ggfs. verändert werden. Theologische Fragen, die hier entstehen, sind u.a.: In welcher Art und Weise interagiert dieser Gott mit menschlichen Leben und besonders in Bezug auf die Formen der Verkörperung, in , Lebensstile bestimmen? Ist Gott informativ, d.h. lässt sich mit Gott ein Regime der sinnlichen Formen festzurren? Ist Gott eher performativ, im Vollzug anwesend, besonders dort, wo sich befreiende, vitalisierende andere Formen von Leben auftun, die nicht schaden, sondern soziales Leben vitalisieren, Verbundenheit stärken und Menschen über sich hinausführen?

Was ich vorausgehend kurz und eher essayartig mit Bezug auf den Tanz der fünf Iranerinnen rekonstruiert habe, findet sich in ähnlichen Weisen auch in vielen anderen gesellschaftlichen, politischen Kontexten. Menschen treten in der Öffentlichkeit auf, weisen bestehende Handlungs-, Darstellungs-, Lebensweisen zurück und nehmen hier und jetzt andere Arten zu sein in Anspruch. Man kann von einem Bereich der „Polito-Perfomatik“5 sprechen, d.h. einem Lebens- und Gestaltungsbereich innerhalb unserer Gesellschaften, der weniger von verbalen, diskursiven Argumenten gebildet und strukturiert wird, sondern von oft nonverbalen, körperlichen, rituellen, künstlerischen, tänzerischen Praktiken – von körperlichen performatischen Praktiken aller Art.

Dieser Bereich der Polito-Performatik beinhaltet häufig Bezüge auf Glauben, Religion, religiöse Traditionsbestände, Transzendenzerfahrungen und Theologie. Es gibt viel Theologie in politischen Inszenierungen und repräsentativen, performatischen Praktiken, quer durch alle politische Lager hindurch: die Protestperformance von Pussy-Riot in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau, die Osteransprachen Zelenskys als Ermutigungsbotschaften für die Ukrainer*innen zu Ostern 2022 nach Beginn des Russischen Angriffskrieges, Gedenkrituale von Politiker*innen, subversive Wiederaneignungen und Umdeutungen von religiösen Symbolen aus kolonialen Zeiten durch Künstler*innen in Südamerika, anonyme Praktiken im Alltag.

Wenn es zutrifft, dass wir es im Feld der Polito-Performatik mit zahlreichen Bezügen zu religiösen Elementen und theologischen Gedanken zu tun haben, dann ergeben sich daraus zwei Impulse für Rede von Gott, Theologie heute.

Der erste: Wir leben nicht einfach in säkularen Welten. Selbst wenn die individuell messbaren Gottesbezüge an Relevanz verlieren, sind politische Diskurse von theologischen Aspekten und Glaubensbezügen geprägt. Es gibt eine nicht-subjektive, strukturelle Theologizität der Polito-Performatik, die individuelle Lebensgestaltungen kontextuell durchdringt.

Der zweite: Die Frage nach Gott und der Bezugnahme auf Gott stellt sich nicht nur und ausschließlich auf anthropologisch-existentieller Ebene – als Frage im anthropologischen turn, nach dem Tiefgang im menschlichen Leben. Sie stellt sich mit Bezug auf die Lebensweisen, Darstellungsformen und eben jene Strukturen, die in Polito-Performatik eingewobene theologische, religiöse Themen und Bezüge regulieren. Theologie wird dann zu einer Frage nach Gott in Bezug zu den Lebensformen und den Hegemonien, die Daseinsweisen, Existenzweisen, Verkörperungsformen bestimmen. Ist Gottes Macht eine Macht, die Formhegemonien und Lebensweisen festzurrt und stabilisiert, oder kommt man Gottes Wirksamkeit gerade im Aufbruch in andere Formen auf die Spur, in denen Leben eventuell befreiter zu sich kommt und über sich hinauswächst? Welche gesellschaftliche und politische Rolle spielen Gottesbezüge und verbinden sich mit dem Versprechen, dass andere Formen sozialen Leben jenseits dominanter Verwerfungen heute in Anspruch und in Zukunft wirksam realisiert werden?6 Von der existentiellen Tiefendimension im Erbe des anthropological turn wendet sich der Blick dann hin zur soziopolitischen Außendimension, in einem morphological turn: Wo und wie bricht Leben in anderer Art, das bisher ausgeschlossen war, überraschend auf – wo und wie ereignen sich Aufbrüche in einen offenen, unbedingten Raum neu möglich werdenden Lebens?

Praxis

Gott und Gehirn – eine neurowissenschaftliche Perspektive

Nachdem ich die ersten fünf Jahrzehnte meines Lebens als gläubiger Christ und die Hälfte dieser Jahre als diplomierter katholischer Theologe unterwegs war, hat sich für mich vor allem durch die Auseinandersetzung mit der Hirnforschung – ich bin seit 25 Jahren klinischer Neuropsychologe an der Universitätsklinik in Bonn – vor einigen Jahren das Blatt gewendet. In diesem Essay skizziere ich einige der Überlegungen, die meine Abkehr von der christlichen Religion begründen.

Folgende, die Hirnforschung betreffende Fragen scheinen theologisch relevant zu sein:

  • Wie ist die Rolle des Gehirns bei mystischen Erlebnissen zu beurteilen?
  • Gibt es eine vom Körper (einschl. Gehirn) unabhängige Seele, die den Tod überlebt?
  • Ist die Vorstellung immaterieller mentaler Agenten konsistent denkbar?
  • Was lässt sich neurowissenschaftlich zu neutestamentlichen Wundern sagen, speziell zu den Heilungswundern Jesu (z. B. Heilung einer Epilepsie)?
  • Wie steht es um die Willensfreiheit, die zentrale Voraussetzung christlicher Moralvorstellungen?

Verdichtet lautet die zentrale Frage für den Dialog zwischen Theologie und Wissenschaft: Gibt es Wunder? Wunder im Sinne eines Eingreifens übernatürlicher Kräfte in den natürlichen Lauf der Welt? Diese Frage würde ich heute entschieden verneinen.

Was ist Hirnforschung?

Bei den kognitiven Neurowissenschaften („moderne Hirnforschung“) handelt es sich um das wissenschaftliche Zusammenspiel von Psychologie und Neurophysiologie: Mit Hilfe einiger erst seit wenigen Jahrzehnten verfügbaren Methoden können wir einerseits Menschen und Tiere in ihrem Verhalten oder während berichteter Erlebniszustände und andererseits deren Gehirne in Aktion gleichzeitig und auf ungefährliche Art und Weise beobachten und die verschiedenartigen Messungen aufeinander beziehen. Konkret kann man je nach Richtung der experimentellen Manipulation zwischen Psychophysiologie (psychologisches Experiment mit abhängigen hirnphysiologischen Messwerten, z. B. funktionelle Bildgebung oder ereigniskorrelierte EEG-Potentiale) und Neuropsychologie (Experiment am Gehirn mit abhängigen psychologischen Messwerten, z. B. repetitive transkranielle Magnetstimulation oder psychedelische Drogen) unterscheiden, die zusammen die kognitiven Neurowissenschaften bilden. Methodologisch gehört dieser Forschungsbereich wegen seines primären Interesses an psychischen Phänomenen in die Psychologie, welche ihrerseits am passendsten der Biologie, vor allem der Humanbiologie zugeordnet wird.

Wie die Naturwissenschaften insgesamt werden auch die Neurowissenschaften unter der methodischen Annahme des Atheismus betrieben.

Die klinische Neuropsychologie untersucht die psychischen Folgen manifester (organischer) Hirnerkrankungen und -verletzungen – teilweise spricht man auch von Kognitiver Neurologie –, während die sonstige Klinische Psychologie und die Psychiatrie psychische Störungen in nachweislicher Abwesenheit üblicher Organpathologien (z. B. Tumore, Entzündungen/Infektionen, Stoffwechselerkrankungen, Elektropathophysiologie/Epilepsie, Fehlbildungen, usw.) im Gehirn, also „nichtorganische“ psychische Störungen untersucht.

Leitidee

Wie die Naturwissenschaften insgesamt werden auch die Neurowissenschaften unter der methodischen Annahme des Atheismus betrieben. Darüber hinaus fasst eine unter Expert:innen breit konsensfähige „Leitidee“ den heutigen Forschungsstand und auch die zukünftige Forschungsagenda griffig zusammen: Psychische Phänomene und Fähigkeiten hängen von Hirnfunktionen ab und treten ohne diese nicht auf („Ohne Hirn ist alles nichts“). Hirnfunktionen gelten somit als die notwendige und wahrscheinlich auch hinreichende Bedingung für das Auftreten psychischer Phänomene. Diese Leitidee ist informativ, insofern man sich ohne weiteres vorstellen könnte, dass psychische Phänomene auch ohne zugrunde liegende Hirnprozesse auftreten (im Internet sowie in vielen religiösen Weltbildern findet man zahlreiche vermeintliche Belege für exakt diese gegenteilige Behauptung).

Psychische Phänomene und Fähigkeiten hängen von Hirnfunktionen ab und treten ohne diese nicht auf („Ohne Hirn ist alles nichts“).

Zugleich eröffnet die in der Leitidee implizierte negative ontologische These – „Psychische Phänomene ohne zugrunde liegende Hirnprozesse gibt es aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht“ – den Weg zu einer möglichen empirischen Falsifikation der These: Es würde genügen, ein psychisches Phänomen (z. B. eine bestimmte Wahrnehmung) zu beobachten und wissenschaftlich zu dokumentieren, das exakt zum Zeitpunkt des Stillstands aller psychisch relevanten Hirnfunktionen auftritt. Ebenso schließt die Leitidee die Existenz immaterieller (kein Gehirn!) mentaler Agenten wie Seelen, Dämonen, Engel, Götter, Gott aus, jedenfalls soweit man ihnen psychische Eigenschaften zuschreiben möchte; ein Existenznachweis für eine dieser Wesenheiten würde also immer auch die Leitidee falsifizieren.

Nahtoderfahrungen

In dieser methodologischen Perspektive wird das sehr spezifische Interesse der Neurowissenschaften an den Nahtoderlebnissen einsichtig: Stellen die Nahtoderfahrungen nicht vielleicht genau diesen Falsifikationsfall dar? Treten im Rahmen der sogenannten Out-of-body-Erlebnisse nicht nachweislich Wahrnehmungen auf, während das Gehirn z. B. infolge eines Herzstillstandes außer Betrieb ist? Für die Betroffenen mag dies sehr enttäuschend sein, aber für die Hirnforscher besteht zunächst tatsächlich ein ausschließlich abstrakt-funktionelles Interesse; die Inhalte selbst werden kaum weiter beachtet.

Mein persönliches Fazit lautet, dass Nahtoderfahrungen (bisher) keinen überzeugenden Falsifikationsfall für die Leitidee der Hirnforschung geliefert haben.

Die Literatur ist umfangreich und muss sehr genau studiert werden (z.B. gibt es erstaunliche Verzerrungen in der üblichen Darstellung des klassischen Falls der Pam Reynolds die zeitlichen Abläufe der Hirnoperation betreffend, die diese Nahtoderlebende durchlaufen hat); eine genauere Auseinandersetzung ist an dieser Stelle aus Platzgründen offensichtlich nicht möglich. Mein persönliches Fazit aus der jahrelangen Auseinandersetzung mit dieser Literatur lautet jedoch, dass Nahtoderfahrungen (bisher) keinen überzeugenden Falsifikationsfall für die Leitidee der Hirnforschung geliefert haben. Nahtoderfahrungen beruhen wie alle anderen Erfahrungen auch auf Hirnprozessen; sie treten in den Übergangsphasen während des Verlustes oder während des Wiedererlangens dieser Funktionen auf. Die Leitidee impliziert, dass veränderte Hirnprozesse mit veränderten mentalen Zuständen einhergehen. Nahtoderfahrungen sagen demnach nicht viel über die Möglichkeit eines fortbestehenden Erlebens nach dem irreversiblen Verlust aller Hirnfunktionen im tatsächlichen Tod aus. Inhaltlich sehr ähnliche Erlebnisse können übrigens in gänzlich andersartigen Zusammenhängen und fern jeder Todesbedrohung auftreten (z.B. unter Ketamin-Gabe); daher sollte man die Bezeichnung noch einmal überdenken, eher handelt es sich um Near-Loss-of-Consciousness-Experiences.

Substanzielles Bewusstsein?

Es lässt sich auf rein konzeptueller Ebene, also jenseits von Empirie und Induktionsschluss, ein überzeugendes Argument für die Hirnabhängigkeit des menschlichen Bewusstseins anführen, das bisher nicht publiziert wurde: Wäre mein Bewusstsein ein hirnunabhängiges substanzielles Bewusstsein, dann könnte ich niemals bewusstlos sein; denn dann wäre dieses Bewusstsein während dieser Zeit ein bewusstloses Bewusstsein (contradictio in se adiecto). Ein substanzielles Bewusstsein wäre also notwendigerweise und seiner ganzen Natur nach aber stets bei Bewusstsein; es könnte auch von nirgendwo anders her sein einmal verlorenes Bewusstsein wiedererlangen, wenn es selbst doch ebendieses Bewusstsein ist. Dies kann aber nicht sein, da wir faktisch unser Bewusstsein immer wieder verlieren (z. B. Narkose).

Grundsätzlich sollte man stets aufhorchen, wenn etwas schwer Erklärliches durch etwas prinzipiell Unerklärliches erklärt werden soll.

Bringt man nun in Erwiderung auf dieses Argument die Seele als immateriellen Träger variabler Bewusstseinszustände ins Spiel, stellen sich dieselben Fragen wie zuvor im Hinblick auf das Gehirn: Unter welchen Bedingungen verliert die Seele das Bewusstsein, wodurch erlangt sie ihr Bewusstsein zurück? Man hat also eigentlich noch gar nichts erklärt! Und es stellen sich zusätzliche Fragen: Wie erklärt sich die enge zeitliche Korrelation bestimmter Hirnereignisse mit Bewusstseinsverlusten einer vom Gehirn doch völlig getrennten Seele (z. B. bei einem K.O. beim Boxen)? Die Frage steht jetzt prinzipiell außerhalb der Reichweite menschlicher Erkenntnis, eine immaterielle Seele können wir prinzipiell nicht erforschen. (Grundsätzlich sollte man stets aufhorchen, wenn etwas schwer Erklärliches durch etwas prinzipiell Unerklärliches erklärt werden soll.)

Höheres Bewusstsein?

Aus biologischer Sicht stellt der Bewusstseinszustand des Alltags, in dem wir über alle überlebensnotwendigen psychischen Fähigkeiten frei verfügen, den höchsten Bewusstseinszustand dar, während im Rahmen spontan auftretender oder durch mentale bzw. pharmakologische Techniken induzierter mystischer Erlebniszustände zwar bestimmte Erlebensaspekte extrem verstärkt sind – z. B. das Farbensehen unter LSD –, andere wichtige Fähigkeiten jedoch zeitweise verloren gehen (z. B. Größenkonstanz visuell wahrgenommener Objekte). Würde ein Meditierender dauerhaft im Zustand totaler Versenkung verharren, würde er bald verdursten. Aus wissenschaftlicher Sicht kann ein solcher Zustand daher schwerlich als „höherer“ Bewusstseinszustand anerkannt werden.

Verortet man dieses meditative Erleben jedoch wieder in den Gesamtablauf der Wahrnehmung, gibt es aus wissenschaftlicher Sicht keinen überzeugenden Grund, diesen Erlebnissen einen derart hohen Stellenwert (Erleuchtung, satôri, u. ä.) zuzuschreiben.

Es fällt auf, dass die meisten Meditationstechniken eine Fokussierung auf die zeitlich frühesten, quasi noch ungegenständlichen Wahrnehmungs- oder Empfindungsphasen vorschlagen, welche noch vor der klaren Objekterkenntnis und -benennung liegen; die Wahrnehmung gelangt so nicht bis zur abstrakt-gedanklichen Einordnung einer Empfindung zu einem bestimmten Typ von Objekt, man bleibt mit seiner Aufmerksamkeit vielmehr bei den jeweils jetzt und jetzt unmittelbar eintreffenden (visuellen, auditorischen, propriozeptiv-taktilen) Empfindungen. Es erscheint nachvollziehbar, dass mit dem aktiven Unterdrücken der vollständigen Wahrnehmung und Identifikation von Objekten durch hochgeübte Aufmerksamkeitslenkung schließlich das Gefühl der eigenen Subjektivität verschwindet, welche sonst im Gegenüber zu und getrennt von diesen Objekten erlebt würde. Stattdessen wird eine ursprünglichere Einheit im unmittelbaren Empfinden erfahren, die zeitlich und logisch vor der Trennung in Objekt und Subjekt liegt, eine Art Empfindungsfeld an und für sich, ohne Ich. Verortet man dieses meditative Erleben jedoch wieder in den Gesamtablauf der Wahrnehmung, gibt es aus wissenschaftlicher Sicht keinen überzeugenden Grund, diesen Erlebnissen einen derart hohen Stellenwert (Erleuchtung, satôri, u. ä.) zuzuschreiben. Ich stelle aber keineswegs in Abrede, dass Mindfulness-Meditation in der Psychotherapie Patient:innen erstmalig die Erfahrung ihrer eigenen Aufmerksamkeit und deren bewusster Lenkbarkeit vermitteln kann.

Heilungswunder?

Einige wenige Worte zu den neutestamentlichen Heilungsberichten: Es fällt auf, dass alle dort beschriebenen Krankheitsbilder („Epilepsie“, Stummheit, Taubheit, Blindheit, Lähmungen, Hauterkrankungen) auch als sogenannte psychogene oder funktionelle Störungen auftreten können. In diesen Fällen ähnelt die Symptomatik bestimmten Erkrankungen; bei näherer Untersuchung stellt sich jedoch heraus, dass die Symptomatik charakteristisch abweicht und andere, unbedingt zu erwartende Anzeichen der Erkrankung vollständig fehlen; kurz: Die fragliche organische Erkrankung liegt nicht vor.

Es wäre denkbar, den Heilungsberichten im Neuen Testament eine Historizität zuzusprechen, wenn man sich die fraglichen Erkrankungen als nichtorganische (nichtneurologische), psychogene Krankheitsbilder vorstellt.

Es wäre denkbar, den Heilungsberichten im Neuen Testament eine Historizität zuzusprechen, wenn man sich die fraglichen Erkrankungen als nichtorganische (nichtneurologische), psychogene Krankheitsbilder vorstellt. Diese Erkrankungen sind heute zwar nur noch wenigen bekannt; auch viele Theolog:innen haben nie davon gehört. In der klinischen Neurologie und Psychiatrie spielen sie aber auch zahlenmäßig eine durchaus bedeutende Rolle. Historisch waren sie bei Freud und Charcot wichtig („Hysterie“). Psychoätiologisch stehen hinter den funktionellen Störungen meist (schwere) Traumatisierungen. Im Zusammenhang mit Anfallserkrankungen (Mt 17,14–21, Mk 9,14–29, Lk 9,38–42) kann ein Hinweis auf den psychogenen Charakter der im Neuen Testament beschriebenen Störung in der schlichten Tatsache gesehen werden, dass der Anfall des Jungen exakt zum Zeitpunkt der Begegnung mit Jesus, dem Exorzisten, auftritt; bei einer (organischen) Epilepsie wäre dies ein erstaunlicher Zufall. Das Heilungshandeln Jesu wäre zu beschreiben als eine zwar bemerkenswerte, aber eben nicht übernatürliche psychotherapeutische Intervention durch eine charismatisch-autoritäre Persönlichkeit, die sehr hohe Erwartungen (Glauben) in ihrem Gegenüber zu wecken vermag.

Mein Gehirn und Ich

Die moderne Physik in Form des Standardmodells der Quantenfeldmechanik erklärt sämtliche Bewegungen und Veränderungen im Universum mit vier „Wechselwirkungen“ oder „Kräften“: elektromagnetische Kraft, starke und schwache Kernkraft und Gravitation (welche genau genommen keine „Kraft“ ist). Für sämtliche physischen Vorgänge einschließlich des Verhaltens von Mensch und Tier sind die Ursachen damit im Prinzip bekannt; es besteht weder Bedarf an noch gibt es Platz für genuin psychische (mentale) Ursachen bzw. psychologische Erklärungen. Psychische Phänomene werden vielmehr vermittels der ihnen zugrunde liegenden Neurophysiologie in der Welt physisch wirksam – aber nicht als solche. Dies ist auch der Grund, warum wir nie ganz sicher sein können, ob unser Gegenüber wirklich bewusst erlebt oder nur geschickt so tut als ob (vgl. „philosophischer Zombie“): Das Erleben in seiner Subjektivität als solches steht in keinerlei Wechselwirkung mit der physischen Umgebung, also auch nicht mit meiner Physis als Beobachter.

Alle anderen Organe könnten im Prinzip ausgetauscht werden, ohne dass uns dies im Kern der Persönlichkeit tangierte. Nicht so aber das Gehirn.

Wir besitzen oder haben unser Gehirn keinesfalls so wie wir alle anderen Organe unseres Körpers besitzen und haben: Alle anderen Organe könnten im Prinzip ausgetauscht werden, ohne dass uns dies im Kern der Persönlichkeit tangierte. Nicht so aber das Gehirn – denn dann würden wir als Persönlichkeit mit samt dem Gehirn transplantiert werden; wir sind nicht trennbar von diesem Organ. Nicht ich habe also mein Gehirn – sondern: Mein Gehirn bringt zeitweise mich als bewusstseinsfähiges Subjekt hervor! Die mit bewussten Phasen einhergehende Neurophysiologie ist um ein vielfaches komplexer und leistungsfähiger als die Neurophysiologie in bewusstlosen Phasen – und diese besonderen Funktionen wurden evolutionär herausgebildet und immer weiter verfeinert.

Nicht ich habe also mein Gehirn – sondern: Mein Gehirn bringt zeitweise mich als bewusstseinsfähiges Subjekt hervor!

Das physische Substrat des Bewusstseins und des Erlebens – auch das physische Substrat psychischer Störungen – ist die in ca. 100 Billionen Synapsen realisierte integrative Informationsverarbeitung auf adaptives Verhalten in der gegebenen natürlichen und sozialen Umwelt hin. Künstliche neuronale Netze (vgl. ChatGPT) liefern uns heute die beste Metapher (!) für das Verständnis der Hirnprozesse, durch die wir als Subjekte konstituiert werden; sie wurden ihrerseits von elementaren hirnphysiologischen Prinzipien abgeleitet (z. B. Hebb‘sche Synapse nach dem kanadischen Neuropsychologen Donald O. Hebb). Das erlebensfähige Subjekt ist identisch mit Teilen der integrativen Informationsverarbeitung in seinem eigenen Gehirn; Bewusstsein ist ein emergentes Phänomen komplexer kognitiver Prozesse. Das heißt: Ich erlebe grundsätzlich nie etwas anderes als den Zustand von Teilen dieser Informationsverarbeitung in meinem Gehirn – aber in Gestalt einer phänomenalen Wirklichkeit mit mir selbst mitten darin.

Willensfreiheit?

Die Einsichten der Neurowissenschaften sind meines Erachtens mit dem klassischen Verständnis von Willensfreiheit nicht vereinbar. Im Bewusstsein werden uns Ergebnisse unkontrollierbarer, automatisch ablaufender Informationsverarbeitungs- und Selektionsprozesse präsentiert. Wir können nicht einmal unseren eigenen nächsten Gedanken vorhersagen.

Wir können nicht einmal unseren eigenen nächsten Gedanken vorhersagen.

Wirkt sich das auf unser Rechtssystem aus? Natürlich sind Menschen unter normalen Umständen lernfähig, manipulierbar, erziehbar usw.; sicherlich wirken Regeln besser, wenn sie mit einer glaubwürdigen Strafandrohung einhergehen. Aber wir allen kennen den Hiatus zwischen bewusster Einsicht und tatsächlichem Handeln. Daher stände es uns allen gut an, die schicksalshafte Tragik nicht ganz aus den Augen zu verlieren, die z. B. Straftäter:innen zu Straftäter:innen werden ließ. Im Bereich der Epileptologie wurden mehrere Fälle von schwer delinquenten Personen publiziert, die nach der neurochirurgischen Entfernung eines epileptogenen Fokus im frontmedianen Cortex wieder ein normales Sozialleben führen konnten.

Gott

Und was ist nun mit Gott – den die Naturwissenschaften ja ganz bewusst ausklammern? Gäbe es Gott so, wie es die Welt gibt, als Add-on quasi, fiele er selbst mit unter die Frage: Warum gibt es überhaupt irgendetwas und nicht vielmehr nichts? Das Existieren können wäre dann ursprünglicher als jeder Gott, den es gibt. Also wäre Gott nur wahrer Gott, wenn er die Möglichkeit des Existierens wäre – manche sprechen vom Seinsgrund –, was dann aber hieße, dass es ihn in einem für uns üblichen Sinne gar nicht gibt, dass also nicht nur seine göttlichen Eigenschaften analog verstanden werden müssen („all-“), sondern auch seine „Existenzweise“.

Mir persönlich erscheint die Vorstellung, dass Gott in der Welt Wunder wirkt, also in den mit den Naturgesetzen übereinstimmenden Lauf der Welt gezielt eingreift, inakzeptabel.

Hier tut sich nun eine gewaltige Spannung zwischen praktizierter Religiosität, die sich an ein konkretes, existentes Wesen wendet (Theismus), und spekulativer Theologie auf. Man denke an die negative Theologie bei Dionysus Areopagita; oder die „paradoxe“ Theologie bei Nicolaus Cusanus, der von Gott als dem Sein können spricht; oder an Thomas von Aquin, für den Gott die actualitas omnium actuum, die Wirklichkeit alles Wirklichen selbst ist (vgl. Pan-en-theismus).

Mir persönlich erscheint die Vorstellung, dass Gott in der Welt Wunder wirkt, also in den mit den Naturgesetzen übereinstimmenden Lauf der Welt gezielt eingreift, inakzeptabel. Ich verstehe nicht, wie man an göttliche Offenbarung glauben kann, wo Gott doch nicht einmal in der Lage zu sein scheint, einer Person auch nur einen kleinen Gedanken einzugeben (z. B. „Nicht schlafen, wach bleiben!“ oder „Wo ist eigentlich mein Kind?“ oder „Tu es bitte nicht!“), um dadurch eine Katastrophe abzuwenden. Ich habe religiöse Vorstellungen und Praktiken daher irgendwann fallengelassen, und das hat sich angefühlt wie die Befreiung von einer hartnäckigen Illusion, der man viel zu lange aufgesessen war. Dieser Schritt folgte zwingend meinem Wahrheitsgewissen; ich verbinde daher kein Verlusterleben damit, auch nicht die Erfahrung eines „Bruchs“ in meiner Person oder Biographie. Von außen betrachtet, sehe ich klarer, wie eigenartig und bizarr im Grunde das konkrete religiöse Verhalten und Sprechen ist – bei Christ:innen, aber auch bei anderen Religionen; ich vermisse es für mich nicht.

Ich plädiere für mehr Christlichkeit (vor allem Geschwisterlichkeit), aber weniger übernatürliche Religion.

Ich plädiere für mehr Christlichkeit (vor allem Geschwisterlichkeit), aber weniger übernatürliche Religion. Ich appelliere an die Kraft des Glaubens, die Kraft konstruktiver, kreativer Vorstellungen von einem besseren Leben – aber ohne Rückgriff auf übernatürliche Wesenheiten und Phänomene. Ich persönlich empfinde säkulare (humanistische usw.) Begründungen für ein gemeinwohl- und freiheitsorientiertes ethisches Verhalten als hinreichend, aber ich finde es großartig, wie viele Christ:innen sich aus religiösen Gründen verbindlich für gutes menschliches Zusammenleben engagieren. Leider allerdings lassen sich durch den Verweis auf den vermeintlichen Willen Gottes auch sehr fragwürdige moralische und politische Positionen begründen.

Praxis

Mit Gott rechnen im Vielleicht

In der sogenannten Spätmoderne haben sich Kommunikation zu Bildkommunikation und Lebenspraxis von Menschen zu einem neuen Naturnetzwerk verändert. Die Glaubenskommunikation der Kirchen hat darauf noch wenig reagiert. Darin liegt jedoch ein hermeneutischer Schlüssel, da die Lebenswirklichkeit Ausgangspunkt eines neuen Glaubensverstehens ist. Heutige Glaubenskommunikation ist darüber hinaus gefährdet, sich den Prinzipien einer leistungsorientierten Gesellschaft zu bedienen. Daher liegt eine Chance in der Wiederentdeckung eines schwachen Gottes. Für einen solchen unverfügbaren und nutzlose Gott braucht es Platz, wenn man mit ihm rechnet.

Your body. Your soul. Your ritual – mit diesen Begriffen wirbt eine Kosmetik-Kette. Irritierend an dem Slogan ist zunächst die transzendente Dimension, die sich darin zeigt. Körper, Seele, Ritual sind in religiösen Vollzügen tief verankert. Interessant beim zweiten Blick ist, dass jeweils allen drei Wörtern ein Pronomen vorausgestellt wurde. Die Wirkkraft von Kommunikation setzt offensichtlich Relationalität voraus. Dazu kommt ein vorausgestellter Text, der Intention und Bedeutung erläutert und das Kosmetik-Produkt in einen Kontext stellt. Schließlich findet sich beides auf einer transparenten Schaufensterscheibe, durch die schöne Farben, ein goldener Strauß und ein angenehmes Licht scheinen.

Was sich an dieser Werbung beobachten lässt, hat mit einer veränderten Kommunikation und mit einer sich neu vollziehenden Lebens- bzw. Glaubenspraxis zu tun. Ich beginne zunächst mit der veränderten Kommunikation.

Kommunikation geschieht nun vorrangig durch Virtualität, Simulation, Inszenierung und Ästhetik.

Was sich hier kommunikativ andeutet, wird in der Kunst- und Kulturwissenschaften mit dem „iconic turn“ beschrieben. Dieser Turn postuliert, dass in der postmodernen Kommunikation ein Paradigmenwechsel vom Wort zum Bild stattgefunden hat. Das Leitmedium Buch wurde durch das Leitmedium PC abgelöst, wodurch sich die Leitbegriffe verändert haben. Kommunikation geschieht nun vorrangig durch Virtualität, Simulation, Inszenierung und Ästhetik. Sprache ist durch den „iconic turn“ nicht überflüssig geworden, wirkt allerding nur noch durch einen inszenierten und wahrnehmbaren Vollzug: sie wirkt, wenn das Gesagte inszeniert wird. Sprache und Kommunikation fand nie ohne Kontext oder frei von Geschichte statt. Nun treten jedoch zur aufgeklärten und zeitlich verankerten Vernunftkommunikation eine emotionale und dynamische Inszenierung und Ästhetik hinzu, die der Sprache Wirkung und Macht geben. Dadurch verliert Sprache ihre relative Eindeutigkeit. Kognitive Zuverlässigkeit und Standards verlieren an Stabilität und werden unter dem Stichwort „postfaktisch“ offensichtlich. Die kirchliche Kommunikation hingegen hat diese Wende meist noch nicht vollzogen. Obwohl sie einen großen Schatz an Symbolen und Ritualen hat, findet Glaubenskommunikation vorrangig über monologische Sprache statt. Pentekostale und evangelikale Bewegungen hingegen haben die Wende zum Bild vor allem ästhetisch und emotional aufgegriffen und umgesetzt. Allerdings wird mit der einhergehenden postfaktischen Wende sowohl Gesellschaft als auch Verkündigung auf neue Weise manipulier- und beeinflussbar, worauf ich später nochmals eingehen werde.

Obwohl die Kirche einen großen Schatz an Symbolen und Ritualen hat, findet Glaubenskommunikation vorrangig über monologische Sprache statt.

Zu der nun beschriebenen emotionalen und ästhetischen Emanzipation kommt in der Spätmoderne eine neue, weitere Emanzipation hinzu, die nun Bezug auf den oben zweiten Aspekt der Lebens- und Glaubenspraxis nimmt. Der Prager Religionsphilosoph Tomáš Halík beschreibt sie als Befreiung der Natur von der Vorherrschaft der technisch-ökonomischen Manipulation durch den Menschen. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass der Sprache zu viel Macht eingeräumt wurde. Materie und Dinge spielten in ihrer Materialität und Bedeutung keine Rolle. Die philosophische Physikerin Karen Barad zeigt auf, wie in allen Dingen eine dynamische Kraft liegt, da alle materiellen Körper mit ihrer Geschichte und ihren Phänomenen in den Lebensraum hineinwirken und ihn gestaltend mit vollziehen.1 Glaubenskommunikation kann nicht mehr getrennt von einer Lebens- und Glaubenspraxis gesehen werden, sondern beides greift ineinander und wird gemeinsam vollzogen – man spricht von Performativität.

Ausgehen von der Lebens- und Glaubenspraxis

In der eingangs dargestellten Werbung steckt folglich auch eine Lebens- oder gar Glaubenspraxis, hinter der eine Deutung oder Überzeugung steht. Vielleicht geschieht in dieser Werbung schon eine implizite Rede von Gott. Jedenfalls steht die Werbung mit der genannten Emanzipation der Natur nicht für sich allein, sondern ist je nach Kontext vernetzt mit vielen Erzählungen von Natur, Dingen, Menschen und Materialien. Um die Überzeugung von Menschen im Kontext ihres Netzwerks zu verstehen oder gar um den eigenen Glauben ins Gespräch zu bringen, kann man nur vom Kontext, vom Lebensglauben des einzelnen ausgehen und sich ihm annähern. Eine Glaubensüberzeugung liegt also nicht offen da, sondern drückt sich in der Beziehung zur Natur, zu Tieren, zu Dingen oder zu anderen Menschen aus. Daher muss Glaubenskommunikation von der Lebens- und Glaubenspraxis anderer ausgehen. Es bedarf eines Interesses für den Menschen, mit dem man in Beziehung kommen muss, um sich über Leben und Glauben auszutauschen. Erst dabei kommen die existentiellen Gesellschafts- und Lebensfragen zur Sprache. Hier entsteht ein Freiraum für „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen“ (Gaudium et Spes, 1).

Es bedarf eines Interesses für den Menschen, mit dem man in Beziehung kommen muss, um sich über Leben und Glauben auszutauschen.

In dieser Begegnung kann sich das Evangelium ereignen, vielleicht überraschend oder irritierend. Da das Evangelium jedoch weder der Besitz des einen noch des anderen ist, kann es nur im gegenseitigen Lernen erschlossen werden. Die primäre Herausforderung des Evangeliums in diesem Austausch bleibt jedoch die Orientierung am Verletzten und am Ausgeschlossenen, denen eine unendliche Würde und die Möglichkeit eines Neuanfangs zugesagt wird. Glaubenskommunikation schließt also in der Begegnung das Tragische, den Schmerz oder die Unsicherheit nicht aus. Die Irritation des Evangeliums besteht gerade darin, dass es nicht schützt vor Verletzlichkeit und dass es den Finger in die Wunde legt. Glaubenskommunikation wird dann wirksam, wenn in dieser irritierenden Begegnung von Menschen, Dingen oder Natur mit der Liebe des Gottes Jesu Christi gerechnet wird.

Verkündigung in der Versuchung der Macht

Jede Begegnung und jeder Sprechakt stehen in der Gefahr und vielleicht in der Versuchung, Macht über andere auszuüben, besonders dann, wenn sie von großem Engagement oder missionarischem Eifer geprägt sind. Glaubenskommunikation bedient sich besonders dann der Macht über andere, wo im Sprechakt durch Emotion und Ästhetik die freiheitliche Entscheidung des einzelnen eingeschränkt wird, wo Ängste und apokalyptische Bilder mit den Bedürfnissen und Fragen der Menschen spielen oder wo hierarchische Abhängigkeiten kein freies Handeln zulassen. Gerade wenn das Lebenskonzept des/der anderen als Konkurrenz oder als falscher Weg angesehen wird, ist die Gefahr groß, dass manipulative Macht zum Einsatz kommt, die als übergriffig erlebt werden kann. Dieser Zusammenhang ist inzwischen ausführlich unter den Begriffen „spiritueller und geistlicher Missbrauch“2 beschrieben.

Wenn das Lebenskonzept des/der anderen als Konkurrenz oder als falscher Weg angesehen wird, ist die Gefahr groß, dass manipulative Macht zum Einsatz kommt, die als übergriffig erlebt werden kann.

Eine zweite Versuchung der Glaubenskommunikation besteht in einer funktionalen und neoliberalen Logik. Auf dem Markt unterschiedlicher Glaubensanbieter:innen stellt sich unmittelbar die Frage nach dem Nutzen. Prinzipien der Wirksamkeit und der Optimierung drängen sich auf, um auf dem kapitalistischen Markt mithalten zu können. Von diesen Marktlogiken wird dann auch die Art der Gottesrede geprägt. Der Glaube muss zu Vitalität führen, Gott wird zeitlich und räumlich verfügbar oder sein zeitweiliges Schweigen bekommt keinen legitimen Raum. Der schon erwähnte Tomáš Halík stellt gleichsam die christliche Echtheitsprobe eines Glaubens auf dem Markt: „Tragen die Angebote in irgendeiner Form Wunden an sich? Haben sie die Elemente des Tragischen, des Schmerzes, der Unsicherheit nicht ausgeschaltet? Sind sie nicht bloß […] glänzende Angebote eines schnellen Weges zu Glück, Erfolg, Zufriedenheit? Christus zeigt uns seine Wunden, damit auch wir Mut haben mögen, unsere Verwundungen und Narben einzugestehen und sie nicht zu verhüllen.“3 Die paradoxe christliche Glaubenslogik besteht gerade in der Unbrauchbarkeit Gottes. Man kann sich seiner Präsenz und Offenbarung nicht ermächtigen, sondern kann nur allgegenwärtig mit seinem Ereignis rechnen.

Gott des Vielleicht

Eine solche Logik der Nutzlosigkeit macht in der eigenen Glaubensvorstellung demütig und öffnet für einen neu oder wiederentdeckten Gott der Bibel. Zunächst bleibt das absolute Geheimnis auch in allen Selbstoffenbarungsgeschichten der Bibel ein Geheimnis. Wir stoßen bei der Suche nach Gott an die Grenzen rationaler Erkenntnis. Dennoch erinnert Ignatius von Loyola daran, dass Gott als Schöpfer in allen Dingen zu finden ist.

Die paradoxe christliche Glaubenslogik besteht gerade in der Unbrauchbarkeit Gottes.

Die Wiederentdeckung seiner Allgegenwart könnte neu für den verlorenen Bezug zu Natur und Klima sensibilisieren. Dass sich der christliche Gott als Mensch in Jesus Christus in die Welt hineinbegibt und dabei selbst schwach und ohnmächtig wird, ist eine wichtige Dimension, die gerade die Schwachheit Gottes, seine Solidarität mit den Schwächsten und die Bedingungslosigkeit seiner Liebe deutlich macht. Um in die unmittelbare Begegnung als Ausdruck seiner bedingungslosen Liebe mit der Welt zu treten, riskiert Gott seine Allmacht und seine Herrschaft.4 Darin wird Gott im Verständnis der Christ:innen auch manchmal zum Fremden und zum Schweigenden. Er entzieht sich jeder Verfügbarkeit. In der Emmausgeschichte entschwindet er gerade in dem Moment, in dem er verfügbar werden würde. Dennoch macht Vertrauen und Hoffnung des christlichen Glaubens gerade aus, mit Gott in allem zu rechnen, darauf zu setzen, dass jeder bedingungslos angenommen ist und mit Gott jederzeit neu anfangen kann, weil der Tod nicht das letzte Wort hat, sondern der Beginn einer neuen Wirklichkeit ist. Insofern bleibt der Glaube der Christ:innen ein Glaube an einen schwachen und unverfügbaren Gott, der Geheimnis bleibt, über den man immer sagen muss: „Wir wissen es nicht“ oder eben „vielleicht“.

Für Gott Platz machen gerade dort, wo es wehtut

Eine Glaubenskommunikation der Gegenwart bedarf gerade dieser Demut im Sprechen von, mit und über Gott. Diese Haltung öffnet für einen Dialog mit allen Suchenden nach ihrem Lebens- und Gottesglauben. Gleichzeitig braucht es in diesem und für diesen Dialog auch eine Deutungs- und Interpretationskompetenz.5 Die Existenzfragen von Gesellschaft und Menschen müssen immer wieder neu mit den biblischen und anderen christlichen Quellen konfrontiert und in eine kreative Auseinandersetzung kommen. Der Soziologe Bruno Latour sagt es plakativ: „Stellen sie sich einen Liebenden vor, der die Frage ,Liebst Du mich?‘ mit dem Satz beantwortet ,Aber ja, du weist es doch, ich habe es Dir letztes Jahr schon gesagt.‘ […] Wie könnte er entschiedener bezeugen, daß er endgültig aufgehört hat zu lieben? Er hat das liebevolle Ersuchen als Informationsfrage aufgefaßt, ganz als hätte er vor, mittels eines Dokuments, einer Karte, durch den Zeit-Raum hindurch einen Weg zum entlegenen Territorium jenes Tages zu zeichnen, an dem er offiziell seine Liebe erklärte.“6 Glaube ist ein ständiger Lernprozess zwischen Evangelium und Lebensexistenz, zwischen Glauben und Verstehen, der zu mehr Tiefe und Reifung im Sinne einer Reinterpretion führt. Dieser Prozess führt eben auch an die Wunden des Lebens, an die Existenz- und Lebensfragen, die manchmal ohne Antwort bleiben und in gähnende Leere münden. Gerade darin mit dem Ereignis des Evangeliums, mit Gott zu rechnen, erzählt vom Gott Jesu und vom österlichen Geheimnis.

Glaube ist ein ständiger Lernprozess zwischen Evangelium und Lebensexistenz, zwischen Glauben und Verstehen, der zu mehr Tiefe und Reifung im Sinne einer Reinterpretion führt

Ob Your body. Your soul. Your ritual ein Reden von Gott ist, in dem das Evangelium einen relevanten Bezug erhält, bleibt unverfügbar, auch wenn wir damit rechnen sollten.

futur2 möglich machen

Hinter der futur2 steht ein Verein, in dem alle ehrenamtlich arbeiten.

Für nur 20 € pro Jahr machen Sie als Mitglied nicht nur die futur2 möglich, sondern werden auch Teil eines Netzwerks von Leuten, die an der Entwicklung von Kirche und Gesellschaft arbeiten.

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