Praxis

Eine (Schwangerschafts-)Konfliktberatung für die Gesellschaft.

Trauen wir uns mehr Diskurse zu?

Die etwas aus der Mode gekommene Redewendung „mit etwas schwanger gehen“ bedeutet, sich einige Zeit gedanklich intensiv mit einer anstehenden schwierigen Entscheidung zu beschäftigen, um zu einer möglichst abgewogenen Handlungsoption zu kommen. Es bedeutet eine Entscheidung, einen Plan, eine Frage, einen Zweifel mit sich herumzutragen, zu versuchen sich eine Meinung dazu zu bilden und eine Position zu beziehen. Dabei scheint der Gedanke, das eigene Denken und Handeln ununterbrochen zu begleiten und das Ergebnis nicht leicht erziel- und bewältigbar zu sein. Es muss und will in einem intensiven Prozess “ausgebrütet” werden – weshalb man „einige Zeit schwanger geht“. Im Alltag drängt sich diese Frage, dieser Gedanke immer wieder auf, drängt sich in den Vordergrund, ist präsent bei allem dabei und fordert einen Teil Gehirnleistung. Womöglich wirkt man auf andere unkonzentriert und abgelenkt. Das weist auf ein weiteres Merkmal dieses Zustands hin: Die Beschäftigung, Ablenkung und Strapazierung der gedanklichen Kräfte geschieht mitunter im Verborgenen. Der Gedanke wird erst laut mitgeteilt, wenn er schon eine kommunizierbare Form angenommen hat und diese Form der Verbalisierung ein diffuses Gefühl abgelöst hat.

Unsere Gesellschaft geht derzeit auch mit einigen Themen schwanger und die Beispiele der Themen medialer Dauerpräsenz sind zahlreich. Wie wirkt sich dies aber auf die Menschen auf der persönlichen Ebene und im gesellschaftlichen Zusammenleben aus? Die Reaktionen reichen von Verunsicherung und Zögerlichkeit bei Entscheidungen im privaten Bereich bis hin zur Klage über den Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Sicherlich sind die Gründe auch in den mitunter hitzig geführten Debatten zu den politischen und ökonomischen Herausforderungen auszumachen. Sie sind jedoch auch Abbilder eines (leisen?) Aushandlungsprozesses über Werte: Welche wir teilen, welche wir schützen und erhalten wollen und wie wir darüber kommunizieren können.

Unsere Gesellschaft geht derzeit … mit einigen Themen schwanger. … Sie sind … auch Abbilder eines (leisen?) Aushandlungsprozesses über Werte: Welche wir teilen, welche wir schützen und erhalten wollen und wie wir darüber kommunizieren können

Mit Werten bezeichnet die Ethik die Ziele unserer Handlungen. In ihnen lassen sich die Motivationen unserer Handlungen erkennen – und es ist inzwischen nahezu unstrittig, dass wir nicht davon ausgehen können, dass es allgemeingültige Werte aller Menschen oder einer Gesellschaft gibt.

Der deutsche Ethikrat hatte im April 2024 zu einer Veranstaltung zu „Reproduktionsmedizin und Diskussionskultur“ eingeladen. Dabei wurde die normative Stellungnahme vermieden und stattdessen die Metaebene gesucht. Denn bei Fragen der Reproduktionsmedizin, bei Themen wie Schwangerschaftsabbruch, Pränataldiagnostik, Leihmutterschaft und Eizellspende (u.v.m.) werden Werte verhandelt, und Debatten zu diesem Themen neigen dazu „in einer Art Kulturkampf debattiert zu werden, und sie werden dazu eingesetzt, sehr polarisiert zu debattieren“, so die Vorsitzende des deutschen Ethikrats Alena Buyx.1 „Im Kern spricht die Gesellschaft hier darüber, was ihr das Leben bedeutet“2 und verhandelt unter den abstrakten Begriffen „reproduktiver Autonomie“ und „relationaler Autonomie“ das Spannungsfeld von Selbstbestimmung und gegenseitiger Angewiesenheit. Dabei stellt der deutsche Ethikrat fest: „Die Diskurse werden zunehmend rauer.“3 Dies kann demokratiegefährdende Folgen haben, wenn das Vertrauen in diskursive, demokratische Meinungsbildung und Lösungsfindung abhandenkommt. Dabei kann es nicht darum gehen, den Diskurs für alles Sagbare und Unsägliche zu öffnen, sondern einen von Sachlichkeit und Offenheit geprägten Diskurs anzustreben, der allen Teilen einer Gesellschaft zutraut, daran konstruktiv mitzuwirken.

In einer säkularen und religiös pluralen Gesellschaft koexistieren verschiedene moralische Vorstellungen davon, welche Werte gelten sollen und was ein gutes Leben ausmacht. Insofern ist es verständlich und logisch, dass an Fragen der Reproduktionsmedizin, Themen, mit denen eine Gesellschaft schwanger geht, deutlich hervortreten

In Bezug auf Fragen zur Regelung der Reproduktionsmedizin bedeutet „Lebensschutz […] versachlichen statt emotionalisieren“, sich über Lebens- und Familienvorstellungen als persönliche Werte-Artikulationen, nicht als normative Vorgaben auszutauschen und im Sinne einer diskursiv orientierten Ethik, Kompromisse gemeinsam zu erarbeiten. In einer säkularen und religiös pluralen Gesellschaft koexistieren verschiedene moralische Vorstellungen davon, welche Werte gelten sollen und was ein gutes Leben ausmacht.4 Denn Menschen können sich, nach Jürgen Habermas, zwar auf moralische Werte, die für alle, die sie betreffen, gelten, als handlungsbindend einigen, nicht aber auf Vorstellungen vom guten Leben an sich.5 Insofern ist es verständlich und logisch, dass an Fragen der Reproduktionsmedizin, Themen, mit denen eine Gesellschaft schwanger geht, deutlich hervortreten; und insofern verlangen diese Fragen umso mehr eine engagierte Bereitstellung von Austauschmöglichkeiten und Debattenpflege.

Die Konsequenz des Gegenteiligen hat einen Vertrauensverlust in Politik und demokratischen Strukturen zur Folge. Das Erstarken rechter bzw. rechtspopulistischer Parteien und Gruppierungen sowie wachsender EU-Skeptizismus und Nationalisierungen sind Ausdruck dieser Verarbeitung von Aushandlungsprozessen und gesellschaftlichen Veränderungen. Wähler:innen der Partei AfD bei der Europawahl 2024 fühlen sich laut einer infratest-Umfrage im Auftrag der ARD vor allem durch von ihnen so wahrgenommener Verfremdung, Bedrohung ihrer Sicherheit und ihres Lebensstandards verunsichert. Auf dem fünften Platz der höchsten Zustimmungswerte landet die Aussage „Ich mache mir Sorgen, dass man bei Meinungen zu bestimmten Themen ausgegrenzt wird.“6 Hat unsere Gesellschaft verlernt oder vergessen kommunikative Diskurse zu pflegen? Damit spiele ich auf etwas ganz anderes an als dieses trotzige „das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, und ebenso distanziere ich mich von Gesellschaftsdiagnosen á la „dauererregt” oder “harmoniesüchtig“. Ich höre in die dieser Äußerung Sorge über das Unverständnis anderer und eine Ungeübtheit darin, miteinander Diskurse zu führen, die auf Sachlichkeit und Wertschätzung aufbauen; eine Ungeübtheit darin Diskurse zu führen, denen Polemik und Hetze fremd sind. Solche Diskurse bilden das Fundament und die Stärke einer freiheitlichen Demokratie. Wo sie vermieden oder schlichtweg nicht gefördert werden, gerät das in Gefahr, was auch AfD-Wählende oder -Sympathisierende schützen zu wollen vorgeben: Freiheit und Selbstbestimmung sowie eine gesellschaftliche Wertediskussion. „Nur dann, wenn alle Gehör finden und sämtliche Argumente ausgetauscht werden können, ist garantiert, dass die Ergebnisse, die die Gesellschaft in ihren Aushandlungsprozessen erzielt, qualitativ gut sind.“7 Denn gerade erst demokratische Strukturen ermöglichen, dass viele Meinungen gehört und gemeinsame Lösungen gefunden werden – wenn Vertrauen in die Meinungsbildung besteht.

Nur dann, wenn alle Gehör finden und sämtliche Argumente ausgetauscht werden können, ist garantiert, dass die Ergebnisse, die die Gesellschaft in ihren Aushandlungsprozessen erzielt, qualitativ gut sind

Meines Erachtens gibt es hier zwei Richtungen des Vertrauens zu beachten: das Vertrauen in demokratische Strukturen und Handlungsmöglichkeiten durch die Einzelnen und das Vertrauen der Gesellschaft in die einzelnen Diskursteilnehmenden und Handlungstragenden. Was also ist Vertrauen?

Vertrauen ist ein komplexes interpersonelles Phänomen, das immer relational orientiert ist. Es verwandelt die unvermeidbare Unkenntnis über den anderen in ein akzeptiertes Risiko. Vertrauen ist eine unverzichtbare Haltung zur Reduzierung der Komplexität von lokalen Handlungen und globalen Auswirkungen in der Gesellschaft. Die Forschung konzentriert sich bisher überwiegend darauf, wie Menschen zum Vertrauen kommen, wie sie anderen vertrauen und warum sie vertrauen bzw. vertrauen müssen.8 Was selten erwähnt wird, ist die Erforschung der Implikationen, wenn jemand Vertrauen empfängt.9 Jemandem zu vertrauen und ihm oder ihr etwas zuzutrauen bedeutet, es für möglich zu halten, dass diese Person eine gestellte Aufgabe erfüllen kann, z.B. die der konstruktiven Diskursteilnahme und Meinungsäußerung. Mit anderen Worten: Es wird angenommen, dass die Person die Qualitäten und Fähigkeiten besitzt, die ihr anvertraute Aufgabe zu bewältigen. Hierbei ist es hilfreich zu beachten, dass (im Deutschen sprachlich klar identifizierbar) das Zutrauen in die Fähigkeiten von Menschen vom Vertrauen in eine Person selbst unterschieden werden kann. Dieses Zutrauen bezieht sich mehr auf Fähigkeiten als auf die Integrität der Person im Allgemeinen (wie es beim Vertrauen der Fall ist). Während Vertrauen mindestens ein Beziehungsangebot, wenn nicht sogar schon eine Realisierung von Beziehung darstellt, stellt Zutrauen eine Bedingung für Autonomie und Selbstaktualisierung dar. In dieser Hinsicht hat das Zutrauen einen starken Impuls auf den Empfänger – es impliziert Ermächtigung, Verantwortungsübernahme und Handlungsfähigkeit. Insofern lässt sich Vertrauens-Empfang am Beispiel des Zutrauens besonders gut thematisieren.

Vertrauen ist ein komplexes interpersonelles Phänomen, das immer relational orientiert ist. Es verwandelt die unvermeidbare Unkenntnis über den anderen in ein akzeptiertes Risiko. … Während Vertrauen … ein Beziehungsangebot … darstellt, stellt Zutrauen eine Bedingung für Autonomie und Selbstaktualisierung dar. In dieser Hinsicht hat das Zutrauen einen starken Impuls auf den Empfänger – es impliziert Ermächtigung, Verantwortungsübernahme und Handlungsfähigkeit

Durch die kritische Untersuchung der Dynamiken des Zutrauens im Bereich der medizinischen Ethik, insbesondere bei medizinischen Entscheidungsprozessen, kann gezeigt werden, wie der Zutrauensempfang das Verhalten, die Werte und die Selbstwahrnehmung von Individuen prägt.10 So wird Einzelpersonen oft die Verantwortung für Entscheidungen über medizinische Behandlungen oder über Leben und Tod, für sich selbst und ihre Angehörigen, anvertraut, beispielsweise bei der Frage nach der Fortsetzung von lebensverlängernden Maßnahmen. Menschen haben das Recht, eine medizinische Behandlung abzulehnen. Dies geht über den bloßen Akt hinaus, medizinischen Fachkräften die eigene Gesundheit anzuvertrauen; es beinhaltet, als Patient:in und Laie in der Lage zu sein, in komplexen ethischen Dilemmata zu navigieren und in kritischen Situationen fundierte Urteile zu fällen, aufgrund der Priorität von Autonomie und informierter Zustimmung im Gesundheitssystem.11 Selbstbestimmung als Menschenrecht und Fähigkeit, formuliert im bioethischen Prinzip des Respekts vor Autonomie, stellt somit eine bestimmte Form des Zutrauens in die Selbstbestimmung und Entscheidungsfähigkeit der Menschen dar.

Meine Schlussfolgerung aus Beobachtungen aus den medizinethischen Diskursen ist, dass Zutrauen die Anerkennung von Fähigkeiten zur Sicherung von Rechten beinhaltet; und somit einen zentralen Bestandteil zum Funktionieren einer Demokratie darstellt. Zutrauen gerät aber auch ins Wanken, zum Beispiel beim Zutrauen zu Personen, die reproduktionsmedizinische Fragen entscheiden müssen. Ich möchte das an einem prominenten Beispiel verdeutlichen: der Debatte um den Schwangerschaftsabbruch. Hier geht es um Fragen des Lebensschutzes des Ungeborenen und des Schutzes der freiheitlichen Lebensführung von Schwangeren. Ethisch erregt die Gemüter, ab wieviel Zellen man von „Leben“, dem Lebensschutz zusteht, sprechen kann. Gleichzeitig geht es um soziale Fragen, wenn Elternschaft in Deutschland weiterhin das größte Armutsrisiko darstellt. Schwangere wehren sich gegen eine „Hermeneutik des Verdachts“, wenn ihnen unterstellt wird, den Schwangerschaftsabbruch als Verhütungsmethode zu gebrauchen. Denn das, so zumindest können es die wenigen Studien zeigen, die es in diesem Bereich gibt, ist mitnichten so.12 Ein Großteil der in Deutschland vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche geht auf das Versagen von Verhütungsmethoden zurück. Von Schwangerschaftsabbrüchen Betroffene sind durchschnittlich mittleren Alters, die oftmals bereits Verantwortung für ein oder mehrere Kinder tragen. Sie und ihre Sexualpartner haben sich auf die gewählte Verhütungsmethode (Pille, Spirale etc.) verlassen. Der „Hermeneutik des Verdachts“ steht also der legitime Wunsch nach einer Hermeneutik des Zutrauens gegenüber. Zutrauen in die schwangeren Paare und Personen, eine verantwortete Entscheidung in einer Situation zu treffen, in die sie geraten sind, und dabei das Wohl aller Beteiligten (das des ungeborenen und des eigenen Lebens, das der Geschwister und des direkten und weiteren gesellschaftlichen Umfelds) im Blick zu haben.

Meine Schlussfolgerung aus Beobachtungen aus den medizinethischen Diskursen ist, dass Zutrauen die Anerkennung von Fähigkeiten zur Sicherung von Rechten beinhaltet; und somit einen zentralen Bestandteil zum Funktionieren einer Demokratie darstellt

Auf einer Tagung zur gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland 2022 sprach bei der abschließenden Podiumsdiskussion Dr. Christina-Maria Bammel, Pröpstin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, davon, dass es nötig sei „die Verantwortung der Frau zu verbinden mit einer ethischen Praxis und einer Hermeneutik des Zutrauens.“13 Bisher14 ist der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland nach §218 StGB als straffreie Straftat mit Fristenregelung und verpflichtendem Beratungsgespräch geregelt – doch dieser Kompromiss steht zur Debatte. Es gibt verschiedene Aspekte an §218 StGB, die diskutiert werden können. Von Seiten feministischer Kritiker:innen wird neben der Kriminalisierung des Abbruchs u.a. beanstandet, mit der Verpflichtung zum Beratungsgespräch werde Frauen eine folgenreiche Entscheidung nicht zugetraut. Die Rede von der reproduktiven Selbstbestimmung erfordere es jedoch, den Betroffenen eine selbstständige Entscheidung zuzutrauen und insofern Zutrauen in die Selbstbestimmung und Entscheidungsfähigkeit der schwangeren Frauen zu setzen – ohne sie in eine Sozialberatung zu zwingen. Eine evangelisch-ethische Untersuchung zum Schwangerschaftsabbruch weist darauf hin, dass „das uneingeschränkte Zutrauen in die Entscheidungsfähigkeit schwangerer Frauen [..] für eine die Schwangerschaft wertschätzende Haltung unverzichtbar“15 sei – auch wenn das einen Abbruch bedeuten könne. Zutrauen brauche es sowohl in die Entscheidungsfähigkeit der Betroffenen als auch in der Beratungspraxis als einem Zuspruch an die Betroffenen, sich eine Schwangerschaft zuzutrauen. Zutrauen kristallisiert sich hier nicht nur als Schlüsselbegriff heraus, sondern auch als spannungsreich zwischen Zuspruch, Befähigung und Übergriffigkeit bzw. Paternalismus.

Dem in der Medizin etablierten Respekt vor der Autonomie der Patient:innen in diversen Behandlungsentscheidungen folgt ein Zutrauen in deren Fähigkeiten auf dem Fuße, über ihr Leben oder das ihrer Angehörigen entscheiden zu können. Zutrauen ist also mehr als nur das Anerkennen des Rechts auf körperliche Selbstbestimmung. Vielmehr wird angenommen, die Entscheidungstragenden wisse am besten, was zu ihrem persönlichen Wertekanon und Vorstellung von einem guten Leben passe. Dieses Zutrauen endet dort, wo Grenzen der Urteilsfähigkeit erreicht sind. Im medizinethischen Kontext baut also das Zutrauen in Entscheidungsfähigkeit auf der Vorannahme von psychischer Gesundheit, Mündigkeit und Urteilsfähigkeit auf. Doch niemand würde ernsthaft behaupten wollen, eine Schwangerschaft trübe die Urteilsfähigkeit ein und man könne den Betroffenen eine solch weitreichende Entscheidung nicht zutrauen.16

Vertrauen als Beziehungsangebot und Zutrauen als Bedingung der Möglichkeit, Autonomie und Selbstaktualisierung zu realisieren, scheinen unabdingbar zu sein, um die Kommunikation und ein verstehendes, friedliches Miteinander in allen Umbrüchen der Gesellschaft zu gewährleisten. Insofern bilden beiden Haltungen Bausteine einer Art Meta-Ethik, die gesellschaftlich zu kommunizieren ist

Das spannungsreiche Verhältnis von Zutrauen und Paternalismus sind in vielen Kontexten zu entdecken – so auch in der christlichen Tradition. In einigen Berufungsgeschichten trauen sich die Berufenen ihren Auftrag oder das Bevorstehende nicht zu. Doch es wird berichtet, dass Gott es ihnen zutraut; Gott duldet keine Flucht und Ausrede. Die Geschichte von der Berufung Jonas kann hier als besonders bekanntes Beispiel benannt werden (Buch Jona Kap 1-2). Ist Zutrauen biblisch eher paternalistisch behaftet oder kann erst durch das Zutrauen Gottes der Mensch die geschenkten Gaben entfalten?

Wenn wir aktuell von einer „Vertrauenskrise“ der Demokratie oder wenigstens von einem Vertrauenswandel in der Gesellschaft sprechen, dann gilt es diese Vorgänge genau zu analysieren und zwischen Vertrauen und Zutrauen in Fähigkeiten, zwischen paternalistischen und befähigenden Tendenzen zu differenzieren. Zutrauen und Vertrauen stellen ein Paradigma dar, das vom Gewährenlassen bis hin zur Befähigung und Unterstützung reichen kann. Es scheint mir lohnend, Voraussetzungen und Auswirkungen von Vertrauens- und Zutrauensempfang herausarbeiten, um demokratiegefährdende Entwicklungen am Beispiel materialethischer Debatten zu verstehen. Vertrauen als Beziehungsangebot und Zutrauen als Bedingung der Möglichkeit, Autonomie und Selbstaktualisierung zu realisieren, scheinen unabdingbar zu sein, um die Kommunikation und ein verstehendes, friedliches Miteinander in allen Umbrüchen der Gesellschaft zu gewährleisten. Insofern bilden beiden Haltungen Bausteine einer Art Meta-Ethik, die gesellschaftlich zu kommunizieren ist.

Ein Beispiel für eine Überführung dieser Überlegungen in die Praxis, stellt die Initiative „wokidoki“ dar.17 Das Startup versteht sich als „gemeinnütziges Büro für bessere Kommunikation“ und hat eine Broschüre zur christlichen Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs entwickelt, um den Diskurs in Kirchengemeinden informationsbasiert zu ermöglichen und anzuregen. Wenn nun noch Vorschläge zur kreativen methodischen Umsetzung eines solchen Gemeindeabends folgen, dann ist dies die Form von Diskursförderung, die mir derzeit für viele gesellschaftliche Themen, in denen Wertebildung verhandelt wird, angezeigt scheint.

Gesellschaften, die mit Wertefragen schwanger gehen, wünsche ich umfassende Beratungsangebote, vielerlei Möglichkeiten sich mit den eigenen und den Werten anderer auseinanderzusetzen, Verständigung zu erleben und so Erfahrungen eines meinungsbildenden Diskurses zu machen, die zum Schutz unserer demokratischen Strukturen beitragen und Kompromissbildungen ermöglichen

Eine gute Schwangerschaftskonfliktberatung umfasst die Konfliktklärung, Informationen über staatliche Leistungen und Unterstützungen, Aufklärung über (medizinische) Möglichkeiten und die Erläuterung des rechtlichen Rahmens. Sie soll ergebnisoffen geführt werden und den Beteiligten Raum und Zeit geben, sich ihrer eigenen Werte klar zu werden, konkurrierende Interessen abzuwägen und in einem geschützten Rahmen eine Entscheidung zu treffen. Solch eine umfassende Beratung und Aufklärung hinsichtlich möglicher Entscheidungsalternativen, Raum für Diskurs und Austausch ermöglicht im Endeffekt die Sicherstellung freiheitlich verantworteter Entscheidungen. Gesellschaften, die mit Wertefragen schwanger gehen, wünsche ich umfassende Beratungsangebote, vielerlei Möglichkeiten sich mit den eigenen und den Werten anderer auseinanderzusetzen, Verständigung zu erleben und so Erfahrungen eines meinungsbildenden Diskurses zu machen, die zum Schutz unserer demokratischen Strukturen beitragen und Kompromissbildungen ermöglichen.

Praxis

Gesellschaftliche Transformationen – über den Nutzen des christlichen Erbes

Unsere Kulturen stecken in tiefgreifenden Wandlungsprozessen, die sich überlappen. Das ist nicht neu, aber immer aufs Neue fordernd. Manche davon werden gesellschaftlich wahr­genommen und kontrovers diskutiert: gegenwärtig z.B. der Klimawandel, der kriegerische Konflikt in der Ukraine, die Migrantenströme oder die Genderbewegung. Anderes bewegt fachbezogene Diskurse und wird zugleich in seinen Auswirkungen persönlich erfahren, wie das Waldsterben, der wachsende Einfluss von Social Media und KI oder die Debatten um Tierwohl, Fleischkonsum und Ernährungsstil. Die (katholische) Kirche bewegen die Missbrauchsskandale, die Synodalität und der Schwund an Gemeindemitgliedern und Kirchenbesuchern, sowie deren Überalterung. Unter all dem liegen langfristige Entwicklungen, die wissenschaftlich zum Teil schon lange beobachtet und reflektiert werden: von den Pflicht- und Akzeptanzwerten zu den Selbsterfahrungs- und -entfaltungswerten (Klages), von der bunten Pluralität der Moderne zur anstößigen Heterogenität der Postmoderne (Widl), von christentümlichen Kulturen zu unterschiedlichen Formen durchgesetzter Säkularität (Taylor), von der Volkskirche über die Gemeindekirche zu Frömmigkeits- und Lebensstilbewegungen, um nur Einiges zu nennen.

Wie kommen wir als Gesellschaft mit all dem zurecht? Wie können die nötigen Aushandlungsprozesse gedeihlich gestaltet werden? Wie schützen wir in all dem unsere Demokratie vor ihrer Zersetzung durch Populisten und Autokratie-Fantasten? Kann angesichts der Schwäche der Kirchen – wobei kulturell an sie nach wie vor beträchtliche Erwartungen bestehen (KMU 6) – das Christentum als Ressource bedeutsam oder zumindest hilfreich sein? 

Es gehört zum Wesen von Demokratien, dass sie eine Diskurskultur als zentrales Mittel ansehen, um mit Konflikten umzugehen, Aushandlungsprozesse voranzubringen und allgemein akzeptable Lösungen herbeizuführen

Zu den Schwierigkeiten der Diskurskultur

Es gehört zum Wesen von Demokratien, dass sie eine Diskurskultur als zentrales Mittel ansehen, um mit Konflikten umzugehen, Aushandlungsprozesse voranzubringen und allgemein akzeptable Lösungen herbeizuführen. Zugleich stellen wir fest, dass das immer weniger zu funktionieren scheint. Als zentrale Gründe dafür sind anzusehen:

  • Heterogenität: Es gehört zum Wesen der Postmoderne, dass sich Vielfalt nicht mehr primär plural, sondern primär heterogen zeigt. In der modernen Pluralität bestehen Differenzen, die auf unterschiedlichen Ansichten oder Wünschen beruhen, zwischen denen bei einigem guten Willen Kompromisse gefunden werden können. Die Postmoderne bringt den Widerstreit hervor: Die Werte, Prioritäten und Lebensstile zeigen sich als so heterogen, dass das, was die einen anstreben und wofür sie kämpfen wollten, bei den anderen überhaupt nicht als Wertekategorie aufscheint. (Lyotard) Während die einen für Tierwohl kämpfen streiten die anderen ab, dass Tiere überhaupt empfindungsfähig sind. Während katholische Frauen feststellen, dass sie zum Priestertum berufen sind, erklärt eine kirchliche Doktrin, dass das gar nicht möglich ist, weil aus metaphysischen Gründen das Priestertum dem Mann vorbehalten ist. Während die Ukraine für politische und gesellschaftliche Freiheit nach westlichem Muster kämpft, bestreitet Putin ihre Existenz als Nation, weil er mit der Wiederherstellung Russlands als Großmacht in die Geschichtsbücher eingehen will. Solche Konflikte werden über Machtverhältnisse entschieden und die Ohnmächtigen haben keine Instanz, vor der sie mit demokratischen Mitteln um ihr Recht kämpfen könnten.

    Die Postmoderne bringt den Widerstreit hervor: Die Werte, Prioritäten und Lebensstile zeigen sich als so heterogen, dass das, was die einen anstreben und wofür sie kämpfen wollten, bei den anderen überhaupt nicht als Wertekategorie aufscheint

  • Überkomplexität und einfache Wahrheiten: Eine weitere Folge heterogener Verhältnisse ist die Überkomplexität von Sachverhalten. Als die Kirchen noch das Monopol auf die Wahrheit hatten, konnte jede Erfahrung und jeder Sachverhalt eindeutig gedeutet und bewertet werden – zumindest war das für den überwiegenden Großteil der Bevölkerung der Fall. Unter Bedingungen der Heterogenität gibt es zu jedem Thema, zu jedem Sachverhalt, zu jeder Entwicklung völlig unterschiedliche, oft sogar konträre Einschätzungen und Meinungen. Das ist darauf zurückzuführen, dass man aus unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedenen Brillen die Dinge anders sieht. Dieser Umstand ist in wissenschaftlichen Diskursen selbstverständlich; daher liest man hier jede Studie mit der Frage nach Methode, Rahmenbedingungen, Reichweite und speziellem Interesse der Fachdisziplin und der Auftraggeber. Die nicht wissenschaftlich orientierte Allgemeinbevölkerung ist darin nicht geschult und damit überfordert. Von daher ist die Versuchung groß, lieber bei einfachen Wahrheiten zu bleiben, mit denen man gut leben kann.

    Unter Bedingungen der Heterogenität gibt es zu jedem Thema, zu jedem Sachverhalt, zu jeder Entwicklung völlig unterschiedliche, oft sogar konträre Einschätzungen und Meinungen.

  • Wahrnehmungsfilter: Es gehört zum Leben, immer wieder mit neuen Situationen fertig werden zu müssen; und seien es nur jene, die sich durch das Älterwerden biologisch ergeben. Von daher sind wir – auch unabhängig von der typisch modernen Logik permanenter Innovationen – lebenslang genötigt, dazu zu lernen. (vgl. Porzelt) Dieses Lernen geschieht im Spannungsfeld zwischen Assimilation und Akkommodation: Der gesunde Mensch bleibt immer er/sie selbst, obwohl sie/er sich laufend verändert und weiterentwickelt. Würde der Mensch sich an alles völlig anpassen, was von ihm verlangt wird, wäre er ein schwaches Blatt im Wind ohne Profil und Selbststand. Wird er durch Wechselfälle und Brüche des Lebens aus der Bahn geworfen, muss er sich in einem langen und mühsamen Prozess wieder selbst finden. Die Fähigkeit, mit all dem gedeihlich umzugehen wird unter dem Stichwort „Resilienz“ in letzter Zeit umfassend diskutiert. Eine dazu schwächere Strategie ist Ignoranz: wegschauen, keine Nachrichten mehr sehen wollen, sich in der eigenen Welt oder der sozialen Filterblase einigeln, egoistisch nur den eigenen Zielen folgen oder die eigene Bequemlichkeit anstreben. All dies ist ein oft auch notwendiger Schutz vor Überlastung und Überforderung. Und in dem Maß, als die Krisen vielfacher und umfassender werden, Zeithaben und Muße – nicht zuletzt durch den Zeitdieb soziale Netzwerke – zum selten gekannten Luxus werden, ist das nur zu verständlich. Dazu kommt, dass Menschen mit ihren fünf Grunddimensionen unterschiedlich aufstellt sind: Wer sich am Sozialen orientiert wird das denken und erfahren, was sein Umfeld wahrnimmt. Wer emotional ausgerichtet ist, wird die Wahrheit wählen, die sich gut anfühlt. Wer handlungsorientiert ist, entscheidet sich für jene Perspektive, die ihm praktische Handlungsoptionen eröffnet. Wer sich vorwiegend religiös versteht, wird sich mühen, alles im Lichte des Glaubens, des Reiches Gottes oder der Kirche zu beurteilen. Nur die vergleichsweise Wenigen, die vornehmlich intellektuell geprägt sind, werden Fakten suchen, vergleichen und gegeneinander abwägen. Nun hat jeder Mensch Zugang zu allen fünf Dimensionen, gewichtet diese aber verschieden, oft sogar situativ unterschiedlich. In Diskursen auf das vermeintlich bessere Argument zu bauen, scheint von daher ziemlich aussichtslos.

    Wegschauen, keine Nachrichten mehr sehen wollen, sich in der eigenen Welt oder der sozialen Filterblase einigeln, egoistisch nur den eigenen Zielen folgen oder die eigene Bequemlichkeit anstreben … all dies ist ein oft auch notwendiger Schutz vor Überlastung und Überforderung

  • Zeit und Macht: Die Habermas’sche Diskursethik, an der sich mehr oder weniger alle modernen Diskurskonzepte orientieren, geht davon aus, dass man nur lang genug zusammensitzen und reden muss, um zu einer Einigung zu kommen. In gewissem Sinn ist das richtig; schon eine alte Volksweisheit sagt: „Beim Reden kommen die Leute zusammen.“ Zugleich steckt die Praxis voller Tücken. In den 1980er-Jahren gab es einen vieljährigen wissenschaftlichen Prozess zwischen Diskursethik und Befreiungsethik mit der Fragestellung, wie ein idealer Diskurs beschaffen sein muss, damit die Armen zu ihrem Recht kommen. Schließlich haben ihn die Befreiungsethiker abgebrochen: Für endlose Diskurse muss man unbegrenzt Zeit und Ressourcen haben. Während wohlbestallte Professoren (oder Politiker) wichtige Themen in gepflegter Atmosphäre ohne Zeitdruck verhandeln, sterben anderswo die Armen an Hunger und kriegerischen Konflikten. Wer mit ihrer Perspektive lebt, hat keine Zeit zu verschwenden. Ein anderes Problem solcher Diskurse zeigte sich schnell, als man die „Familienkonferenz“ propagierte: Alle Konflikte würde man leicht lösen können, wenn man gemeinsam um einen Tisch sitzt und redet. Was aber, wenn ein Kind schnell feststellt, dass es keine Lust auf Reden hat und beginnt Terror zu machen, um seinen Willen durchzusetzen? Was wenn ein Elternteil feststellt, dieser „Psychologenkram“ sei nicht sein Ding, und den Dialog abbricht oder zu Vorwürfigkeiten übergeht? Was wenn die beschränkte gemeinsame Freizeit dafür aufzugehen droht, zu besprechen, was man in ihr gemeinsam machen könnte, würde man sich einigen? Und dann gibt es noch die bekannten anderen Strategien, um Diskurse auszuhebeln: ablenken, das Thema wechseln, die Sach- und die Beziehungsebene permanent kreuzen, das Thema ins Lächerliche ziehen usw. In institutionellen Diskursen kommen noch andere Kategorien dazu: Vortrag von Reden, die andere geschrieben haben; Rednerlisten sodass man nicht direkt replizieren kann; Medien und Öffentlichkeit, die Aussagen filtern; ein Publikum, vor dem man sich profilieren will; persönliche Eitelkeiten, die verhindern, die Ideen anderer gut heißen zu können; die Parteiraison und die Wählerinteressen; die verbale Zustimmung, der keine Taten folgen usw.

    Die Habermas’sche Diskursethik, …, geht davon aus, dass man nur lang genug zusammensitzen und reden muss, um zu einer Einigung zu kommen … [aber] Für endlose Diskurse muss man unbegrenzt Zeit und Ressourcen haben

Die genannten Schwierigkeiten werden Demokraten nicht davon abhalten, immer und immer wieder Diskurse zu führen und zu Einigungen zu kommen. Ob auf diesem Weg die gegenwärtigen Krisen – Klimakrise und Artensterben, politische Radikalisierung und autokratische Fantasien, Glaubensverlust und Relevanzverlust der Kirchen, Digitalisierung und KI in ihren kulturellen Auswirkungen, gegenläufige internationale politische Interessen und die Ausbeutung der südlichen Armutskulturen speziell in Afrika und Lateinamerika, usw. – ob diese Krisen durch Diskurse handhabbar gemacht werden können, darf aufgrund aller bisherigen Beobachtungen bezweifelt werden. Müssen wir tatenlos oder auf verlorenem Posten stehend zusehen, wie alles den Bach runtergeht und die nächsten Generationen uns mit Vorwürfen überhäufen werden, welche Art von Welt wir ihnen hinterlassen?

Die Erfahrung zeigt, und die christliche Hoffnung baut im Sinne der Erlösung darauf, dass es, wenn Plan A scheitert, immer einen Plan B gibt. Dieser liegt jedoch nicht auf derselben Ebene, sondern erfordert einen fundamental anderen, i.d.R. grundsätzlicheren Zugang. Christliche Werte können dazu eine Grundlage sein, zumal sie „allen Menschen guten Willens“ auch jenseits expliziten Glaubens zugänglich sind. Das soll im Folgenden kurz skizziert werden.

Gerechtigkeit – das Liebesgebot als Basis von allem

Jedes Miteinander von Menschen, jedes Gemeinwesen lebt davon, dass die Beteiligten das Gefühl haben, es gehe gerecht zu. Dabei ist es nicht möglich einen verallgemeinerbaren Maßstab dafür anzugeben, wann es denn gerecht zugehe. Die katholische Soziallehre hat dazu eine Maxime gesetzt, die – obwohl durch das Dritte Reich missbraucht und daher in manchen Diskursen diskreditiert – dennoch der bestmögliche Maßstab zu sein scheint: „Jede*m das Seine“. Dabei ist „das Seine“ nie von außen her bestimmbar, sondern liegt im Ermessen der Person. Damit beginnen jedoch die Probleme, wenn jemand beansprucht, was andere ihm* nicht zugestehen wollen oder können. Es braucht also auch darüber wieder Aushandlungsprozesse, die eine Ethik der Gerechtigkeit als Basis haben. Darüber hinaus sind verschiedene Kategorien zu unterscheiden:

Jedes Miteinander von Menschen, jedes Gemeinwesen lebt davon, dass die Beteiligten das Gefühl haben, es gehe gerecht zu

  • Verteilungsgerechtigkeit: Das allen im Prinzip das Gleiche zusteht, wenn auch je nach den Verhältnissen verschieden, ist die Basis jeder Sozialgesetzgebung. Sie bezieht sich auf eine materielle Grundversorgung, auf den Zugang zu Recht und Bildung, sowie auf die Möglichkeiten sozialer Teilhabe.
  • Beteiligungsgerechtigkeit: Diese ist schon viel schwieriger zu realisieren. Selbst wenn kirchliche Schulen mit allen Mitteln eine Durchmischung der sozialen Schichten unter den Schülern* anstreben, zeigt sich das in der Praxis als fast unmöglich. Oft scheuen sich die Eltern aus prekären Milieus, sich auf einen Platz zu bewerben. Und selbst wenn das gelingt, fühlen sich dann die Kinder nicht wohl. Die alte Volksweisheit bewahrheitet sich auch hier: „Gleich und Gleich gesellt sich gern.“ Für Erwachsene bewahrheitet sich das im Wohnumfeld, am Arbeitsplatz, in der Freizeitgestaltung, bei der Partnerwahl: Unser alltägliches Verhalten ist sehr komplex, und nur ausreichend viel gemeinsame vertraute Selbstverständlichkeiten machen es möglich, auf ihrer Basis in Aushandlungsprozesse zu gehen. Der dauerhafte Umgang mit dem und den Fremden über als irgendwie exotisch wahrgenommene Kurzzeitkontakte hinaus, erscheint immer mühsam und letztlich unzumutbar. Das funktioniert bloß bei ausreichend großen privaten Freiräumen. Und diese sind wieder eine Frage der verfügbaren Ressourcen.
  • Belastungsgerechtigkeit: Diese Kategorie kommt bei Gerechtigkeitsdebatten kaum je in den Blick. Berücksichtigt werden ganz selbstverständlich die Belastungen durch Alter, Krankheit und Behinderungen, in Maßen auch durch die Versorgung kleiner Kinder. Zugleich wird der Aufwand für Care-Arbeit, der zum überwiegenden Teil bei den Frauen liegt, weitgehend unterschätzt. Wenn Männer sich an Haushalt und Kinderbetreuung beteiligen, verstehen sie dies meist als „Mithilfe“. Alles im Blick zu haben, alle nötigen Termine, Besorgungen und sozialen Notwendigkeiten zu koordinieren, ist ein gehöriger Aufwand, der in aller Regel bei den Frauen bleibt. Irgendwann ist dann der Kopf so voll, dass man für Weiteres „keinen Kopf mehr hat“. Und irgendetwas kommt dann zu kurz: die berufliche Profilierung, ein gedeihlicher Lebensstil, die eigene Freizeit sowieso. Wenn gerade junge Menschen den Anspruch erheben, im Sinne der „Work-Life-Balance“ weniger zu arbeiten, geht das menschlich und sozial in die richtige Richtung. Zugleich ist der Fachkräftemangel ein gehöriges Problem, das nicht nur die Wirtschaft trifft. Es schränkt die Lebensqualität deutlich ein, wenn Dienstleistungen nicht mehr zeitnah erbracht werden können, vom Zahnarzttermin bis zur Installation der Solaranlage. Viel mehr wird künftig wieder in Eigenarbeit und Nachbarschaftshilfe geleistet werden müssen, soweit dies von den Kompetenzen her überhaupt möglich ist. Eine hoch spezialisierte Kultur lebt von funktionierender Arbeitsteilung; wir werden auf Zukunft hin vieles wieder viel einfacher machen müssen – und das gilt nicht nur für die Bürokratie.

    Ein zentraler Punkt für alle Gerechtigkeitsfragen liegt aus meiner Sicht in der Überwindung eines egoistischen Anspruchsdenkens … Christlich gesehen geht es um eine gute Balance von Nächstenliebe und Selbstliebe.

Ein zentraler Punkt für alle Gerechtigkeitsfragen liegt aus meiner Sicht in der Überwindung eines egoistischen Anspruchsdenkens. „Verzicht“ ist ein Wort, das man nicht gern hört und ja nicht zur Diskurskategorie machen darf. Vielleicht geht es besser mit „Großherzigkeit“, „Stärke die zur Nachgiebigkeit befähigt“, „Würde ohne Pochen auf herkömmlichen sozialen Status“. Christlich gesehen geht es um eine gute Balance von Nächstenliebe und Selbstliebe. Das Christentum hat dazu als unverzichtbare Ressource die Gottesliebe im Zentrum der Trias. Weil ich mich von Gott gesehen und getragen weiß, muss ich mich nicht dauernd profilieren. Weil ich mich von Gott berufen und gesendet erfahre, weiß ich um mein je Eigenes, das nichts und niemand mir streitig machen kann. Zugleich weiß ich, dass ich im Eigenen nur in dem Maß wachse, als ich es in den Dienst des Gemeinsamen stelle. Und weil Gott der Schöpfer des Himmels und der Erde, aller Menschen und alles Lebendigen ist, muss ich und tut es mir gut, den Kreis dessen, was ich bei meinem Dienst im Blick habe, möglichst auszuweiten. Das geht nur, wenn ich zugleich im Blick habe, was an Dingen, Sorgen und Zeitdieben ich getrost loslassen darf. „Entrümpeln“, „neue Einfachheit“, „Aussteigen aus dem Alltagsstress“ – alles Kategorien, die gesellschaftlich schon gegenwärtig und für die Zukunft wichtig sind.

Vertrauen – an sich selbst und die anderen glauben

Vertrauen ist biologisch das erste, was Menschen als „Nesthocker“ mitbringen. Zugleich kann dieses Urvertrauen durch Kindheitserlebnisse bereits gründlich ge- oder sogar zerstört werden. Dabei ist es unverzichtbar sowohl für die eigene wie für die soziale Lebensqualität. Es kann durch Rechtsansprüche nicht ersetzt werden. In dem Maß, als Ausbeutung und Betrug zur normalen Geschäftsgrundlage werden, gegen die in manchen Fällen der Klageweg möglich ist, geht gesellschaftliches Vertrauen verloren – und das zerstört Demokratien weitaus nachhaltiger als jede Ideologie. Denn so kann jeder öffentlich bekannte Fall genutzt werden, um Misstrauen und Hass zu schüren; und Fake News, Verschwörungstheorien und Autokratiefantasien eine gewisse emotionale Plausibilität zu geben. In Einbeziehung auch implizit nachvollziehbarer christlicher Werte bedeutet das für Diskurse konkret:

  • Selbstvertrauen: Ich bin als Mensch zum Bild Gottes geschaffen, und habe daher meine eigene Würde. Damit habe ich das Recht auf eine eigene Meinung, auch wenn diese niemals perfekt sein wird; weder moralisch noch sachlich. Ich kann und darf immer dazulernen und auch Fehler machen.
  • Vertrauen in die anderen: Was für mich gilt, gilt auch für alle anderen. Wir begegnen einander mit Respekt und Rücksichtnahme. Jeder* will immer nur das Beste; und wir unterstützen einander darin, den Kreis derer, die wir im Hinblick auf das Beste im Blick haben, möglichst größer zu machen.

    Vertrauen ist … unverzichtbar sowohl für die eigene wie für die soziale Lebensqualität. Es kann durch Rechtsansprüche nicht ersetzt werden

  • Kritik: Wo Menschen einander vertrauend begegnen, können und sollen sie auch kritisch denken und Kritik üben. Dies geschieht immer um der Sache und der Wahrheit willen. Der Umgangston ist freundlich und führt nie zu persönlichen Angriffen. Wir helfen einander, sachliche Kritik nicht als persönliche Kritik auszusprechen und wahrzunehmen.

Diesem gegenseitigen Vertrauen (nicht nur) in Diskursen entspricht ein Zusammenspiel von demokratischen und autokratischen Mechanismen, von Leitung und Mitarbeit.

  • Leitung: Sie ist die autokratische Ebene des Miteinander. In demokratischen Zusammen­hängen basiert sie auf gegenseitigem Vertrauen und nicht auf gewaltförmiger Macht. Sie gebraucht Macht, die sie aus persönlichem Selbstvertrauen und der vertrauenden Bestärkung durch die Gruppe erhält. Diese Autorität kommt zum Einsatz, um das Zusammensein der Gruppe atmosphärisch angenehm und sachlich produktiv zu gestalten.
  • Mitarbeit: Sie ist die demokratische Ebene des Miteinander und basiert auf Vertrauen und Engagement. Dazu gehört die Bereitschaft beizutragen, was in der eigenen Kompetenz und den eigenen Kräften steht. Das beinhaltet die Bereitschaft vorzutreten, wenn die Leitung dazu einlädt oder die Gruppensituation es erfordert; und ebenso die Bereitschaft, im Dienst der Sache und der Gruppe zurückzutreten und sich einzufügen. Jedenfalls wird der Prozess wach und einsatzbereit mitgetragen; alle sind mitverantwortlich und tragen zum Gelingen bei.
  • Betroffene sind zu beteiligen: Wer durch Gemeinschaft und Sache betroffen ist, hat das Recht und die Pflicht zu einer angemessenen Anteilhabe. Das impliziert, in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedliche Rollen einzunehmen und diese auch tatkräftig wahrzu­nehmen. Auch die Leitungsrolle wechselt häufig. Es liegt in der Verantwortung der jeweiligen Leitung, zur Annahme verschiedener Rollen einzuladen, zu ermutigen und diese auch zu schützen. Es liegt in der Verantwortung aller Beteiligten, die Übernahme von Rollen anzu­bieten, je nach eigener Leistungsfähigkeit und Kompetenz. Passivität und Bequemlichkeit sind ebenso kontraproduktiv, wie eine sich in allem zurücknehmende Vorsicht und Angst, oder eine jederzeit aufdringliche Einmischung. Ist etwas jedoch wichtig und dringlich, dann braucht es die Unterbrechung, wie sie sich in Einspruch, Protest und Demonstration zeigt: „Störungen haben Vorrang,“ (TZI)

    Sich gut informiert fühlen und eingebunden in eine Gemeinschaft, die Informationen, Ansichten und Einsichten teilt, ist die beste Basis, um auch angemessen zum Handeln zu kommen

Vertrauen wird nicht nur durch die gegenseitige Anerkenntnis von Würde und durch Leitungs- und Beteiligungsverhalten gefördert. Dazu wesentlich sind ebenfalls Information und Transparenz:

  • Transparenz: Jede Zusammenarbeit, die auf Vertrauen basiert, hat auch eine Sachebene. Diese ist so umfassend zu kommunizieren, dass alle sich in angemessener Weise beteiligen können, ohne über- oder unterfordert zu sein. Das impliziert seitens der Leitung klug zu überlegen, was an die Teilnehmenden kommuniziert werden soll, damit sie informiert sind und sich sicher und frei fühlen können. Zugleich ist es der zentrale Dienst der Leitung, die Fäden in der Hand zu haben und dies nicht aus Bequemlichkeit wahllos an die Gruppe zu geben. Die Teilnehmenden haben jederzeit das Recht, weitere Informationen abzufragen und umfassend wahrheitsgemäß über alles informiert zu werden, was nicht zum Schutz Einzelner im forum internum bleiben muss.
  • Information: Jedes Thema hat Elemente, die die einzelnen Beteiligten schon kennen und mitbringen und andere, die im Laufe der gemeinsamen Arbeit bereitgestellt werden. Darüber hinaus sind alle Beteiligten gefordert, im Maß ihrer eigenen Möglichkeiten sich weitere Informationen anzueignen und weiterführende Gedanken zu pflegen. Daraus entsteht ein Reichtum an Sachwissen, Verständnis und Einsichten, der die unübertreffbare sachliche Stärke demokratischer Prozesse ausmacht.
  • Handlungsoptionen: Sich gut informiert fühlen und eingebunden in eine Gemeinschaft, die Informationen, Ansichten und Einsichten teilt, ist die beste Basis, um auch angemessen zum Handeln zu kommen. Allerdings schlägt praktisch hier der mind-behaviour-gap zu: Wir tun oft nicht, was wir wissen und sollten, obwohl wir es grundsätzlich wollten. Wesentliche Gründe dafür sind Gewohnheiten, Bequemlichkeit und Versagensangst. Unsere Gewohnheiten sichern und erleichtern das Leben; sie zu ändern, bedarf einer Extraportion Motivation und oft auch eines Projekts im Rahmen einer Auszeit vom Alltag. Unsere Bequemlichkeit könnte man christlich als Paradiesessehnsucht deuten: Eigentlich ist uns nichts lieber, als dass alles ohne Anstrengung einfach und glücklich läuft. Leider ist das auf Erden, von glücklichen Momenten geschenkter Leichtigkeit abgesehen, meist die Versuchung zum Schlaraffenland, was immer auf Kosten von anderen geschieht, im christlichen Sinn also Ausbeutung und daher Sünde ist. Versagensängste gehören zum Menschsein, wer sie nicht hätte, wäre über die Maßen präpotent und in einem Göttlichkeitswahn gefangen. Zugleich sind Versagensängste aber auch Ausdruck von mangelndem Vertrauen in sich selbst und die eigenen Fähigkeiten – was auch einen Schutz darstellt – und in die Gruppe und Gott, die uns tragen.

    Wir werden lernen müssen, mit sehr viel weniger gut zu haushalten und Vieles vertrauensvoll miteinander zu teilen. Das impliziert ein hohes Maß an Achtsamkeit gegenüber der Natur, die wir nutzen, den Produkten, die wir teilen und den Menschen, mit denen wir teilen

Die Sorge für die Almende – Basis der Hoffnung und Freude

Umfassende Lebensvoraussetzung, sowohl für das gegenwärtige wie das zukünftige Leben für uns ganz praktisch und für die Menschheit als Ganze ist die Almende. Sie wird in den gegenwärtigen Diskursen um Post-Wachstums-Konzepte des Wirtschaftens wieder vermehrt thematisiert. Es geht dabei um alles, was uns gemeinsam ist: Luft und Wasser, Wildtiere und -pflanzen, die Meere und die Polargebiete. Früher gehörte dazu auch der Dorfanger, wo jeder sein Vieh weiden konnte, die freien Wiesen und Wälder, die Bäche und Seen. Heute ist in Europa aller Grund und Boden in Besitzverhältnissen geregelt und entweder in privater oder öffentlicher Hand. Wieweit Weltmeere und Urwälder für wirtschaftliche Zwecke ausgebeutet werden dürfen, wie weit es ein Landrecht indigener Völker gibt, und wieweit Gebiete wirtschaftlich ausgebeutet und dabei ökologisch zerstört werden dürfen, darüber gibt es teilweise Debatten. Zum Großteil gilt die Macht des Stärkeren oder dessen, der schneller Fakten setzt.

Durch neue Technologien, und seien sie noch so klimafreundlich, werden neue Ressourcen gebraucht und damit neue Gebiete zu deren Ausbeutung ökologisch zerstört. Die Abkehr von fossilen Brennstoffen unter Beibehaltung oder Steigerung des Energieverbrauchs bedingt daher neuartige und zusätzliche Schädigungen der gemeinsamen Lebensgrundlagen der Menschheit. Dazu kommt das Problem, dass die chemische Industrie den Müll erfunden hat. Alle natürlichen Stoffe werden in der Natur problemlos in ihren Kreisläufen weiter verwertet. Müll dagegen ist unverwertbarer Ballast, der Ökosysteme überlagert oder zerstört, ohne in sie in absehbaren Zeitläufen integriert werden zu können. Es führt kein Weg daran vorbei, mit den natürlichen Ressourcen sehr sehr viel sparsamer umzugehen, möglichst wenig zu erzeugen, das bald Müll sein wird, möglichst darauf zu achten, dass Produkte recycelt werden können, sodass sie in gleichwertigen nützlichen Produkten weiter Verwendung finden. Dazu werden Second Hand-, Tausch- und Leihprodukte essentiell. Wir werden lernen müssen, mit sehr viel weniger gut zu haushalten und Vieles vertrauensvoll miteinander zu teilen. Das impliziert ein hohes Maß an Achtsamkeit gegenüber der Natur, die wir nutzen, den Produkten, die wir teilen und den Menschen, mit denen wir teilen.

Die Sorge um die Almende wird daher in einem weiteren Sinn sich auf das erstrecken, was wir gemeinsam haben und was man nicht kaufen kann: die biologische Sauberkeit von Wasser, Luft und Nahrungsmitteln; Ruhe, Muße und heiteres Miteinander in freundlicher menschlicher Atmosphäre; die Sorge umeinander angesichts der Herausforderungen und Wechselfälle des Lebens; die Freude daran zu schenken und sich beschenken zu lassen.

Reich-Gottes-Praxis

Was hier als Ansätze zu einem guten Leben jetzt und in Zukunft beschrieben wurde, ist im christlichen Sinn Reich-Gottes-Praxis. Glaube, Hoffnung und Liebe, die hier implizit erschlossen wurden, sind die „göttlichen Tugenden“ des Christentums. Die christliche Ethik und Spiritualität beschreiben, was zu ihrer Gestaltung förderlich und was hinderlich ist. Das Wissen darum und die Achtung davor sind auch in den Kirchen durch die modernen Lebenstraditionen rückläufig. Sie wieder zu kultivieren macht die Kirchen zumindest dann neu relevant, wenn die Bedrängnis durch die Lebensumstände groß wird. Zugleich sind das keine neuen Rezepte für die heutigen Zukunftsherausforderungen sondern das, was Menschen immer schon mit je kulturbedingt anderen Priorisierungen angehen mussten – und woran sie immer auch gescheitert sind. Die Zukunft im Jenseits unseres irdischen Lebens lag immer schon in Gottes Hand. Heute wird uns vielleicht erstmals bewusst, wie sehr das auch für das Diesseits der Weltgeschichte und ihre Zukunft gelten mag.

 

Praxis

Foresight für gesellschaftliche Entwicklungen

Einleitung

Dieser Beitrag behandelt Foresight-Prozesse für zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen und dabei eingesetzte Methoden. Ein Ziel von Foresight ist das Erkennen und Beschreiben möglicher Entwicklungen, aber auch die aktive Gestaltung wünschbarer Zukünfte. Zwei Beispiele aus Projekten für die Europäische Kommission illustrieren mögliche Methodenkombinationen.

1. Unser Verständnis von Foresight

Unter Foresight (Vorausschau) verstehen wir am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) die strukturierte Auseinandersetzung mit komplexen Zukünften. Damit wird deutlich, dass Foresight nicht von einer Person allein betrieben werden kann und auch keine Vorhersage ist. Foresight ist ein systematischer Ansatz, der sich aller Methoden der Zukunftsforschung bedient1.

Einige Ziele können nur mit partizipativen Methoden erreicht werden, weil das Wissen und die Mitarbeit unterschiedlicher Akteure notwendig sind.

Mit Foresight können sehr unterschiedliche Ziele2 verfolgt werden. Die Bandbreite reicht von einem offenen Blick in die Zukunft bis zur Ausarbeitung langfristiger strategischer Ziele inklusive der daraus abgeleiteten Schritte. Einige Ziele können nur mit partizipativen Methoden erreicht werden, weil das Wissen und die Mitarbeit unterschiedlicher Akteure notwendig sind. Über Foresight und die Beteiligung unterschiedlicher Akteursgruppen, d.h. mit partizipativen Formaten, können zukunftsbezogene Aushandlungsprozesse organisiert oder mit Befragungen (z.B. Delphi-Befragungen) unterschiedliche Akteursgruppen in Einschätzungen über unsichere Entwicklungen einbezogen werden. Dadurch wird es einfacher, sich auf Zukünfte oder zumindest grobe Richtungen zu einigen als sich sofort in Lösungen von Gegenwartsproblemen zu verhaken. Dies ist bei konfliktgeladenen Themen besonders wichtig. Im Zentrum der Interaktion relevanter Akteure steht im Foresight immer die aktive Vorbereitung auf die langfristige Zukunft und daraus resultierend die Gestaltung der auch kurz- und mittelfristigen Zukunft.

Dabei ist wichtig, sich zu verdeutlichen, welche Zukunft gerade untersucht wird (siehe Abbildung 1), die

  • mögliche Zukunft: Was liegt vor uns? Welche Möglichkeiten gibt es?
  • wahrscheinliche Zukunft: Welche dieser möglichen Zukünfte ist am wahrscheinlichsten?
  • wünschbare oder wünschenswerte Zukunft: Was wollen wir, z.B. als Gesellschaft? Wohin wollen wir? oder eine
  • gemeinsame Vision: Wie sieht die Gesellschaft der Zukunft aus, auf die wir uns einigen können?

Abb. 1: Unterschiedliche Zukünfte

Der Blick in mögliche Zukünfte ganzer Systeme ist immer breit und umfassend, und bezieht die unterschiedlichen Perspektiven3 der betroffenen oder involvierten Personengruppen ein. Um aktiv eine wünschbare Zukunft zu gestalten, muss ich (bzw. diejenigen, für die das Foresight veranstaltet wird) zunächst aus den möglichen Zukünften die wünschbare Zukunft auswählen und meine Ziele formulieren. Hierfür sind insbesondere Umfeldszenarien hilfreich, damit ich mein Thema im Gesamtsystem einschätzen kann. Erst dann richte ich meine Strategie auf diese wünschbare Zukunft und meine Ziele aus und erarbeite entweder aus der Zukunft zurückdenkend (Backcasting) oder von der Gegenwart vorausdenkend die einzelnen Schritte in Richtung meiner gewünschten Zukunft und meiner Einzelziele.

Wenn Foresight betrieben wird, um sich die Umwelt oder das „Umfeld“ und seine zukünftigen Entwicklungen anzusehen, ist das Ziel in der Regel die Vorbereitung auf wichtige Entwicklungen, Diskontinuitäten oder mögliche „Überraschungen“.

Die Vorgehensweisen4 und eingesetzten Methoden sind dabei sehr unterschiedlich – häufig auch in Kombination. Foresight kann auf allen Ebenen stattfinden: international, national, regional, in Unternehmen, Verbänden, in Einzelgruppen oder mit einzelnen Personen. Auch wenn Foresight keine Prognose oder Vorhersage eines einzelnen Vorkommnisses ermöglicht, besteht ein Zusammenhang zum „Forecasting“5, und selbstverständlich hat Foresight einen strategischen Teil6. In diesem Kontext fällt häufig der Begriff “Strategic Foresight”7. Damit wird sehr zielgerichtet und mit einem bestimmten Zweck in die Zukunft geschaut. Wenn allerdings der Blick offen und kreativ bleiben soll, dann kommt zuerst der Blick nach vorn und danach erst die Strategie, nicht zuerst eine Strategie und dann der Blick nach vorn. Wenn Foresight betrieben wird, um sich die Umwelt oder das „Umfeld“ und seine zukünftigen Entwicklungen anzusehen, ist das Ziel in der Regel die Vorbereitung auf wichtige Entwicklungen, Diskontinuitäten oder mögliche „Überraschungen“.

Foresight kann gleichzeitig als lernender Prozess betrachtet werden, in dem das wichtigste Ziel das Vorausdenken, das Denken auf Vorrat, die Kommunikation und die Teilhabe an der Gestaltung der Zukunft ist. Wenn Foresight als visionsbildender Prozess (Vision im Sinne eines wünschbaren Zukunftsbildes, keine Utopie) angesehen wird, ist die normative Komponente (Beeinflussung in Richtung einer wünschenswerten Zukunft) im Vordergrund. Eine klare Unterscheidung zwischen „Foresight“ (offener Blick) und „Strategie“ (fokussiert, normativ) in den einzelnen Schritten des Prozesses ist also sehr wichtig. In diesem Zusammenhang kann Foresight die Rolle eines „strategischen Dialogs“ zwischen unterschiedlichen Akteuren oder Gruppen der Gesellschaft einnehmen, je nachdem, wer methodisch in die Diskussionen eingebunden ist. Dies sind gesellschaftliche Aushandlungsprozesse.

Vorausschau und die an ihr beteiligten Personen müssen bestimmte Kriterien erfüllen, um erfolgreich sein zu können. Diese werden als “sechs große K” (im Englischen C) bezeichnet8:

Vorausschau und die an ihr beteiligten Personen müssen bestimmte Kriterien erfüllen, um erfolgreich sein zu können.

  • Kommunikation: Fachleute und Interessenvertreter müssen auf einem neuartigen Forum zusammengebracht werden, auf dem sie sich austauschen können.
  • Konzentration auf die Langfristorientierung: Die Teilnehmer müssen sich gegenseitig unterstützen, etwas weiter in die Zukunft zu blicken als sie es allein könnten.
  • Koordination: Die verschiedenen Interessenvertreter müssen sich produktive Partnerschaften zur Bewältigung der Herausforderungen in Wissenschaft, Technik und Innovation konkret vorstellen können.
  • Konsens: Es soll ein möglichst abgeglichenes und widerspruchsfreies Bild der Zukunft erzeugt werden. Einigkeit darüber, dass es (bisher) keinen Konsens gibt, kann bereits ein wichtiges Ergebnis sein.
  • Kommissorium (Vollmacht): Es muss sichergestellt sein, dass die Individuen in einem Vorausschau-Projekt ganz teilnehmen und willens sowie in der Lage sind, die für sie notwendigen Rückschlüsse im Licht der Vorausschau umzusetzen.
  • Komprehension (Fassungskraft): Die beteiligten Individuen müssen die Veränderungen verstehen und fassen können, die ihr Unternehmen, ihren Berufsstand, ihre Fakultät oder Disziplin betreffen, und überblicken, was das für ihre Organisation oder sie selbst bedeutet.

Jeder Foresight-Prozess hat sein eigenes Ziel und seinen eigenen Zeithorizont, der bis zu 30 Jahren oder sogar länger in die Zukunft reichen kann – aber immer auch die Gegenwart, die im Hier und Jetzt existierenden Informationen und die zu treffenden Entscheidungen einbezieht: es kann darum gehen, Zukunftsthemen oder zukünftige Problembereiche aufzuspüren, ein einzelnes gesellschaftliches Zukunftsthema auszuarbeiten oder einen Überblick über zukünftige Technologie zu erstellen.

Foresight sucht Entwicklungen nach zielgerichteten Kriterien und bewertet diese Entwicklung oder das aufgefundene Signal in der Regel aus unterschiedlichen Perspektiven (Multiperspektivenansatz9). Methodisch ist dabei wichtig, Wahrnehmungsfilter zu adressieren und Biases10 zu reduzieren – oder sie wenigstens zu benennen und zu reflektieren, um die vorgenommenen Bewertungen besser einschätzen zu können11. Auch überschätzen Experten ihr eigenes Wissensgebiet häufig, so dass ein Korrektiv anderer Akteursgruppen hilfreich ist. Wird die neue Entwicklung über- oder unterschätzt? Warum? Denken die Experten, sie wüssten alles Notwendige? Finden sie neue Anwendungen zum Beispiel für neue Technik? Wo gibt es einseitige Einschätzungen? Und unter welchen Sichtweisen und Bedingungen entwickelt sich etwas – beispielsweise ein politisches System?12

Es ist aber notwendig und auch viel interessanter, sich Zukunftsbilder vorzustellen, um Alternativen abzubilden, ausgetretene Pfade zu verlassen oder diese überhaupt erst einmal sichtbar zu machen.

Foresight endet entsprechend in manchen Fällen mit mehr Fragen als Antworten, (dafür aber dem Herausarbeiten der wichtigen Fragestellungen) und in unterschiedlichen Szenarien, die in sich konsistent beschreiben, wie die Zukunft werden könnte (Beispiel siehe unten). Für Entscheider in Unternehmen oder Ministerien ist das oft frustrierend. Sie hätten gern die eine Antwort, wie die Zukunft werden wird, was – jenseits von Trivialitäten – niemand genau wissen kann. Es ist aber notwendig und auch viel interessanter, sich Zukunftsbilder vorzustellen, um Alternativen abzubilden, ausgetretene Pfade zu verlassen oder diese überhaupt erst einmal sichtbar zu machen. Nur so kann “vorbereitet sein” im Sinne einer Haltung von “Preparedness” entwickelt werden und gesellschaftliche Resilienz entstehen. Vielfach gehen Menschen von einer Alternativlosigkeit aus, die in der Regel nicht gegeben ist. Zu zeigen, dass es diverse Möglichkeiten gibt, öffnet neue Horizonte für andere Verhaltensweisen, Haltungen, Lösungsfindungen oder einfach einen anderen Umgang miteinander.

Die aufgefundenen gesellschaftlichen Themen können auch mit bestimmten Kriterien (z.B. Wichtigkeit für die Wirtschaft oder wissenschaftliche Exzellenz, Relevanz für Umwelt und Nachhaltigkeit, Beitrag zu Wohlfahrt, Wohlstand oder einem qualitativ guten Leben) und aus unterschiedlichen Blickwinkeln hinsichtlich ihrer Relevanz für meine Entscheidungen und Handlungsfelder bewertet werden (das nennt sich “sense-making”). Eine wichtige Funktion von Foresight ist es, die getroffene Themenauswahl für die Zukunft transparent zu machen, d.h. die Auswahlkriterien und das Vorgehen offenzulegen. Dies unterscheidet sich von einer Kolonisierung der Zukunft13 à la Großkonzernen oder einigen Großinvestoren, die bereits jetzt die langfristige Zukunft besiedeln, indem sie Fakten schaffen.

2. Methoden in Foresight-Zyklen

Die Methodenauswahl im Foresight ist inzwischen reichhaltig14. Sie reicht von kreativen Verfahren aller Art (inklusive mentaler Zeitreisen15) bis zum Übergang zur Planung mit Hilfe von Roadmaps. Neu sind auch halb-automatisierte Verfahren des Horizon Scannings, bei denen Suchmaschinen oder „lernende“ Algorithmen dabei behilflich sind, aus Datenbanken oder dem World Wide Web eine Vorauswahl „wichtiger Themen“ zu treffen und diese automatisiert zu clustern. Diese erste Auswahl muss allerdings noch anhand von projektspezifischen Kriterien (z.B. Wichtigkeit, Relevanz für zukünftige Forschung, Relevanz für die Gesellschaft oder andere) durch Menschen bereinigt werden.

Vielfach wissen Menschen nicht, was sie wirklich benötigen, was die Ursachen für Probleme sind, oder es entstehen erst durch ungelöste Probleme und neue Krisen auch neue Kombinationen der Problematik.

Bei jeder Methode oder Kombination muss sich das durchführende Team überlegen, ob sie zielführend ist. Dem derzeitigen Stand der Forschung entsprechende Foresight-Verfahren starten (soweit möglich und einschätzbar) vom Bedarf oder Problembefund aus, um dann zu eruieren, wie Lösungen zu finden und zu ermöglichen sind. Auch die Sustainable Development Goals (United Nations) oder die „Missionen“ neuer missionsorientierter Innovationspolitik formulieren zunächst diesen Bedarf, an dem sich zunehmend die Suche nach neuen Lösungen ausrichtet16. Bedarfsorientierung hört sich sehr einfach an – ist es aber mitnichten. In einigen Bereichen kennen wir den gesellschaftlichen Bedarf, in anderen nicht. Vielfach wissen Menschen nicht, was sie wirklich benötigen, was die Ursachen für Probleme sind, oder es entstehen erst durch ungelöste Probleme und neue Krisen auch neue Kombinationen der Problematik. Zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Bedarfen bestehen vielschichtige Bezüge, die widersprüchlich sein können.

Foresight-Prozesse werden unterschiedlichen Phasen der Vorausschau und der Politik zugeordnet. Dabei kommt dem Environmental oder Horizon Scanning zwischen der Suche nach neuen Themen und Kombinationen eine besondere Bedeutung zu, aber auch in der Phase der Prioritätensetzung und Auswahl sind unterschiedliche Methoden notwendig, die eine zukunftsgerichtete und den Umständen angepasste Auswahl ermöglichen.

Abbildung 2 zeigt den im European Forum for Forward-Looking Activities der Europäischen Kommission erarbeiteten Foresight-Zyklus, der mit der Bestandsaufnahme dessen, was bereits zur Verfügung steht, startet (eigene Darstellung). Ist das zu betrachtende Thema oder Technologiefeld abgesteckt, wird gesucht, was entweder im Umfeld oder zum gesellschaftlichen Thema/ Technologiefeld für die Zukunft an Informationen auffindbar ist. Dies geschieht über das oben genannte Horizon Scanning17, bei dem Methoden wie Literaturanalyse, Bibliometrie, Patentanalyse, automatisches Screening mit Algorithmen, Internetsuchen, Interviews, Befragung, explorative Szenarien, Workshops, kreative Verfahren, 360° Radar u.v.m. zur Anwendung kommen. Die Frage hier lautet: Was könnte vor uns liegen? Was können wir uns vorstellen? Was wird benötigt bzw. wo ist ein übergreifender Bedarf? Was nehmen wir überhaupt wahr? Perzeptionsfilter hindern uns daran, das volle Potential dessen, was vor uns liegt, zu erkennen18.

Abb. 2: Foresight-Zyklus und Methoden (Modell angepasst von EFFLA 2013 und 2014, eigene Darstellung mit Hinzufügung des derzeitigen Standes)

Danach folgt das Sense-Making19, eine Bewertung und Einordnung entsprechend der Fragestellung und ihrer Kriterien oder einfach durch diejenigen, die an der Beobachtung teilnehmen. Die entsprechende Frage lautet: Was bedeutet das Gefundene (die Technologie, Technik, gesellschaftliche Entwicklung, der Trend usw.) für mich persönlich, für uns als Organisation oder als ganze Gesellschaft, für Betroffene oder für unsere Auftraggeber? In dieser Einschätzungsphase werden unterschiedliche Bewertungsverfahren verwendet. Dies können Befragungen aller Art sein, Delphi-Studien, Workshops mit Bewertungen (Punktekleben, Online-Befragungen auf Plattformen oder Online-Votings usw.), Bewertungsabfragen über elektronische Werkzeuge (z.B. Smartphone Apps) direkt während einer Veranstaltung oder hinterher über Online Tools.

An dieser Stelle muss auch der Bezug zur Fragestellung bzw. zum Fragesteller oder Auftraggeber hergestellt werden. Denn selbst wenn ein Thema in der öffentlichen Debatte oder Bewertung über ein Tool insgesamt für hoch wichtig gehalten wird, heißt es noch lange nicht, dass es mit der Einrichtung, die das Foresight gerade durchführt, überhaupt etwas zu tun hat. Für Detailinformationen werden hier häufig noch einmal Interviews zur detaillierten Einschätzung, Literatur-Screenings in wissenschaftlicher Literatur, Patentrecherchen oder Scoutings (mit Hilfe von Personen, die Informationen beschaffen und zusammenfassen) durchgeführt. Wichtig ist ein systematisches und transparentes, nachvollziehbares Vorgehen.

Trotz einer Bewertung wissen Entscheider damit aber noch nicht, welche Prioritäten sie setzen sollen. Diese Auswahl ist der nächste Schritt (Prioritätensetzung), der entweder aus methodischen Ergebnissen heraus erfolgen kann (z.B. sich an Rankings aus Delphi-Studien oder anderen Befragungen anlehnt), der in Debatten gelöst wird (Argumente bilanzieren), eine einsame Entscheidung für ein bestimmtes Szenario oder Technikbild ist oder schlicht die oft impliziten Präferenzen der Entscheidungsinstanz (mit allen Biases) widerspiegelt.

Der letzte Schritt, die Implementation, ist der schwierigste. Er erfordert den Übergang in reale Aktivitäten.

Der letzte Schritt, die Implementation, ist der schwierigste. Er erfordert den Übergang in reale Aktivitäten. Diese sind von der Beobachtung losgelöst und bedeuten, die Befunde auch in Maßnahmen umzusetzen.

Aus Sicht der Nutzer müssen die Methoden entsprechend der Ziele eines Foresight-Prozesses zusammengestellt werden, denn nur, wenn klar ist, was die Aufgabe ist, kann Zukunftsforschung ihre volle Wirkung entfalten.20 Typische Kombinationen von Methoden sind zum Beispiel Befragung (z. B. Delphi) und Roadmap oder Szenarien und Roadmaps, häufig flankiert von extra konzipierten Workshop-Formaten. Foresight-Methoden werden oft auch nach Funktion klassifiziert. Einige Methoden sind im längerfristigen Kontext sinnvoll, andere dienen eher der kürzeren Sicht oder werden nach dem Grad der Partizipation (z. B. Anzahl der Teilnehmer) ausgewählt.21

3. Beispiele für den Einsatz von Methoden und -kombinationen

In einem Projekt für die Europäische Kommission wurde im Rahmen eines Projektes (Foresight on Demand, 2nd Strategic Plan22) mit unterschiedlichen Experten unter anderen Forschungs- und Innovationsthemen ein langfristiges gesellschaftliches Thema identifiziert und diskutiert, das durch neue technische Möglichkeiten entsteht: die Verlängerung des menschlichen Lebens durch Technikeinsatz mit der Folgefrage, was dies für Gesellschaften bedeuten kann. Methodisch wurden in diesem Projekt zunächst technische Innovationen und Forschung zusammengestellt (Horizon Scanning), die als Schlüssel für die Umgestaltung der menschlichen Natur angesehen werden können. Parallel dazu untersuchten Expert:innen verschiedene Narrationen über den Zustand des Menschen und seine Bedeutung in der Welt, über Träume und Ängste, die im so genannten kollektiven Imaginären verkörpert sind und in Mythen und Fantasien bis hin zu Literatur, Kino und Kultur widerhallen.

Führen die Entwicklungen zu gespaltenen Gesellschaften?

In mehreren Workshops wurden Funde diskutiert, benannt und unterschiedlich thematisch zugeschnitten. Aus der Schnittmenge dieser Funde wurden zwölf Themen ausgewählt und zu Szenarien weiterentwickelt. Sie sollten nicht das gesamte Spektrum der Themen im Zusammenhang mit Human Enhancement und Langlebigkeit abdecken, sondern eine relevante “Stichprobe” möglicher zukünftiger Entwicklungen und Folgen für die Gesellschaft darstellen. So befasst sich “Extra twinkles in the wrinkles” mit Therapien, die das Altern hinauszögern können, sowie Alterserkrankungen.

Die so entstandenen Narrationen wurden als “Sondierungsszenarien” genutzt, die eine Zukunft beschreiben, in der sowohl positive als auch negative Folgen spürbar sind. Die Szenarien sind nicht normativ und skizzieren keine Vision der Zukunft, die als wünschenswert erachtet wird, sondern die Leser:innen sind eingeladen, sich anhand dieser Szenarien die Zukunft vorzustellen und mit anderen Personen zu diskutieren. Die Narrationen sollen zum Nachdenken über die Dynamik des Wandels, künftige Chancen und potenzielle – auch gesellschaftliche – Bedrohungen anregen und so zur Zukunftsvorsorge beitragen, indem sie “sich selbst erfüllende” oder “sich selbst zerstörende Prophezeihungen”23 als Denkmodelle für gesellschaftliche Entwicklungen nutzen.

Die Diskussionen gehen daher noch wesentlich weiter: Führen die Entwicklungen zu gespaltenen Gesellschaften? Kann sich jede und jeder ein langes Leben leisten? Oder ist die Anwendung nur auf bestimmte Eliten begrenzt? Was zahlen die Krankenkassen? Und vor allem: was ist überhaupt schon möglich und wird realistisch erwartet? Was dagegen wird kaum für möglich gehalten, im Zuge der KI-Debatten oder in der Robotik aber bereits als möglich diskutiert? Ist das Science Fiction oder potenzielle Realität? In dieser Expertengruppe wurde das Thema zunächst einmal benannt, abgegrenzt und in weitere Debatten gegeben. Damit sind keine Gefahren gebannt, aber die Karten liegen zunehmend auf dem Tisch und werden nicht nur in elitären Kreisen verhandelt.

Dabei wird ein heißes Eisen angefasst und aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, um Gemeinsamkeiten herauszufiltern, aber auch unterschiedliche Sichtweisen auf das Zukunftsthema zuzulassen.

Ein anderes Beispiel ist das laufende Projekt “FutuResilience” (FutuResilience.eu). In diesem von der Europäischen Kommission finanzierten Projekt gibt es ein deutsches Pilotprojekt zu gesellschaftlichen Zukünften und Resilienz, ein Teilprojekt zum Testen von Methoden namens CoSight. Hier wird versucht, gesellschaftliche Resilienz zu erzeugen, indem mit unterschiedlichen Akteuren der Stadt Hamburg (repräsentative Auswahl) gesellschaftliche Konfliktthemen vorausschauend und aus sehr verschiedenen Blickwinkeln diskutiert werden und über die Bildung von (Teil-) Szenarien Empfehlungen für die Politik abgeleitet werden sollen. Eine der Debatten soll sich beispielsweise der zukunftsorientierten Integrationsthematik widmen. Hier werden unterschiedliche Pfade in die langfristige Zukunft eröffnet und die Folgen von Integration debattiert, um zu verdeutlichen, dass Nicht-Integration von Menschen genauso Folgen hat wie ausbleibende oder ausufernde Migration nach Deutschland bzw. Hamburg. Dabei wird ein heißes Eisen angefasst und aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, um Gemeinsamkeiten herauszufiltern, aber auch unterschiedliche Sichtweisen auf das Zukunftsthema zuzulassen.

4. Ausblick

Foresight für gesellschaftliche Entwicklungen ist wesentlich schwieriger zu leisten als für technische Entwicklungen oder Technologiefelder. In gesellschaftlichen Debatten kommen sehr viel mehr Faktoren und Perspektiven zusammen, die Berücksichtigung finden müssen, wenn es darum geht, sich Zukünfte auszumalen oder sie zu beschreiben. Und auch die Unsicherheiten, unter denen sich Gesellschaft entwickelt, sind und bleiben sehr groß, weil Gesellschaft aus Individuen besteht, bei denen Werte, Religion, Zusammenleben und andere Dinge eine Rolle spielen, die Konflikte auslösen können. Wenn Konflikte nicht gelöst werden und immer wieder neue hinzukommen, die mit den bestehenden verknüpft sind, ergibt sich somit eine schwer zu durchschauende Gemengelage.

Im Foresight versuchen ein Bild entstehen zu lassen, auf das sich Menschen einigen können.

Im Foresight versuchen wir diese Systeme quasi zu entwirren, in einzelne Faktoren oder auch Probleme zu zerlegen und entweder einzeln zu beschreiben, um sie handhabbar zu machen, oder durch die Projektion in die Zukunft die gegenwärtigen Konflikte zunächst auszublenden, um ein Bild entstehen zu lassen, auf das sich Menschen einigen können. Häufig gibt es dadurch mehr Einigkeit als erwartet oder das, was als wichtig und wünschenswert erachtet wird, unterscheidet sich gar nicht so stark wie anfangs gedacht. Wichtig ist dabei, die unterschiedlichen Perspektiven zuzulassen und ernst zu nehmen, quasi mit ihnen zu spielen, um zu verdeutlichen, welche Zukünfte und welche Folgen entstehen können. Folgen können dabei genauso positive Chancen sein wie negative Konsequenzen.

Partizipative Foresight-Prozesse für gesellschaftliche Themen sind bisher noch nicht so stark etabliert wie solche zu technologischen Zukünften. Als zukunftsgerichtete Aushandlungsprozesse haben sie aber viel Potential, die Menschen mitzunehmen in eine wünschbare, von ihnen selbst gestaltete Zukunft. Und das sollte nicht die Zukunft nur einiger weniger sein.

Praxis

Die Zukunft des Zusammenhalts

Wie kann die Stärkung sozialer Verbundenheit in einer vernetzten Gesellschaft gelingen? Die Suche nach Antworten führt zurück zu den Wurzeln der Sozialität.

Die Angst vor der „Erosion des sozialen Zusammenhalts“ ist die am schnellsten wachsende Sorge weltweit – rund 90 Prozent der Befragten blicken diesbezüglich pessimistisch in die Zukunft (vgl. WEF 2022). Befunde wie diese spiegeln ein Phänomen, das sich längst im Mainstream der öffentlichen Debatte etabliert hat: die Rede von der „gespaltenen Gesellschaft“. Als Gründe für eine fortschreitende Fragmentierung werden gern die „Filterblasen“ und „Echokammern“ in sozialen Medien angeführt: Mechanismen und Strukturen, die Menschen darin bestärken, vor allem jene Nachrichten zu rezipieren, die ihre eigene politische Positionierung spiegeln – eine Art digitaler Polarisierungskatalysator.

Allerdings ist die Echokammer-Hypothese schon vielfach widerlegt worden – de facto ist „keine Fragmentierung öffentlicher Aufmerksamkeit entlang politischer Präferenzen feststellbar“ (vgl. Rau/Stier 2022). Und Soziologen wie Steffen Mau, die intensiv zur gesellschaftlichen Spaltung forschen, stellen schon länger fest: „Wir haben radikale Ränder. Aber deshalb ist unsere Gesellschaft noch nicht gespalten“ (vgl. Agarwala/Scholz 2022). Was sich faktisch beobachten lasse, seien lediglich „unsettled conflicts“, weil sich Themen und Debatten neu strukturieren (vgl. Bisky 2022). Auch die Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky kommt zu dem Schluss: „Spaltung und Polarisierung sind Metaphern für Dynamiken, die sich in der empirischen Forschung meist als wesentlich komplexer darstellen“ (vgl. Liebhart 2022).

Menschen lieben einfache Erzählungen, die eine unübersichtliche Wirklichkeit handhabbar machen. Vor allem alarmistische Narrative verfügen über eine gesteigerte Anschlussfähigkeit und werden deshalb immer wieder medial reproduziert.

Damit ist bereits der erste Grund genannt, warum die Spaltungsbehauptung so erfolgreich ist, obwohl ihr die empirische Entsprechung fehlt: Sie lebt von der Macht der Metapher, des Narrativs. Menschen lieben einfache Erzählungen, die eine unübersichtliche Wirklichkeit handhabbar machen. Vor allem alarmistische Narrative verfügen über eine gesteigerte Anschlussfähigkeit und werden deshalb immer wieder medial reproduziert. Steffen Mau zufolge ist die These von der gespaltenen Gesellschaft ein „Angstszenario“, das „immer wieder ungeprüft nacherzählt“ wird (vgl. Agarwala/Scholz 2022).

Der zweite, tiefer liegende und „eigentliche“ Grund für den Erfolg der Spaltungserzählung ist die unübersichtliche Wirklichkeit selbst: Unter den Vorzeichen der Vernetzung wird immer deutlicher, dass die Gesellschaft nicht mehr als ein großes Ganzes verstehbar ist, sondern nur noch als dynamischer Zusammenhang des Verschiedenartigen, als Gleichzeitigkeit des Unterschiedlichen. Und je undurchschaubarer und unberechenbarer die Verhältnisse werden, umso attraktiver erscheinen vereinfachende Beschreibungen. Nur auf dem Boden einer überkomplexen Realität können unterkomplexe Narrative gedeihen.

System im Stresstest

Die Reduzierung von Komplexität ist etwas Grundmenschliches, alle lebenden Systeme tun im Grunde nichts anderes. Problematisch wird es aber, wenn unterkomplexe Narrative die komplexe Wirklichkeit so stark überlagern, dass sie eigene, destruktive Realitäten etablieren. Wenn etwa „Polarisierungsunternehmer“ (Steffen Mau) gezielt Radikalisierungen fördern, besteht eine realistische Gefahr, dass das Spaltungsnarrativ zur „self-fulfilling prophecy“ wird. Die großen Krisen unserer Zeit verleihen dieser Dynamik weiteren Schub. Die Pandemie hat radikalisierten Gruppen die Möglichkeit gegeben, freie Kommunikationsräume in der eingeschränkten Öffentlichkeit einzunehmen. Und die Energie- und Inflationskrisen im Zuge des Ukraine-Krieges schüren neue Ängste vor gesellschaftlichen Verwerfungen.

Immer dringlicher stellt sich also die Frage: Wie kann die Stärkung eines übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhalts unter vernetzten Vorzeichen gelingen?

„Wir gehen in eine Art Stresstest unseres demokratischen Systems“, sagt Martin Voss, Leiter der Abteilung Katastrophenforschung an der FU Berlin: „Und es könnte sein, dass bereits vorhandene Gräben vertieft werden und die gesellschaftliche Instabilität zunimmt“ (vgl. Schnabel 2022). Der Konfliktforscher Andreas Zick warnt sogar davor, dass sich Radikalisierte komplett vom „System“ abwenden: „Die Ära des Populismus ist vorbei. Sie geht in Demokratieverachtung über“ (vgl. Maxwill 2021).

Immer dringlicher stellt sich also die Frage: Wie kann die Stärkung eines übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhalts unter vernetzten Vorzeichen gelingen? Substanzielle Antworten lassen sich nur finden, wenn man nicht bei den Symptomen verharrt, sondern die Ursachen und Voraussetzungen untersucht. Die Suche nach den neuen Potenzialen für Verbundenheit, nach neuen „gesellschaftlichen Befriedungsformen“ (Steffen Mau), muss deshalb bei den Strukturen ebendieser „nächsten Gesellschaft“ ansetzen. Genauer: beim Organisationsprinzip des Netzwerks.

Die exkludierende Gesellschaft

Auf den ersten Blick scheint die Form des Netzwerks die Spaltungsthese sogar zu stützen. Schließlich versprechen Netzwerke keine Teilhabe, im Gegenteil: Sie schließen alle aus, die nicht dazugehören. Die Netzwerkgesellschaft des 21. Jahrhunderts bildet sozusagen das exkludierende Gegenstück zum Inklusionsversprechen der modernen, „vorvernetzten“ Gesellschaft, die allen Individuen Zugang zu allen gesellschaftlichen Subsystemen garantierte: Jede und jeder Einzelne sollte sich prinzipiell an Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft et cetera beteiligen können. Eingelöst wurde dieses Versprechen unter anderem durch ein demokratisches politisches System, durch ein Bildungssystem mit allgemeiner Schulpflicht, durch sekundäre Funktionssysteme wie Sozial- und Entwicklungshilfe.

Auf der einen Seite stehen die zahlreichen Facetten der „neuen Wir-Kultur“ und das hohe Maß an Solidarität, Empathie und Rücksichtnahme, das Menschen in Krisenzeiten zeigen, etwa während der Flüchtlingswelle oder der Pandemie. Auf der anderen Seite die Verschwörungstheorien und radikalen Gemeinschaften, die ebenfalls im Kontext von Krisen aufblühen.

Die Netzwerkgesellschaft „entgrenzt“ diese einheitliche Inklusionsprogrammatik nun: Teilhabe muss immer häufiger auf bislang gültige Absicherungen und Garantien verzichten, seien es wohlfahrtsstaatliche Inklusionen oder gewerkschaftliche Korrekturen. Die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen im Kontext der jüngsten Großkrisen bilden gewissermaßen die Ausnahmen zu dieser Regel. Denn tatsächlich bewirkt die Vernetzung vor allem eine Renaissance der tribalen, „archaischen“ Partizipation und damit auch einen Boom der Affekte – mit positiven wie negativen Effekten: Auf der einen Seite stehen die zahlreichen Facetten der „neuen Wir-Kultur“ und das hohe Maß an Solidarität, Empathie und Rücksichtnahme, das Menschen in Krisenzeiten zeigen, etwa während der Flüchtlingswelle oder der Pandemie. Auf der anderen Seite die Verschwörungstheorien und radikalen Gemeinschaften, die ebenfalls im Kontext von Krisen aufblühen. Die zentralen Orte dieser neuen, emotionalen Teilhabe sind die sozialen Medien – in denen das „alte“ Recht auf Inklusion nun umso vehementer eingefordert wird.

Diese Entwicklung ist, so wie die Vernetzung selbst, kein spezifisch „westliches“ Phänomen, sondern ein globales. Auch im autokratisch regierten China verlieren klassische Institutionen wie Parteien, Familie oder Gewerkschaften an Bedeutung – der Sozialanthropologe Xiang Biao attestiert der chinesischen Gesellschaft ein „zerrissenes Band“, weil das Gespür des einzelnen Individuums für das unmittelbare soziale Lebensumfeld verloren gehe (vgl. Yang 2022). Kompensiert wird dieser Mangel an Zugehörigkeit, in Fernost wie in der westlichen Welt, auch mit der rückwärtsgewandten Wiederbeschwörung fiktiver Größen wie Nation und Ethnie: „Make XY great again. Take back control.“

Was könnte unter diesen Rahmenbedingungen eine übergreifende soziale Verbundenheit stärken? Einfache soziologische Konzepte wie das der „Resonanz“ (vgl. Rosa 2016) helfen nicht weiter – die Grundannahme, dass wir letztlich alle eine Welt teilen, reicht nicht aus, um die hochkomplexen Abhängigkeiten der vernetzten Welt in den Blick zu bekommen. Gefragt sind vielmehr Zugänge, die mindestens ebenso komplex sind wie die Ausgangslage selbst: ganzheitlich-systemische Perspektiven, die die Relationen und Dynamiken der vernetzen Gesellschaft erfassen. Denn genau an diesen Schnittstellen entstehen auch die neuen Potenziale für Verbundenheit.

Brückenschläge

Je deutlicher wird, dass einzelne Systeme von Komplexität überfordert sind, umso mehr muss sich die Aufmerksamkeit nun auf die Intersektionen und Verbindungen verlagern, aus denen übergreifende Effekte entstehen können: auf interdisziplinäre Allianzen und hybride Organisationsformen, die verschiedene Akteure gemeinsam an einem Strang ziehen lassen. Dies ist die Grundidee der „Co-Society“ als einem der großen Transformationsprozesse unserer Zeit (vgl. The Future:Project 2023).

Wie kann eine Kultur des konstruktiven Miteinanders unter den Vorzeichen zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung gestärkt werden? Antworten auf diese Frage liefert die transformative Trendsystematik „Future:System“ des Thinktanks The Future:Project. Insbesondere die Transformation der „Co-Society“ spielt dabei eine zentrale Rolle: Indem sie gezielt die „wir-kulturellen“ Kräfte unserer Zeit analysiert, hilft sie bei der Verwirklichung einer postpolarisierten Gesellschaft.

Im Kern geht es dabei um ein neues Zusammenspiel der gesellschaftlich Verantwortlichen, um „Bündnisse zwischen den Denkungsarten unterschiedlicher Systeme und Funktionslogiken“, wie es der Soziologe Armin Nassehi sagt (vgl. Unfried 2019). Gesucht werden Räume, in denen sich verschiedene Eigenlogiken gegenseitig irritieren und abgleichen können.

Hinweise, wie dies funktionieren könnte, liefert das Beispiel der Gemeinnützigkeit: Gemeinnützige Organisationen sind sozusagen von Natur aus dafür prädestiniert, neue Gemeinschaftsformen zu schaffen, indem sie kluge strategische Allianzen etablieren, insbesondere an den Überschneidungen der drei klassischen Sektoren Staat, Wirtschaft, Gemeinnützigkeit. Die neuen Konstrukte, die an diesen Schnittstellen entstehen, schaffen gleichsam einen neuen „Vierten Sektor“, der diese drei traditionellen Sektoren übergreift. Gemeinnützigkeit kann dann als eine Art Community-Management fungieren, das den Aufbau nachhaltig resilienter Gemeinschaftsstrukturen fördert.

Am Beispiel der Gemeinnützigkeit wird jedoch auch deutlich, dass sich eine solche neue Wirklichkeit nicht einfach „einführen“ lässt, erst recht nicht in einer vernetzten Gesellschaft, in der jede Form von „Ordnung“ immer ein Resultat von Praxis ist. Um die inklusiven Potenziale im Rahmen der exkludierenden Vernetzung zu erschließen, braucht es deshalb praktische Projekte und Räume, die Dialoge und Begegnungen ermöglichen – und neue Identitätsangebote vermitteln. Die Basis dafür bildet eine Kultur der „kooperativen Abgrenzung“: Erst die Toleranz unterschiedlicher Perspektiven eröffnet auch Zugänge zu „tiefer liegenden“ Gemeinsamkeiten wie geteilten Werten, Zielen und Wünschen.

Von der Theorie zum Tun

Konkrete Beispiele für diese neuen Möglichkeitsräume sind Wertedialoge wie die Z2X-Community oder Initiativen wie „Deutschland spricht“, die Menschen zusammenbringen, um über Politik zu diskutieren. In den USA, wo wohl am ehesten von einer „gespaltenen“ Gesellschaft gesprochen werden kann, bringen die „Braver Angels“ im ganzen Land Menschen in Workshops und Debatten zusammen, um Vorurteile abzubauen und wieder eine echte politische Debatte zu ermöglichen (vgl. Llanque 2022). Auch ein konstruktives Verständnis von Journalismus wirkt in diese Richtung: „Unser Job ist es, auch die Stillen in ein Gespräch zu verwickeln, und die gespaltenen Teile der Gesellschaft miteinander“, sagt etwa „Zeit Online“-Chefredakteur Jochen Wegner (vgl. Becker 2016).

Große Potenziale für die Schaffung eines konstruktiveren Miteinanders bieten auch die verschiedenen Facetten der Co-Kultur, von Co-Creation über Co-Living bis Co-Working.

Große Potenziale für die Schaffung eines konstruktiveren Miteinanders bieten auch die verschiedenen Facetten der Co-Kultur, von Co-Creation über Co-Living bis Co-Working. Das Co-Prinzip zahlt auch ein auf eine neue Nähe der Generationen: Es entstehen Gestaltungsräume, in denen Jugendliche wieder mehr lernen können (und wollen) von den Älteren, die ihrerseits ihre Lebenserfahrung konstruktiver in die Gesellschaft einbringen können. Das Spektrum reicht von multigenerationalen Lebenswelten bis zu „Reverse Mentorings“, bei denen jüngere und ältere Beschäftigte Medienkompetenzen und Facherfahrung austauschen.

Damit an solchen Schnittstellen tatsächlich jene sozialen Qualitäten gedeihen können, die einen neuen sozialen Zusammenhalt fördern, muss vor allem die kleinste individuelle Ebene adressiert werden: die persönliche Selbstwirksamkeit. Denn sämtliche soziale Energie speist sich letztlich aus dem Gefühl der individuellen Handlungsfähigkeit. Der größte Feind des sozialen Zusammenhalts ist deshalb auch das Schrumpfen dieser Handlungsspielräume – im schlimmsten Fall das Gefühl der Ohnmacht. Genau deshalb ist auch der Faktor Freiwilligkeit so entscheidend: Gerade in vernetzten Zeiten können verschiedene Akteure nur dann gemeinsam an einem Strang ziehen, wenn sie nicht gezogen werden.

Damit an solchen Schnittstellen tatsächlich jene sozialen Qualitäten gedeihen können, die einen neuen sozialen Zusammenhalt fördern, muss vor allem die kleinste individuelle Ebene adressiert werden: die persönliche Selbstwirksamkeit.

Auch Unternehmen erhalten dabei eine neue soziale Verantwortung. Konsum ist schon immer ein zentraler Identitätsstifter gewesen, doch in einer Gesellschaft, in der Sinn eine immer zentralere Rolle spielt, wird Konsum auf eine neue Weise kollektiv aufgeladen. Ins Zentrum rückt die Teilhabe an gemeinsamen Werten und übergeordneten Zielen. Immer wichtiger wird der Wunsch, Teil einer Bewegung mit anderen Menschen zu sein. Was Firmen deshalb künftig erfolgreich macht, sind konkrete Hilfs- und Orientierungsangebote bei der Sinn- und Identitätsfindung. Indem sie Wertegemeinschaften schaffen und stärken, zu denen Menschen sich qua Konsum zugehörig fühlen, werden Unternehmen zu Unterstützern sinnhafter Vergemeinschaftung.

Die Tatsache, dass Unternehmen „aktivistisch“ werden und gleichsam Teile des politischen Feldes besetzen, wirft auch ein neues Licht auf die künftige Rolle des Staates für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Mehr denn je muss der Staat nun nachholen, was im Wirtschaftssystem längst im Gange ist: den Wandel hin zu einer zeitgemäßen Führungs- und Organisationskultur, die Menschen befähigt und ermächtigt.

Die neue Funktion des Staates

In einer vernetzten und fragmentierten Welt kann sich auch der Staat nur selbst zum Handeln ermächtigen, wenn er seine Bürgerinnen und Bürger ermächtigt. Viele konkrete Ideen und Modelle für eine partizipative Demokratie sind bereits erfolgreich im Einsatz. Ein Beispiel ist das Konzept der „Monitorial Citizenship“: Das kontinuierliche Monitoring von Regierungsaktivitäten durch Bürgerinnen und Bürger hilft, das Misstrauen in politische Institutionen produktiv zu kanalisieren und zu reduzieren.

Dass eine stärkere Bürgerbeteiligung die Akzeptanz politischer Entscheidungen und die Zustimmung zur Demokratie erhöht, belegen verschiedene bürgerdemokratische Pionierprojekte, etwa aus der Schweiz oder Baden-Württemberg. Niedrigere Hürden für Volksbegehren und -entscheide oder Ämter wie eine „Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung“ verbessern die Umsetzung zivilgesellschaftlicher Anliegen – und belegen zugleich, dass mehr Teilhabe die Bürgerinnen und Bürger zufriedener und sozial engagierter macht.

Das kontinuierliche Monitoring von Regierungsaktivitäten durch Bürgerinnen und Bürger hilft, das Misstrauen in politische Institutionen produktiv zu kanalisieren und zu reduzieren.

In diesem Kontext gewinnt auch die Idee der Losdemokratie neue Aktualität. Von den Ursprüngen der Demokratie bis weit ins 18. Jahrhundert wurden die Mitglieder der Volksvertretung nicht gewählt, sondern ausgelost. Das Losprinzip ermöglicht eine echte Repräsentation der gesamten Gesellschaft und erzeugt eine hohe persönliche Verantwortung – sowohl für Bürgerinnen und Bürger, die aktiv Lösungen entwickeln, als auch für Politikerinnen und Politiker, die mit diesen Lösungen weiterarbeiten. In Deutschland wurde 2019 erstmals ein losdemokratischer Bürgerrat eingesetzt. Vieles spricht dafür, dass mehr Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie helfen, konstruktiv mit gesellschaftlichen Spaltungstendenzen umzugehen. Der Wandel von einer rein repräsentativen zu einer partizipativen Demokratie würde die Politik (wieder) anschlussfähiger machen – und könnte die Grundlage für ein neues Miteinander legen. Eine entscheidende Rolle wird dabei auch die Kultivierung eines neuen politischen Kommunikationsstils spielen.

Auch die Idee eines „aktivierenden“ Sozialstaates kann ihre gesellschaftliche Kraft allerdings nur dann entfalten, wenn sie den Fokus auf die praktische Umsetzung verlagert, auf Erfahrungen, die in der sozialen Alltagspraxis erlebbar werden. Gelingt dies, kann sogar eine neue, konstruktive „Bürger-Bewegung“ entstehen: Menschen, die sich stärker selbst organisieren und dabei aktiv unterstützt werden von einem Staat, der sowohl Verantwortung übernimmt als auch weiß, dass seine wahre Macht in der Ermächtigung gründet. Auf breiter Basis können so neue Möglichkeiten eines übergreifenden, gemeinsamen Handelns entstehen. Und: neue Weltbilder jenseits populistischer Protestkulturen und ideologischer Grabenkämpfe.

Vertrauen braucht Interaktion

Je „flüssiger“ sich gesellschaftliche Teilhabe gestaltet, umso wichtiger wird es, neue Möglichkeitsräume nicht nur zu eröffnen, sondern auch abzusichern. Für den Staat bedeutet das ein neues Bekenntnis zum Auf- und Ausbau verlässlicher Rahmenbedingungen, die es Menschen ermöglichen, frei und freiwillig zu agieren. Erst ein Mindestmaß an sozialer und finanzieller Absicherung eröffnet echte Spielräume für selbstorganisiertes Handeln – so wie ihr Fehlen das Abdriften in populistische, reaktionäre Ideen und Organisationen begünstigt. Im Kern geht es um den Aufbau von Vertrauen: Wer darauf vertrauen kann, als Mitglied einer Gesellschaft nicht „im Stich gelassen“ zu werden, ist offener für das Eingehen neuer Verbindungen. Fehlt dieses Vertrauen, wird eine große Distanz zur „Gesellschaft“ erlebt, die zur Flucht in Parallelwelten und Extreme motiviert.

Erst ein Mindestmaß an sozialer und finanzieller Absicherung eröffnet echte Spielräume für selbstorganisiertes Handeln – so wie ihr Fehlen das Abdriften in populistische, reaktionäre Ideen und Organisationen begünstigt.

Diese Vertrauensdynamik, die allem sozialen Handeln zugrunde liegt, gilt es auch beim Umgang mit großen gesellschaftlichen Herausforderungen wie der aktuellen Energiekrise zu bedenken. Hilfsmaßnahmen wie Tankrabatte, die nicht zuletzt auch Wohlhabende unterstützen, wirken in großen Teilen der Gesellschaft tendenziell vertrauenszersetzend. Das ist umso fataler, als die resilienzfördernde Kraft gesellschaftlicher Zusammengehörigkeitsgefühle gerade in einer Zeit akuter Krisen essenziell ist.

Generell übt die ökonomische Ungleichheit viele kontraproduktive Effekte aus: „Deutschland ist heute so ungleich wie vor 100 Jahren“, sagt Naika Foroutan, Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der HU Berlin: „Das Gleichheitsversprechen der Demokratie läuft empirisch also für sehr viele Menschen ins Leere. Der Widerspruch zwischen einer verinnerlichten Norm (wir sind eine Demokratie mit einem großen Gleichheitsversprechen) und einer empirisch fassbaren Realität der Ungleichheit wird für viele Mitglieder der Gesellschaft immer spürbarer und führt zu einer kognitiven Dissonanz sowie spürbarer Gereiztheit“ (vgl. Kappacher 2022). Als konstruktives Gegenbeispiel ließe sich die Idee eines Grundeinkommens anführen, das in großem Umfang abgesicherte Handlungsspielräume schaffen könnte – und so auch Vertrauen generieren würde.

Vertrauen muss sich in der Praxis bewähren, es baut auf Gewöhnung auf – und lebt dabei ganz entscheidend von der sozialen Kraft der Interaktion.

Vertrauen muss sich in der Praxis bewähren, es baut auf Gewöhnung auf – und lebt dabei ganz entscheidend von der sozialen Kraft der Interaktion. Der Soziologe Reinald Manthe betrachtet die unmittelbare, körperliche Begegnung sogar als elementare Infrastruktur für eine funktionierende Demokratie: Nur die physische Interaktion, die „Unbeschwertheit in der Begegnung mit Unbekannten“, ermögliche ein „gleichräumliches und gleichsinnliches“ Wahrnehmen der Umgebung – und damit auch ein „Gefühl der Zusammengehörigkeit“ (vgl. Fischer 2021). Die Möglichkeit, einander in die Augen zu schauen, ist demnach die Grundvoraussetzung für den Aufbau von Vertrauen und sozialem Zusammenhalt. Und virtuelle Visionen wie das Metaverse erscheinen aus dieser Perspektive geradezu demokratiegefährdend.

Zurück in die Zukunft

Die Suche nach den Möglichkeiten gesellschaftlicher Verbundenheit in vernetzten Zeiten führt nicht nur zurück zu den Ursprüngen menschlicher Sozialität, zur direkten Begegnung. Sie macht auch deutlich, dass sich Zusammenhalt immer im Lokalen und Regionalen manifestieren muss, erst recht in globalisierten und krisengeschüttelten Zeiten. Zu den zukunftsweisenden Räumen des Austauschs und der Begegnung zählen deshalb auch jene lokalen Orte und Institutionen, die es schon seit Ewigkeiten gibt, von Dorf- und Stadtteilfesten über Vereine bis zur Kneipenkultur. Besonders spannend sind dabei lokale und regionale Modellprojekte, die dort entstehen, wo Reibungen herrschen und Arrangements notwendig werden. An diesen Schnittstellen müssen neue Kommunikationsformen eingeübt werden, die sich dann als neue Gewohnheiten etablieren können.

Die Potenziale für die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts sind also vorhanden. Wir können und müssen nur noch besser darin werden, sie zu erschließen.

Hoffnung kann dabei die Tatsache geben, dass das Narrativ von der „gespaltenen Gesellschaft“ eben vor allem genau das ist: ein Narrativ. Viele Studien belegen, dass es „hierzulande eine breite und nachhaltige Orientierung an Werten wie Gleichheit, Gerechtigkeit, Schutz der Schwächeren, Solidarität“ gibt (vgl. Liebhart 2022). Die Potenziale für die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts sind also vorhanden. Wir können und müssen nur noch besser darin werden, sie zu erschließen.

Als ein roter Faden dient dabei der Faktor Vertrauen. Vertrauen erhöht das „Systempotential für Komplexität“ und ermöglicht „ganz neue Arten von Handlungen“, schrieb der Soziologe Niklas Luhmann vor einem halben Jahrhundert (vgl. Luhmann 1973). Heute, in den krisengeplagten 2020er-Jahren, ist diese Erkenntnis wertvoller denn je. Für die Zukunft des Zusammenhalts und eine humane Gestaltung der vernetzten Realität brauchen wir deshalb keine digitalen Avatare. Sondern vor allem: mehr analogen Austausch, von Angesicht zu Angesicht.

Praxis

Kohäsion im Konflikt?

Die synodale Transformation der römisch-katholischen Kirche

Transformation als Kollaps?

Globale Krisen betreffen alle Gesellschaften dieses Planeten im 21. Jahrhundert auf eine Weise, dass sich erstmals eine Weltgesellschaft als Haftungsgemeinschaft herausbildet.

Globale Krisen betreffen alle Gesellschaften dieses Planeten im 21. Jahrhundert auf eine Weise, dass sich erstmals eine Weltgesellschaft als Haftungsgemeinschaft herausbildet: mit den Folgen des Klimawandels und damit verbundener Migrationsströme, mit der Pandemie der Jahre 2020ff. und nicht zuletzt ihren schuldenökonomischen Langzeitfolgen; mit der digitalen Verschaltung globaler Kommunikation und neuen Organisationsmustern medialer Gouvernementalität. Sie wirken sich in eigener Weise als Belastungen offener demokratischer Gesellschaften aus, weil sich der komplexe Problemdruck nur in ebenso komplexen Entscheidungsprozessen bearbeiten lässt. Autoritäre Politik gewinnt vor diesem Hintergrund an Attraktion und Resonanz. Ob sich damit eine nachhaltige Politik langfristiger, zukunftsfähiger Problemlösungen forcieren lässt, muss man bezweifeln: Für komplexe Probleme reichen unterkomplexe Bearbeitungsstrategien kaum aus. Dennoch gewinnen populistische Politiker und Parteien weltweit Wahlen und setzen in demokratischen Gesellschaften die Funktionsmuster differenzierter Gesellschaften unter Druck.

Transformation nicht nur zum Thema, sondern zum Modus gesellschaftlicher Theoriebildung.

Damit zeichnen sich krisenimprägnierte Transformationsspiralen ab, die jede synchrone Beobachtung empirisch überfordern, weil sie sich akut und in einander überlagernden, vielfältigen gesellschaftlichen Gegenwarten vollziehen, sodass man von Gesellschaft im Modus ihrer performativen Organisation nur als „Gesellschaft der Gegenwarten“ 1 sprechen kann. Damit wird Transformation nicht nur zum Thema, sondern zum Modus gesellschaftlicher Theoriebildung – und zwar gerade mit Blick auf die Frage, wie sich unter dem skizzierten Problemhandlungsdruck gesellschaftliche Zusammenhänge für ihre Bearbeitung erwarten lassen.

Bildet Transformation insofern den Kollaps gesellschaftlicher Kohäsion? Traditionen nationaler, kultureller, religiöser Provenienz können gesellschaftliche Kommunikationszusammenhänge verbürgen, wo sie hinreichend Plausibilität für ihre Orientierungsmuster freisetzen und verbürgen. Aber lässt sich dies in posttraditionalen Gesellschaftsformationen erwarten, die basale Überzeugungen – auch und nicht zuletzt verfassungskonstitutive – in digitalen Kommunikationsräumen mit akuter Produktionszeit und schnellen Ablauffristen von Positionen einer Meinungsbildung zur Verfügung stellen und aussetzen müssen, in denen sie genau dadurch auf dem Spiel stehen? Wie soll unter diesen Bedingungen eine transformative Gemeinsamkeit mit konsensfähigen Bindungswirkungen überhaupt entstehen können – und zwar nicht nur angesichts, sondern im Zuge von Werteinstellungskonflikten? Dass sich Menschenrechtserklärungen in ihrem politischen Gehalt entleeren, sobald sie im Konflikt beansprucht werden, stellt das das zivilisationskulturelle Menetekel der 2020er Jahre dar.

Kohäsion durch Konflikt? Ein katholischer Seitenblick

Umso interessierter muss man auf mögliche Lernschritte blicken, die gesellschaftliche Akteure einbringen können. Religionshistorisch bietet sich dafür die römisch-katholische Kirche als ein Modell für die Aushandlung konfliktiver Transformationsprozesse an. Als ecclesia semper reformanda verlangt sie sich ab, ihre Tradition über notwendige Kurskorrekturen in Bewegung zu halten. Traditionsdynamik wird dabei in der Regel nicht als Traditionskritik konfiguriert: Das kirchliche Schuldbekenntnis aus dem Jahr 2000 stellt diesbezüglich eine große Ausnahme dar. Genau darin zeigt sich die konsensuelle Anstrengung, die eine Umstellung von Traditionsgehalten mit sich bringt.

Man sollte dies für eine spezifisch moderne Operation halten: die fortlaufende Arbeit an pluralen Bestimmungsmustern dessen, was als verbindende und verbindliche Tradition den normativen Gehalt der Kirche als Glaubensgemeinschaft ausmacht. Auf eine katholische Kurzformel gebracht: Einheit in Vielfalt. Aber entspricht das der historisch-reflexiven Form, in der sich die römisch-katholische Kirche in der Moderne bestimmt? Die Frage, wie – im Sinne des vorliegenden Themenheftes – „gesellschaftliche Aushandlungsprozesse über ihre eigenen Basisprämissen funktionieren können“, entscheidet sich am Modus der spezifischen Modernität einer Kirche, die sich zu Beginn des dritten Jahrtausends in einer dramatischen Krise wiederfindet:

  • mit Säkularisierungseffekten in den geschichtlichen Ursprungszonen des Christentums, die im Westen kirchlichen Wandel mit Kirchensterben korrelieren;
  • im Horizont religionskultureller Unterschiede einer sich globalisierenden Kirchenform, die im Blick auf die Rolle von Frauen und sexualethische Normen einander ausschließende Positionen und habituelle Einstellungen aneinander vermitteln;
  • angesichts eines komplexen Missbrauchsproblems, das in seiner systemischen Dimension die theologischen Begründungen und die ekklesiologischen Dispositive kirchlicher Gouvernementalität unter Plausibilitätsdruck setzen.

    Dass ein Papst seinerseits an die Tradition gebunden ist, die er zu wahren hat, und dass die Evaluation von Traditionsgehalten epistemisch mehrinstanzlich läuft, scheint wiederum modernitätsaffine Züge anzunehmen.

Diese Probleme werden kirchlich auf unterschiedlichen Ebenen ausgehandelt: zwischen Amtsträgern und Laien, zwischen Ortskirchen und ihren universalkirchlichen Bezügen, die wiederum von der römischen Kirchenzentrale dirigiert und kontrolliert werden. Dafür stehen unterschiedliche Kommunikationsformate zur Verfügung, die diversifizierte Formen kirchlicher Beteiligung vorsehen – wobei Letztentscheidungen für den Papst mit souveräner Kirchenvollmacht reserviert bleiben. Dass ein Papst seinerseits an die Tradition gebunden ist, die er zu wahren hat, und dass die Evaluation von Traditionsgehalten epistemisch mehrinstanzlich läuft (vgl. DV 10 und die Methodologie der loci theologici), scheint wiederum modernitätsaffine Züge anzunehmen. Das gilt nicht zuletzt, weil sich darin ein spezifisch geschichtlicher Diskurs der Bestimmung von Glaubenswahrheiten vollzieht. Tatsächlich macht die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Funktionssysteme gegenüber ständisch verfassten, in festen Ordnungsmustern verfugten Gesellschaften Modernität aus. Präzisiert man mit Peter Gay diese Definition von Modernität formbestimmend, so zeichnen moderne Diskurse zwei Aspekte besonders aus2: ihr häretisches Moment, sprich: die Arbeit an der Autorität normativ festgelegter Ansprüche, sowie das Interesse an „bedingungsloser Selbsterforschung“, sprich: die selbstreflexive Beobachtung und Verflüssigung der eigenen Positionen. Kommunikation wird als Kommunikationskommunikation betrieben. Sie bricht mit Selbstverständlichem, sie verteilt Plausibilitätsressourcen auf unterschiedliche Akteur*innen, die sie herstellen, und verflüssigt sich in jenen operativen Eingriffen, mit denen jeweils neu Kommunikation an Kommunikation anschließt. In digitalen Gesellschaften vollzieht sich dieser Vorgang in einer Radikalität, die als Konsequenz von Modernität erscheint: In einer epistemisch digital organisierten Welt wird die Wahrnehmung der wirklichen Welt als Wirksamkeit von Beobachtungen greifbar. Kunst macht dies sichtbar, indem sie als und im Bild Wahrnehmung zum Thema macht. Sie stellt die eigene Wahrnehmung dar und wird zugleich zum Gegenstand von Wahrnehmung. Die epistemische Form wird umgestellt: von einer ontologischen auf eine semiotisch-performative:

In digitalen Gesellschaften vollzieht sich dieser Vorgang in einer Radikalität, die als Konsequenz von Modernität erscheint: In einer epistemisch digital organisierten Welt wird die Wahrnehmung der wirklichen Welt als Wirksamkeit von Beobachtungen greifbar.

„Aus wissenssoziologischer Sicht ist das strukturelle Bezugsproblem moderner Gesellschaft die Perspektivität des jeweiligen Weltzugangs. Die entscheidende Frage lautet nicht mehr, was die Welt sei. Es handelt sich nicht mehr um die ontologische Frage nach den Beschaffenheiten, sondern um die epistemologische Frage nach dem Zugang und der Repräsentation. Die Welt ist nur noch in der Verdoppelung zugänglich, genauer: nur noch als Verdoppelung, die ihr Original nur in der Verdoppelung kennt.“3

Ein Muster liefert das 2. Vatikanische Konzil, das auf verschiedenen Feldern neue Positionierungen der katholischen Kirche vornahm. Es handelt sich um Umstellungen kirchlicher Lehre, die einerseits wirkliche Veränderungen mit entsprechenden Effekten darstellen. Andererseits wurden sie als traditionskontinuierend ausgewiesen. Auf diese Weise konnten hohe Mehrheiten für Konzilsentscheidungen gefunden werden, die einen Konsens praktizierten, der nur wenige Jahre vorher theologisch ausgeschlossen schien. Das zeigt sich in mehreren Richtungsentscheidungen, die vor dem Konzil vom kirchlichen Lehramt in verschiedenen Dokumenten nahezu kontradiktorisch anders getroffen worden waren:

  • mit der Anerkennung der Religionsfreiheit;
  • mit der aktiven Beteiligung an der ökumenischen Bewegung und der Anerkennung des kirchlichen Charakters auch jener Gemeinschaften, gegen die zuvor kontroverstheologisch argumentiert wurde;
  • mit einer theologisch begründeten Wertschätzung anderer religiöser Traditionen;
  • mit einer Umstellung der Perspektive auf das Judentum und einer veränderten Lehrpraxis.

Diese Transformationsprozesse waren möglich, weil sich das Konzil selbst transformativ entwickelte, nicht zuletzt indem die Konzilsväter die vorbereiteten Schemata der Kurie zurückwiesen und sich als Konzil konstituierten. Damit bildete sich das performative Verständnis einer Kirche als Communio heraus, das in die ekklesiologischen Bestimmungen (LG) einging und konsensbestimmend wirksam wurde. Anders als auf dem 1. Vatikanischen Konzil wurde Bedenken und Einwänden, Vorbehalten und abweichenden Voten der Minderheit auf dem 2. Vatikanischen Konzil Raum gegeben. Dadurch nahmen manche Dokumente in auch neuralgischen Punkten Kompromisscharakter an, und Zuordnungen wie die von Bischofskollegium und Papst in kirchlicher Letztverantwortung bleiben zwar nicht operativ, wohl aber ekklesiologisch offen, gerade wenn es um Entscheidungskonflikte geht.

Damit hat das 2. Vatikanische Konzil – und zwar gerade in seinen Problembearbeitungsüberhängen – vor allem eins ermöglicht: eine dynamische Aushandlung und Zuordnung der eigenen Traditionsbildung im Modus ihrer Transformation. 

Damit hat das 2. Vatikanische Konzil – und zwar gerade in seinen Problembearbeitungsüberhängen – vor allem eins ermöglicht: eine dynamische Aushandlung und Zuordnung der eigenen Traditionsbildung im Modus ihrer Transformation. Dass dies freilich nur im Ansatz in bewusster Modernität geschah, zeigt sich

  • in der sehr eingeschränkten Wahrnehmung von Modernität – exemplarisch in der Analyse der „Situation der Menschen in der heutigen Welt“ der Pastoralkonstitution Gaudium et spes (Nr. 4-10);4
  • in den Interpretationskonflikten nach dem Konzil, vor allem in den lehramtlichen Regulierungen jener Pluralität, die auf dem Konzil durch die Bischöfe zu Wort kam, sich aber als Weltkirche aus und in Ortskirchen unter Globalisierungsbedingungen neu anmeldet und vom Lehramt mit Dissens-Verboten belegt wurde;5
  • in der fehlenden Reflexion auf die Geschichte des katholischen Antimodernismus und seine Konsequenzen für die Arbeitsweise des Konzils;
  • in der nur ansatzweise übernommenen Perspektive historisch-kritischer Forschung (Dei Verbum), die methodisch das Problemrepertoire des modernen Historismus bestimmte.

Diese defizitär-unentschlossene Modernität bestimmt die katholische Kirche lehramtlich vor allem mit Blick auf Autonomie-Ansprüche, namentlich in sexual-ethischer Hinsicht, sowie in den mitlaufenden Rückbezügen auf naturrechtliche Begründungskonstruktionen. Sie bieten Vergewisserungen einer objektiven Glaubensperspektivik an, mit denen sich im kirchlichen Binnenraum theologische Deutungskonflikte justieren und einhegen ließen. In dem Maße, in dem diese Milieus zerbrochen sind, vor allem aber mit dem Fanal des weltweiten katholischen Missbrauchskomplexes lösen sich die Plausibilitätsrahmen auf, mit denen das kirchliche Lehramt regieren konnte. Genau das hat eine Zunahme offener Deutungskonflikte in theologischen Grundsatzfragen zur Folge. Ihr Auftreten, ihr öffentlicher Austrag ist Aspekt und Motor einer systemischen Transformation, die disruptiv auftritt – mit der durchschlagenden Wirkung von Missbrauchsstudien und dem Scheitern ihrer konsequenten Bearbeitung durch das kirchliche Leitungsamt, das sich dafür als zuständig deklariert.

Synodale Transformation der katholischen Kirche als Kohäsionspraxis?

In diesem Transformationsprozess werden seine Bestimmungs- und Aushandlungsformen sowohl zum Thema wie zur operativen Praxis. Anders gesagt: Die Umstellung der römisch-katholischen Kirche auf Synodalität, die in Deutschland – ausgehend von der MHG-Studie zu Missbrauch in der Kirche – zum Reformprojekt des Synodalen Wegs führte und weltkirchlich von Papst Franziskus betrieben wird, unternimmt eine kirchliche Transformation, indem sie diese behandelt.

Diese synodale Transformation macht sich an einer komplexen Krise der katholischen Kirche fest. Sie verschärft sich in auseinanderscherenden religiösen Einstellungen, theologischen Perspektiven und kirchlichen Orientierungen. Zur Diskussion steht der Zusammenhang der katholischen Kirche bezogen auf die eigene Traditionsgewähr im Zuge von Umstellungen der Lehre wie hinsichtlich des gelebten Glaubensverbundes als einer communio. Ein Beispiel: Die Ermöglichung, homosexuelle Partnerschaften zu segnen, löst nicht nur moraltheologische Deutungskonflikte aus, sondern spitzt schrift- und traditionshermeneutische Fragen so zu, dass sich diametrale Konflikte zwischen den verschiedenen kirchlichen Positionen ergeben. Sie lassen sich auch mit den differenztheoretischen Methoden christlicher Ökumene kaum bearbeiten, weil nach der Regel versöhnter Verschiedenheit bzw. des differenzierten Konsenses Glaubenssätze nicht direkt widersprechen oder einander ausschließen dürfen. Genau das aber ist der Fall bei der Beurteilung von Homosexualität etwa in den Kirchen Afrikas und Westeuropas.

In dem Maße, in dem sich im Zeichen pastoraler Barmherzigkeit der Papst selbst als ein lehramtlicher Ambiguitätsverstärker erweist, wird die Übergängigkeit auch dogmatischer Lehrpraxis sichtbar.

Kirchlich handelt es sich um eine Latenzzeit katholischer Transformation, schon weil die hochkonfliktiven Themen vor dem Bergoglio-Pontifikat nicht kirchenöffentlich ausgetragen werden konnten. In dem Maße, in dem sich im Zeichen pastoraler Barmherzigkeit der Papst selbst als ein lehramtlicher Ambiguitätsverstärker erweist, wird die Übergängigkeit auch dogmatischer Lehrpraxis sichtbar.6 Damit stellt die Sonderfigur dieses Papstes mit seiner spezifischen Machtausstattung einen disuruptiven Faktor in der kirchlichen Traditionssicherung dar, die er als synodal-pastorale Transformation bestimmt und betreibt. Die schiere Tatsache, dass der Papst und seine Verteidiger immer wieder die Kontinuität von Benedikt XVI. und Franziskus betonen müssen und sie zugleich mit konservativen Anfragen auch von Kardinälen konfrontiert sind, macht auf dieses disruptive Moment zumindest in der Wahrnehmung aufmerksam.

Der synodale Kirchen-Transformations-Ansatz soll nun auf diese Herausforderung reagieren, indem zum einen Stimmen aus der Weltkirche eingeholt werden, die ein Artikulationsform des Volkes Gottes darstellen sollen und auf diese Weise katholische Communio als kommunikativen Zusammenhang prozessieren. Zum anderen wird auf den römischen Synodalversammlungen das Beteiligungsspektrum über Bischöfe hinaus so erweitert, dass auch Nicht-Bischöfe abstimmungsberechtigt sind. Das stellt einen Bruch geltenden Kirchenrechts für Bischofssynoden dar, mindestens aber seine Überschreitung noch vor der Installierung jener Rechtsform, die synodal erprobt werden soll. Wie sich dieser gespannte Zusammenhang zwischen der souveränen Entscheidungsmacht des Papstes und seiner Bindung an das eigene Kirchenrecht verhält und wie zudem ein monarchisch regierender Papst selbst Aspekt einer synodalen Kirche sein kann, stellt ein eigenes Thema disruptiver Kirchentransformation dar.

Insofern stellt die synodale Transformation der katholischen Kirche eine kommunikative Brückentechnik im Konfliktfall dar, der performativ verhandelt wird.

Auf dem gegebenen Experimentalniveau katholischer Synodalität soll nach dem Willen des Papstes ein Prozess des geistlichen Hörens und der Wahrnehmungsschärfung unterschiedlicher Positionen eine synodale Lernerfahrung ermöglichen. Statt demokratischer Abstimmungen soll in einem mehrstufigen Prozess synodale Praxis entwickelt werden, auf deren Basis dann konfliktive Themen neu verhandelt werden können. Insofern stellt die synodale Transformation der katholischen Kirche eine kommunikative Brückentechnik im Konfliktfall dar, der performativ verhandelt wird. Das synodale Mindset soll auf diesem Weg als katholische Lösungsform und möglicherweise als Modell einer Konfliktbearbeitungsstrategie etabliert werden, um in systemisch bedingten, habituell bestimmten Überzeugungsdifferenzen eine belastbare Kohäsion als Communio zu entwickeln.

Dafür steht katholisch der rituelle Erfahrungsraum eucharistischer Gemeinschaft zur Verfügung, der eigene Zusammenhangsdynamiken erzeugen kann, weil sich in liturgischer Praxis der Glaube an die Selbstvergegenwärtigung Jesu Christi pneumatologisch verdichtet, sprich: weil sich im Glauben an seine Geistgegenwart eine Haltung des inneren Zusammenhangs jeweils neu aktualisieren lässt. Diese Praxisform steht in anderen gesellschaftlichen Kontexten nur analog und nicht in dieser spezifischen Verdichtungsform als Glaube zur Verfügung – am ehesten noch in gemeinschaftsstiftenden Ausnahmesituationen durch externe Bedrohungen oder durch nationale Erregungszufuhren.

Insofern kann gerade der Papst als Einheitsfigur im Konflikt eine Lösungsoption darstellen, auch wenn er dies nur im zumindest latenten Widerspruch zur synodalen Kirchenbestimmung zu leisten vermöchte. Freilich stellt dies für offene demokratische Gesellschaften keine Option, sondern eine autoritäre Versuchung dar.

Für die Frage nach der gesellschaftlichen Transformationsdynamik lässt sich das katholische Kirchenmodell damit als Muster heranziehen, das aber deshalb nur einen begrenzten Auskunftswert für konsensorientierte, zumindest aber kohäsionsproduktive gesellschaftliche Aushandlungen in wertbezogenen Konflikten hat, weil die katholische Kirche eine spezifische Ritualpraxis der Bearbeitung ihrer Konflikte unterlegen kann. Allerdings nimmt gerade liturgische Teilnehmerpraxis rapide ab, nicht zu reden vom Mitgliederverlust.7 Zudem ist im synodalen Transformationsprozess der katholischen Kirche offen, ob und inwiefern er auch auf Dauer erlaubt, menschenrechtsbasierte Grundunterschiede, die ihrerseits den Charakter von starken Glaubensüberzeugungen besitzen, aneinander zu vermitteln. Mit Blick auf die Erfahrungen anderer Kirchen wie etwa der anglikanischen Gemeinschaft, ist begrenzter Optimismus angezeigt. Indes kann auch hier eine römisch-katholische Besonderheit weiterhelfen: die Entscheidungsmacht des Papstes, der auf eine synodal erarbeitete und beschlossene Option festlegt. Das 2. Vatikanische Konzil kann als Beispiel dienen, dass eine kirchliche Transformation trotz Reibungsverlusten nur zu einer marginalen schismatischen Abspaltung geführt hat. Hier zeigt sich nicht nur kirchliche Kohärenz, sondern ein durch die Konzilsdokumente dokumentierter Konsens, der eine durchgreifende Transformation der Lehre und der kirchlichen Praxis definiert. Insofern kann gerade der Papst als Einheitsfigur im Konflikt eine Lösungsoption darstellen, auch wenn er dies nur im zumindest latenten Widerspruch zur synodalen Kirchenbestimmung zu leisten vermöchte. Freilich stellt dies für offene demokratische Gesellschaften keine Option, sondern eine autoritäre Versuchung dar – die, wie eingangs markiert, ein eigenes Zeichen krisenhafter Transformationszeiten darstellt.

 

 

Praxis

Wie kann die nächste Gesellschaft beginnen?

Es ist ein im Wortsinne apokalyptisches Geschehen, das diese Ausgabe zum Thema macht. Eine Apokalypse ist eine Offenbarung, die nicht bloß erlebt, erduldet, erlitten, sondern erhandelt werden muss. Sie erzählt von einem Ende, und sie verlangt – und zwar: mit unwiderlegbarem, keinen Einspruch und kein Ausweichen duldendem Nachdruck –, durch dieses Ende durchzugehen. Denn ein apokalyptisches Ende ist eine Passage, auch wenn sich über das Diesseits dieses Endes Genauestes, über das Jenseits dieses Endes aber nur Ungewisses sagen lässt: eine Passage eben, kein Ziel.

In diesem Sinne muss es, wenn von Apokalypse die Rede ist, auch nicht um einen Gegenbegriff oder um einen dystopischen Gegenfall von Transformation gehen – sondern nur um eine Formvariante. Transformationen werden als Bewegungen verstanden, die nicht bloß Kraft kosten, sondern auch ein Ziel haben, eine Richtung, ein Motiv. Der europäischen Neuzeit leuchtet solche Dynamik als Selbstverständnis so sehr ein1, dass selbst ihrem Sinn nach zirkulär-zyklische Begriffe wie Revolution oder Krise in eruptive Begriffe umgedeutet werden bzw. zu diesen keinen Unterschied zu machen scheinen – einfach, weil ihnen die Richtung fehlt. Das kulminiert in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg, einer Zeit, der es an epochalem Selbstbewusstsein wahrhaftig nicht gebrach und die deshalb auch erhebliche Affinitäten zum Apokalyptischen hatte. Vom Fin de Siècle (Hermann Bahr meint die dunkle Seite des Schönen) konnte man genauso unerschrocken sprechen wie von schöpferischer Zerstörung (Josef Schumpeter meint die vernichtende, besser: die gedächtnislose Seite des Kapitalismus: den Unternehmer als undertaker veralteter und als Protagonist neuer Technologien, worunter nicht zuletzt Machttechnologien zu verstehen sind) oder von verdichteten und daher energiegeladenen Substraten, an die bloß noch ein Funke zu legen sei (Lenin und die russische Avantgarde in der ihnen eigenen finsteren Faszination für’s Fossile meinen revolutionäre Massen als Treibstoff der Moderne).2

Das alles wird zum Begleitgemurmel der entstehenden Soziologie, die sich mit ganz wenigen Ausnahmen (Weber, Mannheim, Elias, Luhmann) für historische und semantische Fragen gleich gar nicht mehr interessiert und sich auf die Seite der offenen – mithin: unbefangeneres, risikofreudigeres Reden erlaubenden – Zukunft schlägt. Das heißt aber auch: Mit der Neuzeit hat die Zukunft schon begonnen, ihr Beginn liegt schon hinter uns, sie ist schon ziemlich gealtert. Die nächste Gesellschaft kann, wie die Zukunft, nicht beginnen3, weil sie schon begonnen hat.

Mit der Neuzeit hat die Zukunft schon begonnen, ihr Beginn liegt schon hinter uns, sie ist schon ziemlich gealtert. Die nächste Gesellschaft kann, wie die Zukunft, nicht beginnen

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Das deutlichste, ja: das entscheidende Indiz dafür, dass die nächste Gesellschaft bereits begonnen hat, ist, dass wir sie überhaupt für möglich halten können. Dieser Hinweis lohnt einige wenige vorangestellte Notizen zum Problem gesellschaftlicher Differenzierung.4 Denn was üblicherweise als moderne Gesellschaft bezeichnet wird, ist nicht einfach eine historische Nachfolgerin älterer Gesellschaftsformen, sondern deren Integration: ein Geflecht, ein Netzwerk von Ordnungsvarianten. Was einander ablöst, so dass von einem Progress gesprochen werden kann, sind nicht die Ordnungsformen selbst, sondern Ordnungs- bzw. Differenzierungsprimate: die stärkste Durchsetzungskraft, mithin die höchste Ordnungsleistung haben immer diejenigen Ordnungsformen, die die größte Varianz von Ordnungs- und Unordnungsmöglichkeiten in sich zu integrieren vermögen. In diesem Sinne sind gesellschaftliche Ordnungen immer durch Differenzierungen integriert, und sie sind umso belastbarer, je variantenreicher ihnen dies gelingt.

Die stärkste Durchsetzungskraft, mithin die höchste Ordnungsleistung haben immer diejenigen Ordnungsformen, die die größte Varianz von Ordnungs- und Unordnungsmöglichkeiten in sich zu integrieren vermögen.

Tribale und segmentäre, ausschließlich dörfliche oder familiale Ähnlichkeiten kennende und tolerierende Gesellschaften sind in diesem Sinne einfach; sie müssen, um ihren Bestand und ihr Selbstverständnis zu sichern, alles Hierarchische, Ständische, Unvertraute ausschließen und wenden sehr viel Energie für diese Ausschlüsse auf. Eine solche auf Ähnlichkeiten gegründete Sozialordnung lässt nur sehr geringe Komplexität zu, sie ist – anders gesagt – sehr schnell damit überfordert, alles auftretende Unvertraute auszuschließen. Gibt man das auf und lässt neben das in tribalen Umständen dominierende Innen-Außen-Prinzip ein ständisches Oben-Unten-Prinzip treten, wird dieser Kraftaufwand reduziert; ergänzt also die Segmentation durch eine Stratifikation, kann die Gesellschaft ein erhebliches Maß an Komplexität innerhalb ihrer eigenen Grenzen bewältigen. Der Preis dafür ist, was seither als soziale Ungleichheit bezeichnet wird; die stratifizierte Gesellschaft ist nicht mehr durch Ähnlichkeit ihrer Strukturformen geprägt, sondern durch Unähnlichkeit – und das ist, so sehr die Leute nicht nur über ihren Status (d.h.: ihren Geburtsstand, ihre Herkunft) identifiziert werden, sondern sich auch selbst mit ihrem Status identifizieren, immer eine Problemanzeige. Das Identifikationsprinzip selbst reproduziert das Problem der Komplexitätsreduktion durch Ausschluss, es reproduziert das Problem der sozialen Grenzen – aber es reproduziert sie jetzt nicht mehr als Außen-, sondern als Binnengrenze der Gesellschaft. Im Ergebnis entsteht eine Sozialordnung, die zwei Grenzvarianten in ihrem eigenen Raum toleriert: die segmentäre Innen-Außen-Grenze und die stratifizierte Oben-Unten-Grenze; diese Sozialordnung ist primär stratifiziert, weil diese Varianzbreite möglicher Grenzen erst in stratifizierten, nicht in segmentären Ordnungen möglich war. Die Innen-Außen-Grenze muss nicht mehr das Selbstverständnis der Gesellschaft als solcher regeln; sie ist in diesem Sinne von ihren Ordnungslasten befreit und kann beginnen, sich innerhalb der stratifizierten Gesellschaft variantenreich und vielfach unkontrolliert zu entfalten (sie dominiert nicht mehr und kommt gerade deswegen viel pluraler vor). Wenn die Gesellschaft schließlich – und eben dies ist der Zeitpunkt, der die Neuzeit beginnen lässt – die Limitationen, die mit der personalen Identifikation segmentärer und stratifizierter Art einhergehen, ebenfalls aufgibt, wenn sie also soziale Mobilität ermöglichen und erwarten will, kühlt sie ihre Binnendifferenzen auf sachliche Codes ab, die je eigene Sinnsphären beschreiben (Systeme), auf indisponibel personalisierende Identifikationen aber verzichten – die Gesellschaft funktionalisiert ihre Ordnungsformen und individualisiert das Ungleichheitsproblem. Die Komplexität innerhalb ihrer eigenen Grenzen steigt nochmals, nicht nur, weil die Sinnsphären ihr Verhältnis zueinander auf organisationale Programme gründen, die Sinn in Verbindlichkeit und Reversibilität übersetzen. Sondern auch, weil jetzt auch die stratifikatorischen Formen ihre Dominanz verlieren, von Ordnungslasten befreit sind und sich innerhalb der Gesellschaft so variantenreich wie nie zuvor entfalten. Funktional differenziert ist eine Gesellschaft also zwar dann, wenn sie über funktionale Codes bzw. durch »distinctions directrices«5 primär integriert ist. Aber das heißt, dass im Schatten dieses Primates ein komplexes Netzwerk segmentärer und stratifikatorischer Ordnungsvarianten liegt, das – von seinen ehemals primären Ordnungslasten befreit – so wirksam ist wie nie zuvor. Es ist wirksam, weil es – Schattenform, die es ist – unterschätzt wird und schließlich schlecht beherrschbar wird; die populistischen Bewegungen der Gegenwart zeigen das.

Funktional differenziert ist eine Gesellschaft also zwar dann, wenn sie über funktionale Codes … primär integriert ist. Aber das heißt, dass im Schatten dieses Primates ein komplexes Netzwerk segmentärer und stratifikatorischer Ordnungsvarianten liegt, das – von seinen ehemals primären Ordnungslasten befreit – so wirksam ist wie nie zuvor. Es ist wirksam, weil es – Schattenform, die es ist – unterschätzt wird und schließlich schlecht beherrschbar wird; die populistischen Bewegungen der Gegenwart zeigen das.

Für alle Differenzierungsprimate gilt, dass sie sich im Zusammenhang bestimmter medientechnologischer Erfindungen durchgesetzt haben und diese Medientechnologien kultivieren, weil sie zu ihren Bestandsbedingungen werden. Das gilt für Verbreitungs- und Verkehrstechnologien hinsichtlich der Durchsetzung von Stratifikation, und es gilt für den Buchdruck, die allgemeinbildende Schule und die Universität hinsichtlich der Durchsetzung funktionaler Differenzierung. Es dürfte also auch gelten für die nächste Gesellschaft. Die, soviel sollte deutlich geworden sein, wäre eine Gesellschaft, in der der Ordnungsprimat funktionaler Codes dasselbe Schicksal erfährt wie die segmentären und die stratifikatorischen Differenzierungsprimate. Wir müssen uns also fragen, ob sich am Horizont der funktional differenzierten, von segmentären und hierarchischen Ungleichheiten durchzogenen Gesellschaft eine Ordnungsform abzeichnet, die die sachlichen distinctions directrices zurückdrängt – und welche Medientechnologie dieses Zurückdrängen betreibt. An dieser Stelle setzen die wenigen Autoren an (ich bleibe im Folgenden bei Peter F. Drucker und Dirk Baecker), die bisher über die nächste Gesellschaft nachgedacht und geschrieben haben. Nicht gesagt ist, dass dieses entstehende Nächste ein völlig Neues ist. Ebenso möglich wäre, und meines Erachtens stehen die Zeichen in diese Richtung, dass diese neue, nächste Medientechnologie das Verhältnis der vorhandenen Ordnungsvarianten neu arrangiert. Es könnte die bisher immer geltende Selbstverständlichkeit eines Differenzierungsprimates aufgeben und aus den vorhandenen Ordnungsvarianten eine Vernetzungsressource machen, deren Binnenstruktur sich situativ laufend ändert. Diese neue Medientechnologie könnte mit der Gleichzeitigkeit segmentärer, stratifikatorischer und funktionaler Differenzen im genauen Sinne: rechnen. Die nächste Gesellschaft wäre dann eine Computergesellschaft, aber der Computer wäre kein ihr gegenüberstehendes und von ihr allenfalls genutztes Instrument, sondern: sie selbst, ein world wide web, das sich alle sozialen Grenzen einverleibt und in dessen Raum sich die funktionale Differenzierung sich nicht zuverlässig gegen segmentäre und stratifikatorische Ordnungsvarianten durchsetzt.

Die nächste Gesellschaft wäre dann eine Computergesellschaft, aber der Computer wäre kein ihr gegenüberstehendes und von ihr allenfalls genutztes Instrument, sondern: sie selbst, ein world wide web, das sich alle sozialen Grenzen einverleibt und in dessen Raum sich die funktionale Differenzierung nicht zuverlässig gegen segmentäre und stratifikatorische Ordnungsvarianten durchsetzt

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Peter F. Drucker hat (nachdem er im Economist erstmals über die nächste Gesellschaft geschrieben hatte6) in seinem Buch über »Managing in the Next Society« (auf das ›in‹ kommt es an, denn es indiziert, dass uns dieses Nächste nicht bevorsteht, sondern umgibt) die Herausforderungen beschrieben, vor denen die moderne, technologisch hochdynamische Gesellschaft aus seiner Sicht steht.7 Die ›next society‹ sei eine Informationsgesellschaft, die eine neue, nächste Wissensgesellschaft bildet – und diese sei eine ganz andere als jene, die seit dem 17. Jahrhundert entstanden ist und sich bis weit ins 20. Jahrhundert gehalten hat. Es geht ihm dabei keineswegs nur um die Frage, was sich für wen durch die Durchsetzung der Computertechnologie ändert. Vielmehr will er beschreiben, welche großen Entwicklungslinien sich in einer Gesellschaft abzeichnen, die vom Computer beherrscht wird, weil sie vom Computer beherrschbar ist – denn alle diese Entwicklungslinien laufen auf den Computer zu und in ihm zusammen, sie werden aber auch alle durch den Computer verändert, es gibt nichts, worauf diese neue Technologie keinen Einfluss hat. »Nichts«, in Luhmanns Worten8, »wird seinen früheren Sinn behalten.«

Drucker eröffnet sein Buch (es folgt 2002 auf den erwähnten Artikel im Economist, und Drucker merkt im Vorwort eigens an, dass es aus Aufsätzen besteht, die sämtlich vor den Anschlägen vom 11. September geschrieben worden waren) mit einer düsteren Prognose: »Wir stehen eindeutig vor Jahren weltweiter Unruhen«, heißt es zunächst. ›Cleverness‹ werde nicht genügen, um damit zurechtzukommen. Es zeichneten sich eine Reihe von ›Trends‹ ab, die die Bevölkerungsstruktur, die Wirtschafts-, Arbeits- und Marktformen sowie die Unternehmens- und Organisationsformen beträfen; diese Trends müssten – man muss ihm das konventionell revoluzzerhafte Sprechen wohl nachsehen, das sich bei ihm wie in jeder Manageransprache findet – ›als Chancen genutzt‹ werden. Man müsse darauf hoffen, darauf wetten, sich darauf einlassen, dass diese Trends stabil sein werden.

Genau besehen ist es diese Ambiguität des wenn/dann, die die ›nächste Gesellschaft‹ für Drucker ausmacht. Sie ist, wenn man so will, ihr Nukleus, ihr ›basic term‹, ihre Grundunterscheidung. Drucker meint, der 11. September habe das erstmals in aller Schärfe gezeigt (so dass er, auch dies ist konventionelle Managerattitüde, die Ereignisse als Beleg seiner Prognose ausgibt, also seine eigenen Thesen eschatologisch – eingangs hatten wir gesagt: apokalyptisch – aufwertet). Das hat uns inzwischen auch die Covid-19-Pandemie klar gemacht oder jedenfalls nahe gelegt. Klassische Kausalitäten verlieren ihren Sinn. Es gibt keine Grenze, die gegen die Materialisierung dieser Ambiguität (etwa: ein Virus; nicht zufällig ein gut etablierter Grundbegriff der Computerpraxis) ein für allemal zu errichten wäre. Damit ist endlich klar, was der Ausdruck ›offene Zukunft‹ seit der frühen Neuzeit gemeint hatte. Die ›nächste Gesellschaft‹ kann nicht beginnen, weil wir nie sicher sein können, dass sie nicht längst begonnen hat, ja: ob sie nicht längst schon wieder Geschichte ist.

Die ›nächste Gesellschaft‹ kann nicht beginnen, weil wir nie sicher sein können, dass sie nicht längst begonnen hat, ja: ob sie nicht längst schon wieder Geschichte ist

Unter den erwähnten Trends hebt Drucker als erstes die Revolution der Informationstechnologie hervor, mit der Pointe, den Begriff der Informationsgesellschaft primär ökonomisch zu verstehen; der ›e-commerce› sei es, der die Welt grundlegend ändere. Der Begriff reagiere auf die volle Ausdifferenzierung der Industriegesellschaft; die Informationsgesellschaft löse diese ab. Entscheidend sei nicht mehr die Maschine, sondern das Medium; deswegen führe es in die Irre, die Informationsgesellschaft eine Computergesellschaft zu nennen. Informationen sind sachlich, zeitlich und sozial höchst instabil; sie entfalten ihre Wirksamkeit durch Operationalisierungen, ohne dass sie determinieren würden, welche Formen der Operationalisierung das genau sein könnten.

Der zweite Trend sei der demographische Wandel, die zahlenmäßige Unterlegenheit der jüngeren Generation gegenüber der älteren (wohlgemerkt: nicht der ganz alten; Drucker interessiert sich für die etwa 50jährigen). Um den Sozialstaat irgendwie zu erhalten, müssten diese Älteren bis jenseits der 70 arbeiten, hätten aber zugleich Berufe, die so lange keinesfalls mehr Bestand haben werden, und in Strukturen, die nichts gemein hätten mit jenen geregelten Work-Life-Balances (Drucker spricht von Nine-to-Five-Jobs), an die sie gewöhnt seien. Sie müssten erhebliche Arbeits- und Flexibilitätslasten tragen, die nicht absehbar waren, als ihre Berufsbiographien starteten. Ihr wichtigster Joker, die Erfahrung ›on the job‹, werde dadurch wertlos oder jedenfalls abgewertet, ohne dass sich sagen ließe, dass Flexibilität selbst irgendein Wert sei. Die jungen Leute kennen zwar demgegenüber das alte Kapital gesättigter Erfahrung (der Ausdruck ›standing‹ passt hier sehr genau) gar nicht mehr, könnten an dessen Stelle aber fast ausnahmslos die formalen Bildungsabschlüsse von Universitäten setzen – und würden das auch rücksichtslos tun. Diese formalen Abschlüsse werden für Drucker also in der ›next society‹ gerade nicht abgewertet, sondern als signalling der Flexibilität – nicht: der Brauchbarkeit – in Rechnung gestellt.

Man lässt sich leiten von denen, die nicht wissen, was sie tun – indem man dieses Nichtwissen beobachtet und in ein Verhältnis zu den Erwartungen setzt, die man an dieses Tun gehabt hatte; also zu den Enttäuschungen, die dieses Tun mit sich bringt. Man setzt, würde ich sagen, (deren) Nichtwissen und (eigene) Verständnislosigkeit in ein Verhältnis zueinander. Den Rest, die ganze Arbeit, ich wiederhole es, machen die Computer.

Das hat wenigstens zwei Effekte: Zum einen gibt es eine deutliche Aufstiegsmobilität unter den Jüngeren, und diese Aufstiegsmobilität wird durch die Flexibilität selbst operationalisiert – formale Abschlüsse (Zertifikate) und schneller Wechsel genügen. Aus dem Blickwinkel der alten Berufsmoral erscheint das als Betrug. In Karrieren umsetzen, so Drucker mitleidlos, lassen sich Leistungen nun mal nicht. Also werden Leistungen in Arbeit münden, nicht aber in Aufstieg. Es gibt, heißt das, ziemlich gute Gründe, die Computer, die so viel mehr leisten, auch die Arbeit machen zu lassen (Drucker warnt deutlich davor, an Nachbesetzungsfragen für Jobs zu hängen, die durch technologische Innovationen ersetzt werden könnten).

Zum anderen verändert das neue Wissen, dieses neue symbolische Kapital – die Konvertibilität von Uniabschluss und Flexibilität und deren Verrechnung in Aufstiegserwartungen, die organisationale Kooperation. Der klassische arbeitsteilige Beruf würde verschwinden, die klassische Matrix von Stab und Linie also auch. Jede Innovation käme von außen, mit den jungen Universitätsabsolventen, die von sich nur sagen können, dass sie wieder gehen werden, wenn sie keine ›Wertschätzung‹ und keine ›Herausforderung‹ erführen. Diese Leute haben Wissen, mit dem sie zwar nichts anfangen können – aber sie wissen, dass dieses Nichtwissen kein Manko, sondern vielmehr ein konkurrenzloser Vorteil ist. Es lässt sich nämlich nur operationalisieren, wenn man sie machen lässt – und dieses Machenlassen kontrastiert jeder klassischen Vorstellung von Autorität oder Führung oder Kooperation (die Grundunterscheidung der digitalisierten Wissensgesellschaft sei nicht mehr ›bosses and subordinates‹, sondern ›seniors and juniors‹, schreibt Drucker). Man lässt sich leiten von denen, die nicht wissen, was sie tun – indem man dieses Nichtwissen beobachtet und in ein Verhältnis zu den Erwartungen setzt, die man an dieses Tun gehabt hatte; also zu den Enttäuschungen, die dieses Tun mit sich bringt. Man setzt, würde ich sagen, (deren) Nichtwissen und (eigene) Verständnislosigkeit in ein Verhältnis zueinander. Den Rest, die ganze Arbeit, ich wiederhole es, machen die Computer.

Das Arbeiten der Computer wäre, für sich genommen, trivial; die Konflikte der Jungen (mit ihren Zeugnissen und ihrer Hybris) mit den Alten (mit ihren Erfahrungen und ihrer Autorität) wären, für sich genommen, unproduktiv. So wird Management zur Sozialarbeit, die beides verbindet; 

Hier, an der Grenze des Gerangels verschiedener Formvarianten von Nichtwissen und Unverständnis einerseits und dem routinierten Arbeiten der Rechner (präzise: der Roboter), siedelt sich nach Drucker das Management der ›nächsten Gesellschaft› an. Denn hier, an dieser Grenze zwischen dem Sozialen des Nichtwissens und dem Sachlichen des Arbeitens entsteht, was Drucker ›society‹ nennt, mit dem von Bill Clinton geliehenen Seufzer: »It’s the society, stupid!«. Das Arbeiten der Computer wäre, für sich genommen, trivial; die Konflikte der Jungen (mit ihren Zeugnissen und ihrer Hybris) mit den Alten (mit ihren Erfahrungen und ihrer Autorität) wären, für sich genommen, unproduktiv. So wird Management zur Sozialarbeit, die beides verbindet; die Ökologie des Managements ist nicht mehr die einzelne Organisation (die kommt vielmehr bestenfalls als physische Umgebung in Betracht, als eher prekäres Habitat der Computer und der Konflikte), sondern die Gesellschaft.

Auf der Grundlage dieser Gesellschaftstheorie des Managements hat Dirk Baecker eine ganze Reihe von Einzelstudien vorgelegt. Er nennt deren vorläufig erste zusammenfassende Publikation denn auch ›Studien zur nächsten Gesellschaft9, im Kontext universitärer Wissenschaft ein Hinweis darauf, dass es sich nicht um eine disziplinäre Arbeit handelt, sondern um eine Arbeit an einem Phänomen, einem Problem, einem Konzept, um studies eben. Da geht es, wie bei Drucker auch, um Organisationen und Unternehmen, um Wissenschaft und Universität, aber es geht auch um Theater, um Architektur, um Familie. Die Studien sind gewissermaßen Sonden in eine Gesellschaft, die zwar modern in dem Sinne einer Weltgesellschaft ist, die alle sozialen Möglichkeiten ein- und nicht ausschließt, die alle ihre Ressourcen aus sich selbst produziert, die aber plötzlich beginnt, alle ihre Formvarianten auf ihr Umweltverhältnis hin zu beobachten. Man weiß nicht, was ein Unternehmen ist, indem man in ihm anheuert; sondern man lernt es, indem man mit ihm verhandelt, Verträge schließt, Prozesse führt. Man weiß nicht, was eine Universität ist, indem man dort einen verberuflichten Studiengang absolviert; sondern man lernt es, indem man in einer Philosophievorlesung (sagen wir, denn das Beispiel ist real) über Michel Serres sitzt und ein Kunstprojekt entwickelt, mit dem man zwar durch die Prüfung zur Vorlesung fällt, aber bei der Kunsthochschule angenommen wird. Usf., eine Vielzahl von Studien, Skizzen, Tests und Sonden (Baecker spricht von ›Kontrollprojekten‹ im Sinne von Versuchen der Beobachtung von ›Nachbarschaftsverhältnissen‹). Die nächste Gesellschaft ist dann das Geflecht solcher Formen des Lernens, das produktiver ist als Wissen – nicht obwohl, sondern weil es das Nichtwissen kommunikativ operationalisiert.

Entscheidend ist: Das Nächste ist das Ungewisse, nicht das Neue. Die ›nächste Gesellschaft‹ ist ein Netzwerk, das das Formale mit dem Flexiblen, das Abstrakte mit dem Provisorischen verknüpft. »Der Fluchtpunkt dieser Überlegungen« … dürfte »die Dämmerung der funktionalen Differenzierung« sein.

Die viel zu beiläufige Rede von Nachbarschaftsverhältnissen10 zeigt, worauf es ankommt und worauf es nicht ankommt. Es kommt an auf ein Verständnis der Verflechtung und der Entflechtung von Grenzen, wobei Grenzen (diese Notiz geht auf Gregory Bateson zurück) weder Abgründe noch Brücken sind, sondern tatsächlich black boxes, in denen etwas geschieht, was auch anders geschehen könnte – und dieses Andere wird bestimmt durch die Umgebungen, die die Grenze jeweils verbindet. Es kommt nicht an auf eine lineare Prozessualität im Sinne eines unentrinnbaren Fortschritts vom Alten zum Neuen; es kommt deshalb auch nicht an auf die Aneinanderreihung von Medienepochen (Sprache, Schrift, Buchdruck, Computer), auf die Baecker sich in der Folge häufig zurückzieht. Entscheidend ist: Das Nächste ist das Ungewisse, nicht das Neue. Die ›nächste Gesellschaft‹ ist ein Netzwerk, das das Formale mit dem Flexiblen, das Abstrakte mit dem Provisorischen verknüpft. »Der Fluchtpunkt dieser Überlegungen«, notiert Christoph Möllers in einer Rezension11, dürfte »die Dämmerung der funktionalen Differenzierung« sein.

 

Praxis

Der kluge Hamster sucht die Selbsterhaltung

Der berühmte österreichische Ökonom Joseph Schumpeter hatte eine genaue Idee vom Ende des Kapitalismus. Mit Blick auf die Entwicklung der US-Wirtschaft hielt er 1942 eine klare Tendenz fest: Statt anarchischer Märkte kontrollierten Trusts und Monopole die Industrie. In ihnen erstickten Manager und Bürokraten durch Planung zunehmend jene Orientierung auf „schöpferische Zerstörung“, die den Kapitalismus doch eigentlich am Laufen hielt.

Der vorangegangene Aufstieg des Kapitalismus war für Schumpeter letztlich eine Frage kultureller Wertorientierungen gewesen: Es war der bürgerliche Haushalt, mit seinen enormen Repräsentationspflichten und seiner individualistischen Aufstiegsethik, der die Motivation für jenes riskante Unternehmertum lieferte, das bereit war, die Dinge immer aufs Neue aus den Angeln zu heben. In den seinerzeit keimenden Wohlstands- und Massengesellschaften des Westens sei dieser Antrieb erlahmt, stillgestellt durch die immer einfachere Verfügbarkeit industrieller Massenprodukte und mittelschichtsförmiger Lebensstile. Die Menschen wären daher im Begriff in einer Welt aufzuwachen, in der der Kapitalismus zu Ende gegangen sei ohne, dass sie es bemerkt hätten.

Diese Figur der Transformation auf Grundlage des Wandels materieller Bedingungen und vorherrschender Wertorientierungen kann uns auch heute als Kompass für das Verständnis unserer Gegenwart dienen. Noch geht die Soziologie zeitgenössischer Gesellschaften hinsichtlich dieser beiden Aspekte von einer bemerkenswerten Stabilität aus. Jene auf Massenproduktion und -konsum basierende Lebensweise, die Schumpeter ins Zentrum seiner Überlegungen stellte, hat sich demzufolge seit den 1980er Jahren zwar inkrementell gewandelt: Während beim Wunder von Bern noch alle Spieler der deutschen Nationalmannschaft die gleichen Schuhe trugen, kann sich heute jeder Drittklässler Sportgerät in allen Farben des Regenbogens und bei Bedarf mit eigener Signatur im Internet bestellen. Die schon die bereits laut Schumpeters Beobachtung prägende Vergesellschaftung durch Konsum ist damit freilich nur weiter vorangetrieben worden.

Diese Figur der Transformation auf Grundlage des Wandels materieller Bedingungen und vorherrschender Wertorientierungen kann uns auch heute als Kompass für das Verständnis unserer Gegenwart dienen

Auf der Ebene der Wertorientierung spiegelt die Tatsache, dass der Kapitalismus individueller, differenzierter und vielfältiger geworden ist, den Aufstieg eines kulturellen Primats individueller Selbstentfaltung, das jenseits von Turnschuhen und anderen Konsumprodukten im späten 20. Jahrhundert fast alle Bereiche der Gesellschaft durchdrungen hat. Ob Demokratisierung von Lebenschancen im Bildungssystem, wachsende Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Einzelnen in Bezug auf Körper, Kinder und Karrieren, der Aufstieg von Kreativarbeit oder die Prämierung von Einzigartigkeit in den sozialen Medien – die zentralen Themen der spätmodernen Gesellschaft sind jene der individuellen Selbstbestimmung, der Authentizität und Selbstverwirklichung. Wir leben in einer Zivilisation, die Selbstentfaltung nicht nur fördert, sondern auch fordert.

Von Selbstentfaltung zu Selbsterhaltung

Der Scheitelpunkt, auf den Gesellschaften dieser Art nun seit geraumer Zeit zusteuern und den man im Kontext der Covid19-Pandemie einmal ganz unverstellt beobachten konnte, ist jener, an dem diese Selbstentfaltung vom Versprechen zum Problem wird. So zeichnet sich mit steigendem Druck globaler Polykrisen – also der Gleichzeitigkeit von etwa Klimawandel, Pandemie, Krieg und Versorgungsproblemen wie im Jahr 2022 – eine Veränderung des wertestiftenden Leitmotivs zeitgenössischer Gesellschaften ab.

Wiederum verbinden sich dabei materielle Veränderungen und kulturelle Orientierungen: Was die Welt der natürlichen Dinge angeht, ist uns seit den 1980er Jahren klargeworden, dass unsere Zivilisation der Selbstentfaltung ihre Umwelt alles andere als unberührt lässt. Sie ist vielmehr Triebkraft einer planetaren Destabilisierung, die auch in unseren Breitengraden immer spürbarer wird: brennende Wälder, trockenlaufende Flüsse und überflutete Täler wie in den vergangenen Sommern sind dabei nur die Endmoränen eines gigantischen Krisengletschers, der immer schneller ins Rutschen zu kommen scheint.

So zeichnet sich mit steigendem Druck globaler Polykrisen – also der Gleichzeitigkeit von etwa Klimawandel, Pandemie, Krieg und Versorgungsproblemen wie im Jahr 2022 – eine Veränderung des wertestiftenden Leitmotivs zeitgenössischer Gesellschaften ab

Auf gesellschaftlicher und individueller Ebene zeigt sich zudem immer deutlicher, dass der Anstieg individueller Möglichkeiten im globalen Kapitalismus selbst auch neue Risikolagen erzeugt hat. Die Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern der wirtschaftlichen Transformationen der vergangenen Jahrzehnte gilt als Ausgangspunkt veritabler Selbstgefährdungen der Demokratie. Die wachsende Unkalkulierbarkeit von Lebensentwürfen und der Zwang zur stetigen Selbstoptimierung erzeugen nicht selten Überlastungen bei den Einzelnen, wie etwa der Aufstieg von Burn-out Syndromen belegt. Man muss sich die Situation der Einzelnen wie bei den berühmten Flying-Hamster-Memes und -Videos vorstellen: setzt man zwei Hamster in dasselbe Rad, laufen beide los, scheinbar um die Wette. Erst sieht es nach Spaß aus, doch es dauert nicht lange, bis einer vom anderen überlaufen wird. Der Verlierer stürzt, wird einige Male wie in einer Waschmaschine durchgeschleudert und fliegt dann – Paff!! – in hohem Bogen aus dem Spiel.

Handeln im Zeichen der Selbsterhaltung

Was durch den klimainduzierten Krisengletscher und die fliegenden Hamster der Selbstverwirklichung aufgerufen wird, sind nicht länger die Versprechen der Selbstentfaltung, sondern planetare, gesellschaftliche und individuelle Gefährdungen der Selbsterhaltung. Was nun mit spätmodernen Gesellschaften passiert, wenn diese sich aktiv und kompromisslos an Problemen ausrichten, die sie als Gefahren für Selbsterhaltung definieren, konnte man hautnah in den heißen Phasen der Covid19-Pandemie beobachten. So lange diese als veritable Gefährdung für Gesundheit und Leben wahrgenommen wurde, standen nicht mehr die Industrien der Selbstentfaltung im Fokus. Vielmehr bildeten sie die systemirrelevante Seite einer Neusortierung gesellschaftlicher Arbeit, die vor allem den Infrastrukturkomplex ins Zentrum rückte. Beschäftigte im Gesundheitswesen, den Organen der öffentlichen Sicherheit, den Versorgungsbetrieben, in den Erziehungsberufen und den materiellen Infrastrukturen wurden als selbsterhaltungsrelevante Felder entdeckt.

Man konnte dabei für einen kurzen Moment nicht nur die enorme wechselseitige Abhängigkeit erkennen, die zwischen den einzelnen Teilen der Gesellschaft besteht, sondern vor allem auch eine den Krisenzustand prägende Hierarchie erahnen: Sichtbar wurde schließlich auch eine Spaltung zwischen denen, die es sich leisten können, Anpassungsbedarfe zu verdrängen, weil sie im Homeoffice arbeiten, höhere Energiekosten bezahlen oder in klimafreundlichere Gegenden umziehen können und jenen, die die Stabilisierung der Gesellschaft mit ihrer alltäglichen Arbeit sichern. Sie sind die Virtuosen der Anpassung, denen der Weg der Verdrängung nicht offensteht. Je mehr sich unser Jahrhundert zu einem der Anpassungskrisen entwickeln wird, desto mehr wird ihre Anpassungsakzeptanz freilich zum Normalmodus werden.

… dann stünden wir vor einem veritablen Umbruch von Wertorientierungen: Von der Prämierung von Besonderheit zu einer Besinnung auf das Allgemeine, von der Überhöhung individueller Authentizität zur Betonung wechselseitiger Verpflichtung, vom individuellen Streben zur kollektiven Verantwortung

Schon heute lässt sich erahnen, welche Handlungsorientierungen sich aus dieser Situation ergeben können. So dominierten während der Pandemie bei den systemrelevanten Beschäftigten drei Motive der Kritik. Erstens richtete sich diese gegen eine profitorientierte Lebensweise in jenen gesellschaftlichen Bereichen, die als essentiell für die Bearbeitung von Selbsterhaltungsproblemen gelten. Sinngemäß könne es nicht sein, dass sich Überlebenschancen in der Pandemie an den Handlungsgrenzen profitorientierter Krankenhäuser entschieden. Kombiniert wurde diese Feststellung, zweitens, mit einer Kritik schwacher Staatlichkeit. Im Erschrecken über Maskendeals, fehlende Beatmungsgeräte und schleppende Impfstoffproduktion wurde dabei ein Mangel an Steuerungsfähigkeit auf Seiten des politischen Systems identifiziert. Drittens wurden diese beiden Aspekte als Effekte einer auf Selbstentfaltung fixierten Kultur gedeutet: Die Leute dächten nur an sich selbst und seien zunehmend unfähig, ein realistisches Bild der eigenen Größe zu entwickeln.

Dem entgegengestellt wurde der Wunsch nach einer stärkeren ökonomischen Nivellierung, also einer Verminderung sozialer Abstände und einem insgesamt kompakteren Gesellschaftskörper. Das Ziel einer solchen Perspektive ist nicht die Tilgung sozialer Ungleichheit an sich, sondern ihre Reduzierung auf ein als gerecht empfundenes Maß. Dem beobachteten Verlust politischer Steuerungsfähigkeit soll gar mit einer Stärkung vertikaler Autorität und funktionaler Hierarchien begegnet werden. Man stellt sich die Gesellschaft im Krisenmodus quasi wie ein Krankenhaus vor, in dem ohne Autorität und funktionale Differenzierung schon im Normalbetrieb nichts läuft. Was die grundsätzliche Haltung zu Selbsterhaltungsproblemen angeht, wünschte man sich zudem ihre Entpolitisierung. Der demokratische Streit um die Finanzierung von Krankenhäusern, die Gefahrenabwehr oder die Umstellung auf klimaneutrale Energie müsse zu Gunsten einer Ethik der Tat beigelegt werden.

Sollten hier tatsächlich jene normativen Orientierungen und praktischen Deutungsmuster zum Ausdruck kommen, die die nächste Gesellschaft in immer stärkerem Ausmaß prägen werden, dann stünden wir vor einem veritablen Umbruch von Wertorientierungen: Von der Prämierung von Besonderheit zu einer Besinnung auf das Allgemeine, von der Überhöhung individueller Authentizität zur Betonung wechselseitiger Verpflichtung, vom individuellen Streben zur kollektiven Verantwortung. Wenn ich mich nicht täusche, zeichnet sich hier die adaptive Gesellschaft ab, in der wir irgendwann aufwachen werden.

Praxis

Polarisierung – eine soziologische Einordnung

Im September 2022 trafen sich über 4000 Soziolog*innen an der Universität Bielefeld für fünf Tage, um über „Polarisierte Welten“ zu diskutieren. Im Rahmen des zweijährlich stattfindenden Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie diskutierten die Beteiligten in zahlreichen Veranstaltungen, ob und inwiefern diese Gegenwartsdiagnose, dass wir als Gesellschaft bzw. Gesellschaften Polarisierung erleben, empirisch erfassbar und rekonstruierbar ist, wie wir es theoretisieren können – und was nun eigentlich daraus folgt. Dabei machte schon die Ankündigung klar, dass es sich nicht nur um ein komplexes Thema handelt, sondern um viele distinkte, wie sich überlappende, wie interdependent wirkende, zusammenhängende Themen, die es sich genau anzuschauen gilt. Die Soziologie als sozial- wie erkenntnistheoretisch, methodologisch und methodisch plurale Disziplin neigt im Allgemeinen zu komplexen Antworten, zum „ja, aber“ und „im spezifischen Fall“ – dies lässt sich im Kongressprogramm deutlich ablesen (Deutsche Gesellschaft für Soziologie 2021).

Eine simple Feststellung der gesellschaftlichen Polarisierung im Sinne einer Spaltung lässt sich soziologisch scheinbar nicht so einfach tätigen. Dennoch sehen wir Auflösungen traditioneller Ordnungen und Sicherheiten, Grenzziehungen und Ausschließungen, Kämpfe um Repräsentation und Anerkennung und zahlreiche in unterschiedlichem Ausmaß gewaltvolle Konflikte – in Deutschland, Europa und weltweit. Wie sprechen Soziolog*innen denn nun über Polarisierung und gesellschaftliche Umbrüche?

Soziologisch betrachtet ist die Idee gesellschaftlicher Konfliktlinien weder neu noch notwendigerweise bedrohlich.

Soziologisch betrachtet ist die Idee gesellschaftlicher Konfliktlinien weder neu noch notwendigerweise bedrohlich. Die Idee einer segmentierten Gesellschaft entspricht letztlich der Grundidee der ja noch relativ jungen Soziologie, die davon ausgeht und untersucht, wie sich „moderne“ im Kontrast zu „traditionellen“ Gesellschaften ausdifferenzieren (z. B. Durkheim, Weber und Tönnies), wie Handeln dennoch nicht individualisiert, sondern strukturiert abläuft, und wie sich das erklären lässt (klassisch hierzu Webers Begriff des sozialen Handelns) oder wie Gesellschaften aufgrund ihrer spezifischen Strukturen funktionieren (z. B. Parsons). In Teilen soziologischer Theorien wird dies auch immer konflikthaft und/oder ungleichheits- oder machttheoretisch gedacht. Ausgehend von der nicht wirklich soziologischen, weil deutlich früher entwickelten, aber dennoch disziplinär relevanten Klassentheorie nach Marx und Engels (1974 [1848]) existieren in kapitalistischen Gesellschaften verschiedene und letztlich zwei Klassen, die sich durch den unterschiedlichen Besitz an Produktionsmitteln und ihre Rolle in der Produktionssphäre auszeichnen. Die Klassenlage, zwischen Bourgeoisie und Proletariat, führt nun von der objektivierten, faktischen „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“. Letzteres beschreibt ein aus der faktischen Klassenlage geteiltes Verständnis über die eigene, prekäre Situation, die zur Politisierung führt. Aus dem relationalen Klassengefüge, dem Antagonismus zwischen Herrschenden und Beherrschten, entwickelt sich, so die Prognose von Marx und Engels, eine konflikthafte Auseinandersetzung, der revolutionäre Klassenkampf, der die befreite Gesellschaft ermöglichen soll. Nun ist die Revolution offensichtlich nicht eingetreten, dennoch ist die Idee der darin formulierten Spaltung weiterhin wirkmächtig, auch wenn es sich sprachlich-konzeptuell anders äußert (vgl. hierzu z. B. Reckwitz 2017).

Hier werden also bestimmte soziale Gruppen als einheitliche Gebilde mit homogenen Einstellungen, Konsumpräferenzen, Wahlentscheidungen und Verhaltensweisen imaginiert.

Immer darin enthalten ist die Idee, dass eine Spaltung nicht nur unterschiedliche politische Ansichten umfasst, sondern diese an sozialstrukturelle Positionen geknüpft sind (vgl. Mau et al. 2023: 14). Das bedeutet, dass in den Spaltungsdiagnosen davon ausgegangen wird, dass ein spezifisches Milieu über geteilte Haltungen verfügt. Dies passt dann häufig in stereotype Alltagserzählungen und verfängt sich deswegen so gut: Die Großstadtperson (they/them), die sich vegan ernährt und ausschließlich Fahrrad fährt, einen Nagel nicht von einer Schraube unterscheiden kann – Sie können diese Aufzählung vermutlich gedanklich ergänzen. Und genau so gibt es in dieser Polarisierungsidee auch das konservative Gegenstück, das traditionelle Werte aufrechterhalten will, zwischen Einfamilienhaus und Schützenfest mit einem der drei Autos hin- und herfährt, auf keinen Fall das Schnitzel weglassen kann, nicht auf das Z- und das N-Wort verzichten will und dabei weder Homosexualität noch anderes vermeintlich Fremdes akzeptiert. Hier werden also bestimmte soziale Gruppen als einheitliche Gebilde mit homogenen Einstellungen, Konsumpräferenzen, Wahlentscheidungen und Verhaltensweisen imaginiert.

Dieser Antagonismus ist typisch für den öffentlichen Diskurs, entspricht aber nicht der Heterogenität der Gesellschaft. Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser veröffentlichten 2023 eine Studie zu gesellschaftlichem Konsens und Konflikten, in der sie jene Polarisierung genauer untersuchten. Sie identifizierten unter anderem vier Konflikttypen, die verschiedene Ungleichheitsarenen, also thematische Schwerpunkte, in ihrem Bewegungsmodus definieren. Zur genaueren Betrachtung sei auf das Buch verwiesen, aber beispielhaft zeigen sie auf, dass es z. B. den lange bekannten und immer wieder diskutierten „Oben-Unten“-Konflikt gibt, in dem Verteilungsungleichheiten zwischen Arm und Reich thematisiert werden. Des Weiteren unterscheiden die Forscher zwischen „Innen-Außen“, „Wir-Sie“ sowie „Heute-Morgen“. Ungleichheiten zwischen Innen und Außen beschreiben jene, die durch Grenz- und Migrationsregime geschaffen werden. Wer „drinnen“, z. B. in der Bundesrepublik Deutschland oder in der Europäischen Union, geboren wurde oder anhand von Zertifikaten anerkannt ist, verfügt über andere Mitgliedschaften, Rechte und Ressourcen als jene, denen das nicht gilt. Der Kampf zwischen wir und sie bezeichnet Fragen der Anerkennung, indem zwischen Etablierten und Außenseitern unterschieden wird. Hier werden Normalitäten in Frage gestellt, z. B. in der Auseinandersetzung um geschlechtliche Identitäten außerhalb des binären Spektrums von männlich und weiblich. Dabei wird gesellschaftliche Sichtbarkeit neu ausgehandelt, wenn beispielsweise eine geschlechtergerechte Schreibweise wie Leser*innen oder Leser:innen anzeigen soll, dass geschlechtliche Identitäten neben Mann und Frau wahrgenommen, mitgedacht und adressiert werden. Damit wird aber auch festgelegt, wer legitim sprechen darf und wer außen vor bleibt. Die Figur „Heute-Morgen“ bezeichnet Ungleichheiten der Ökologie, also z. B. der Klimakatastrophe, Fragen zur Notwendigkeit veränderter Lebensweisen, jenen von verursachenden und betroffenen Personengruppen. Hierin verbergen sich Fragen der Verteilung von Lebenschancen – wer ist in besonderem Maße vom Klimawandel betroffen, wessen Lebensgrundlage wird entzogen, wer hat Ressourcen, Auswirkungen zu bewältigen? Nun untersuchen die Autoren diese Ungleichheitsarenen genauer und können nachweisen, dass es in vielen Bereichen einen grundsätzlichen Konsens gibt, so etwas wie einen Mittelweg: Zuwanderung ja, aber begrenzt, zum Beispiel.

Gleichzeitig gibt es in jedem Feld von ihnen identifizierte Triggerpunkte, an denen die öffentliche Auseinandersetzung hochkocht und an denen sich die Polarisierungshypothese festmachen lässt.

Gleichzeitig gibt es in jedem Feld von ihnen identifizierte Triggerpunkte, an denen die öffentliche Auseinandersetzung hochkocht und an denen sich die Polarisierungshypothese festmachen lässt. Bei der Genderdebatte ist dies z. B. der Trigger der bereits genannten sprachpolitischen Vorgaben. Dies äußert sich auch in der Hochschullehre in meinen Seminaren zu Geschlechtertheorien, in denen wir verschiedene Formen von Sprachkonventionen besprechen. Auffällig ist im Gespräch die Formulierung „das ist ja in Ordnung, aber ich lasse mir das nicht aufzwingen.“ Das, was da in Ordnung ist, ist die Existenz von Geschlechteridentitäten, aber auch von verschiedenen Formen des sexuellen Begehrens. Insgesamt zeigt sich gesellschaftlich in diesen Bereichen eine Liberalisierung und zunehmende Anerkennung von geschlechtlicher Vielfalt. Was Mau et al. (2023) dann in ihren Analysen identifizieren, ist der Punkt oder das Thema, bei dem die Anerkennung wegbricht und in manchmal offen oder gar aggressiv formulierte Ablehnung kippt. Das sogenannte Gendersternchen scheint einer dieser Triggerpunkte zu sein. Die Ablehnung ergibt sich in den Interviews der Forscher oftmals aus einer wahrgenommenen Bevorzugung quantitativ kleiner Gruppen und folgt der Logik: „Kann ja jede Person machen, wie sie will, aber muss das so laut/öffentlich/fordernd sein?“ Stattdessen sollen z. B. trans Personen damit zufrieden sein, dass sie akzeptiert werden und sich möglichst unauffällig in die Verhaltensweisen der vermeintlichen Normalität einfügen, indem sie sich z. B. eindeutig als Mann oder Frau identifizieren. Hinter der Ablehnung stecken von Veränderung bedrohte Gewohnheiten und die Infragestellung angenommener Sicherheiten – zum Beispiel der Zweigeschlechtlichkeit, der Dominanz der heterosexuellen Zweierbeziehung, der zweigeschlechtlichen Kleinfamilie und vieles mehr. Dass Menschen von diesen Sicherheiten abweichen, ist also in Ordnung. Dass sie jedoch als neue, erweiterte Normalität gleichberechtigt zu sehen und zu hören sein sollen und sie dafür zunächst ein wenig mehr gesellschaftliche Unterstützung benötigen als etablierte Gruppen – das wiederum nicht. Vergleichbar laufen Auseinandersetzungen um Quotierungen, z. B. in Form der Frauenquote oder der Besetzung nach Diversitätsmerkmalen, ab.

Kritisiert wird dabei oftmals, dass es sich bei Anerkennungsfragen um weniger relevante gesellschaftliche Probleme handele, z. B. zu finden in der Frage, ob es denn nicht Wichtigeres und Dringlicheres gäbe. Kritisiert wird, dass es sich um Identitätspolitiken handele (Villa-Braslavsky 2020). Wissenschaftlich kreisen diese Debatten um Fragen von Anerkennung vs. Umverteilung (Honneth/Fraser 2003). Ich möchte an dieser Stelle nicht darauf eingehen, wie sich diese Debatten nun auflösen lassen oder wie ich mich darin als Wissenschaftlerin positioniere. Stattdessen möchte ich auf das Argumentationsmuster hinweisen, das wiederkehrend ist. Mit dem Hinweis auf eine Hierarchisierung von Problemen wird nicht nur das spezifische Anliegen diskreditiert, sondern sowohl die Personen, die sich damit befassen möchten und müssen, als auch die Personengruppen, die es betrifft. Hierzu fallen m. E. zwei Dinge auf: Zum einen könnte man den Spieß ja auch umdrehen und betonen, dass die Unsicherheiten und Ängste, die eine Befassung hervorruft, irrelevant sei im Angesicht der vermeintlich relevanteren Krisen. Warum also müssen wir uns wieder und wieder damit beschäftigen, wo sich gleichzeitig soziale Ungleichheiten verstärken, Menschen offen bedroht oder gar ermordet werden und zahlreiche globale Krisen unsere Aufmerksamkeit fordern? Und zum anderen und mit dem ersten Punkt verknüpft könnten wir stärker darauf achten, wer diese Debatten immer wieder anfacht und die Gesellschaft damit regelmäßig zwingt, sich in die Auseinandersetzung zu begeben und oftmals unterkomplex Stellung zu beziehen. „Ich lass mir nicht vorschreiben, wie ich zu schreiben habe“ endet derzeit vor allem darin, dass Regierungen genau das tun: öffentlichen Einrichtungen, Schulen, Hochschulen vorschreiben (wollen), wie sie zu schreiben haben, wie es z. B. in Sachsen-Anhalt, Hessen und Bayern durchgesetzt oder zumindest diskutiert wird.

Problematisch darin ist meines Erachtens nicht nur der sich darin äußernde Autoritarismus, der dann zum Verbot geschlechtergerechter Sprache führt, sondern zudem, dass die Ablehnung eines Themas mit anderen in Zusammenhang gebracht wird. Genau wie in den Polarisierungsdefinitionen beschrieben, werden homogene Milieus imaginiert, die Freiheiten der Lebensweise von anderen Gruppen, der „normalen Bevölkerung“, einschränken wollen. Auch hier ist ein Befund der Studie von Mau et al. relevant: Denn es gilt zu bedenken, dass nicht (nur) zufällig regelmäßig öffentliche Debatten kippen. Sondern dass es zahlreiche öffentliche Akteur*innen gibt, die ein explizites Interesse daran haben, eine Polarisierung heraufzubeschwören. Mau et al. nennen sie „Polarisierungsunternehmer/-innen“, also jene Akteur*innen, die Polarisierung nicht nutzen, um z. B. Aufmerksamkeit zu erzeugen, sondern deren Ziel die Polarisierung selbst ist.

Den Aufregerthemen und Triggerpunkten zu folgen, sich darauf immer und immer wieder einzulassen und vermeintlich „entzaubern“, statt eigene politische Themen zu setzen, ist eine alltägliche Entscheidung, die wir als politische Subjekte und Vertreter*innen diverser Organisationen – wie auch von Kirche – dringend kritisch  überprüfen müssen.

Den Aufregerthemen und Triggerpunkten zu folgen, sich darauf immer und immer wieder einzulassen und vermeintlich „entzaubern“, statt eigene politische Themen zu setzen, ist eine alltägliche Entscheidung, die wir als politische Subjekte und Vertreter*innen diverser Organisationen – wie auch von Kirche – dringend kritisch  überprüfen müssen. Denn selbst wenn wir nicht von der eindeutigen Polarisierung oder dem einen gesellschaftlichen Umbruch sprechen können, können wir dies sehr wohl aber im Plural – eben von „polarisierten Welten“. Klar ist zudem: Viele Gruppen haben ein Interesse daran, Themen zu besetzen, neue Diskussionen zu eröffnen und auch das Verhalten von Individuen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Anstatt in Relativismus zu verfallen, der jede Form von Veränderung als gleichermaßen abzulehnenden Extremismus bezeichnet, sollten wir endlich ernsthaft differenzieren: Erzwungenes vegetarisches Essen in Kantinen und gewaltvolle Deportation von Menschen mit Migrationsgeschichte bewegen sich in komplett unterschiedlichen Sphären. Die Auswirkungen auf das alltägliche Leben und das konkrete Überleben unterscheiden sich ebenso wie die dahinter liegenden Zwecke. Nehmen wir das doch endlich ernst, denn die sich abzeichnenden Konsequenzen sind es für viele von uns.

Praxis

Religionstopographie: Gott. Historisch-kritisch-küchenpsychologische Überlegungen

Eine theologische Lieblingsfrage lautet: „Wer ist Gott?“ Aber sie führt rasant schnell ins Spekulativ-Ungefähre. Im folgenden geht es um eine Frage, die ortsfester ist: Wo ist Gott? Sie hat zwei Vorteile: Ziemlich präzise zu benennen, wo sich das Christentum von beträchtlichen Teilen der allgemeinen Religionsgeschichte wegbewegt hat, das funktioniert historisch-kritisch. Und sie führt von der Theologie in die Anthropologie und damit in die Psychologie. Für den ersten Vorteil fühle ich mich leidlich kompetent, hinsichtlich des zweiten bitte ich, mich als fröhlichen Dilettanten hinzunehmen.

Jesus und Paulus

Die topographische Frage nach Gott führt in der Antike in den Tempel, wo ein Gott oder eine Göttin wohnte, im Jerusalemer Tempel etwa Jahwe, oder an den Altar im privaten Haus, wo man in Rom die Laren als Schutzgeister verehrte. Gottheiten hatten jedenfalls Wohnorte und waren besuchbar. Im Zentrum stand ein Ritual des Gebens und Nehmens, das Opfer. Im Tempel konnte das heißen, Opfertiere verbrennen, und das geschah, in Jerusalem wie in Rom, vor dem Tempel unter freiem Himmel. In das Tempelinnere, das Wohnzimmer der Gottheit, hatten nur Priester und manchmal Priesterinnen Zutritt, die Gemeinde musste vor den Toren bleiben. Das Zentrum des Tempels war ein fanum, eine sakrale Rauminsel; die Verehrer und Verehrerinnen der Gottheit aus dem gemeinen Volk aber blieben aufgrund ihrer Unreinheit im profanum. Das „Allerheiligste“ des Jerusalemer Tempels hat es als Tabernakel in den katholischen Kirchen in die Gegenwart geschafft und ist ein Dokument der symbiotischen Verschwisterung von Katholizismus und allgemeiner Religionsgeschichte.

Gottheiten hatten Wohnorte und waren besuchbar.

Für Jesus und Paulus war all das ganz selbstverständlich, und doch versteht man die beiden nur, wenn man realisiert, dass ihre Theologie das Sakralitätskonzept der Tempeltheologie unterminiert hat. In welchem Ausmaß sie dies willentlich und wissentlich taten, lasse ich einmal außen vor. Jesus hat den Tempel jedenfalls nicht abgelehnt, die Geschichte der Tempelreinigung (Joh 2) dürfte seine Überzeugung zeigen, dass der Tempel zu reformieren, nicht aber abzuschaffen sei. Gleichwohl: Die Tempelkritik Jesu zieht sich durch seine Jerusalemer Konfliktgeschichte. Wenn man etwa das Markusevangelium genau liest, stößt man auf die arme Witwe, die nicht versteht, dass der Tempel und die Tempelbank Teil der Ökonomie sind (Mk 12,41-44), auf die man sich besser nicht verlässt (Mk 13,1-4) – und lieber in das Reich Gottes investiert. Diese Kritik traf den Tempel als religionspolitisches Machtzentrum und war wohl einer der Gründe, der Jesus in Konflikt mit dem jüdischen Establishment brachte und schließlich zu seiner Tötung führte.

Wirklich auffällig aber ist etwas anderes. Immer wieder wird von einem persönlichen Gebet berichtet, in dem sich Jesus unmittelbar an Gott als seinen Vater wendet, in einer fast intimen Ansprache, mit der Anrede „abba“. Dieses Gebet funktioniert ohne Tempel, ohne Opfer, ohne sakralen Raum. Das Johannesevangelium, dieser Text für eine exklusive Gemeinschaft, macht daraus das Gebet „im Geist“ und schleift die Unterscheidung von Gott und Mensch in Jesus: „Ich und der Vater, eins sind wir“, sagt der johanneische Gottmensch Jesus (Joh 10,30) – um damit Unverständnis und den Häresieverdacht von Überheblichkeit und Gotteslästerung zu produzieren. „(Herbei)trugen wieder Steine die Judaier, damit sie ihn steinigten“, heißt es unmittelbar anschließend. Diesen Komplex, dessen Achse der Geist (lateinisch: spiritus) ist, kann man im Wissenschaftsdeutsch Spiritualismus nennen. Bei Spiritualisten wohnt Gott nicht mehr im Tempel, sondern im Menschen.

Das Gebet Jesu funktioniert ohne Tempel, ohne Opfer, ohne sakralen Raum.

Rund zwanzig Jahre nach dem Tod Jesu radikalisiert Paulus den Spiritualismus. Dieser Jude und Pharisäer aus Kleinasien, hellenistisch geprägt und ein Wanderprediger wie Jesus auch, beansprucht, eine Erfahrung gemacht zu haben, durch die sein Leben in ein Vorher und ein Nachher zerfalle. Der Gekreuzigte sei ihm als Auferstandener begegnet, und als ob dies nicht schon bizarr genug klinge, behauptet er, „in Zungen“ geredet zu haben, und setzt noch eins drauf: Er sei in den dritten Himmel, „ad tertium caelum“, entrückt worden (2 Kor 12,2). Damit wird dieser Coelonaut überraschenderweise nicht zum Prototyp des Wahnsinnigen (was er in der Antike ohnehin nicht war), sondern zum zentralen Theologen des Neuen Testaments. Albert Schweitzer verehrte ihn als „den Schutzheiligen des Denkens im Christentum“, aber in Wahrheit war Paulus ein Ver-rückter, der, wie er sich selbst in dieser Korintherstelle gestand, nicht so recht denken konnte, was und wie da etwas mit ihm passiert war, als er in den Himmel hingerissen worden sei.

Vor diesem Hintergrund spiritualisiert es in seinen Gemeinden munter vor sich hin. Viele, namentlich Frauen, reden „in Zungen“ und gehen davon aus, dass sich in ihren schwer artikulierten Lauten der Geist selber manifestiere; viele, wieder vor allen Dingen Frauen, fühlen sich als Medien der göttlichen Offenbarung. Paulus lässt all das zu, rät Frauen allenfalls – jedenfalls wenn und nur wenn sie Offenbarungen haben – das Zeichen der Vollmacht (griechisch: exousia, 1 Kor 11,10) auf dem Kopf zu tragen. Damit ist möglicherweise wie verbreitet in der römischen Welt ein Schleier (was aber an dieser Stelle explizit nicht steht) als Auszeichnung gemeint. Damit legt Paulus die Axt an die theologische Legitimation des Tempels, denn für ihn ist die Gemeinde der Tempel, und das Allerheiligste sei in ihrer Mitte, weil in jedem und jeder von ihnen Gottes Geist (griechisch: pneuma) wohne. Dieses Tempelkonzept hat natürlich auch ganz praktische Gründe, weil seine Gemeinden irgendwo im östlichen Mittelmeerraum waren und der Jerusalemer Tempel für sie weit weg. Doch hätte sich dieses Problem auch anders lösen lassen, als Synagogengemeinde etwa, die zu Schriftlesung und Gebet zusammenkommt. Aber Paulus war eben Spiritualist.

Paulus, dieser Coelonaut, wird überraschenderweise nicht zum Prototyp des Wahnsinnigen, sondern zum zentralen Theologen des Neuen Testaments.

Zwischenfazit: Zwei der zentralen Gründerväter des Christentums, Jesus und Paulus, verlagerten den Ort der Kommunikation mit Gott (auch) ins Innere des Menschen. Der Bau von Tempeln, Kirchen und Basiliken stand nicht auf ihrer Agenda. Sie waren zwar keine Tempelstürmer, aber haben dessen Grundlagen bis zur Einsturzwahrscheinlichkeit untergraben. Ob sie wussten, welche Konsequenzen das in der Sozialgestalt einer Religionsgemeinschaft haben könnte, ob sie also wussten, was sie taten, weiß ich, wie gesagt, nicht.

Kirchengeschichte

Wenn das stimmt, wenn also Jesus und Paulus ihre Theologie spiritualistisch begründet haben, wird die Frage spannend: Warum gibt es im Christentum immer noch Kirchen, Kathedralen und Kapellen? Und wo sind die Spiritualisten geblieben? Man könnte nun eine lange Historie des Spiritualismus schreiben. Mitte des zweiten Jahrhunderts etwa trifft man auf den „Montanismus“, in dem Frauen sich als Prophetinnen des Heiligen Geistes verstehen, das Weltende erwarten und strengste Askese fordern. Tausend Jahre später gründet Franziskus seinen Orden, nachdem er glaubt, Christus habe ihn vom Kreuz von San Damiano unmittelbar angesprochen, während ungefähr zur gleichen Zeit der Zisterzienser-Abt Joachim von Fiore nach einer göttlichen Mitteilung das Zeitalter des Heiligen Geistes ankündigt. Im 17. Jahrhundert entsteht im evangelischen Christentum der Pietismus, wo idealerweise die „Wiedergeburt“ im Geist den wahren Christen ausmache; noch der amerikanische Präsident George Bush jun. verstand sich als „reborn Christian“. Heute ist die charismatische Bewegung, die die Unmittelbarkeit der Geisterfahrung verspricht, einer der schnellstwachsenden Zweige des Christentums. All diese sehr unterschiedlichen Gruppen und Bewegungen verbindet eine zentrale Überzeugung: Im Zentrum des Christentums steht der Geist, die innere Erfahrung, kein Gebäude, keine Institution.

Nun ließen sich noch Hunderte und Tausende von Offenbarungsempfängern, Visionären, Geistbegabten und Enthusiasten dokumentieren. Ihre Gesamtgeschichte ist noch ungeschrieben und schwer zu schreiben, denn neben denjenigen, die damit Reklame machten, stehen Menschen wie Blaise Pascal, die ihre Erfahrungen nur geheimen Aufzeichnungen anvertrauten. Aber insgesamt gilt, wenn man ehrlich ist: Die Spiritualisten landeten meist am Rande der Kirchen, als „Schwärmer“ in der protestantischen Tradition marginalisiert, unter dem Verdacht des „Subjektivismus“ in der katholischen Tradition misstrauisch beäugt. Wenn man mit dieser institutionellen Logik auf Jesus und Paulus zurückschaut, kann man der Feststellung kaum ausweichen: Die Kirchen haben die Spiritualisten verraten. Die großen Kirchen sind Institutionen mit Dogmen und Regeln und Prüfungen, und mit religiösen Profis, Priestern und Priesterinnen, Pfarrern und Pfarrerinnen, aber keine freie Ebene des wo auch immer wehenden Geistes.

Die Kirchen haben die Spiritualisten verraten. Man kann diesen Verrat, das Bestehen auf Prüfung und Konsens, verstehen.

Aber diese Niederlage des Geistes hat Gründe. Zum einen: Mit einer Kirche, die nur aus freien Geistern besteht, in der jede und jeder mit dem Anspruch, unmittelbaren Zugang zu Gott zu haben, die eigene Position legitimiert, kann man keine Sozialstruktur aufbauen. Wenn man auf die Feststellung, „der Herr hat mir gesagt“, bescheiden antwortet, „aber der Herr hat mir gesagt“, ist jede Kommunikation, jede Debatte, jede Konsensfindung am Ende. Der Spiritualismus hat organisationslogisch eine dramatisch asoziale Potenz und zieht Selbstdarsteller.innen jedweder Couleur an. Die Entscheidung zwischen mitbeten oder therapieren ist deshalb keine Scheinfrage. Sodann: Die Geistbegabten haben nicht nur nette Dinge verkündet, sondern auch schon einmal das Fasten bis zum Tod, das Ideal des Martyriums oder die Ausgrenzung derjenigen, die gerade nicht ihrer Meinung waren. Will sagen: Die dramatisch asoziale Potenz macht auch vor Inhalten nicht halt. Man kann also diesen Verrat, freundlicher gesagt, das Bestehen auf Prüfung und Konsens, verstehen.

Leben mit den Freigeistern

Nun sollte man bitteschön nicht meinen, man bekäme außergewöhnliche Menschen auf gewöhnlichen Lebenswegen. Was tun? Ich empfehle, Experimentaltheologie mit einem psychologischen Assessment-Center zu verbinden. Anleihen kann man bei zwei spiritualitätserfahrenen Lehrern des Christentums machen, der eine ist – wie vielleicht kaum anders zu erwarten – Paulus. Er war in Sachen Spiritualität eine Art amerikanischer Pragmatist avant la lettre: Prüft, was gut ist und nehmt, was nützt. Wenn Offenbarungen, Himmelsreisen und Zungenreden der Gemeinde nützen, o. k., ansonsten: lasst es. Und seid vorsichtig mit der Überzeugung, immer schon zu wissen, wo die Grenze zwischen Geist und Ungeist, wahr und falsch liegt.

Der matthäische Jesus war tendenziell dieser Meinung des Paulus. Solltet ihr, so erzählt er in einem Gleichnis (Mt 13,24-30), auf dem Acker den Taumel-Lolch entdecken, der dem dort angebauten Weizen zum Verwechseln ähnlich sieht und der oft von einem Parasiten, dem Pilz Neotyphodium coenophialum, befallen ist, der Menschen taumeln und sie wirre Dinge sehen lässt, dann könnt ihr vor der Ernte nicht wissen, wo wahr und falsch ist, wo Weizen und wo Unkraut wächst. Also lasst – erstmal – wachsen.

Brauchen wir eine Kirche der Spiritualisten? Wie immer, ja und nein.

Der zweite Lehrer mehr als tausend Jahre später ist Ignatius von Loyola (1491-1556), der Gründer des Jesuitenordens. In seinen Geistlichen Übungen reflektiert er religiöse Erfahrung vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Verstärkung der Rolle des Subjektes. Die Unterscheidung der Geister, die „discretio spirituum“, spielt, wenn man dem einzelnen eine religiöse Erfahrung zubilligt und Jesuiten nachgerade auf einen Weg schickt, spirituelle Erfahrungen zu machen, eine entscheidende Rolle, soll eine Gemeinschaft unter all den subjektiven Wahrheitsansprüchen nicht explodieren. Seine Antwort ist ähnlich pragmatisch wie die des Paulus: Erscheint der spirituelle Weg, wenn ich ihn beginne, gut? Ist das in der Mitte weiterhin der Fall? Und sind die Ergebnisse auch gut? Wenn man dreimal ja sagt, besitze man eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass das etwas mit dem Heiligen Geist zu tun habe.

Fazit: Brauchen wir jetzt eine Kirche der Spiritualisten? Wie immer, ja und nein, sic et non. Ja, weil der Spiritualismus das Antidot gegen dogmatische Übersicherheit und institutionelle Arroganz ist. Spiritualisten sind überlebensnotwendig. Nein, wir brauchen sie nicht, jedenfalls nicht als einzige Legitimationsgrundlage von Religion, der gerade genannten Absturzkanten wegen. Denn letztlich man weiß nie, ob das, was der Geistbegabte für Gott hält, nicht doch ein ganz irdisches Selbst ist.

Der sakrale Raum ist ein Angebot, Stress aus der religiösen Biographie herauszunehmen.

All das sind Gründe, warum es weiterhin Tempel, Kirchen und Gebetssäle gibt, warum sakrale Räume nicht totzukriegen sind. Dahinter steht eine Weisheit religiöser Praxis, die aus der nicht-christlichen Religionsgeschichte kommt, der Raum. Nicht jeder Mensch hat eine raumfreie spirituelle Offenbarung. Und wenn doch, kann sie psychisch schnell belastend werden – und auch das Gegenteil ist nicht lustig, wenn man fürchtet, der Geist habe einen jetzt verlassen. Hier schlägt die Stunde des sakralen Raumes: Er bietet einen Rahmen für religiöse Praxis auch dann, wenn man nicht auf der Pneuma-Wolke Nr. 7 lebt und nicht immer das Gefühl hat, begeistigt zu sein. Der sakrale Raum bietet an, dem Druck der Orthodoxie durch die Orthopraxie ein Schnippchen zu schlagen. Und sobald dies in Gemeinschaft, im Ritual passiert, muss man selbst nicht einmal mehr der zentrale Akteur sein und kann sich bedienen lassen. Der sakrale Raum ist sozusagen ein Angebot, Stress aus der religiösen Biographie herauszunehmen.

Wo also wohnt Gott? Die großkirchliche Antwort lautet, auch wenn Jesus und Paulus dezidiert auf das Innere verweisen: hier und dort, innen und außen. Es komme darauf an, wer man sei und was man brauche. Auf jeden Fall, mit Paulus und Ignatius: Es müsse sich gut anfühlen und nützen. Manchmal hat man den Eindruck, die beiden seien Rheinländer avant la lettre gewesen.

Praxis

Der kosmo-, sozio- und noomorphe Zugang zur Transzendenz und die Formenkreise religiöser Entwicklung

Religionssoziologie und Fundamentaltheologie beschreiben seit längerem eine Krise des traditionellen Monotheismus der jüdisch-christlichen und europäisch-philosophischen Tradition. Klassisch trennscharfe Unterscheidungen wie Theismus, Deismus und Pantheismus verlieren ihre analytische Kraft, weshalb neue Zugangswege aufgewiesen werden müssen. Darum schlägt der Fundamentaltheologe und Religionsphilosoph Bernhard Nitsche aus Münster eine neue Differenzierung vor, den Menschen als Person in seinem Welt- (ES), Sozial- (DU) und Selbstbezug (ICH) wahrzunehmen. Damit geht die Idee einher, dass sich mit diesen Grundbezügen auch Bezüge des Menschen zu einem transzendenten Anderen verbinden lassen. So ergeben sich nach Nitsche drei fundamentale Zugangsweisen:1

1 Die drei Zugangsweisen zur Transzendenz

Die erste lautet kosmomorpher Zugang. Die Immanenz trägt in sich selbst Verweise auf die Transzendenz. Gott oder das Göttliche (GoG) wird hier beispielsweise als Energie, die allem innewohnt, bezeichnet. Über GoG wird damit in weithin naturalen und unpersönlichen Metaphern von Atem, Quelle, Licht, Energie und ewigem Gesetz gesprochen, transpersonal wird GoG als höchstes ES (erste Ursache, erster Beweggrund aller Bewegung) gedacht.

Die zweite Zugangsweise zur Transzendenz sieht Nitsche im soziomorphen Zugang. Hier wird GoG als höchstes DU oder höchster ER angerufen oder als eine persönliche und beziehungsbestimmende (menschenähnliche) Handlungsmacht gekennzeichnet. Persönliche Glaubenserfahrungen mit dem persönlichen DU gehören zur soziomorphen Dimension, die für die jüdisch-christliche Tradition typisch ist. DU und ER werden in Rollen beschrieben wie Schöpfer, Erlöser, Befreier und Retter.

Die dritte Zugangsweise bezeichnet Nitsche als noomorphen Zugang. Hier wird GoG in seiner transzendentalen Bedeutung als Grund und Voraussetzung menschlicher Subjektivität thematisiert. Gott liegt und geht also allen konkreten Bewusstseins-Aktivitäten und jedem reflexiven Selbst-Bewusstsein voraus. In dieser transzendentallogischen Rückbindung wird GoG als letzte Unbedingtheit, als höchstes unpersönliches Bewusstsein oder als höchste Ich-Subjektivität vorpersonal gedacht. GoG erscheint hier einerseits als anonym, als nicht subjekt- und ichhaft, andererseits aber doch als höchste, souveräne und freie göttliche Subjektivität.

Die drei Zugänge zur Transzendenz stellen theoretisch selbstständige Dimensionen dar, die sich in der Kreuzung mit den Bezugsqualitäten der religiösen Formenkreise empirisch nachweisen lassen. Zudem lässt sich empirisch darlegen, dass unterschiedliche Gottesbilder (Referenzobjekte) und Bezugssqualitäten in den Formenkreisen auftreten.

2 Die drei Formenkreise religiöser Entwicklung

Ein religiöser Formenkreis ist ein religiöses Persönlichkeitskonstrukt mit seinen unterschiedlichen Denk- und Deutungsmustern. Das persönliche Konstrukt sitzt in der kognitiven Struktur der Persönlichkeit und steuert als Formenkreis das religiöse Erleben, Denken und Handeln. In Anlehnung an George A. Kelly blickt der Mensch „auf seine Welt durch transparente Muster oder Schablonen, welche er entwirft und dann an die realen Gegebenheiten, aus denen die Welt besteht, anzupassen sucht. Nicht immer gelingt diese Anpassung. Ohne solche Muster scheint die Welt aber ein so undifferenziertes Ganzes zu sein, daß der Mensch keinen Sinn in ihr sehen kann. Auch eine schlechte Anpassung ist hilfreicher als gar keine. Wir wollen diesen Mustern, deren Größen ausprobiert werden, den Namen Konstrukte geben. Es sind Mittel, die Welt zu konstruieren. Sie ermöglichen es dem Menschen und auch den niederen Tieren, die Richtung ihres Verhaltens festzulegen“.2 Jedes Konstruktsystem hat seinen eigenen begrenzten Gültigkeitsbereich.3

Insgesamt ergeben sich drei verschiedene religiöse Persönlichkeitstypen, die unterschiedliche religiöse Muster von Gottesbeziehungen entwickeln:4

  • Der heteronom-reziproke Persönlichkeitstyp sieht seinen Glauben als ein fertiges Produkt an und orientiert sich daran, dass er seinem vorgegebenen (Kinder-) Glauben zu folgen hat. Insofern gestaltet er seinen Glauben nicht eigenständig, sondern übernimmt ihn unreflektiert, wie er ihn gelernt hat. Sein Glaube wird durch die Autorität Gottes von außen her fremdbestimmt und nicht aus innerem Antrieb angeregt; er ist somit extrinsisch motiviert. In der Gottesbeziehung ist der Gläubige Gott hörig (Heteronomie) oder er verhandelt mit ihm. Diese Reziprozität lässt sich beschreiben als ein Tun-Ergehen-Zusammenhang oder als eine Wenn-Dann-Beziehung. Diese Beziehung zwischen Mensch und Gott gestaltet sich asymmetrisch. Deren religiöse Denkmuster fasse ich im sogenannten heteronom-reziproken Formenkreis zusammen.
  • Der autonom-narzisstische Persönlichkeitstyp betont seine Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und Eigenaktivität in seinem Glaubensleben und Gottesbezug. Dieser Persönlichkeitstyp lässt sich von der Vorstellung leiten, dass Gott und er (Mensch) jeweils für sich autonom und voneinander unabhängig sind. „Nee, manche glauben nicht an Gott und darum … lassen sie auch Gott nicht rein. … Ja, und manche … denken an Gott, aber sie sind zu böse. … Und Gott … darf rein, aber Gott geht nicht rein, weil sie böse sind.“5 So gestaltet die religiöse Person ihr gläubiges Leben eigenverantwortlich und vorwiegend aus einem inneren Antrieb und Interesse, also intrinsisch. Der Glaube dient ihr zur narzisstischen Bestätigung ihres persönlichen Lebens: „Ich glaube, dass Gott mich auch so sieht. … Na, fröhlich, lustig. … Wo ich fröhlich bin, spielt vielleicht Gott mit mir, weil ich Spaß haben will.“6 In diesem Bereich kann auch ein Atheismus formuliert werden. Diese vielfältigen Denkmuster lassen ich im sogenannten autonom-narzisstischen Formenkreis zusammenfassen.
  • Der homonom-apriorische Persönlichkeitstyps pflegt eine gleichwertige und gleichberechtigte Beziehung mit Gott, der ihn als Bedingung der Möglichkeit, als Ermöglichungsgrund oder apriorische Voraussetzung von menschlichem Sein, Entscheiden und Handeln unbedingt annimmt und so gänzlich umfängt. Der Glaubende erfährt Gott beispielsweise als absolute Freiheit, die endliche Freiheit ermöglicht und sinnhaft verbürgt. Der Gottesbezug gleicht einer Beziehung auf Augenhöhe, in der Freiheit positiv besetzt und gegenseitige Selbstständigkeit (Autonomie) akzeptiert wird. Zudem versteht dieser religiöse Typ Gott als Motiv seines Glaubens und Handelns. Seine Glaubensgestalt hat eher den Menschen und die Welt zum Ziel als Gott selbst (Beispiel: Gott motiviert mich dazu, die Welt zu verändern, aber nicht, ihn gut und wohlwollend zu stimmen). Sein Glaube gründet in Gott, den er durch individuelle Interpretation wahrnimmt. Für ihn ist der Gottesgedanke im Menschsein verankert und dadurch fassbar, beispielsweise in der Geschöpflichkeit des Menschen und der Welt. Für den 18-jährigen Elias „fängt der Glaube mit den Menschen an, die glauben. Da ist etwas passiert, was ich sehe, was man spürt. … Die menschliche Verbundenheit ist erst mal da im Namen von etwas Existierendem oder auch nicht. Das ist jetzt da und wichtig. Und das kann es nur geben, solange es Menschen gibt.“7 Der Glaube gestaltet sich durch eine relative und nicht durch eine absolute Selbststeuerung (Autonomie) und ist von intrinsischer Motivation geprägt. Die Denkmuster bündle ich im sogenannten homonom-apriorischen Formenkreis.

So gestaltet jeder Persönlichkeitstyp seine Beziehung zu Gott in unterschiedlichen Mustern, die ich in den drei genannten Formenkreisen zusammenfasse. Ein Formenkreis bezeichnet also einen Komplex von religiösen Denk- und Deutungsmustern eines Persönlichkeitstyps.

3 Empirische Operationalisierung

Um die drei Zugangsweisen zur Transzendenz empirisch operationalisieren zu können, wurden bestimmte Referenzobjekte (Gottesbilder) und Bezugsqualitäten, die in idealtypischen Aussagen die drei Zugänge (Dimensionen) kosmomorph, soziomorph und noomorph erfassen, in den unterschiedlichen religiösen Formenkreisen formuliert, sodass das inhaltliche Modell der drei Zugangsweisen mit dem strukturellen Modell der Formenkreise gekreuzt wurde.8 Diese Kreuzung stellt nun eine umfassende Typologie religiöser Konstruktsysteme dar, die in ihren Auswirkungen untersucht und beschrieben werden konnte. Die dazu verwendete Faktorenanalyse wies die kosmomorphe, soziomorphe und noomorphe Dimension als eigenständige Dimensionen aus. Die Bezugsqualitäten erklären akzeptabel die drei Dimensionen:

Tabelle 1: Faktorenanalyse: Bezugsqualitäten und die drei Dimensionen

Faktor 1
Soziomorphe Dimension
Faktor 2
Kosmomorphe Dimension
Faktor 3
Noomorphe Dimension
Ladung8,684,762,50
Varianz0.350.190.10
Kumulative Varianz0.350.540.64
Die Faktorstruktur ist stabil (= 0.92); Varianzerklärungsanteil: 64 %.

Die verwendete Datenlage ermöglicht zudem, die fundamentaltheologisch interessante Frage zu beantworten, welche Referenzobjekte und Bezugsqualitäten der drei unterschiedlichen Zugänge in welchem Formenkreis erfasst werden und sich verorten. Die dazu angewendete Regressionsanalyse schätzt den Einfluss verschiedener unabhängiger Referenzobjekte und Bezugsqualitäten auf ein abhängiges Denkmuster und wird primär für die Untersuchung von Kausalbeziehungen, die auch als „Je-Desto-Beziehungen“ bezeichnet werden, verwendet. Die Regressionsanalyse errechnete folgende starke und signifikante Beziehungseffekte, die in der nachstehenden Tabelle 2 aufgeführt sind (Multiples R-Quadrat = > 0.30; Signifikanzniveau: 0.001 bis 0.05):

Tabelle 2: Bezugsqualität, Referenzobjekt und Formenkreise

BezugsqualitätFormenkreiseReferenzobjekt
Je mehr ich Gott gehorchen muss (Heteronomie), …
desto weniger verhandle (s) ich mit Gott.
desto mehr verpflichtet (s) er mich und
desto mehr fürchte (k) ich Gott.

Je mehr ich mich reziprok verhalte (Reziprozität), …
desto mehr verhandle (s) ich mit Gott,
desto weniger verursacht (k) er mich
heteronom-reziprokJe mehr heteronom, desto mehr Vernunft und Richter; desto weniger Leben und Freund.
Je mehr reziprok, desto mehr Erleuchtung und Geist; desto weniger Liebe und Friedensfürst.
Bestätigend; „Gott unterstützt und bestätigt mich in dem, was ich will: Ich finde Gott gut, weil Gott mich gut findet.“:
Je mehr Gott mich umarmt (s), desto mehr bestätigt er mich. Je mehr er mich bestätigt, desto weniger lausche (k) ich.

„Gott und Mensch sind unabhängig voneinander“:
Je mehr Unabhängigkeit, desto weniger erscheint (n) Gott durch mich.

Ablehnend; „Selbst wenn Gott existiert, will ich von Gott nichts wissen“:
Je mehr Ablehnung, desto weniger…
bete (s) ich zu Gott.
verhandle (s) ich mit Gott.
staune (k) ich angesichts Gottes.
glaube (n) ich an Gott.

„Gott existiert überhaupt nicht“:
Je mehr ich die Nicht-Existenz Gottes ablehne,
desto mehr
lausche (k) ich Gott.
entspringe (k) ich aus Gott.
…lässt Gott mich erkennen (n).
Je weniger ich an die Nicht-Existenz-Gottes glaube,
desto mehr…
spüre (k) ich Gott.
glaube (n) ich an Gott.
sehe (k) ich Spuren von Gott.
…bin ich von Gott erschaffen (s).
autonom-narzisstischJe mehr bestätigend, desto mehr Gott als das immer Neue, desto mehr Erleuchtung und Schöpfer.

Je mehr Unabhängigkeit, desto weniger Bewusstsein.

Je mehr ablehnend, desto mehr Erleuchtung und Drang nach Leben; desto weniger Vater, Liebe und Schöpfer.

Je mehr ich die Nicht-Existenz Gottes ablehne, desto mehr bejahe ich Gott als Energie, Göttliche Ord-nung,
Lebendige Beziehung, Liebe, Schöpfer.
Je mehr ich mich homonom-apriorisch verhalte,
desto mehr…
spüre (k) ich Gott.
gründe (n) ich in Gott.
entstamme (k) ich Gott.
energetisiert (k) Gott mich.
erscheint (n) Gott durch mich.
staune (k) ich angesichts Gottes,
wirkt Gott durch mich (n).
vertraue (s) ich Gott.
erfahre (n) ich an Gott Orientierung.
homonom-apriorischJe mehr homonom-apriorisch, desto mehr Liebe, Leben, Schöpfer, Energie, Unendliches Gespräch, Lebendige Beziehung, Vollendete Gemeinschaft.
(k) = kosmomorpher Zugang | (s) = soziomorpher Zugang | (n) = noomorpher Zugang

Wie aus der Tabelle 2 entnommen werden kann, beinhalten die unterschiedlichen religiösen Formenkreise idealtypische Bezugsqualitäten und Referenzobjekte.

4 Abschließende Bemerkungen

Die Auswertung zeigt, dass die drei Zugänge zur Transzendenz im autonomen und homonomen Formenkreis vorkommen. Im heteronomen Formenkreis verortet sich nur der sozio- und kosmomorphe Zugang, da offensichtlich die kognitiven Fähigkeiten für das Denken des noomorphen Zugangs noch nicht vorhanden sind. Ferner weist jeder einzelne Formenkreis ganz typische und bestimmte Bezugsqualitäten und Referenzen vor. In dem Zusammenspiel von Bezugsqualitäten und Formenkreise zeigen sich die Zugänge zur Transzendenz als drei unabhängige Dimensionen. Des Weiteren lässt sich erkennen, dass die religiösen Formenkreise mit fundamentaltheologischen Überlegungen übereinstimmen und die drei Transzendenzzugänge sich in den einzelnen Formenkreisen widerspiegeln.

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