Praxis

Die Kirche der Zukunft gibt es bereits – pastoraltheologische Reflexionen zur Kirchenentwicklung

Gegenwärtig ist kulturell sehr viel im Umbruch. Die Klimakrise beschäftigt Medien und Menschen, ebenso der Rechtspopulismus, die neuen Medien und soziale Netzwerke, die Digitalisierung generell, die Migrantenströme und die Kriege weltweit und jetzt auch inmitten Europas, um nur Weniges zu nennen. Dahinter stehen kulturelle Entwicklungen und Umbrüche, die zumindest seit einem halben Jahrhundert laufen. Die Kirchen und die Gemeinden bleiben davon keineswegs unberührt, im Gegenteil. Von Jahr zu Jahr werden die Kirchen sichtbar leerer, und Corona hat hier als Brandbeschleuniger gewirkt. Die alten, treuen Kirchgänger sterben weg, die engagierte Konzilsgeneration will im Ruhestand oft Neues erkunden und zieht sich aus dem Gemeindeleben zurück, Junge kommen kaum nach. Das Ende der Volkskirche scheint schon lange festzustehen. Jetzt trifft es deutlich auch die Gemeindekirche. Die einen haben schon lang prognostiziert, dass sich Kirchlichkeit mit der Moderne schrittweise erübrigt, und sind eher erstaunt, dass dieser Prozess so lang dauert. Die anderen rechnen damit, dass es das Christentum auch in unseren Breiten wohl weiter geben wird, wenn auch wahrscheinlich in neuen und schlankeren Formen. Aber wie können diese aussehen? Sollten, ja, müssten wir nicht heute planen, was morgen vielleicht zum Erfolgsrezept werden könnte?

Das Ende der Volkskirche scheint schon lang festzustehen. Jetzt trifft es deutlich auch die Gemeindekirche.

Nun ist die Kirche ein Großkonzern mit mehreren weit verzweigten Netzen von Institutionen, mit viel Geld und vielen hauptamtlich Tätigen. Dazu ist sie jene Institution, die mit Abstand am meisten Menschen regelmäßig erreicht, mit dem größten Kontingent an Ehrenamtlichen, noch vor den Sportvereinen und der Freiwilligen Feuerwehr. Es gibt die Diözesen und Landeskirchen, die Caritas und Diakonie, die Verbände und Orden, die Erwachsenenbildung und das Schulwesen, die Wissenschaft und die Kirchenmusik, und Vieles mehr. Die Gemeinden sind darin ein Kernbereich, der immer von zentraler Bedeutung war. Katholisch war und ist es bis heute der Kirchenbesuch, zumindest sonntäglich, der als Messlatte für kirchlichen Erfolg angelegt wird. Die Frage nach zukunftsfähigen Formen von Kirche ist also mehr als komplex.

Müssten wir nicht heute planen, was morgen vielleicht zum Erfolgsrezept werden könnte?

Es lohnt, etwas genauer hinzusehen, wenn man über Formen von Kirche und ihre zukünftigen Chancen nachdenkt. Dabei zeigt sich, dass Überkommenes keineswegs obsolet ist, zugleich aber Neues in vielfältigen Formen bereits da ist. Dazu sind kulturelle Veränderungen und Entwicklungen in den Blick zu nehmen, die kirchliche Gestaltungsformen geprägt haben oder schwierig werden lassen. Und schließlich ist zu fragen, was denn der bleibende und aktuelle theologische Auftrag von Kirche ist, der sich in bestimmte Formen gießen muss. Kirche ist ja kein Verein, der seine Ziele und Inhalte einfach an dem ausrichtet, was gerade angesagt ist.

Das (vermeintliche) Ende der Volkskirche

Menschen in Sonntagstracht pilgern familienweise zur Kirche, wo die Sitzplätze längst belegt sind. Mehrstimmiger Gesang dringt aus dem übervollen Gotteshaus nach draußen. Beim anschließenden Frühschoppen treffen sich die Männer des Dorfes, in ihrer Mitte der Pfarrer, um zu besprechen, was ansteht. Die Frauen bereiten derweil, umringt von einer frohen Kinderschar, den Sonntagsbraten. Das Dorf feiert viele Feste, alle sind durch die Laien ausgerichtet und gestaltet, und immer ist Kirche mittendrin. Dieses alte Klischeebild aus bäuerlich-alpenländischer Kultur findet man so heute nirgends mehr. Was für das volkskirchliche Leben bestimmend war, könnte man in folgende Punkte fassen:

  • Quer durch die Woche und den Jahreskreis, sowie entlang der gesamten Biografie („von der Wiege bis zur Bahre“) reihen sich Feste, Brauchtum und Alltagsgestaltungen aneinander, die vom Glauben durchdrungen und in ihm gedeutet sind. Dadurch bleiben die Heilsgeschichte und das christliche Erlösungsgeschehen alltäglich präsent und sind in die eigenen Lebenserfahrungen hinein verwoben. Der Glaube tradiert sich im Lebensvollzug. Dazu kommen mahnende und tröstliche Worte durch die kirchlichen Amtsträger. Diese stehen aber keineswegs im Mittelpunkt, sondern bringen stellvertretend zum Ausdruck, wovon alle überzeugt sind.
  • Die Laienfrömmigkeit fern jeder theologischen Bildung oder Reflexion ermöglicht es, sich gegenseitig inmitten der Alltäglichkeiten und der Wechselfälle des Lebens in der gemeinsamen Gottesfurcht zu bestätigen. Zugleich entwickelt sie eine Fülle an Brauchtum und Lebensregeln, in denen sich Christliches und Heidnisches, Glaube und Aberglaube auf unkomplizierte Weise verbinden. Das ist Segen und Fluch zugleich, weswegen dieser Umstand von den schmalen kulturellen und wissenschaftlichen Eliten auch heftig kritisiert wird. Zugleich ergibt sich darin die Lebensnähe, Lebendigkeit und Prägekraft des Volksglaubens.

    Solche traditionellen Lebensräume gibt es bis heute weltweit.

  • Basis dieser Volksfrömmigkeit ist die tagtägliche Erfahrung von Werden und Vergehen, von Geburt und Tod, von Freud und Leid, von hellen und dunklen Stunden, von glücklichen Umständen und schwerem Schicksal. Das Leben ist sehr wenig vom eigenen Wollen und Geschick, jedoch weitgehend von dem geprägt, was die Konvention vorgibt und was gemeinsam erreicht werden kann. Es gibt kaum individuellen Erfolg oder persönliche Freiheit. Das Glück liegt im gemeinsam Erreichten, und die Freiheit in der Weite der Landschaft, der unbeschwerten Kindheit, und einem mühsamen Tagwerk, das aber nicht durch Uhr, digitale Medien oder Bürokratie getaktet ist.

Solche traditionellen Lebensräume gibt es bis heute weltweit. Zugleich werden sie durch Modernisierung, Bildung und Individualisierung zurückgedrängt. In unseren Breiten existieren sie so nicht mehr. Jedoch haben sie menschliche Grundbedürfnisse bedient, die immer noch vorhanden sind, wenngleich sie durch andere, oft weltanschaulich dem Christlichen diametrale Vollzüge abgedeckt werden – nicht nur zum Wohlsein der Menschen.

  • Die geschlossene weltanschauliche Lebenswelt, in der alles seine passende Deutung findet, und die daher Sicherheit und Geborgenheit vermittelt, existiert weiter in medialen Echokammern, in denen es nur homogene Ansichten geben kann. Sie schützen vor den Unsicherheiten einer heterogenen Welt und ihrer unüberblickbaren Vielfalt an Perspektiven. Zugleich fühlt sich der Einzelne sowohl bestätigt als auch alleingelassen in der Anonymität der Posts und Likes. Influencer profitieren vom menschlichen Zug und einer quasi-freundschaftlichen Nähe, die sie vermitteln. Und Populisten aller Richtungen setzen in Demos und verschworenen Zirkeln zumindest körperliche Präsenz und Nähe dazu, welche durch Redner, Parolen und Songs emotional stimmig und alltagstauglich begleitend gestaltet werden.

    Die selbstverständliche Einbindung in die Rhythmen des Lebens und der Schöpfung geht in der modernen Stadtkultur weitgehend verloren.

  • Der Wunsch nach Requisiten und Gewohnheiten, die dem Alltag Gestalt und dem Leben Farbe geben, wird durch eine unübersehbare und ständig wechselnde Flut an Konsumgütern beworben und bedient. Die Kombination dieser meist wenig wertigen Massenprodukte wird zur individuellen und freien Wahl und Nutzung eingesetzt und gibt dem eigenen Leben Glanz, Stil und Profil. Diese müssen herangeschafft und bezahlt werden und nötigen zu Erwerbsarbeit und der Einpassung in standardisierte Abläufe und die Vorgaben einer maschinell-digitalen Umwelt. Dies kostet so viel Zeit und Lebenskraft, dass trotz immer kürzerer Regelarbeitszeiten die Menschen kaum Zeit für sich selbst finden. Das Gefühl von Entfremdung und damit einher gehende Depressionen wachsen gesellschaftlich an, obwohl die individuellen Freiheiten noch nie so groß waren wie in unseren bequemen Wohlstandsgesellschaften. Fluchtmobilität wird zu einem zentralen Kennzeichen.
  • Die selbstverständliche Einbindung in die Rhythmen des Lebens und der Schöpfung geht in der modernen Stadtkultur weitgehend verloren. Der Mensch schafft sich seine Rhythmen selbst und gesellschaftliche Standards, die sie bestätigen. Ein Beispiel ist der Schlaf-Wach-Rhythmus: Wenn der Mensch im Schnitt 8 Std. Schlaf benötigt und diese bestenfalls in der Nacht konsumiert, dann wären das vier Stunden vor und vier Stunden nach Mitternacht, der Mitte der Nacht. Der Abend beginnt mit Sonnenuntergang und endet mit dem Eintritt der Dunkelheit. Pauschal ist das etwa von 18 bis 20 Uhr, dann beginnt die Nacht. Das Abendbrot – die „Vesper“ – liegt nach dem mönchischen Gebet um 17 Uhr, ist also um etwa 18 Uhr anzusetzen. Kulturell ist das jedoch völlig verschoben: Der Abend beginnt mit der Tagesschau um 20 Uhr, oft folgt dann erst das Nachtmahl. Das Abendprogramm im Fernsehen geht erst um etwa 22 oder 23 Uhr ins Nachtprogramm über. Daher kann das Tagwerk nicht, wie traditionell, um 6 beginnen, sondern startet mit viel morgendlicher unausgeschlafener Hektik erst um 8 oder 9. – Die Rhythmen der Natur finden nicht nur im Tageslauf, sondern auch im eigenen Organismus wenig Beachtung, von dem Respekt vor ökologischen Abläufen ganz zu schweigen. Damit geht die Erfahrung verloren, in Gottes Welt eingebunden und vom Leben getragen zu sein. An ihre Stelle tritt der „freie“ Mensch, der alles nach eigenem Belieben gestalten kann und dafür ganz allein verantwortlich ist. Wenn dieses Konzept und sein Versagen offensichtlich werden, bleibt dann oft nur das stolz-trotzige „I did it my way“. Dass es in unseren bequemen Wohlstandsgesellschaften so wenig glückliche und zufriedene Menschen gibt, und sogar die Jugend bereits der Lebensmut verlässt, ist eine mögliche Konsequenz davon.

Die obige Skizze, zugegeben sehr holzschnittartig – aber wie kann man sonst auf schmalem Raum große Bögen zeichnen? – hat auf menschliche Grundbedürfnisse aufmerksam gemacht, welche die traditionelle Volkskirche auf ihre Weise gelungen abdecken konnte: nach Geborgenheit und Sicherheit in einem weltanschaulich geschlossenen Rahmen; nach Rhythmisierung, Gestaltung und vielfältiger Fassung eines geglückten Alltags trotz der Wechselfälle des Lebens; nach Einbindung in die Logiken der Natur um und in uns, gegen die dauerhaft nicht angegangen werden kann.

Elemente des Volkskirchlichen bleiben auch heute erhalten oder werden neu belebt

Angesichts dessen bleiben Elemente des Volkskirchlichen auch heute erhalten oder werden neu belebt: Pilgern, um den eigenen Rhythmus im Einklang mit der Natur wiederzufinden; in einer Kirche eine Kerze anzünden in der Hoffnung, ihre Flamme steigt als Gebet zu Gott und nimmt all die eigene Not und das eigene Sehnen mit zu Ihm, auch wenn man es selbst nicht formulieren kann; Segnungen und Sakramente an den Lebenswenden auf der Suche nach dem guten Geist, der das Leben begleiten und tragen möge; Engel als Wohnaccessoires, die den Schutz durch höhere Mächte ins eigene Zuhause bringen; Kirchen als touristische Ziele, um in geistlichen Führungen über die Ikonografie dem Glauben näherzukommen; klassische Kirchenmusik, welche die Seele zum Himmel trägt; und Vieles mehr.

Die verblichene Erfolgsgeschichte der Gemeindekirche

Die moderne Welt löst durch allgemeine Bildung Menschen aus homogenen Meinungszwängen, befreit sie von sozialer Kontrolle und zwingenden Konventionen und schafft somit individuelle Freiheit; und sie reduziert durch wissenschaftlichen und technischen Fortschritt die Abhängigkeiten von der Natur. Die Stadtkultur, die weitgehend auch die ländlichen Räume erfasst hat, verfestigt das zur kulturellen Normalität. Es war die große Errungenschaft der katholischen Kirche nach dem Konzil, im vordem nur evangelischen Gemeindekonzept eine angemessene Sozialform des Kirchlichen auch im katholischen Raum zu begründen. Sie erwies sich über Jahrzehnte als Erfolgsgeschichte. Betrachten wir skizzenhaft ihre Spielregeln:

  • Im Mittelpunkt des kirchlichen Lebens steht nicht mehr Gottes Welt, sondern der Mensch: „Der Mensch ist der Weg der Kirche.“ (RH) Dies ist angemessen, denn „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen.“ Die entsprechende Sozialform ist die „Pfarrfamilie“ als Art Großfamilie; sie überträgt die Logik des Dorfes, der die Volkskirche entsprach, in neuer Form in die Stadt. Auch in ihr gilt, was das Dorf prägt: Dazu gehört nur, wer immer da war und immer da ist – alle anderen gelten bestenfalls als „nur Sonntagschristen“. Konventionen und Sozialkontrolle sind allgegenwärtig: Man weiß, was man zu denken, zu sagen und wie man sich zu verhalten hat. Die sozialen Beziehungen sind durch das Gerede geprägt, das alles weiterträgt und kommentiert und so die Einpassung regelt, ja erzwingt. Die Hauptamtlichen sind davon nicht ausgenommen; so wird auch von ihnen erwartet, dass sie ihre Freizeit in der Gemeinde verbringen, wie alle anderen, die dazu gehören, auch – eine große Belastung, gerade für die hauptamtlichen Laien. Zugleich aber trägt die Gemeinde mit ihrer Sorge alle; auch viele Alleinstehende, die hier problemlos Anschluss finden.
  • Das Miteinander ist durch eine umfassende Diskurskultur bestimmt: „Hauptsache, dass wir darüber geredet haben.“ Die Folge davon ist, dass die Gemeinde von Lehrern und Beamten geprägt ist, die gelernt haben, sich zu artikulieren. Man ist auf Augenhöhe beisammen und erwartet von den Hauptamtlichen, dass sie alles mittragen, was gemeinsam beschlossen wird. Eine hierarchische oder autoritative Leitungsrolle wird dezidiert abgelehnt. Jede*r soll machen können, wozu sie/er sich berufen fühlen. Da dies nicht immer von Kompetenz begleitet und für die Gemeinde förderlich ist, gibt es reichlich Stoff für Konflikte und Diskurse. Was als gemeinschaftsfördernd angesehen wird, hat aber die Kehrseite, dass professionelles Vorgehen mit Zielsetzungen und Zeitplänen daran scheitert. Das betrifft auch die Pfarrgemeinderäte, an denen schnell jene verzweifeln, die Sitzungen mit Tagesordnung, konsequenter Leitung und Protokoll gewöhnt sind.
  • Gläubigkeit ist ein der Gemeindlichkeit nachgeordnetes Kriterium. Theologische Fragen werden selten verhandelt und bleiben häufig ergebnisoffen. Eine fachliche Vorgabe wird ungern akzeptiert. Jede*r soll schließlich glauben dürfen, was er/sie gut persönlich nachvollziehen kann. Das ist unter modernen Voraussetzungen mehr als schwierig. In scharf konturierter Logik gesprochen: Der Mensch ist von Grund auf gutwillig; alles, was falsch läuft, ist entweder dumm gelaufen oder folgte den legitim frei gewählten Prioritäten des Handelnden. Sünde ist damit ortlos, Erlösung erübrigt sich. Gott ist guter Vater oder Mutter; wo das in Schicksal und Leid nicht erfahren wird, ist es für Ihn besser, wenn Er nicht existiert. Letztlich ist der Mensch der Herr der Geschichte. Ob es Gott gibt, bleibt ungewiss. Damit ist das liturgische Leben ein Ritual, das auch so verändert werden soll, wie es zur Gemeinde passt.

Es ist aber typisch für moderne Menschen, dass sie nicht mit Fortschreiten der Biografie in das Vorgegebene hineinwachsen, sondern ihre im Jugendalter geprägte Kultur modifiziert im Älterwerden weiterleben.

Die Gemeinde wird über Jahrzehnte zur kirchlichen Erfolgsgeschichte, weil sie jene Menschen trägt und zugleich befreit, die unter volkskirchlichen Bedingungen sozialisiert sind und die neuen Freiheiten zu schätzen wissen, zugleich aber von der volkskirchlichen Gläubigkeit weitgehend getragen bleiben. Wo diese Erfahrung verblasst oder erschüttert wird, wenden sich Menschen auch konsequent und oft sehr offensiv kommunizierend ab und treten aus der Kirche aus. Damit verbinden sie massive Kirchenkritik, insbesondere daran, das Amt sei in seiner Führung nicht ausreichend liberal und transparent, oder überhaupt nicht authentisch. Junge Menschen finden kaum Zugang zur Gemeinde, weil diese dauerhaft nach den Spielregeln ihrer Gründer funktioniert. Es ist aber typisch für moderne Menschen, dass sie nicht mit Fortschreiten der Biografie in das Vorgegebene hineinwachsen, sondern ihre im Jugendalter geprägte Kultur modifiziert im Älterwerden weiterleben. Damit können nur immer neue Gemeinden gegründet, aber keine bestehenden tradiert werden. Praktisch heißt das zum Beispiel: Studentenseelsorger kämpfen damit, dass ihre Gemeinde aus Exstudenten besteht, die hier ihre kirchliche Heimat gefunden haben. Die Jungstudenten dagegen finden unter diesen „alten Leuten“ keinen Ort für sich. Oder, wie eine engagierte Altenseelsorgerin einmal vermerkte: „Ich mache das wirklich gern mit den alten Leuten, mit Kaffee und Diavortrag und dem Adventsingen des Kindergartens. Aber ich selbst werde nie so alt sein, dass das für mich interessant würde.“

Und was kommt danach? – Vieles ist schon da

Betrachtet man aktuelle Kirchenentwicklungen, wird deutlich, dass es eine sichtbare Verschiebung gibt, weg von den klassischen Ortsgemeinden und hin zu dem, was in der kirchlichen Logik „kategoriale Seelsorge“ heißt. Allerdings mit zwei deutlichen Unterschieden: Es handelt sich nicht um die klassischen institutionellen Handlungsfelder wie Krankenhaus-, Gefängnis- oder Tourismuspastoral. Und es sind nicht vornehmlich institutionell geplante und durch kirchlich-hauptamtlichen Personaleinsatz gestaltete Initiativen. Schauen wir genauer hin:

Angebote werden nur angenommen, wenn sie aus Geist, Herz, Hirn und Gottes-/Lebendigkeitsbezug einer Person erwachsen, die darin ihr Charisma gestaltet.

  • Ein erster Bereich sind Initiativen, die man dem Bewegungssektor zuordnen kann: die Nightfever-Bewegung, die Mehr-Konferenzen im Gebetshaus Augsburg, die Kisi-Kids, die Alpha-Kurse – um nur beispielhaft einige Wenige zu nennen. Es ist hier nicht der Raum, sie zu beschreiben, jedoch kann Prägendes charakterisiert werden. Häufig sind junge Menschen angesprochen, denen sich jedoch oft auch Ältere anschließen, weil der Stil gefällt. Das Eventhafte steht im Vordergrund, mit viel Musik, teils aufwändiger Gestaltung, viel Gebet und gemeinhin „Spiritualität“, d. h. viel explizit persönlichem Gottesbezug und inhaltlich oft auch theologisch gut gefüllter Verkündigung mit traditional-postmoderner Kontur. Meist sind kirchlich Hauptamtliche die Initiatoren, welche die kirchliche Infrastruktur nützen können und zugleich mit einer Schar an Ehrenamtlichen für weitere Verbreitung und umfassende Gestaltung sorgen. Um diesen harten Kern scharen sich viele, die zeitweilig sehr aktiv sind, sich aber auch wieder verabschieden, wenn für sie etwas Anderes angesagt ist. Und das gilt auch für den harten Kern. Die Gemeindebildung ist also fluide, mit dem Vorteil, dass es für neu Interessierte keinerlei Probleme gibt, dazu zu kommen. Das bedingt auch, dass sich der Stil der Treffen und der Vermittlung des Glaubens jeweils den sich wandelnden Teilnehmer*innen gemäß geschmeidig anpassen kann. Es gibt – nicht wie in Ortsgemeinden – keine Platzhirsche, die das verhindern würden.
  • Eine zweite Gruppe von Gemeinden ist unter dem Stichwort FreshX (Fresh Expressions of Church) bekannt. Das ist keine Institutionenbezeichnung, sondern ein Sammelbegriff für Gemeinden, die aus Eigeninitiative von Laien entstehen, jedenfalls ökumenisch sind, sich ihre eigenen Formen und Inhalte finden und auch frei gestaltete liturgische Formen entwickeln. Sie nutzen keine kirchliche Infrastruktur, arbeiten aber vielleicht mit eine*m Seelsorger*in fallweise zusammen. Sie tauchen auf und verschwinden wieder, wenn die Dynamik der Gruppe erlischt. Sie verstehen sich als christlich, sind aber in Gestaltung und Inhalten darin nicht kontrollierbar. Sie folgen wie die erste Gruppe dem Charisma einer Person, sind aber an diese auch untrennbar gebunden.
  • Eine dritte Gruppe sind kirchliche oder freie Initiativen im medialen Bereich, speziell im Internet, die in den Bereich der Individualseelsorge fallen, also nur für die Akteure, aber nicht für ihre Zielgruppe gemeindebildend wirken. Klassisch zu nennen sind die Telefonseelsorge sowie neuere Initiativen speziell für junge Menschen, die von den Kirchen getragen sind. Dazu zählen auch weitere Projekte der Internet-Seelsorge als persönliche Lebens- und Glaubensberatung und -begleitung. Weiterhin sind Ordensgemeinschaften hier mit Gebetsinitiativen tätig, als Hilfe beim Betenlernen oder mit dem Angebot, für jemanden zu beten, der das wünscht. In Corona kamen dazu noch vielfältige Angebote, die das Vakuum der Gemeindearbeit auszugleichen suchten und teils weiterbestehen. Das reicht bis in klassische Gemeindearbeit hinein, wenn Gottesdienste gestreamt werden und es im Anschluss die Möglichkeit zu digitalem Gespräch gibt. Auch die von ARD/ZDF nach wieder vor wöchentlich angebotenen Sonntagsgottesdienste im Fernsehen sind hier zu nennen, sowie freikirchliche Angebote in den Privatsendern.
  • Eine vierte Gruppe schließlich sind Einzelinitiativen von Menschen, die sich ihr eigenes Projekt Glauben gestalten und dazu oft an kirchlichen Angeboten andocken, aber umstandslos auch Freikirchliches und Spirituelles aus den Bereichen Ökologie, Psychologie, Gesundheit und Lebenskunde wählen. Zu nennen sind hier zuerst der Pilgerboom und allgemein alle Angebote im Bereich Tourismus, von spirituellen Kirchenführungen, über Spiritualität am Kurort bis Geistliches am Weihnachtsmarkt. Dazu kommen die vielfältigen Angebote der kirchlichen Erwachsenenbildung und der Kirchenmusik. Generell geht es den Menschen dabei darum, Impulse zu erhalten, die im Alltag nicht vorkommen, diesen relativieren und sie ein Stück zu sich selbst führen. Entsprechend dürfen sie nicht als kirchlich überfremdend wahrgenommen werden, was bei einigen Pilgerangeboten inzwischen der Fall ist.

Was Kirche davon für die Zukunft lernen kann

  • Angebote werden nur angenommen, wenn sie aus Geist, Herz, Hirn und Gottes-/Lebendigkeitsbezug einer Person erwachsen, die darin ihr Charisma gestaltet. Wollte die Kirche in diese Richtung arbeiten, würde sie jede*r Hauptamtlichen das Angebot machen, einen Teil der eigenen Arbeitszeit mit gut strukturiertem und begleitetem Projekt zu nutzen. Die Ortsgemeinden müssten dafür ihre Personalansprüche zurückschrauben und selbständiger werden.

    Der Mensch ist der Weg Gottes.

  • Mit wachem Blick den gesamten Bewegungssektor sowie die medialen und digitalen Bereiche beobachten und initiativ Vernetzungen suchen und gestalten. Ansätze dazu gibt es bereits. Für die Teilnehmenden entsteht dadurch eine Qualitätsgarantie, für die Initiatoren oft eine Möglichkeit, kirchliche Infrastruktur zu nutzen, und für die Ortskirchen ein Anreiz, Neues zu sehen und vielleicht eigene Leute, die der Gemeinde überdrüssig geworden sind, in diese Bereiche zu empfehlen.
  • Und schließlich: sich auf das Wesen von Kirche besinnen. Dieses liegt in der Gottesbeziehung, dem Glaubensvollzug, der Gestaltung des Alltags aus der Verankerung in die Geheimnisse des Glaubens heraus. Soziale und administrative Strukturen sind dafür notwendig, aber nicht prägend. Solange man meint, dass immer neue Strukturdebatten die Probleme lösen werden, wird man nicht vorankommen. Kirchen sind Orte, die dem Himmel näher sind, und bestehen aus Gläubigen, die darin ihr Leben zu gestalten und diesen Stil zu erklären verstehen. In den Sakramenten und Liturgien kommt uns Gott so menschlich nahe, dass er zum Teil meiner Existenz wird. Der Mensch ist der Weg Gottes.

Praxis

„Siehe, ich schaffe Neues! Erkennt ihr’s denn nicht?“ Zu Konturen der „nächsten Kirche“

I Systemtheoretische Vorbemerkung

Die nächste Kirche, über die wir nachdenken und die wir verwirklichen wollen, soll eine ganz andere sein als die bestehende, deren Tage ganz offensichtlich gezählt sind.

Die nächste Kirche kann aber nicht im luftleeren Raum beginnen. Wir können nur theoretisch und in der Kybernetik den Reset-Knopf drücken und alles auf Anfang stellen. In der Realität fängt auch die nächste Kirche nicht bei Null an. Da gibt es immer noch viele Menschen, die dem Vergehen der traditionellen Gestalt von Kirche wehmütig und mit Sorge zusehen und die diese Gestalt erhalten wollen. Da gibt es einen unglaublichen, in Parallelität zu den staatlichen Institutionen aufgebauten Behördenapparat, der gegenwärtig eher noch wächst als schrumpft. Da gibt es ein sagenhaftes Vermögen an Grundbesitz, Immobilien und nicht zuletzt Personal. Das alles kann man nicht einfach mit einem Federstrich hinter sich lassen. Wir brauchen eine Übergangszeit, in der die vergangene und vergehende und die nächste, aufbrechende Kirche nebeneinander bestehen und auch miteinander vermittelt werden.

Soll die nächste Kirche eine nicht nur veränderte, angepasste sein, darf sie freilich nicht auf den gelegten Gleisen weiterfahren; darf sie nicht den vorhandenen Bildern und Konzepten von Kirche folgen. Die nächste Kirche darf nicht instrumentalisiert werden als Perpetuierung dessen, was schon ist.

Wir brauchen eine Übergangszeit, in der die vergangene und vergehende und die nächste, aufbrechende Kirche nebeneinander bestehen und auch miteinander vermittelt werden.

Ansätze der Vermittlung der beiden Systeme sind bisher trotz erheblicher Anstrengungen weitgehend gescheitert. Da sind zum einen die mit hohen Erwartungen verbundenen Erprobungsräume. So lange aber der kirchenamtliche und regionale Abstimmungsbedarf so hoch ist, können nicht wirklich neue Wege beschritten werden. So lange sich keine jüngeren Menschen ziehen lassen, weil sie merken, dass eine wirklich grundlegend veränderte Gestalt von Kirche auch in diesem Rahmen nicht möglich ist, entsteht hier keine neue Kirche. – Der zweite Ansatz besteht in ebenfalls mit hohen Erwartungen verbundenen innerkirchlichen Fresh X. Hier waren die Ergebnisse in der Vergangenheit ebenfalls nicht sehr ermutigend, ebenfalls weil der Abstimmungsbedarf mit dem ortsgemeindlichen System zu hoch und der Abstimmungsprozess zu langwierig und kompromissbehaftet war. Im Endeffekt war und ist die Zahl der Menschen, die Neues wollen und bereit sind, ihre Kraft und Zeit für einen solchen Prozess einzusetzen, zu gering. Der Weg in independente Gemeindegründungen oder Gemeindebewegungen, die sich rasant ausbreiten, liegt dann vielfach näher.

Wir stehen also vor einem Systemkonflikt. Zwei diametral unterschiedliche Konzepte stehen sich gegenüber. Beide sind für eine Übergangszeit notwendig, bis die Volkskirche „abgewickelt“ ist und die nächste Kirche Gestalt gewonnen hat. Beide Gestalten von Kirche sind aber aufeinander angewiesen und aneinander verwiesen. Es wäre wohl unverantwortlich, die sterbende Volkskirche und d. h. ja v. a. die Menschen, die in ihr mit Ernst Christen sein wollen, einfach sich selbst zu überlassen. Andererseits braucht auch die nächste Kirche mindestens für eine Übergangszeit eine „Mitgift“, die es ihr ermöglicht, zu starten, zu experimentieren, auszuprobieren und dabei auch scheitern zu dürfen und Fehler zu machen.

Dass ein solcher Weg möglich ist, hat die Anglikanische Kirche mit ihrer mixed economy bewiesen. Hier existieren noch überlebensfähige traditionelle Kirchengemeinden und fresh expressions of church nebeneinander, mit jeweils eigener Administration, Organisation, Verwaltung und Haushalten – verbunden nur auf der Ebene der Kirchenleitung, deren Bischöfe sich für beide Gestalten von Kirche verantwortlich wissen und speziell die neuen, „frischen“ Formen von Kirche unterstützen. Diese dürfen experimentieren, sind sehr erfolgreich und tragen entscheidend bei zu einem neuen Gesicht von einer in der Gesellschaft präsenten Kirche, relevantem Glauben und glaubwürdigem Christentum.

Wir brauchen eine Übergangszeit, in der die vergangene und vergehende und die nächste, aufbrechende Kirche nebeneinander bestehen und auch miteinander vermittelt werden.

Notwendig sind für den Start der neuen Kirche finanzielle Spielräume, organisatorische Selbständigkeit und administrative Freiheit. Es braucht verlässliche finanzielle Budgets und Innovationsfonds. In diese fließen nicht nur die Kirchensteuern derer, die sich an alternativen Gemeindeformen beteiligen. Es gibt auf Zeit feste Zuschüsse, die als Mittel für die Gemeinde-Start-ups zur Verfügung stehen. Es braucht eine organisatorische Selbständigkeit, also den Verzicht auf eine lähmende „Einbindung“, die der Erfahrung nach auf ein Kappen des Innovativen und den Verlust von kreativem Schwung hinausläuft. Es braucht eine administrative Freiheit, die selbständig und selbstverantwortlich genutzt werden kann; die einschließt: probieren können und scheitern dürfen.

Administrativ bedeutet das das Ende der obrigkeitlichen Aufsichtskirche. Es bedeutet, probieren dürfen, ohne dass eine „Pfarrperson“ die theologische Kontrolle hat. Es bedeutet, Abendmahl feiern dürfen, ohne dass ein Pfarrer/in dabei ist, wenn man es mag; wenn sich Kirche ereignet. Es bedeutet: Die Zeiten, an denen man zusammenkommt, dürfen kollidieren mit den offiziellen parochialen Gottesdienstzeiten in der Region; es bedeutet, die berüchtigten und gefürchteten Parallelstrukturen zuzulassen und zu gucken, welche sich bewähren; es bedeutet, die Laien nicht nur rhetorisch in ihrer theologischen Bedeutung immer neu zu beschwören („allgemeines Priestertum der Gläubigen“), sondern tatsächlich mündiges Christsein zu ermöglichen, auch theologische, geistliche Verantwortung für Laien zu ermöglichen; es bedeutet, Gemeinde ohne Pfarrerin bauen zu dürfen, Gemeinde zu leben ohne eigene Immobilien, aber flexibel auf Mietbasis oder – noch gefährlicher – in Wohnzimmern oder Nebenräumen von Gaststätten, Restaurants; es bedeutet, zusammenzukommen an wechselnden Orten, zu verabredeten Zeiten, aber auch spontan, zusammengerufen zu Gebet und Fürbitte durch eine entsprechende App; es bedeutet, sich zu verabreden für eine Gemeinde auf Zeit oder nur für einen bestimmten Berufsstand; es bedeutet, auf Kirchensteuer verzichten zu können, unterschiedliche Mitgliedschaftsmodelle anzubieten, auch Mitgliedschaft zur Probe und auf Zeit; es bedeutet, Optionen zu haben für unterschiedlich intensive Formen der Partizipation oder für die Unterstützung unterschiedlicher Zwecke. Es bedeutet: Freiheit zu haben zum Ausprobieren dessen, was Kirche unter den so radikal geänderten soziokulturellen Bedingungen ausmachen kann, und nach lebensdienlichen Gestalten von Gemeinde zu suchen, die relevant sind, weil sie sich den Lebenswelten flexibel anschmiegen, um in ihnen vom Evangelium her relevant zu sein.

Strategisch gilt es darum, für den Neuansatz Bilder gegen Bilder zu setzen; Gemeinde denken zu dürfen, wie wir sie uns wünschen, weil wir sie so brauchen.

Der Neuansatz hat nur dann eine Chance, wenn er nicht an äußeren Strukturen hängt, wenn er nicht durch das determiniert, festgelegt und eingehegt wird, was doch gerade überwunden werden soll und muss. Der Neuansatz hat nur dann eine Chance, wenn er Visionen von Kirche zuläßt und es erlaubt, sich von alten, bisherigen, gewohnten, aber lebensfernen Bildern von Kirche zu lösen. Schon in der Stoa wusste man: Die Bilder machen uns kaputt. Die Bilder von dem, was sein muss, sein sollte, was andere erwarten, überfordern und lähmen uns.

Strategisch gilt es darum, für den Neuansatz Bilder gegen Bilder zu setzen; Gemeinde denken zu dürfen, wie wir sie uns wünschen, weil wir sie so brauchen.

Der Neuansatz wird dann gelingen, wenn v. a. junge Menschen erkennen, dass tatsächlich unter dem Label Evangelische Kirche die Kirche möglich ist, die sie sich wünschen und die sie gestalten wollen. Scheitert eine solche Kooperation, wäre das für beide Systeme von Nachteil. Es würde das Ende der traditionellen Gestalt von Kirche beschleunigen und den Neustart der nächsten Kirche erschweren.

II Die nächste Kirche

a) Die christologische Mitte1

Vom Vorrang der Theologie

Wir beginnen unsere Überlegungen zur neuen, nächsten Kirche ganz bewusst mit einer Reflexion auf das, was theologisch und geistlich verbindet. Theologie wird entwertet, wenn sie einer auch ohne sie bestehenden Vorstellung von Kirche als nachträgliche Legitimation bloß umgehängt wird. Organisation, Administration, Gestalt und Schwerpunkte müssen sich von der tragenden theologischen Mitte her ergeben und nicht umgekehrt. Es wäre ein „Weiter so“ in den alten Gleisen, einfach in Fragen der Organisation und Administration hineinzuspringen und nach Modellen zu suchen, wie Kirche unter veränderten Umständen weiterleben kann. Wir brauchen aber nicht eine bloß veränderte, sondern eine transformierte, sich von ihrem Ursprung und ihrer Mitte her erneuernde Kirche. Alle Modelle haben den Nachteil, dass sie – weil sie Modellcharakter besitzen – einengen. Was not tut, ist aber der freie, der befreite, der unkonventionelle und kreative Blick.

Kirche ist Kirche von ihrem Mittelpunkt her

Woran könnte er sich ausrichten, wenn er nicht wieder durch Partikularinteressen eingefangen werden soll, wenn nicht an Christus? Jesus Christus ist das verbindende Band der Kirche, derer, die Christen sein wollen. Es kann keinen anderen selbstverständlichen, verbindlichen Ausgangspunkt geben als ihn; keine Begründung von Profil und Verbindlichkeit geben als die, die entsteht, wenn wir gemeinsam auf ihn blicken und das, was er von uns will und was er uns zeigt. Allein diese gemeinsame Ausrichtung auf Jesus Christus als die Mitte der Kirche bietet zwei Vorteile: Sie ist substantiell: Von hier aus gewinnen wir Kriterien und Profil; und sie bietet Raum: Auch sehr Unterschiedliche können sich auf diese Mitte verständigen.

Wir brauchen aber nicht eine bloß veränderte, sondern eine transformierte, sich von ihrem Ursprung und ihrer Mitte her erneuernde Kirche.

Keine Administration, keine Organisation, keine bürokratisch organisierten Verteilungsmechanismen können ersetzen, was Kirche ausmacht: die gemeinsame Loyalität zu Christus. Durch sie ergibt sich ein Raum für Unterschiede und Differenzen, die dann nicht nur geduldet und hingenommen, sondern geistlich bejaht werden können; Raum für eine Pluralität und Diversität, die nicht wirklich organisiert werden kann, wenn sie nicht ein bloßes Nebeneinander bedeuten soll. Das oft so schwache Toleranzgebot praktischer Vernunft erhält Kraft dadurch, dass ich entdecke: Der, der da so ganz andere, ja gegensätzliche Positionen vertritt, ist jemand, der genauso wie ich, nur von einer ganz anderen Position aus, ebenfalls auf Christus blickt, ihm nachzufolgen sucht, ihn erfährt, mit ihm unterwegs ist. Ich achte Christus, wenn ich ihn achte.
Diese Kirche ist keine statische, keine existentiale Größe. Sie lebt in der Erwartung des kommenden Herrn. Solange „das eschatologische Büro geschlossen“ bleibt (Ernst Troeltsch zugeschriebene Redeweise), hat die Kirche keine Zukunft. Denn die Kirche hat keine Zukunft als nur die eine: den wiederkommenden Herrn.

Konsequenz 1: Der unique selling point (USP)

Folgt die Kirche dieser theologischen Grundlage, ist klar: Jesus Christus ist ihr USP. Er allein ist ihr Alleinstellungsmerkmal. Allein dieser USP verhindert, dass sich Kirche in ihrem Reden, ihren Verlautbarungen, ihrem Handeln selbst banalisiert, indem sie tut, was ohnehin schon andere tun; verkündet und verlautbart, was doch auch andere schon lange sagen, oft besser und qualifizierter. Beim Thema Ökologie sind die Grünen die Profis, Diakonie und Wohlfahrt, Mitbestimmung können Sozialdemokraten ganz ausgezeichnet; Bildung ist bei Postmateriellen sehr gut aufgehoben.

Wenn Kirche auf diesen Feldern unterwegs ist, muss sie profilieren, warum auch sie als Kirche das tut, was das spezifisch Christliche ist, das sie mit diesem Auftrag verbindet, und was offenbar durch die anderen Organisationen und Professionen so nicht abgedeckt ist. Es muss das spezifisch Christliche erkennbar sein, das durch andere nicht abgedeckt wird und ihr Handeln notwendig macht.

Gemeinde mag vieles, alles tun. Aber wir brauchen aber nicht eine bloß veränderte, sondern eine transformierte, sich von ihrem Ursprung und ihrer Mitte her erneuernde Kirche.

Wenn Christus wieder zu ihrem USP wird, kann der Kirche das helfen, sich nicht zu verheddern und verzetteln in tausend Aufgaben und Tätigkeiten, die ihr verschiedene Partikularinteressen antragen. Wenn Christus ihr USP ist, wenn der Blick auf ihn ihr Handeln bestimmt, wenn er die Prioritäten vorgibt, dann darf sie fragen: Ist das wirklich unsere Kernaufgabe: etwa der Erhalt von Immobilien, deren Betrieb extrem aufwändig ist, die aber kaum genutzt werden; der Betrieb von KiTas, für die christlich überzeugtes Personal immer schwieriger zu finden ist; das Abhalten von Gottesdiensten in kalten, kaum noch besuchten Kirchen, das Erteilen von Religionsunterricht, für das sich kaum noch jemand interessiert, weil er bekenntnismäßig und positionell zahnlos ist (und sein muss). Warum sollte Kirche sich erschöpfen in der Erhaltung von Baudenkmälern, die eine staatliche kulturelle Aufgabe ist; warum sollte sie soziale Einrichtungen verwalten, für die ihr weithin das Personal fehlt, das christlich prägen könnte; warum – außer aus finanziellen Gründen – sollte sie die Zeit und Kraft ihrer theologischen Hauptamtlichen erschöpfen und RU erteilen, wenn das Werben und Profilieren des christlichen Glaubens gar nicht erwünscht ist?

im Es macht Sinn, Simon Sinek („Finde dein Warum!“) zu folgen und sein Profil wie auch die Motivation dadurch wiederzufinden, dass wir zuerst die Frage nach dem Why? stellen, bevor wir uns im How? und im What? verlieren. Kirche mag vieles, alles sein; Gemeinde mag vieles, alles tun. Wir brauchen aber nicht eine bloß veränderte, sondern eine transformierte, sich von ihrem Ursprung und ihrer Mitte her erneuernde Kirche. Eine auf ihren USP ausgerichtete Kirche tut nichts, was alle tun; wenn, dann tut sie es spezifisch – anders.

Konsequenz 2: Form follows funktion

Eine in Jesus Christus ihre Mitte fokussierende Kirche findet ihre Identität weder durch Abgrenzungen noch durch schrankenlose Pluralität. Sie definiert sich nicht dadurch, dass sie Grenzen setzt und ausschließt: Diese und dieser gehören nicht dazu; dies und jenes ist nicht christlich. Sie findet sie aber auch nicht – Konzept: Einheit durch Vielfalt! – durch die bloße Addition des Gegensätzlichen, die programmatisch alles umfassende Vielfalt, die in einer Kirche, die für alle da ist, angeblich gegeben sein muss. Die Kirche, die ihren USP kennt, muss nicht begrifflich-definitorische Abgrenzungen vornehmen, um ihre Identität zu bestimmen (AfD-Wähler können keine Christen sein! Ist das wirklich evangelisches Profil, dass wir Menschen, ganze Menschengruppen ausgrenzen?); sie muss nur erläutern, was christlicher Glaube von Christus, von seinem Ursprung her bedeutet (wie sieht ein verantwortlicher Umgang mit mental, kulturell und materiell armen Menschen aus, die im Mittelpunkt der Fürsorge und Zuwendung Jesu standen und stehen?). Wo die Kirche sich auf Christus ausrichtet, ist sie zwar für „alle (die mühselig und beladen sind)“, aber nicht mehr für alles da.

Konsequenz 3: Unterwegs-Kirche

Eine Kirche, die auf ihren Herrn wartet, zu ihm unterwegs ist, eine Unterwegs-Kirche hat notwendigerweise eine vorläufige Gestalt. Sie richtet sich nicht auf Dauer ein. Sie baut nicht in Beton oder Stein. Die nächste Kirche hat leichtes Gepäck; sie braucht keine eigenen Immobilien, damit sie sich flexibel einstellen kann. Sie setzt nicht auf Kontinuität, sondern auf Wandel. Sie sammelt kein Manna, das verfault. Sie setzt nicht auf Einrichtungen, die ihre Existenz und ihren Unterhalt sichern, weil diese sie binden und behindern. Sie denkt nicht: Wie kann ich diese Gestalt von Kirche dauerhaft sichern, über die eigene Generation hinaus? Sie existiert dann, wenn sie lebt. Lebt sie nicht mehr, muss es sie nicht mehr geben.

Konsequenz 4: Beziehungskirche

Weil die nächste Kirche nur minimal gebunden ist durch administrative, bürokratische und organisatorische Aufgaben, durch Vorsorge und Sicherungen einer Zukunft, die die Gegenwart verstellt, hat sie Kapazitäten für Menschen. Sie ist in erster Linie Beziehungskirche. Sie ist durch ihre Konzentration auf Christus fähig, Prioritäten zu setzen. Menschen sind ihr wichtiger als Steine; Beziehungen wichtiger als Ordnungen; Begegnungen wichtiger als begrenzende Regeln. Kirche ist nicht glaubwürdig, so lange auch nur ein Wohnsitzloser im Winter erfriert, weil er keine menschenwürdige Unterkunft findet, die Gliedkirchen der EKD dafür über die Jahre Milliarden Euro für den Erhalt und die Pflege von kirchlichen Immobilien ausgeben.

Konsequenz 5: Geistliche Kirche, die satt wird an Christus

Zur Kirche in ihren tausenderlei, milieudeklinierten Gestalten kommt man dann, weil man sich hier neues Leben abholen kann.

Die nächste Kirche versteckt ihre Spiritualität nicht verschämt. Sie weiß um ihre Brunnenstube; sie sucht sie auf und bekennt sich zu ihr. Sie besteht aus Gelegenheiten, an denen und bei denen man einzeln und gemeinsam auf Gott hört, seinen Willen nicht bloß proklamiert, sondern kritisch zu identifizieren sucht, durchaus in der Unterscheidung von Prophetie und Falschprophetie; sie bietet Orte, an denen Menschen sich vergewissern, dass Gott sie liebt und dass das Bedeutung hat für ihr Leben; sie öffnet Räume, in denen Menschen bekennen und aussprechen können, dass sie im Leben nicht zurechtkommen, auch als Christen nicht, warum sie verzweifeln und was ihnen Not macht. Sie stellt darum eine Gemeinschaft dar, in der immer wieder neu erfahrbar und deutlich wird, dass wir nur Menschen sind: fehlbar, begrenzt, oft auch sich verfehlend – gegen sich selbst und andere. Kirche ereignet sich dann dort, wo Menschen einander das zusprechen können, was sie von sich aus kaum glauben, oft sich selbst nicht glauben können; dass es Möglichkeiten gibt, neu anzufangen und sich zu verändern. Zur Kirche in ihren tausenderlei, milieudeklinierten Gestalten kommt man dann, weil man sich hier neues Leben abholen kann.

Konsequenz 6: Die nächste Kirche ist schon da

Wo Christen gemeinsam, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise den Blick auf Christus richten, wird dann auch deutlich: Die „nächste Kirche“ ist schon da. Sie existiert bereits. Christus ist doch schon am Werk und baut Neues, während wir noch über den Untergang der Volkskirche lamentieren. Das ist die eigentlich gute Nachricht, das Evangelium für die, die über Kirche und ihre Zukunft nachdenken. Die Kirche ist schon da, wir müssen sie nicht erst machen.

Die lebendige, die wahre Kirche ereignet sich längst, auch jenseits unserer Regeln und Förmchen.

In der ersten Zeit der Corona-Epidemie war da der dringende Wunsch der Basis: Abendmähler auch ohne Pfarrpersonen, außerhalb der verbotenen Gottesdienste, als Orte der Vergewisserung der Nähe Gottes. Kirchenamtlich geht das aber eigentlich überhaupt nicht. Wenn das – zur Not – passieren soll, dann nur unter strengen Auflagen. Was passiert da? – Da will tatsächlich eine Jugendgruppe ihre Wochenendfreizeit mit Abendmahl abschließen, weil ihr das wichtig ist: die Gemeinschaft mit dem erhöhten Herrn. Aber eigentlich geht das ja nicht, es müsste eigentlich die zuständige Pfarrerin eingeflogen werden oder mindestens eine in einem Kurs geschulte und zertifizierte Beauftragte dabei sein, auch wenn sie eigentlich gar nicht dazu gehört und die Intimität der Gruppe stört. Was passiert da? – Da ist eine ungeheuer engagierte junge Frau, die ehrenamtlich bereits eine fantastische Jugendarbeit macht. Es wäre naheliegend, sie als Jugendreferentin einzustellen. Nur, sie ist charismatisch geprägt und gehört einer Freikirche an. Sie kommt nicht in Frage. Was passiert da? – Da ist der Strickkreis, der sich auf „private“ Initiative hin regelmäßig am Samstag-Vormittag trifft. Man tauscht sich aus, liest die Losungen und schließt mit Fürbitte. Argwöhnisch beobachtet die zuständige Pfarrperson diese ungeregelte, nicht kontrollierte und organisierte Form von geistlichem Leben. Dieser Kreis ist ihr gar nicht recht. Reicht nicht der Gottesdienst? Was passiert da? – Da ist eine Jugendkirche, die alle vier Wochen 500 junge Menschen anzieht; die Kirchenleitung verweigert ihr die Unterstützung mit der Begründung, sie biete „keine Gewähr auf Dauer“. Was passiert da?

Die lebendige, die wahre Kirche ereignet sich längst, auch jenseits unserer Regeln und Förmchen. Sie muss nur entdeckt, gewürdigt und ggf. unterstützt werden.

b) Konturen einer schwachen Kirche unter den Verheißungen eines starken Gottes2

Ein Neustart der Kirche ist nicht in erster Linie ein Orga-Problem oder eine Frage der richtigen, effizienten Organisation. Entscheidend ist die Haltung einer Kirche, die neu starten will. Ihre angemessene Gestalt gewinnt die nächste Kirche nicht durch Regeln, Normen, neue Modelle. Sie realisiert sie, wenn sie der gelegten christologischen Spur folgt und sich durch Vorbild, Auftrag und Präsenz Christi bestimmen lässt. Das kann bedeuten:

Kontur 1: Die nächste Kirche ist schwache Kirche

Sie ist ganz bewusst schwache Kirche, die ihr Überleben, ihre Existenz, ihr Bestehen nicht selber schaffen, garantieren, formen will; die nicht mehr primär nach ihren Ressourcen fragt, nach ihrem Ansehen und ihrer Stellung in der Gesellschaft; die nicht mehr ihre rechtlichen Privilegien (Kirchensteuereinzug, Staatskirchenverträge für die Theologenausbildung, Religion als Pflichtfach, Staatsleistungen für die Enteignung von Kirchen im 19. Jh., Militärdekane etc.), ihren Besitz und ihren Einfluss zu erhalten sucht. Sie ist eine Kirche, die nach dem Ende des Konstantinischen Christentums und einer anderthalb tausend Jahre währenden – vielfach verhängnisvollen – Amalgamierung von staatlicher Macht und kirchlicher Legitimation auf ihre weltlichen (im doppelten Sinne) Stützen entschlossen verzichtet; die nicht mehr eine alles abdeckende Volkskirche sein will; die auf die Position als moralische und ethische Instanz der Gesellschaft verzichtet; die alle Dominanzgebärden ablegt, mit denen sie immer noch ihren Einfluss zu sichern sucht. Sie ist schwache Kirche, die sich auf ihre Ursprünge besinnt und ihre Legitimation nicht in gesellschaftlicher Anerkennung, sondern im Auftrag des lebendigen Gottes sucht; die ihr Überleben nicht durch Staatskirchenverträge abzusichern sucht, sondern ganz offen und neu fragt: Was ist die Gestalt, die Kirche nach Gottes Willen haben soll? Was ist ihr Auftrag? Wie kann der aussehen, nachdem sich das Volk von seiner Kirche verabschiedet und ihr wegläuft? Die nächste Kirche versteht ihre Schwäche als ausgesprochene Chance, sich neu auf die Verheißungen Gottes zu konzentrieren und sich auf sie und nicht auf die eigenen Kräfte, Pläne und Ressourcen zu verlassen.

Kontur 2: Die nächste Kirche bekennt sich schuldig, bittet um Vergebung und bemüht sich um Wiedergutmachung

Ein Neustart in eine andere Gestalt von Kirche beginnt nicht im luftleeren Raum. Auch die nächste Kirche steht in Kontinuität zu den vergangenen Gestalten von Kirche, von denen man sich nicht abstrakt distanzieren kann. Die nächste Kirche kehrt bewusst um. Sie tut das glaubwürdig, indem sie ihre Schuld bekennt, die v. a. durch ihre Ehen mit den staatlichen Gewalten, mit den jeweils Mächtigen entstanden ist. Im kulturellen Gedächtnis fest verankert ist das Wissen um die Kirche als Büttel des Staates; um die Kontrollfunktionen, die die Kirche für den Staat wahrgenommen hat (Taufe und Registrierung der Neugeborenen), die Instrumentalisierung als moralische Instanz, die der staatlichen Obrigkeit Ruhe und der Kirche eine garantierte Position in der gesellschaftlichen Ordnung verschaffte; das oftmals bigotte Selbstverständnis, mit dem die Kirche als geistliche Ordnungsmacht („geistliches Schwert“) gerne für die sittliche Erziehung und die moralische Prägung der Menschen besorgt war – und ist. Postmoderne Abkehr, oft Abwehr von Kirche, hat hier eine ihrer Ursprünge. Ein Neustart kann nicht gelingen ohne die bewusste Abkehr von der immer noch „hinkenden Trennung“ von Kirche und Staat, die die Kirche vom Staat abhängig macht und ihr in den Augen sehr vieler Menschen Glaubwürdigkeit als geistliche Institution raubt. Ist das Kirche oder nur eine Behörde, die – durch den Staat – Steuern einziehen lässt und damit ihre special relationship zur staatlichen Gewalt ausnützt?

Ein Neustart kann nicht gelingen ohne die bewusste Abkehr von der immer noch „hinkenden Trennung“ von Kirche und Staat, die die Kirche vom Staat abhängig macht und ihr in den Augen sehr vieler Menschen Glaubwürdigkeit als geistliche Institution raubt.

Ein Verzicht auf ererbte und überkommene exklusive Rechte und Privilegien macht erst die Umkehr einer Kirche glaubwürdig, die der Bevölkerung nicht weiter ihre christlichen Überzeugungen aufdrängen will; die Buße darüber tut, dass sie diese über Jahrhunderte mit Machtmitteln durchzusetzen versucht hat; dass sie, um ihre Macht zu festigen und durchzusetzen, auch vor der Verfolgung und sogar der Tötung von Menschen nicht zurückgeschreckt ist (vgl. für die protestantische Konfession nur den Befehl des Reformators Calvin, Michael Servet auf Grund seiner trinitarischen Überzeugungen zu verbrennen); die bis in die Gegenwart hinein durch eine ethische Ambiguität glänzt: heiliger, hochkirchlicher bzw. höchster ethisch-moralischer Anspruch und massenhafter Kindesmissbrauch, verbunden mit der bis dato gegebenen Unfähigkeit, diese Skandale „aufzuarbeiten“ (geht das überhaupt?) oder auch nur angemessene „Entschädigungen“ (kann es die geben?) zu leisten. Kann es eine nächste Kirche geben, die all das Unrecht einfach übergeht und meint, sich davon absentieren zu können?

Kontur 3: Kirche, die am besten endlich einmal schweigt?

Könnte es nicht sein, dass der lebendige Gott die westlichen Kirchen, nachdem sie über 1000 Jahre das große Wort geführt haben, einfach einmal still stellen will? Könnte es sein, dass die Kirche des Wortes einfach mal keine Worte mehr macht? Dass sie still ist und schweigt? Dass sie einsieht, dass man ihre normativen Vorgaben einfach nicht mehr hören will, ganz gleich, ob sie fundamentalistischer oder pietistischer Natur sind oder postmateriell und also sozial-ökologisch motiviert sind? Halten wir das als Kirche aus, zu schweigen, keine weiteren Worte mehr zu machen; dass wir nicht mehr meinen, alles und jedes kommentieren und bewerten zu müssen? Schaffen wir es, dass wir „nur“ Hinweiser sind zu Christus und Weg-Weiser, die von sich selbst und ihren wahren, richtigen, überlegenen Positionen weg-weisen hin zu der Wahrheit, die doch allein Jesus Christus ist?

Kontur 4: Kirche, die aus der Vergebung lebt und deren Markenzeichen Barmherzigkeit ist

Angesichts des alles dominierenden Richtgeistes in unserer Gesellschaft könnte die Kirche ein Raum sein, in dem Menschen zu ihren Fehlern und Vergehen stehen und Vergebung erfahren können; sie könnte eine Gemeinschaft sein, die sich nicht dadurch auszeichnet, dass in ihr alle perfekt, fehlerlos, politisch korrekt oder „heilig“ leben; die vielmehr fehlerfreundlich ist, in der man fallen kann und wieder aufstehen darf; in der ein Neuanfang möglich ist, einmal, zweimal, dreimal, siebenmal. Was für eine Anziehung wird eine Kirche entfalten, deren Markenzeichen Barmherzigkeit ist; in der man davor sicher ist, verurteilt oder auch nur beurteilt zu werden, wenn die Fassade bröckelt, wenn sich Risse im ethischen Outfit zeigen und sich nicht gleich alle darauf stürzen und den Mund zerreißen? Wie wird sie Gescheiterte, Fehlgeleitete, Verurteilte, Gemobbte, Ausgegrenzte anziehen, die merken: Hier sieht man mich als Person, als Mensch, der Annahme und Anerkennung vielleicht nicht verdient, aber doch so dringend braucht?

Möglich ist eine solche Kirche dort, wo Christen dem Menschensohn folgen, der aufdeckt: Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!, und der der ertappten Sünderin zuspricht, nachdem ihre Kläger sich davon gemacht haben: „So verurteile auch ich dich nicht!“ (Joh 8,7.11).

Was für eine Anziehung wird eine Kirche entfalten, deren Markenzeichen Barmherzigkeit ist; in der man davor sicher ist, verurteilt oder auch nur beurteilt zu werden, wenn die Fassade bröckelt.

Eine Gemeinschaft von Sündern wird Urteilsverzicht üben, weil sie aus Menschen besteht, die wissen, dass sie selber Sünder sind, die aber erfahren haben, dass es Vergebung gibt. Eine solche Gemeinschaft wird weder durch Toleranz und ethische Lässigkeit zusammengehalten noch durch einen besonderen Grad von Verbindlichkeit und moralischem Commitment, sondern allein durch den gemeinsamen Blick auf den Gekreuzigten. Einen solchen Ort der Befreiung kann es ohne eine Kreuzesspiritualität nicht geben. Es wird dann aber ein Ort sein, zu dem nicht nur die kommen, die besonders heilig und ohnehin schon rein sind, sondern auch die, die von Ferne stehen (Lk 12) und gar nicht zu hoffen wagen, dass es für sie eine Perspektive für neues Leben, einen Neuanfang geben kann.

Kontur 5: Die nächste Kirche – ein Ort zum Leben, mitten im Leben

Die nächste Gemeinde ist nicht Gemeindekirche, sondern Gemeinschaftskirche. Sie ist nicht eine Veranstaltung, die es auch noch gibt, neben dem Leben, an den Rändern der Woche und des Alltags, sondern in der Woche und im Alltag. Sie ist kein – im Prinzip überflüssiges – add on, das es auch noch gibt, weil und wenn man religiös ist und entsprechende Bedürfnisse hat. Sie steht mitten im Leben. Sie ist, lebt und agiert dort, wo Menschen zusammenkommen. Sie ist ein Ort oder besser: besteht aus Orten, an denen elementare Bedürfnisse gestillt werden. Diese Gemeinde passiert, wo Christen anderen Christen und Nicht-Christen begegnen, wo man Leben teilt: auf dem Schwätzbänkle, beim Verlassen des Supermarkts auf dem Parkplatz, wo man sich g’schwind Zeit nimmt, und auf dem Stuhl bei der Podologin, im Nagelstudio oder beim Friseur, speziell aber dort, wo gemeinsames Essen und Feiern eine besonders intensive Erfahrung von Gemeinschaft ermöglicht; wo Gastfreundschaft geübt wird; wo es kein Problem ist, wenn das eigene Kind zum Mittagstisch eine Mitschülerin mitbringt.

Diese sich bei tausend Gelegenheiten ereignende Gemeinde findet mitten im Leben statt, überall dort, wo sich Räume des Hinhörens öffnen: wo Menschen sich mitteilen dürfen; wo sie reden dürfen über das, was sie umtreibt und was ihnen Not macht; wo sie die Erfahrung der kleinen Hilfe machen dürfen. Wo ein Mensch einen anderen in den Horizont der Möglichkeiten Gottes stellt und ihm Mut macht; wo ein Gespräch abgeschlossen werden kann, aber nicht muss mit der Zusage: Ich bete für dich, und mit der konkreten Frage: Kann ich helfen? Die Gemeinschaftskirche wird zur Veranstaltung, die die Alltagsdiakonie zurückgewinnt und so die sicher weiter notwendige professionelle Diakonie ergänzt, die freilich nicht alles abdecken kann und an die die kleine Hilfe nicht wegdelegiert werden kann, wenn Gemeinde nicht zum religiösen Verein degenerieren soll, in dem nur schöne Worte gemacht werden. Ein diakonisches Netz – „Menschen helfen Menschen“ – spannt sich über diese Gemeinschaftskirche, das – gar nicht bis ins letzte organisiert – die Herausforderungen an alten, pflegebedürftigen, einsamen, aktuell kranken, kontaktbedürftigen Menschen erreicht. Die gute alte Gemeindeschwester, die von einem privaten Verein angestellt wird, ist für die Gemeinschaftskirche womöglich wichtiger als ein hauptamtlicher Geistlicher. Sie kommt regelmäßig in die Wohnungen, weiß, wo es brennt, kann weitere Begleitung und Hilfe organisieren. Es gibt Personen, die bekannt sind und die als Anlaufstelle dienen, wenn man ein Problem hat, und die so vernetzt sind, dass sie Hilfestellungen organisieren können.
Gemeinde kann sich dann verdichten in speziellen Gemeinschaftserfahrungen, die hilfreich sind und aufgesucht werden, weil „ich“ mit meinen Fragen, Anliegen, Problemen hier vorkomme. Zum Gottesdienst gehe ich dann nicht, weil es Sonntag-Morgen 10 Uhr ist, sondern weil ich ihn brauche; weil ich mit dem, was mein Leben ausmacht, dort vorkomme. Und für diesen Gottesdienst muss ich mich nicht schämen, ich kann und werde andere zu ihm einladen, weil klar ist, wie hilfreich sie ihn empfinden werden.

Gemeinde extra, außerhalb der Lebenszusammenhänge, ist für die nächste Kirche überflüssig wie ein Kropf. Man braucht nicht noch einen Termin, den man nur deshalb durch persönliche Anwesenheit bedient, weil es Erwartungen gibt, dass Stühle und Bänke gefüllt werden.

Die nächste Gemeinde besteht aus tausend Andockmöglichkeiten, reicht über ihre Mitglieder in die unterschiedlichsten Lebenswelten hinein.

Die nächste Gemeinde tut nicht, was andere auch schon – vielleicht sogar besser und professioneller – tun. Sie konzentriert sich nicht auf Aufgaben, sie nimmt Menschen wahr. Sie erkennt, wo der Staat ausfällt, wohin seine Einrichtungen nicht reichen; wo die Zivilgesellschaft bei aller Aufmerksamkeit versagt. Sie kümmert sich deshalb v. a. um die Menschen, die einsam sind, immer mehr vereinsamen und verkümmern. Sie finden sich sowohl in auffallend hoher Zahl in der jüngeren Generation als auch im Alter, in dem Freunde und Bekannte weniger werden und der eigene Lebens- wie Kommunikationsradius sich immer weiter eingrenzt. Sie sieht die, die durch Flucht, Leben in der Fremde und Isolation traumatisiert sind und dringend Menschen als Ansprechpartner brauchen, auch wenn sie äußerlich versorgt sind.

Die nächste Gemeinde besteht aus tausend Andockmöglichkeiten, reicht über ihre Mitglieder in die unterschiedlichsten Lebenswelten hinein. Sie ist soziokulturell vielfältig. Sie folgt für ihre Veranstaltungen nicht nur einem Gemeinschaftsformat, das sie für das normale, einzig sinnvolle und richtige hält, sondern orientiert sich an dem, wie Menschen ihre jeweilige Lebenswelt gestalten. Sie lässt sich in ihren soziokulturell divers geprägten Gliedern auf diese unterschiedlichen Milieus ein3. Sie verzichtet auf die traditionelle Komm-her-Erwartung, sie geht hin zu den Menschen, die sie erreichen will; sie ist ja schon ganz natürlich mit ihnen unterwegs. Sie bietet Kontaktmöglichkeiten, die sie in der Regel gar nicht organisieren muss, weil sie schon da sind und nur darauf warten, entdeckt und „theologisch qualifiziert“ zu werden.

Kontur 6: Die nächste Kirche – keine Zweiklassengesellschaft

Die nächste Kirche überwindet die faktische Zweiklassengesellschaft mit ihrer Trennung von Laien und Hauptamtlichen. Sie überwindet die protestantische Selbsttäuschung eines allgemeinen Priestertums der Gläubigen und nimmt endlich die „ganz normalen Christen“ in die Verantwortung. Sie hört auf, alleine auf Theologen zu setzen, und stellt interdisziplinäre Teams auf. V. a. aber schleift sie die elende Tradition der Unterscheidung von theologischen Hauptamtlichen und sonstigen Gemeindegliedern/„Laien“, – eine Unterscheidung, die ja schon begrifflich eine Diskriminierung bedeutet und Menschen sowohl überfordert wie in die Passivität schiebt. Sie überwindet damit das nahezu zwangsläufig sich ergebende boddle-nek, das bei Hauptamtlichen dadurch entsteht, dass im Zweifel sie – als die, die man doch bezahlt – verantwortlich sind; sie überwindet die nahezu zwangsläufig entstehende Entmündigung der Gemeindeglieder, die entsteht, wenn man einen Theologen zum Hauptverantwortlichen macht. Sie lässt die Ausrede „keine Zeit“ nicht gelten. Sie konzentriert sich auf die notwendigen Aufgaben. Und für die gibt es durch Priorisierung Zeit. Findet sich keine Zeit und kein Geld, ist die Wahrnehmung dieser Aufgabe ganz offenbar auch nicht notwendig, sondern nur eine wünschenswerte Kür. So konzentriert sich die nächste Kirche auf das Wesentliche und findet dafür auch die notwendigen Ressourcen.

Die Gemeindekirche wird nicht zu groß. Bevor die Übersicht verloren geht und Menschen aus dem Blickfeld geraten, teilt sie sich oder bildet Untergruppen

Sie integriert Glieder und lädt Gäste entsprechend ihren Gaben und Prägungen zur Mitarbeit ein. Die eine kann gut organisieren, der andere gut Stühle stellen und Kisten schleppen; die Dritte kann gut auftreten, der andere sucht Menschen auf und geht ihnen nach. Die eine hat juristische Expertise und kann beraten, der andere handwerkliche Kompetenzen. Die eine steht gerne in der ersten Reihe, der andere wirkt lieber im Hintergrund.
Die Gemeindekirche nimmt die, die sich in ihr oder auch nur an ihrem Rand bewegen, dadurch ernst, wertet sie auf, verschafft ihnen die Möglichkeit der Erfahrung der Selbstwirksamkeit und Anerkennung.

Die Gemeindekirche wird nicht zu groß. Bevor die Übersicht verloren geht und Menschen aus dem Blickfeld geraten, teilt sie sich oder bildet Untergruppen. Sie kommt nicht ohne die notwendige Organisation und Regeln aus. Diese werden aber regelmäßig überprüft, angepasst, gekürzt und nicht erweitert. Kriterium ist die Lebensdienlichkeit. Es gibt Verantwortliche, die darauf hinwirken, dass sich Orga und Admin, dass sich Regeln und Ordnungen nicht verselbständigen, ein Eigengewicht gewinnen und letztlich Beziehungen und Begegnungen einschränken oder behindern.
Die Glieder der Gemeinschaftskirche achten darauf, dass die Leitung ein interdisziplinäres Team darstellt, in dem verschiedene Kompetenzen, Ressourcen, Lebensalter, Milieus, Interessen vertreten sind.

Braucht man eine Person, die mit der Gründung oder Begleitung einer frisch gegründeten Gemeinde beauftragt wird, so ist das in der nächsten Kirche nicht automatisch ein Theologe. Es kann Begabungen und Befähigungen geben, die – z. B. bei Gemeindegründungen – wichtiger sind als altphilologische Kenntnisse, etwa Entrepreneurship.

Kontur 7: Die nächste Kirche ist ein Rhizom

Die nächste Kirche folgt nicht dem Bild eines in seinem Werden und seiner Orga vorbestimmten Baumes. Sie ist ein Rhizom, ein vielwurzeliges, in sich verflochtenes System, das sich nicht einfach in vereinfachenden, beschränkenden Strukturen und Dichotomien – wie Hauptamtlich und Ehrenamtlich, Laie und Theologe, Gottesdienst und Alltag – abbilden lässt: „Ein Rhizom kann an jeder beliebigen Stelle gebrochen und zerstört werden, es wuchert entlang seiner eigenen oder anderen Linien weiter.“ (Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin 1992, 16) Die Gestalt der nächsten Kirche ist nicht vorgegeben, sondern folgt den Bedürfnissen und Gegebenheiten. Sie ist maximal anpassungsfähig und effizient. Ihre Form folgt ihrer Funktion, in der Nachfolge des Gekreuzigten, Auferstandenen und Erhöhten eine Rettungsbootgemeinschaft zu sein. Sie ist mobil, flexibel und temporal. Konkret kann das bedeuten:

  • Sie ist lokal orientiert, mit regionaler Ausstrahlung; sie kann sich im Quartier kontextualisieren oder aber auch eine überregionale, etwa expeditive Funktionsgemeinde auf Zeit sein;
  • Sie darf ausprobieren und sie darf scheitern;
  • Sie bietet verbindliche Mitgliedschaft an und Mitgliedschaft auf Probe;
  • Sie bietet Heimat an, die verlässlich ist und organisiert dafür einen entsprechenden Rahmen, und sie ist Gemeinschaft auf Zeit, aus einem bestimmten Anlass und für einen bestimmten Zweck;
  • Sie wird im Regelfall die Insellösung bevorzugen, die sie aus Systemzwängen herauslöst, die sie nicht kontrollieren kann; sie kann sich aber unter bestimmten Bedingungen auch übergeordneten Zusammenschlüssen, etwa Interessengemeinschaften, anschließen;
  • Sie bietet denen Heimat, die ein verbindliches geistliches Zuhause wollen, incl. Konstanzen von Ort, Zeit und Personen, und sie schafft die Möglichkeit, sich individuell zu Glaube und Gemeinde zu verhalten; sie ermöglicht zwangloses, „ungefährliches“, weil unverbindliches Schnuppern, ohne dies zum Maß des Christlichen zu machen; sie ermöglicht Phasen der intensiven Partizipation ebenso wie Zeiten der Distanz und des Rückzugs; und sie ist so mit anderen Gemeinschaften vernetzt, dass sie Menschen, die in ihrer Prägung nicht das finden, was sie brauchen und leben wollen, an andere Gruppen von Christen weiterempfiehlt;
  • Sie weiß und erfährt ihre Einheit in der gemeinsamen Loyalität der ja so Unterschiedlichen zu Jesus Christus4. Ihre Einheit ist nicht „gemacht“, sondern wird als geschenkt erfahren; sie ist nicht organisiert, sondern wird erlebt. Sie sucht die Einheit weder in der Uniformität von Kleidung, Habitus oder allein richtiger Theologie, mit der man ausscheiden kann, was nicht passt/richtig ist; noch in unreflektierter, gedankenloser Diversität, die nur Gegensätzliches addiert. Sie ist offen für das Andere, neugierig, wie das Wirken des Heiligen Geistes sich im Leben ganz unterschiedlicher Menschen manifestiert. Sie nimmt ihre instinktiven Aversionen gegen das und den Anderen wahr und bekämpft ihre Ekelschranken gegen das Andere, das mich in Frage stellt, als geistliche Herausforderung. Sie entdeckt, was Christus dem, der so ganz anders ist als ich und wir, geschenkt und anvertraut hat.

Kontur 8: Die nächste Kirche versteht sich als Teil des Reiches Gottes

Die nächste Kirche versteht sich als Teil des Weinbergs Gottes, der definitiv größer ist als sie5. Sie spricht nicht von sheap-stealing und Transferwachstum. Sie überwindet die letzten Reste einer manchmal immer noch vorhandenen Platzhirsch-Mentalität. Sie kann neidlos anerkennen und davon lernen, was der lebendige Gott in anderen Gemeinden und Kirchen wirkt. Sie freut sich, wenn Christen in anderen Gemeinden evtl. besser zurechtkommen. Sie sieht sich nicht als Selbstzweck, sondern als Teil eines größeren Ganzen, das der Ehre Gottes und dem Leben der Menschen dient.

Sie schaut nicht scheel auf Errungenschaften von Nachbargemeinden und widersteht der Versuchung, diese auch bei sich zu etablieren, um ihre Glieder (fest) zu halten. Sie fragt vielmehr nach der ihr speziell anvertrauten Aufgabe in der größeren, sie umfassenden Einheit des Reiches Gottes. Sie sucht, sich im Kontext der anderen Gemeinden zu spezialisieren und ihren besonderen Auftrag zu erkennen. Sie lebt mit anderen Gruppen von Christen in der Region eine gabenorientierte Delegation von Aufgaben. Sie fischt nicht auch noch wie schon 80 % der bestehenden Gemeinden im Karpfenteich der bürgerlichen Mitte, sondern fragt, welche Lebenswelten denn ihre spezielle Zielgruppe sein sollten; was sie durch ihre Lage, ihre Zusammensetzung und ihre Ressourcen speziell für welche Ausrichtung qualifiziert.

Sie sieht sich nicht als Selbstzweck, sondern als Teil eines größeren Ganzen, das der Ehre Gottes und dem Leben der Menschen dient.

Sie arbeitet mit den anderen Christen, Gruppen, Gemeinden und Gemeinschaften vor Ort zusammen; sie stärkt Arbeitsgemeinschaften wie ACK und Evangelische Allianz; sie sucht den Schulterschluss mit anderen Christen, aber nicht nur organisatorisch, sondern lebt ihn und gibt ihm konkrete Gestalt durch Zusammenarbeit und gemeinsame Auftritte. Sie organisiert eine gemeinsame Plattform der Christen und Gemeinden vor Ort und in der Region, die über eine gemeinsam betriebene Homepage und eine entsprechende Seite in der Lokalzeitung betrieben wird. Sie dokumentiert damit: So vielfältig ist Kirche und trotzdem eine. Sie organisiert dreimal im Jahr Feste des Glaubens, in denen die verschiedenen Gemeinden gemeinsam auftreten und ihren Glauben feiern. Sie respektiert konfessionelle Prägung, überwindet sie aber durch den konkret gelebten gemeinsamen Glauben.

c) Mission oder Mainstream: die nächste Kirche und ihre Rolle in der Öffentlichkeit

Provokation 1: Nicht die Pfarrperson macht die entscheidende Öffentlichkeit von Kirche aus

Im Gegensatz zu den Ergebnissen der v. a. letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen, die immer noch eine Pfarrerzentrierung nahelegen, sind nicht der Pfarrer und die Pfarrerin, im schrecklichen, aufgezwungenen Bürokratendeutsch: die Pfarrpersonen, die wichtigsten Kommunikationsmittel von Kirche, sondern die GanoChris, die ganz normalen Christen. Christen stehen in ihrem Alltag für das, was christlicher Glaube ist; 24/7 stehen sie faktisch unter Beobachtung, lesen die Mitmenschen an ihnen ab, was es denn wohl bedeutet, Christ oder Christin zu sein; wie man als Christ mit anderen Menschen, auch mit seine:r Partner:in umgeht; wofür man sein Geld ausgibt, wie man seine Kinder erzieht, wie man über andere redet, ob und wie man Verantwortung übernimmt, für andere einsteht, und: v. a., wichtiger als alles schon Genannte: Wie man mit den – nahezu unausweichlichen – Erfahrungen von Scheitern umgeht; woher man die Kraft nimmt, neu anzusetzen, auch um Vergebung zu bitten. Fehlt diese Dimension, wird Glaube zu einer moralischen, im Endeffekt bigotten Veranstaltung, und die Menschen um uns herum durchschauen ein Fassadenchristentum, das auf sie alles andere als anziehend wirkt. Nicht der Klerus, die ganz normalen Christen sind das Aushängeschild für das, was es heißt, als Christ, aus dem Evangelium zu leben. Noch nicht einmal die Bibel ist das Kommunikationsmedium Nummer 1; es sind die GanoChris, die – so Paulus – „ein Brief Christi“ sind.

An ihnen lesen die Mitmenschen ab, was es bedeutet, Christ oder Christin zu sein; wie man als Christ mit anderen Menschen, auch mit seine:r Partner:in umgeht; wofür man sein Geld ausgibt, wie man seine Kinder erzieht, wie man über andere redet, ob und wie man Verantwortung übernimmt, für andere einsteht.

Die nächste Kirche nimmt das ernst. Sie verlagert den Schwerpunkt ihrer Ausbildungs- und Schulungsaktivitäten weg vom Akademisch-intellektuellen – Stichwort: ist für die Hauptamtlichen Hebräisch-Lernen nötig oder nicht? – hin zur Schulung ihrer ganz normalen Gemeindeglieder. Das alte, etwas militaristische Wort dafür ist: Zurüstung. Die GanoChris der nächsten Kirche sind sprach- und argumentationsfähig, und sie delegieren diese Aufgabe nicht an den dafür zuständigen Pfarrer. Sie sind mündig im Glauben, weil sie ihr Christsein selbstverantwortet leben und erklären können: elementar, adressatenbezogen und argumentativ. Und sie wissen, dass das Leben mehr zählt als tausend Worte. Sie leben ihren Glauben profiliert, im besten Sinne „frag-würdig“. Sie müssen nicht viele Worte machen, und wenn andere sie (be-)fragen, können sie Auskunft geben.

Provokation 2: Die nächste Kirche tut Buße für ihre Verbotskultur und stellt die freimachende Wahrheit des Evangeliums in ihren Mittelpunkt

Die nächste Kirche zeichnet sich nicht mehr dadurch aus, dass sie in der Öffentlichkeit für eine Verbotskultur steht, die sie bezeichnenderweise sowohl konservativ-traditionell, im römischen Katholizismus, Fundamentalismus wie (Neu-)Pietismus, als auch linksprotestantisch und woke beeinflusst (vgl. nur die Verlautbarungen der EKD-Kultur) dominiert. Die nächste Kirche gewinnt Glaubwürdigkeit dadurch, dass sie nicht mehr für eine Verbotskultur steht, die besserwisserisch, mit moralischem Zeigefinder, mit blindem Fleck für die eigenen Versäumnisse, in seltsamer Unsensibilität dafür, dass man sie postmodern einfach nicht mehr hören mag, immer noch meint, den Menschen in unserer Gesellschaft vorschreiben zu können, wie sie zu reden und zu leben, wie sie zu denken und zu handeln haben. Sie verzichtet sowohl auf den Habitus eines autoritären Offenbarungsdenkens, das Menschen entmündigt, indem es sich die Wahrheit Gottes aneignet, mit den eigenen Auffassungen identifiziert und so Macht zu gewinnen sucht über andere. Sie verzichtet ebenso auf einen autoritären Aufklärungshabitus, der meint, es besser zu wissen und darum anderen Vorgaben machen zu können, sich dabei aber, statt Menschen zu befreien und zur Mündigkeit zu verhelfen, erneut zum Vormund macht.

Die nächste Kirche muss das Evangelium nicht mehr ethisieren, weil sie es verloren hat. Sie lebt aus dem Evangelium, und das reicht ihr.

Provokation 3: Die nächste Kirche ist nicht mehr Mainstream-Kirche, oder sie ist nicht mehr

Die nächste Kirche kennt ihren Markenkern. Sie steht nicht mehr in der Gefahr, sich in der Gegenwartskultur aufzulösen. Sie banalisiert sich nicht dadurch selbst, dass sie nachplappert, was ihr Meinungseliten vor-sagen, ganz gleich ob diese konservativ-gehoben oder postmateriell geprägt sind. Sie hat ihre eigene Stimme. Sie versucht nicht mehr Mainstream zu sein, sondern hat ihre Mission (wieder-)gefunden: Sie ist Teil der Mission Gottes, diese Welt zu retten.

Sie schätzt eine Kultur der Anerkennung, der Liebe und Hinwendung zum Nächsten. Aber wäre das ihr Markenkern und wären das die Kennzeichen von Kirche, hieße das, entweder zu bestreiten, dass es Nächstenliebe und gute Werke auch außerhalb der Kirche gibt; das wäre aber höchst unmoralisch und wenig überzeugend: Man muss nicht Christ sein und zur Kirche gehören, um gute Werke zu tun und ein anständiger Mensch zu sein; oder es hieße: den Begriff und den Bereich der Kirche so zu dehnen, dass er keinen Sinn mehr macht, weil er dann alle Menschen guten Willens umfasst. Kirche hätte sich dann am Ende selbst aufgegeben. Sie ginge dann auf in einer säkularen, auch außerhalb der Kirche existierenden Kultur, die sie beerbt.

Die nächste Kirche verzichtet darauf, einen sich vom Christentum angesichts seiner Missbrauchsgeschichte gerade distanzierenden postchristlichen Humanismus noch einmal christlich taufen, umgreifen und gegen seinen Willen vereinnahmen zu wollen. Sie profiliert sich, indem sie deutlich macht:

  1. Kirche ist da, wo Menschen sich, ihr Leben und ihr Handeln von Jesus Christus her verstehen.
  2. Kirche ist da, wo man die Geschichte Jesu weiterschreibt und Teil von ihr wird, indem man sich ihr anschließt (Röm 6).
  3. Sie lebt noch einmal aus anderen Kräften als eine praktische Vernunft, die sich zwar rational begründen kann, der aber die Kraft fehlt, „in profanen Gemütern ein Bewusstsein für die weltweit verletzte Solidarität, ein Bewusstsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wachzuhalten“, wie kein Geringerer als Jürgen Habermas feststellt (Ein Bewusstsein von dem, was fehlt).

Provokation 4: Die nächste Kirche ist nicht fromm, im Sinne von zurückgezogen; sie stellt sich den gesellschaftlichen Herausforderungen, aber sie tut es in einer spezifisch christlichen Weise

Die nächste Kirche gewinnt ihre Identität nicht dadurch, dass sie tut, was alle oder schon viele tun. Sie konzentriert sich zum einen auf das, was zu tun nötig wäre und was so wenige oder was niemand tut. Sie findet ihre Aufgabe darin, dass sie sich denen zuwendet, die verlassen, übersehen und missachtet sind; die nicht oder kaum gesprächsfähig sind oder die in den gesellschaftlichen Leitdiskursen auch gar nicht als gesprächswürdig gelten.

Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit wären die v. a. alten und dementen Menschen, die man in der Zeit der Pandemie aus gesundheitlichen Gründen über Monate einer Isolation unterzogen hat, die einem Entzug des Lebensnotwendigen gleichkommt; oder auch die Schulschließungen, die in weit überdurchschnittlichem Maße gerade die benachteiligt haben, die im Leben ohnehin kaum Chancen besitzen: die Kinder und Jugendlichen aus sozial schwachen Familien, die den Verlust von Schule als soziale Größe und kognitive Förderung anders als Kinder aus Akademikerhaushalten nicht auffangen konnten. Hier haben die Kirchen versagt. Sie hätten sich zur Stimme dieser Gruppen machen, Widerstand wagen und Defizite mit ihren erheblichen Ressourcen auffangen müssen. Dagegen ist man den Vorgaben des Staates und seiner einseitigen Fokussierung auf Gesundheit im Sinne einer rein naturwissenschaftlichen Medizin nahezu widerspruchslos gefolgt.

Wenn die nächste Kirche auf gesellschaftliche Herausforderungen zugeht, die schon andere angenommen haben, dann zeigt sie dadurch ihr Profil, dass sie diese noch einmal ganz anders angeht.

Aktuell ist es beispielsweise und v. a. die mentale Not, unter der sehr viele Menschen leiden: durch Einsamkeit im Jugendalter wie im hohen Alter, aufgrund von Traumatisierung durch Flucht und Vertreibung. Kirchen und Christen dürfen hier Schwerpunkte setzen. Es reicht ja nicht, wenn politisch Millionen von Menschen die Einreise nach Deutschland ermöglicht wird. Wer hilft ihnen, mit ihren schrecklichen Erfahrungen umzugehen und neu Heimat zu finden? Es reicht nicht, die Renten zu erhöhen und Menschen materiell zu versorgen, dabei aber ihre psychische Not zu übersehen.

Wenn die nächste Kirche auf gesellschaftliche Herausforderungen zugeht, die schon andere angenommen haben, dann zeigt sie dadurch ihr Profil, dass sie sie noch einmal ganz anders angeht. So ist z. B. die soziokulturelle Segmentierung und Fragmentierung unserer Gesellschaft lange erkannt und ausreichend beschrieben. Die nächste Kirche stimmt nicht ein in die unsere Gesellschaft nur noch weiter spaltenden wechselseitigen Verurteilungen und Opfer-Täter-Zuweisungen. Sie verwundet nicht, sondern verbindet. Sie verurteilt nicht, sondern wendet sich zu. Sie reißt nicht weitere Gräben auf, sondern sucht zu verstehen und Brücken zu bauen. Sie verweigert sich den üblichen Opfer-Täter-Zuschreibungen und sieht den Menschen.

Provokation 5: Die nächste Kirche ist Wegweiser, indem sie von sich weg weist auf Christus

Hier lauert die vielleicht größte Provokation, die vielleicht am schwierigsten zu bewältigen ist. Die nächste Kirche fällt dadurch auf, dass sie sich nicht selbst behauptet, im doppelten Sinne. Sie verzichtet darauf, um ihr Überleben als Institution zu kämpfen; sie betreibt keine konfessionelle Selbstbehauptung. Sie ist nicht primär mit sich und „ihrer“ Theologie beschäftigt; sie verbraucht ihre erheblichen Ressourcen nicht zu ihrem Fortbestand. Sie fragt bei jeder ihrer Entscheidungen: Dient das nur der Selbsterhaltung oder sind wir damit Teil der Mission des dreieinigen Gottes? Sie stellt nicht sich, sondern Christus ins Schaufenster. Das dient dann freilich auch ihrer Selbsterhaltung. Denn während sich breite Schichten der Bevölkerung von den großen Kirchen abwenden, findet Jesus Christus weit über den Bereich des Christlichen hinaus immer neu Beachtung. Die nächste Kirche achtet darauf, dass sie nicht sich selbst, sondern ihn behauptet. Sie wird zum Wegweiser auf Christus als die eigentliche Quelle des Lebens, indem sie von sich weg-weist auf ihn6. Und sie löst genau damit die Frage aus, was sie eigentlich ausmacht und was ihr die Kraft zu einem solchen, dem natürlichen Willen zum Überleben, zur Macht und zur Verdrängung der Konkurrenz widerstrebenden Verhalten gibt.

d) Ausbildung und Theologie

1. Der Iststand: Warum es so nicht weiter geht

V.a. beim Thema Ausbildung verabschiedet sich die nächste Kirche von alten Bildern, Idealen und Traditionen, die sie behindern, ja fesseln und die notwendige Transformation verhindern. Die Ausbildung muss sich grundsätzlich richten nach den Bedürfnissen der Gemeinden und deren Mitarbeiter. Was brauchen Christen in dieser Welt, in dieser hochspezialisierten, multikulturellen, mental fragmentierten Gesellschaft? Wie können sie sich – die Kirche – kommunizieren, wie können sie sie neu lozieren, wenn der Platz in der Mitte der Gesellschaft nicht mehr existiert; wie können sie Kirchen an den sich neu bildenden, völlig säkularen Arealen neu etablieren, also neue Kirchen gründen, aber auch: Wie können sie Kirchen geordnet schließen, Gemeinden theologisch verantwortet und seelsorgerlich begleitet „beerdigen“?

Der alte Weg ist obsolet, auch wenn viele Kirchenleitungen und Fakultäten verzweifelt versuchen, auf ihm weiterzugehen. Bis 2030 gehen EKD-weit ca. 7000 Pfarrer in den Ruhestand. Aktuell müsste der theologische Nachwuchs für das parochiale System ausgebildet werden. Es haben aber in ganz Deutschland an allen 19 evang.-theologischen Fakultäten im Wintersemester 2022/23 nur insgesamt 143 Studierende das Theologiestudium mit dem Ziel „Kirchlicher Abschluss“ aufgenommen. Realistisch eingeschätzt gehen von den 143, die begonnen haben, 100 ins Pfarramt. Im Ergebnis stehen dann 7000 frei gewordenen Stellen gerade einmal 700 neue Pfarrer und Pfarrerinnen gegenüber. Selbst wenn die Hälfte der Stellen gestrichen würde, was de facto eine Überdehnung und ein Zerreißen des parochialen Netzes nach sich ziehen würde, stünden die 700 Theologen und Theologinnen immer noch 3.500 zu besetzenden Stellen gegenüber. Eine nicht zu bewältigende Herausforderung!

2: Zeichen der Hoffnung: Warum es weitergehen kann

Während die theologischen Fakultäten um jeden einzelnen „Volltheologen“ kämpfen und der Fakultätentag mit Argusaugen darüber wacht, dass nur ja keine alternativen Zugänge zum geistlichen Amt geöffnet werden, laufen an privaten theologischen Hochschulen lebensweltbezogene, missionarisch offene und sozial relevante Studiengänge wie „Theologie und soziale Arbeit“ über. Der Hintergrund ist sehr ermutigend und überhaupt kein Anlass zur Klage: Junge Menschen wollen sich für ihren Glauben engagieren; wollen gesellschaftliche Relevanz von Gemeinden; wollen sich aus der spirituellen Kraft der erlebten Gegenwart Gottes der säkularen Herausforderung in ihren vielerlei Gestalten stellen; wollen eine Theologie, die ihrem Glauben dient, ihn befruchtet und hilfreich in Frage stellt. Da kommt also schon Neues. Da sind Menschen also schon bereit für die nächste Kirche. Da gibt es ein enormes Potential an jungen Menschen, die bereit sind, diese Kirche zu bauen. Was sie aber im Regelfall nicht wollen, ist: 5 Semester lang alte Sprachen lernen, als Vorbedingung dafür, ein Theologiestudium überhaupt aufnehmen zu können; was sie nicht schätzen, ist eine Theologie, die ihre Gemeindeferne als Ausweis ihrer Wissenschaftlichkeit begreift; was sie ablehnen, ist einen einem methodischen Atheismus verpflichteten Umgang mit den biblischen Texten, der in keiner Weise vermittelt ist mit der eigenen Erfahrung der Bibel als dem Buch, das spricht; was ihnen pervers erscheint, ist eine Bibelkritik, die nicht positiv bezogen ist auf die erfahrene Autorität der Bibel als Urkunde und normatives Fundament des Glaubens7.

3: Wie die nächste Kirche ausbildet8

Die nächste Kirche geht nicht von den vorhandenen Strukturen aus und versucht nicht, weiterhin für sie auszubilden. Sie fragt vielmehr: Wie sieht die Zukunft der Kirche aus und wie muss eine Ausbildung für diese Kirche aussehen? Sie bemüht sich nicht – ziemlich aussichtslos –, die Zahl der Theologiestudierenden zu erhöhen, die sich auf die vorhandenen Strukturen und die entsprechende, alles in allem ca. 10 Jahre in Anspruch nehmende Ausbildung zum Pfarrer einlassen. Sie realisiert vielmehr, dass das zusammengebrochene Interesse am Theologiestudium nicht zu trennen ist von dem Bild und der Wirklichkeit der Kirche, für die es ausbilden soll. Sie versucht nicht mehr, Menschen für die vorgefundenen, bestehenden Formen zu formen, sondern (1) von der zukünftigen Kirche her zu denken und (2) das vorhandene, real gegebene Potential von jungen Menschen, die sich immens für Kirche und Reich Gottes engagieren wollen, zu nutzen.

  • Sie hat nicht v. a. die Hauptamtlichen im Blick, sondern die ganz normalen Christen. Nicht möglichst hohe Professionalität, sondern Zurüstung der GanoChris ist das Ziel. Diese müssen begleitet werden. Zudem sind duale Ausbildungen für die weiter notwendigen Hauptamtlichen interessant, die damit nicht nur innerkirchlich unterwegs sind, sondern in die säkulare Arbeitswelt integriert sind und die in der Lage sind, sollte das nötig werden, mindestens einen Teil ihres Lebensunterhaltes selbst zu bestreiten.
  • Sie hat nicht Theologen im Fokus, sondern versteht diese als Teil eines multidisziplinären Teams aus Soziologen/ Sozialarbeitern, Pädagogen/ Erzieherinnen, Entrepreneuren und Volkswirtschaftlern.
  • Sie achtet auf eine Ausbildung im Angesicht und im Horizont des späteren Arbeitsfeldes. Sie verschiebt den Praxisbezug nicht in eine zweite Phase, sondern integriert Praktika in das Studium und hilft schon so, Studieninhalte ganz anders anzugehen. Sie bietet duale Studiengänge an, die von vornherein eine breitere Perspektive bieten, aber ebenso auch Möglichkeiten der berufsbegleitenden Vertiefung und Weiterbildung.
  • Sie bemüht sich um eine Integration von pietas und scientia. Sie weiß, dass wieder zusammenfinden muss, was aufs Engste zusammengehört, wenn die Wissenschaft nicht gottlos und die Frömmigkeit nicht unkritisch und verführbar werden soll9.
  • Sie ergibt sich nicht einer postkantianischen Trennung von Glauben und Wissen; sie weiß, dass Glaube und Glaubenskommunikation Gründe braucht, und sie fördert eine (selbst-)kritische Apologetik.
  • Sie verabschiedet nicht unkritisch den modernen Wissenschaftsbegriff, aber sie steigt in ein kritisches Gespräch mit ihm ein und fragt nach den Schwächen eines „methodischen Atheismus“ (Ausschluss bzw. Zurückstellen des Gottesgedankens; Imperativ: Die Welt allein aus der Welt erklären!), der im Bereich der Theologie notwendig in einem Gegensatz zu seinem Gegenstand steht. Sie lässt sich nicht ein auf die Ausschaltung des Gottesgedankens.
  • Sie verabschiedet sich von den theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten. Deren Tage sind ohnehin gezählt, weil die bisherigen Vereinbarungen angesichts der drastisch zurückgegangenen Theologiestudierendenzahlen nicht zu halten sind. Sie verabschiedet sich damit auch von einem offenbar nicht reformierbaren Ausbildungskorsett, das unfähig macht zur Gründung und Begleitung der Kirche von morgen.
  • Die Nächste Kirche geht alternative Wege: Sie sucht entweder den Weg einer Gründung von theologischen Instituten, etwa an einer philosophischen oder einer soziologischen Fakultät, und präfiguriert damit eine interdisziplinäre Ausbildung.
    Wie sehr hat die Positionierung der evangelischen Theologie in der Gestalt Helmut Gollwitzers an der philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität und damit im Gegenüber zu Wilhelm Weischedel zur Sprachfähigkeit und zu universitätsweitem Interesse an Fragen des Glaubens und Denkens beigetragen! Wie sehr hätte es einer evangelischen Theologie Beine gemacht, wenn sie etwa in Mannheim im Fachbereich Sozialwissenschaften in stetem Gegenüber zum Christentumskritiker Hans Albert hätte geformt werden müssen?
  • Eine Alternative wäre der Wiederaufbau von eigenen Kirchlichen Hochschulen, solange sich die hier getriebene Theologie wirklich von der Praxisferne und weithin herrschenden Spiritualitätsaversion universitärer Theologie unterscheidet. Ganz bewusst öffnet sich die nächste Kirche für die Anerkennung der Abschlüsse der privaten theologischen Hochschulen, die Theologie im interdisziplinären Kontext ermöglichen; die um eine Integration von wissenschaftlicher Arbeit und persönlichem Glaubensleben bemüht sind; die die Anstrengung kritischen Denkens nicht scheuen und Anfechtungen im Denken und Leben des Glaubens theologisch zu verarbeiten suchen.

e) Immobilien und Finanzen: Wie geht die nächste Kirche mit ihren Schätzen um?

1. Der Ist-Stand

Der aktuelle EKD-Haushalt umfasst die unfassbare Summe von knapp 11 Milliarden Euro. Das geschätzte Vermögen der beiden Kirchen liegt bei etwa 110 Milliarden Euro, die Kirchensteuereinnahmen bei rund 11 Milliarden Euro – pro Jahr. Dazu kommen gegenwärtig ca. 600 Millionen staatliche Transferleistungen als Folge der Säkularisierung evangelischer Gebäude im 19. Jahrhundert.

Freikirchen und Kirchen in europäischen Nachbarländern können nur ungläubig staunen, wenn sie wahrnehmen, dass allein in der evangelischen Kirche z. Zt. 18.000 Pfarrerinnen und Pfarrer beschäftigt sind.

Die Kirche hat erkennbar kein Ressourcenproblem, sie verwendet diese Ressourcen nur falsch.

Die Kirchen verfügen über einen unfassbaren Immobilien- und Grundbesitz: „Nach EKD-Angaben sind es auf Seiten der evangelischen Kirche rund 21.000 Kirchengebäude, 17.000 Pfarrhäuser, 13.000 Gemeindezentren und Gemeindehäuser sowie weitere 14.000 Gebäude wie zum Beispiel Kindergärten.“ (https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/kirchen-immobilien-100.html).

Die Unterhaltung der Gebäude kostet die EKD jedes Jahr laut Haushaltsbericht ca. 1,2 Milliarden €. Dem stehen realistisch betrachtet 3 % der Kirchenmitglieder gegenüber, die die Hauptveranstaltung der Kirche goutieren.

Die beiden großen Kirchen sind buchstäblich Großgrundbesitzer. Sie besitzen 2,3 % der Fläche Deutschlands, das sind mehr als 380.000 Hektar Land (https://www.agrarheute.com/management/finanzen/kirchen-grossgrundbesitzer-viel-ackerland-gehoert-kirchen-627600#:~:text=In Deutschland besitzen Religionsgemeinschaften 2).

Die Kirche hat erkennbar kein Ressourcenproblem, sie verwendet diese Ressourcen nur falsch.

2. Die nächste Kirche ist mobile Kirche

Die nächste Kirche ist eine mobile Kirche, die sich flexibel auf die Verhältnisse einstellen will und kann. Sie braucht keine Immobilien, die sie immobil machen und enorme Gelder binden. Sie wird die 1.2 Milliarden €, die der Unterhalt kirchlicher Gebäude jedes Jahr verschluckt, für andere Zwecke ausgeben können. Sie sagt Nein! zu der Selbstverständlichkeit, mit der das Amt der EKD feststellt: „Zu den Kernaufgaben der Kirchen gehört zweifellos […] die Pflege und Erhaltung der zahlreichen großenteils denkmalgeschützten Kirchengebäude“ (www.kirchenfinanzen.de). Sie überlässt dem Staat gerne Kulturdenkmäler, die die Allgemeinheit für erhaltenswert erachtet, verwendet ihre Mittel aber lieber für „woamnötigsten“.

Sie gewinnt Flexibilität und Mobilität zurück, indem sie lieber mietet, als besitzt. Sie befreit sich von der immensen, sie langsam erdrückenden Last der Erhaltung von Gebäuden, von denen jetzt schon die meisten nicht oder kaum genutzt werden. Sie will nicht besitzen, was sie bindet. Sie mietet lieber. Ausnahmen sind kirchliche Gebäude, die jetzt schon Begegnungsstätten sind oder die als Vielzweckbauten die Möglichkeit bieten, Menschen und Gruppen zu beherbergen und Gastfreundschaft zu bieten.

Die nächste Kirche will nicht steinreich sein, sondern reich an Menschen, denen sie sich zuwendet.

Sie fördert eine Anschauung von Kirche, die nicht mehr bedeutet: Wenn wir dieses Kirchengebäude schließen oder verkaufen, ist Kirche damit gestorben. So sehr Emotionen und Erinnerungen zu achten sind, so sehr ist klar: Wo Kirche mit Immobilien identifiziert wird, ist sie schon lange tot, lange bevor sie dann auch geschlossen wird.

Die nächste Kirche weiß und praktiziert: Nicht der Raum macht die Kirche. Es gibt viele, höchst unterschiedliche kirchliche Räume, angefangen von den Wohnungen und Wohnzimmern gastfreier Christen.

Die nächste Kirche setzt ihren Reichtum ein, um den sozialen, mentalen und immer mehr steigenden materiellen Notlagen zu begegnen. Sie will nicht steinreich sein, sondern reich an Menschen, denen sie sich zuwendet.

f) Verheißung10

Wir können versuchen zu lernen; es schlauer zu machen, es besser zu machen; nicht so traditionsverhaftet und sicherheitsorientiert zu sein wie die Mütter und Väter der Kirche vor uns. Aber wir können die nächste Kirche nicht modellieren und nicht determinieren, weil sie nicht am Reißbrett entsteht. Wir können sie nicht planen, weil sie kein Objekt ist, das Gegenstand unseres lenkenden Handelns ist. Jede:r, der:die Prozesse verfolgt und begleitet hat, weiß das. Diese Lage ist unangenehm und für einen rationalistisch-reflektierenden, planenden, Zielvorstellungen und „Visionen“ verfolgenden und in Kategorien der Machbarkeit operierenden Habitus schwer einzusehen. Diese Hilflosigkeit und Offenheit der Lage kann aber Anlass und Anstoß sein, wahrzunehmen, dass wir die nächste Kirche nicht erst machen müssen. Die nächste Kirche ist schon da. Wir sind in unserem Bemühen, auch in unseren Sorgen und Befürchtungen, ob wir es schaffen werden, nicht allein. Es ist schon ein anderer – wahrnehmbar – am Werk.

Die entscheidende Tugend wird für die Kirchen- und Gemeindebauer der Zukunft darin bestehen, (a) sich nicht auf das Vergangene zu fixieren, sich nicht durch das Gegebene binden zu lassen, (b) offen zu sein für das, was Gott schon tut, und (c) genau das in seinem Wachstum nicht zu behindern, sondern zu fördern: „Siehe, ich schaffe neues! Erkennt ihr’s denn nicht?“

Fußnoten

Die Fußnoten verweisen auf Beiträge, in denen ich meine Thesen differenzierter erörtert und begründet habe

Praxis

Paradox einer schwachen Pastoral. Nutzloses Dasein als Handlungsmodell einer zukünftigen Kirche

Lange versuchte ich die Kirche zu retten. Meine Biografie ist davon geprägt, an unterschiedlichen Orten und auf verschiedene Weisen exemplarische Impulse für die Kirche gesetzt zu haben. Durch den Aufbau einer Jugendkirche gab es einen Ort für junge Menschen, an dem sie ernst genommen wurden und der auch zur guten Erfahrung für viele werden konnte. Dennoch traten inzwischen viele von ihnen aus der Kirche aus. Andere Erfahrungen mit der Institution waren prägender oder wogen schwerer. In der Zeit als Studierendenseelsorger hatte ich viele seelsorgliche Gespräche und organisierte mit Teams beeindruckende kulturelle Veranstaltungen, auch berührende Gottesdienste. Die Dienstleistung der Katholischen Hochschulgemeinde war sehr professionell und Glaube war auf vielfältige Weise erfahrbar. Der Beziehungsansatz in der Begleitung von Studierenden und in der Ermöglichung von Begabungen wurde ein zentraler. Dennoch garantiert dieser Ansatz nichts und schon gar nicht eine zukünftige Kirche.

Inzwischen finde ich es entlastend, dass ich nicht mehr den Druck empfinde, die Kirche retten zu müssen, obwohl ich sie vor allem aufgrund ihrer Botschaft als rettenswert empfinde. Vielmehr lasse ich mich immer wieder überraschen, was passiert, wenn ich einfach da bin, einen Gottesdienst feiere, mit jungen Menschen bei Trauungen dabei sein darf oder einfach Zeit habe. Gerade dann entsteht eine Idee von Kirche, ein guter Moment oder ein Gedanke, wie eine neue Initiative entstehen oder ein altes Ritual wiederbelebt werden könnte. Ich bin nicht gegen Struktur oder Organisation, aber sie retten nichts, sondern können einen Begegnungsraum ermöglichen. Seit ich an der Uni als Professor bin, schreibe ich Bücher und Artikel, aber ob sie jemand liest oder ob sie tatsächlich einen produktiven Impuls hervorrufen, weiß ich nicht und habe ich erst recht nicht in der Hand. Vielleicht ist es ein Beitrag für eine zukünftige Kirche, gelebt jedoch wird sie dort, wo ich Studierenden begegne, mit Menschen ins Gespräch komme oder wir etwas gemeinsam initiieren und erleben.

Der Ansatz geht von einer Grundhaltung aus, die nutzlos ist, von einem nutzlosen Dasein, in dem sich aber eine Paradoxie findet, die Ermutigung, Heilung und Lebensperspektive beinhaltet.

Diese eigenen Erfahrungen möchte ich im Folgenden systematisch reflektieren, Zusammenhänge aufzeigen und vielleicht ein provokatives und sich selbst relativierendes Handlungsmodell einer zukünftigen Kirche darstellen. Es nimmt Abschied von einer starken Kirche oder dem Versuch, Kirche, in welcher Form auch immer, retten zu wollen. Der Ansatz geht von einer Grundhaltung aus, die nutzlos ist, von einem nutzlosen Dasein, in dem sich aber eine Paradoxie findet, die Ermutigung, Heilung und Lebensperspektive beinhaltet. Auf der Spur dieses Ansatzes geht es zunächst um kirchliche Rettungsversuche, die nicht erfolgreich waren. In einem zweiten Schritt lassen sich strukturelle und theologische Altlasten beschreiben, die womöglich die Ursachen für das Scheitern der Rettungsversuche waren. Im Anschluss an diese Beobachtungen geht es in einem nächsten Schritt um eine theologische Tiefenbohrung, die aus dekonstruktiven Überlegungen des christlichen Gottesbildes den christlichen Auftrag von Kirche neu zu entdecken versucht. Daraus ergeben sich erstaunliche Erkenntnisse, wie gerade Gottesbilder Handlungsmodelle von Kirche prägen. Dieser Zusammenhang führt in die demütige Erkenntnis, dass wir am Ende der Eindeutigkeit angekommen sind und dass Konzepte und Modelle in einer paradoxalen Schwebe gehalten werden müssen. Ausgehend von der gesellschaftlichen Sozialstruktur jedoch ergibt sich in einem weiteren Schritt das Bild von einem sozialen Raum, in dem Kirche ein Teil des sozialen Netzwerks ist, in dem sie einen Auftrag für das Gemeinwohl der Menschen hat und hier ihre konkrete Verortung findet. Alle diese Überlegungen münden in den Vorschlag einer geistdurchwirkten und gastlichen Kirche.

Kirchliche Rettungsversuche

Zwei Phänomene fallen bei der Analyse unterschiedlicher Kirchenentwicklungsprozesse immer wieder auf. Ein erstes Phänomen lässt sich daran beobachten, dass primär die binnenkirchlichen Defizite als Themen im Vordergrund stehen, die durch methodische und strukturelle Transformationen gelöst werden sollen (vgl. Versorgung der Gemeinden mit Sakramenten oder Professionalisierung von kirchlichen Diensten). Diese Optimierungsversuche stehen in der Gefahr, den alten Einfluss, die öffentliche Wahrnehmung oder die ehemalige Vormachtstellung von Kirche reproduzieren und nach den vielen Verlusterfahrungen wieder eine starke Kirche werden zu wollen. Ganz unabhängig von der Illusion, Kirche wieder stark machen zu können, findet in einer so verstandenen Kirchenentwicklung ein Kreisen um die eigenen Themen statt, die Menschen nicht mehr verstehen (z.B. Diskriminierung von Frauen) und die keine Antworten auf gesellschaftliche Fragen und Herausforderungen geben. Dadurch entsteht eine zusätzliche Entfremdung von nicht-religiös und nicht-kirchlich sozialisierten Menschen.

Es stellt sich also die Frage, wieso sich Handlungsmodelle von Kirche seit 40 Jahren im Kreis drehen und nicht vorankommen.

Ein zweites Phänomen zeigt sich in der Wahrnehmung, dass sogenannte innovative Ideen und gehypte Praxisorte bereits in den 1970er und 1980er Jahren zu finden waren. Vor zwanzig Jahren wurde bereits von Leitung im Umbruch gesprochen, Prayer-Nights waren liturgische Nächte und Taizégebete, Präsenzpastoral fand in der Jugendarbeit bereits vor 20 Jahren an Bushaltestellen statt, Nachbarschaftshilfe wurde im Sozialraum konfessionsübergreifend in Kooperation mit der Kommune initiiert und Interzelebration in der Eucharistie war in den 1990er Jahren durchaus üblich. Vieles war also schon da, wurde bereits erprobt und findet in der Innovationswerkstatt der Ordinariate und beispielsweise Fresh X eine Neuauflage. Es stellt sich also die Frage, wieso sich Handlungsmodelle von Kirche seit 40 Jahren im Kreis drehen und nicht vorankommen.

Theologische und strukturelle Altlasten

Die Vermutung liegt nahe, dass es innere und äußere Blockaden gibt, die subtil mitgeschleppt werden und offensichtlich nicht wahrnehmbar sind. Auffällig in deutschsprachigen Kirchenentwicklungsprozessen ist, dass die aktuellen theologischen Impulse und Debatten kaum eine Berücksichtigung finden, sondern Lösungen überwiegend pragmatisch vollzogen werden. Der pastorale Auftrag findet selten eine kritische und selbstrelativierende Reflexion, die aus einer dekonstruktiven Gottessuche theologisch das Evangelium als Irritation zugrunde legt. Vielmehr bleibt die Theologie des 19. Jahrhunderts die unhinterfragte Bedingung der Möglichkeit. Was ist damit gemeint?

Auffällig in deutschsprachigen Kirchenentwicklungsprozessen ist, dass die aktuellen theologischen Impulse und Debatten kaum eine Berücksichtigung finden.

Die Theologie des 19. Jahrhunderts reagiert auf die Religionskritik des Marxismus, den immer bestimmender werdenden Kapitalismus und den entstehenden Nationalismus nach der Nationalstaatenbildung. Mit dem Selbstverständnis als societas perfecta sichert sich die katholische Kirche die wechselseitige Unabhängigkeit von Kirche und Staat und befreit sich dadurch vor den wachsenden Ansprüchen des Staates auf Einmischung in kirchliche Angelegenheiten. Papst Pius IX. und vor allem Leo XIII. übernehmen diese Vorstellung für das kirchliche Lehramt. Mit dieser Idee wird die Kirche selbst zu einem absolutistischen Staat und kommt von diesem patriarchalen und hierarchischen Denken bis heute nicht los. Diese absolutistische Konstitution drückt sich vor allem in drei Bereichen aus. Theologische und kirchliche Traditionen stehen unter dem Primat der Ewigkeit und tun sich auch heute schwer mit Wandel und Veränderung, vgl. dazu Zugangsbedingungen zum Amt oder Einstellungen im Bereich der Sexualethik. Ein zweiter Aspekt zeigt sich im Erhalt und der Fortführung der hierarchischen Monarchie, die in der Weihe grundgelegt ist und den Klerikalismus ungefragt aufrechterhält. Schließlich zeigt sich diese Konstitution in der Vorstellung des Wahrheitsmonopols über Religion und Spiritualität, die sich vor allem in der Sakramentenpastoral widerspiegelt. Diese absolutistische Konstitution wird in der traditionellen Optimierung von neuen geistlichen Gemeinschaften und strukturellen Neubildungen von Pfarreien subtil übernommen und somit selbst in der neuen Form optimiert.

Strukturelle und theologische Gegebenheiten des 19. Jahrhunderts werden in Kirchenentwicklungsprozessen selten infrage gestellt, weil sie von Amtsträgern als unverrückbar gesehen werden und die Organisationsentwickler:innen von ihren Auftraggeber:innen abhängig sind.

Ähnlich stellt sich das Problem in organisationstheoretischen und in organisationalen Logiken dar, in denen nicht eine Neuentwicklung des theologischen Auftrags aus dem Evangelium, sondern vorrangig Wachstum, Entwicklung und Bindung eine zentrale Rolle spielen. Auch hier wird die Theologie des 19. Jahrhunderts ungefragt übernommen. Daher wird die vorgegebene patriarchale und scholastische Theologie von Kirche nicht hinterfragt, sondern gleichsam einem „Facelifting“ unterzogen.
Offensichtlich werden strukturelle und theologische Gegebenheiten des 19. Jahrhunderts in Kirchenentwicklungsprozessen selten infrage gestellt, weil sie von Amtsträgern als unverrückbar gesehen werden und die Organisationsentwickler:innen von ihren Auftraggeber:innen abhängig sind.

Neuentdeckungen einer schwachen Kirche des Evangeliums

Aufgrund des wahrgenommenen unreflektierten Übernehmens von Theologien des 19. Jahrhunderts im praktizierten kirchlichen Handeln bedarf es zunächst einer theologischen Auseinandersetzung, die sich mit der christlichen Gottesvorstellung und dem Gottesbild Jesu befasst. Ich meine, dass die Radikalität der Entäußerung Gottes im Selbstbild von Kirche meist zu wenig Berücksichtigung und Eingang findet.

Es bleibt jedoch ein Risiko, sich der Schwäche und Ungewissheit im Einsatz für Menschen und das Gemeinwohl auszusetzen.

An dieser Stelle kann zunächst ein Blick in die Philosophie Klärung bringen: Der Philosoph Gianni Vattimo bringt christliche Präsenz und christlichen Lebensvollzug, also christliches Handeln, mit Schwäche in Verbindung. Sein Konzept des „schwachen Denkens“ überträgt Vattimo auf die christliche Religion. Er interpretiert das Christentum in erster Linie als Offenbarwerden der Kenosis Gottes. Die Kenosis, d.h. die Selbsteinschränkung oder Selbstentäußerung Gottes, sei der Hauptzug des Christentums. Diese Selbstentäußerung wird zu einer schwachen Position, die sich für Vattimo in einer Ungewissheit zeigt, die durchzuhalten ist, um offen für die Möglichkeiten zu sein, die es dann zu ergreifen oder zu verwerfen gilt. Gerade darin sieht Vattimo eine Stärke der Christ:innen und ihrer Kirche, die sie in die Lage versetzt, die Schwäche und Ungewissheit durchzuhalten und mit der Möglichkeit der Auferstehung als Stärke zu hoffen. Es bleibt jedoch ein Risiko, sich der Schwäche und Ungewissheit im Einsatz für Menschen und das Gemeinwohl auszusetzen.

Mit dieser Beschreibung bestimmt Vattimo jedoch noch nicht, wodurch die Bereitschaft zur Schwäche motiviert ist, was das Motiv für und in diese Position hinein ist. Anders Jean-Luc Marion. Er versteht die Kenose von der Trinität her und qualifiziert sie inhaltlich aus seinem Gabe-Hingabe-Verständnis. Marion betont deutlicher als Vattimo die selbstlose Liebe in der Kenose, als deren Konsequenz die Selbstschwächung in der Kenose folgt. Die Entäußerung beschreibt Marion als Hingabe, als Nicht-Festhalten und als Aufgeben. Zusammenfassend zeigt sich in dem Verständnis der Kenose bei Marion zum einen eine bedingungslose Anerkennung des/der anderen im Kontext von Gabe und Hingabe als schwache Pastoral und Kirche, die riskiert, leer auszugehen, die gibt, ohne eine Garantie des Empfangens zu haben. Zum anderen deutet sich bereits eine Paradoxie in diesem Verständnis einer schwachen Pastoral an: Die Gabe überlebt möglicherweise nur durch Hingabe, worin also eine Stärke liegt, aber die Hingabe garantiert den Empfang der Gabe nicht, sondern ist gleichsam unverfügbar.

In der Inkarnation Jesu liegt also eine Lebenskraft, die sich aus der riskierten Schwäche heraus entwickelt. Gott begibt sich selbst in die Schwäche und wird zum schwachen Gott. John Caputo beschreibt dieses Handeln Gottes als eine Torheit Gottes, die eine Schwachheit bis ganz unten meint. Ein schwacher Gott hat auch eine schwache Theologie zur Folge, weil Gott nicht mehr eindeutig ist und weil dann Theologie eine „Theologie des Vielleichts“11 wird. Wenn Gott ein schwacher Gott ist und die Theologie sich selbst als schwache relativieren muss, wird die Pastoral in ihrem reziproken Verhältnis zum Dogma selbst zur schwachen. Hier gilt es die Verzahnung von Dogma und Pastoral, vgl. die bekannte Fußnote in GS, wieder neu zu verstehen und neu miteinander in eine Verbindung zu bringen.

In der Inkarnation Jesu liegt also eine Lebenskraft, die sich aus der riskierten Schwäche heraus entwickelt.

Eine so gedachte Pastoral, die sich aus dem Gottesbild eines schwachen Gottes formt, dekonstruiert übliche Hegemonien einer starken Kirche, eines starken Klerus und einer funktionalen Botschaft. Die pastorale Präsenz einer schwachen Kirche ist absichtsarm und bedingungslos, ihr Dasein zunächst nicht funktional und nutzenorientiert ausgerichtet. Ihre starke Schwäche ist die bedingungslose Liebe in der Begegnung und der Beziehung mit dem/der anderen. Sie zeigt sich im pastoralen Freigeben, aber in der gleichzeitigen Fürsorge, in der Selbstentmächtigung, aber der gleichzeitigen Sorge für die Selbstachtung.

Das Gottesbild prägt das Kirchenbild

Hinter jedem Konzept und hinter jedem Kirchenbild steckt explizit oder implizit ein Gottesbild, das Haltungen, Grenzen und Möglichkeiten prägt. Veränderungsprozesse scheitern nicht nur an systemischen Blockaden oder inneren Haltungen, die schwer zu verändern sind, sondern an tieferliegenden Überzeugungen des Glaubens, die sich im Wesentlichen in der Gottesvorstellung widerspiegeln. Ein nachhaltiges Handlungsmodell von Kirche bedarf also zunächst eines spirituellen Prozesses, der sich mit dem Gottesbild auseinandersetzt, das zum Maßstab für die kirchliche Struktur und kirchliche Konzepte wird. Aus der biblischen und spirituellen Auseinandersetzung ergeben sich gleichsam inspirativ und kreativ die notwendigen Handlungsschritte, die dann in eine professionell wirksame Form gebracht werden können. Um diesen Zusammenhang noch vertiefter darzustellen, werden nun drei soziale Systeme, die sich in pastoralsoziologischen Bildern wiederfinden, mit entsprechenden Gottesbildern in Verbindung gebracht.

Ein nachhaltiges Handlungsmodell von Kirche bedarf also zunächst eines spirituellen Prozesses, der sich mit dem Gottesbild auseinandersetzt, das zum Maßstab für die kirchliche Struktur und kirchliche Konzepte wird.

Das erste System ist Kirche als Institution. Hinter diesem System steckt das pastoralsoziologische Bild der volkskirchlichen Betreuung, in dem das Volk hört und die Kirche lehrt. Sie ist hierarchisch und patriarchal organisiert. Das Kirchenbild dieses Systems ist der „Leib Christi“.12 Im Bild des „Leibes Christi“ ist Christus das Haupt, das durch den Priester vertreten wird. Dahinter steckt eine verengte Christologie, die beispielsweise die Freundschaft zu Christus nicht in Verbindung mit der Wirksamkeit des Heiligen Geistes, also im trinitarischen Zusammenspiel, versteht. Oder sie zeigt sich auch in einer exklusiven Vorstellung der Leib-Christi-Zugehörigkeit, die sich nicht schöpfungstheologisch auf das Volk Gottes bezieht, zu dem alle gehören, sondern eben nur auf die Getauften.

Das zweite System ist Kirche als Organisation. Pastoralsoziologisch finden sich darin verändernde Formen von Gemeindekirche bis zur Netzwerkkirche. In der organisationalen Logik geht es um eine Optimierung und Professionalisierung von internen pastoralen Handlungsmodellen in der Organisation. Das Kirchenbild der Organisation hat sich von der Communio zum Volk Gottes und zur partizipativen Kirche entwickelt. Dieses System hat kein spezifisches Gottesbild, sondern übernimmt gleichsam das Gottesbild der Institution, die den Fokus auf eine personale Christologie richtet.

Dieses Kirchenbild ist von einer pastoralen Nähe im und für den Sozialraum geprägt und von einem Selbstverständnis dezentraler Selbstorganisation.

Schließlich bildet sich ein drittes System von Kirche, nämlich ein fluides Netzwerk. Es ist ein pastoralsoziologisches Kirchenbild, das aus fluiden und pluralen Formen besteht und wesentlich im situativen Ereignis entsteht. Dieses Kirchenbild ist von einer pastoralen Nähe im und für den Sozialraum geprägt und von einem Selbstverständnis dezentraler Selbstorganisation. Das zugehörige Gottesbild findet sich in einem freigebenden Gottesgeist, der trinitarisch durchdrungen ist. Christus und Gottvater werden erst durch den Geist wirksam. Diese trinitarische Verbundenheit ist in sich eine Dynamik, die Räume für Verwandlung und für neue Schritte öffnet, die gnadentheologisch nicht kontrollierbar, sondern unverfügbar sind. Dieses Gottesbild schließt an das Gesagte von Marion und Caputo an – einen schwachen Gott und eine schwache Pastoral. Genau an dieses Gottesbild und an das fluide Netzwerk wird das Handlungsmodell der schwachen Pastoral als nutzloses Dasein anschließen.

Ende der Eindeutigkeit

Davor soll noch ein kurzer Hinweis auf die soziologische Uneindeutigkeit erfolgen, die der Soziologe Zygmunt Bauman in seinem Buch zur Moderne und ihrer Ambivalenz beschreibt, in dem er die Hypothese des Endes der Eindeutigkeit vertritt.13 Diese Uneindeutigkeit relativiert jede Eindeutigkeit von pastoralen Plänen, Konzepten und Handlungsmodellen und legt einen optionalen und fluiden Ansatz nahe. Gleichzeitig öffnet sie für eine Haltung, die das wirklich Letzte Gott überlässt. Die Uneindeutigkeit fordert Kirchenmodelle heraus, den zuvor angesprochenen Heiligen Geist neu zu entdecken und der mit ihm einhergehenden Nicht-Machbarkeit als Gnade Raum zu geben.

Das Christentum ist eine Beziehungsreligion, die sich durch ein Beziehungsgeschehen ereignet.

Daraus folgt, dass ein Handlungs- und Kirchenmodell allein die Erfüllung des Auftrags, aus dem Evangelium für das Heil des Menschen zu sorgen, nicht garantieren kann. Vielmehr geschieht der Auftrag für das Heil des Menschen aus dem Glauben immer in Begegnung. Das Christentum ist eine Beziehungsreligion, die sich durch ein Beziehungsgeschehen ereignet. In dieser Logik werden Begegnungs- und Beziehungskonstellationen zu Kirchorten, aus denen sich Konzept und Struktur ergeben.

Netz im sozialen Raum

Es stellt sich nun die Frage, wie Handlungsmodelle und im Speziellen der Ansatz der schwachen Pastoral als Daseins- und Beziehungspastoral gesellschaftlich und kommunikativ anschlussfähig sind. Nun ist es kurz gesagt so, dass in einer Gesellschaft, die sich auf der Grundlage von Verflüssigungsprinzipien bildet,14 die Kommunikation in der Logik des Netzes stattfindet. Ohne an dieser Stelle näher auf die Netzwerktheorie eingehen zu können, ist festzustellen, dass die Kommunikation im Netz über Beziehung und Beteiligung funktioniert. Der Raum der Netzverbindungen bildet sich sozial und wird gleichzeitig sozial produziert. Daher wird der Raum zur Ressource und zum existentiellen Ort pastoralen Handelns. Dabei meint Raum hier den Lebensraum, den Sozialraum und auch den Kirchenraum, die alle pastorale Räume sind, so wie auch die Menschen in all diesen Räumen Adressat:innen der Pastoral sind.

Handlungsmodell einer gastlichen Kirche

Ein Begegnungs- und Beziehungsgeschehen, das sich relational in der Welt und bei den Menschen verortet, kann nicht ortlos stattfinden. Dafür braucht es zuverlässige und stabile (Kirch-)Orte. Gleichzeitig lassen sich diese Begegnungen und Beziehungen nicht auf die stabilen Orte reduzieren, sondern sie müssen ereignisbasiert offengehalten werden. Doch sowohl für stabile als auch für ereignisbasierte Orte gilt, dass jene zu Begegnungsräumen werden, die ein Beziehungsverhältnis zwischen Paschamysterium und Erfahrung ermöglichen und so zum Hoffnungsraum werden.

Das Handlungsmodell einer schwachen Pastoral stellt sich ganz in den Dienst der Menschen und riskiert dabei, ausgenutzt zu werden und für das eigene Handeln keine Rendite zu erhalten.

Das Handlungsmodell einer schwachen Pastoral als nutzloses Dasein qualifiziert sich zunächst über ein bedingungsarmes Dasein, das sich nicht über eine Absicht oder einen Nutzen definiert. Es stellt sich ganz in den Dienst der Menschen und riskiert dabei, ausgenutzt zu werden und für das eigene Handeln keine Rendite zu erhalten. Diese Haltung zeigt und äußert sich im Stil der Gastlichkeit, die Derrida gerade im und als Risiko beschreibt. In der Gastlichkeit findet er jedoch eine Antinomie von Gastlichkeit und Herrschaft.15 Erst in der bedingungslosen Gastlichkeit löst sich die ursprüngliche Herrschaft des Gastgebers auf und kann der Gastgeber zum Gast und umgekehrt werden. Diese Logik geschieht bereits in der Emmausgeschichte im Lukasevangelium. Folgende Kriterien könnten für den Ansatz des nutzlosen Daseins als Gastlichkeit leitend sein.

Feste Räume sind nicht notwendig

Ein Begegnungs- und Beziehungsgeschehen kann innerhalb von kirchlichen Räumen geschehen, die zur Verfügung gestellt werden oder die Initiationsraum von Begegnung sind. Allerdings sind sie nicht notwendig, sondern im präsentischen Dasein beispielsweise auf dem Marktplatz oder beim Ausschenken von Kaffee mit einem sogenannten Ape-Fahrzeug entstehen situative Formen von Kirche, die auch zum regelmäßigen Begegnungsort werden können. Außerdem müssten öffentliche Räume auch viel mehr für Begegnungen genutzt werden.
Raumorientierte Pastoral als schwache Präsenz

Diese Präsenz setzt Beziehung und relationalen Kontakt voraus und realisiert sich daher nicht regional, sondern lokal.

Eine gastliche Pastoral lädt nicht nur ein, sondern begibt sich selbst in den fremden Raum und wird selbst zum Gast. Diese entgrenzende Raumperspektive hat nicht das Ziel, verlorengegangenen oder fremden Raum zurückzugewinnen, sondern begibt sich in den Gemeinwohlauftrag für alle Menschen. Dabei zeigt sie sich in einer schwachen Präsenz, die nicht über anderen steht oder anderen voraus ist, und bringt sich mit den eigenen Ressourcen kontributiv ein. Diese Präsenz setzt Beziehung und relationalen Kontakt voraus und realisiert sich daher nicht regional, sondern lokal. Kirchliche Mitarbeiter:innen bewegen sich in diesem Handlungsmodell weg von der eigenen Zentrumsorientierung in den Sozialraum und zur Existenz der Menschen. Dies bedeutet dann auch, eigene Ressourcen und Räume für andere Nicht-Mitglieder im Sozialraum zur Verfügung zu stellen. Insofern hat dieser Ansatz einer nutzlosen und bedingungsarmen Präsenz einen vorrangigen sozial-diakonischen Auftrag für das Gemeinwohl.

Schwache Pastoral des Kontakts und der Präsenz – stabil und mobil

Eine schwache Pastoral der Gastlichkeit setzt nicht nur eine bedingungsarme Präsenz voraus, sondern bedarf auch eines interessierten und empathischen Kontakts.16 Diese Form der Gastlichkeit kann, wie oben beschrieben, situativ an unterschiedlichen Orten geschehen. Daher braucht es eine mobile Pastoral, die sich an unterschiedlichen und fremden Orten zeigt und sich aussetzt. Dennoch sind feste und stabile Orte einer gastlichen Kirche notwendig, wo sie zuverlässig erreichbar und präsent ist. Es sind sichere Orte bedingungsloser Präsenz des Daseins, wo Evangelium erinnert wird und erfahrbar ist. Daher bedarf es auch fester Orte der Liturgie, wo Glaube gefeiert wird.

Letztlich müssen diese Bezugspersonen auch Leitungs- und Feierbefugnis haben, wenn kirchliche Gastlichkeit ein Beziehungsgeschehen ist und Sakramentalität nichts anderes als Beziehung ist.

Um dies zu ermöglichen, sind in diesem Handlungsmodell der relationalen und schwachen Präsenz im kommunal-gemeindlichen Nahraum kirchliche Ansprechpersonen erforderlich, die haupt- oder ehrenamtlich sein können, die aber präsent, erreichbar und ansprechbar sind. Letztlich müssen diese Bezugspersonen auch Leitungs- und Feierbefugnis haben, wenn kirchliche Gastlichkeit ein Beziehungsgeschehen ist und Sakramentalität nichts anderes als Beziehung ist.

Beziehungsstarke pastorale Mitarbeiter:innen

Die Voraussetzung für dieses Handlungsmodell sind beziehungsstarke Mitarbeiter:innen. Von ihnen und ihrer Fähigkeit zu bedingungsarmem und zweckfreiem Dasein hängt es ab, ob der Ansatz einer gastlichen Kirche, der von der personalen Beziehungs- und Kontaktfähigkeit abhängt, gelingen kann oder nicht. Die personale Kompetenz ist bei diesem Handlungsmodell also entscheidender als das Dienstleistungskonzept und die Leitbilder. Diese ergeben sich auf der Grundlage einer absichtsarmen und schwachen Präsenz.

Paradoxale Schwebe als Handlungsprinzip

Dieses Handlungsmodell setzt auf eine risikooffene und freigebende Beziehungspräsenz, die in ihrer Wirkung nicht kontrollierbar oder optimierbar ist. Insofern ist es ein schwacher Ansatz, in dem aber gerade angesichts einer großen Offenheit, gnadentheologisch und handlungspraktisch, eine Stärke liegt. Konzeptionelle und strategische Ausrichtungen ergeben sich erst folgerichtig aus dem ermöglichten Begegnungs- und Beziehungsgeschehen.
Letztlich steckt dahinter meine eigene pastorale Erfahrung, dass Projekte, wie Jugendkirche oder kulturelle Ansätze von Hochschulpastoral, nicht strategisch initiiert entstanden sind, sondern aus dem Risiko der Begegnung, die zu Projekten und professionellen Umsetzungen geführt hat. Auch hier bleibt eine Schwebe zwischen Nutzlosigkeit als Strategie und Dasein als Professionalität.

Praxis

Ohne Plan – unbedingt!

Gemeinwohlorientierte und pluralitätsaffine Kirchenentwicklung

Der große kirchliche Paradigmenwechsel der katholischen Kirche erfolgte im 20. Jahrhundert und im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils mit der Bestimmung des eigenen Selbstverständnisses, das mit der Überwindung des konfessionalistischen Milieukatholizismus nicht mehr im Gegenüber zur Gegenwartsgesellschaft, sondern in kritisch-solidarischer Verbundenheit mit ihr verstanden wird. Wo die katholische Kirche sich nicht mehr auf der Grundlage von gegenwartskulturellen Ressentiments in einer bloßen Gegenposition zur umgebenden Gesellschaft, sondern als ihr Bestandteil versteht, ist es möglich, die Gegenwartsgesellschaft in ihren unüberschaubaren Facetten als „theologiegenerativen Ereignisort“17 zu würdigen. Dieser Entwicklungsschritt ist grundlegend und umfassend, zumal er bis in die Gegenwart nur in Ansätzen in die pastorale Praxis und in das Agieren kirchlicher Amts- und Verantwortungsträger:innen überführt worden ist.18 Auch für Fragen der Kirchenentwicklung bleibt er eine anhaltende Herausforderung. Die überwundene Vorstellung von einer kontrastierenden Gegenüberstellung von Kirche und Gegenwartsgesellschaft wird auch durch öffentliche Diskurse befördert, häufiger wird sie aber von Theolog:innen revitalisiert, die sich um ein abgrenzendes Profil der Kirche bemühen. Wo Letzteres geschieht, wird theologisch fahrlässig gehandelt und ein eklatanter Selbstwiderspruch erzeugt.

Ein Gott, der sich nicht aus den Belangen der Welt heraushält, wird sich nicht von einer Kirche verkündigen lassen, die sich in der Distanz zu den Gegenwartsfragen gefällt.

Theologisch fahrlässig ist die zur Dominanz strebende Sorge um ein kirchliches Profil, weil dies der zentralen christlichen Vorstellung von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und damit der kenosis-christologischen Grundlage widerspricht. Wie sollte eine auf Abgrenzung und eigene Profilierung bedachte Kirche eine Glaubensbotschaft bezeugen, die darauf aufbaut, dass Gott sich in seiner Menschwerdung dem Risiko aussetzt, in Jesus nicht als Messias, Christus und Gottessohn erkannt zu werden? Oder andersherum: Wenn Gottes Selbstverständnis sich in seiner Menschwerdung ausdrückt, um das Schicksal aller Menschen und Geschöpfe zu teilen und sich gerade nicht ausschließlich als Gegenüber zu positionieren, dann muss dies Konsequenzen für das Selbstverständnis von Christ:innen und Kirche haben. Ein Gott, der sich nicht aus den Belangen der Welt heraushält, sich in diesem Sinn „die Hände schmutzig macht“19 wird sich nicht von einer Kirche verkündigen lassen, die sich in der Distanz zu den Gegenwartsfragen gefällt. Das in solchen Distanznahmen erkennbare Ressentiment ist meist als Haltung Gegenstand von psychologischen Analysen.20 Es findet sich aber gerade auch in kirchlichen Selbstverständnissen und damit in ekklesiologischen Reflexionen, wo sie konstitutiv auf Abwertungen gegenwartskultureller Phänomene aufbauen.

In einem weithin säkularisierten gesellschaftlichen Umfeld werden das Desinteresse von „religiös Uninteressierten“ und die Prägungen einer indifferenten Haltung zu den vielleicht wichtigsten Impulsen der Kirchenentwicklung.

Werden diese zwei problematischen Elemente, die Sorge um das abzugrenzende Profil und die Haltung des Ressentiments, überwunden, dann ergibt sich die Chance auf eine kirchliche Identitätsbestimmung der Hinwendung und kritischen Solidarität. Flankiert wird dieser Identität von der unerlässlichen Bereitschaft, ehrlich mit der eigenen Situation umzugehen und sich und anderen einzugestehen, dass alle Phänomene spätmoderner Gesellschaften selbstverständlich auch die Haltungen und den Lebensstil von Christ:innen prägen. Der biblische Anspruch, der in der Formulierung „bei euch aber soll es nicht so sein!“ (Mk 10,43) den Jünger:innen Jesu aufgetragen wird, gilt als moralischer Leitfaden. Zugleich markiert er in einem spätmodernen Umfeld eine zentrale Herausforderung. Mit dem Soziologen Armin Nassehi lässt sich für das 21. Jahrhundert der Verlust von Orientierung bietenden Mustern beobachten. Die Steigerung von Handlungsoptionen und die in einem singularisierten Umfeld zur kontinuierlichen Aufgabe entwickelte Frage der persönlichen Identitätsgestaltung21 werfen die Frage auf, wie ein christlicher Lebensstil im Spiel von „Verbundenheit und Freiheit“22 entwickelt und gestaltet werden kann. Nur wenn kirchliches Leben bis hinein in seine institutionellen Strukturen für die Frage nach dem persönlichen Lebensstil als relevant erlebbar wird, kann es als lebensdienliches Angebot in den spätmodernen Identitätskonstruktionen eine Rolle spielen. In dem Bemühen um persönliche Lebensstile und Identitätskonstruktionen dynamisiert sich nicht nur der Umgang mit kirchlicher Glaubenslehre, in dem Wahrheits- von Beziehungsfragen umfasst werden.23 In einem weithin säkularisierten gesellschaftlichen Umfeld werden das Desinteresse von „religiös Uninteressierten“24 und die Prägungen einer indifferenten Haltung25 zu den vielleicht wichtigsten Impulsen der Kirchenentwicklung. Sehr kreativ entwickeln sich auch die Zugehörigkeitskonzepte von Christ:innen zu ihrer Kirche, die meist nur unter einer Verminderung der kirchlichen Bindungskräfte firmieren, zugleich aber auch in hybride Religionskombinationen oder zeitlich befristete Zugehörigkeitskonzepte münden können. Zwei Elemente dieser Kirchenentwicklung sollen hier mit der Gemeinwohlorientierung und der heterogenen Sozialförmigkeit besonders ausgeführt sein.

Gemeinwohlorientierte Kirche

Ansätze gemeinwohlorientierter Kirchenkonzepte finden sich etwa in der Tradition des US-amerikanischen Community Organizing (CO). Der amerikanisch-deutsche Theologe Leo Penta hat dies mit dem Team des Berliner Instituts für Community Organizing in die Bestimmung von Sozialer Arbeit übertragen. Mit den parallelen Ansätzen des Faith Based Community Organizing (FBCO) gibt es zudem Ansätze zur Übertragung in die pastorale Praxis. Es muss verwundern, wie wenig diese Impulse bislang in den deutschen Diözesen aufgegriffen worden sind. Gerade im Bemühen um das christliche und kirchliche Einbringen in das interreligiöse Zusammenleben, ergeben sich mit dem Ansatz des Community Organizing und einer entsprechenden kooperativen Haltung als „strukturierte interreligiöse Begegnung“26 wichtige Impulse, die auch in die pastorale Arbeit und die Ansätze der Kirchenentwicklung zu übertragen wären.

Kirchliche Akteur: innen wären die, die sich einbringen, wo es sinnvoll und angefragt ist, ohne dabei eine markante Sonderrolle zu reklamieren.

CO und FBCO zielen darauf ab, unter den Menschen eines Stadtteils, einer Ortschaft oder Region Beziehungsarbeit zu leisten und sich auch als haupt- und ehrenamtliche christliche Akteure darauf einzulassen, die Gestaltung von nachbarschaftlichen Beziehungen zu priorisieren. Diese örtlichen Beziehungsnetzwerke stellen die entscheidenden Instanzen dar, um Herausforderungen des gesellschaftlichen Miteinanders vor Ort zu bearbeiten und Probleme zu lösen. Hier wären kirchliche Mitarbeiter:innen nicht die Protagonisten der Netzwerke, nicht die „Bestimmer:innen“ oder Honoratioren. Kirchliche Akteur: innen wären die, die sich einbringen, wo es sinnvoll und angefragt ist, ohne dabei eine markante Sonderrolle zu reklamieren. Darin drückt sich das Ideal eines unscheinbaren Mitarbeitens aus, das in der Spiritualität einer Madeleine Delbrêl seine geistliche Vergewisserung findet. Wo sich Kirche derart unscheinbar in die örtlichen Beziehungsnetzwerke einbringt und auf Machtansprüche wie missionarisch-strategisches Denken zu verzichten bereit ist, da beginnt eine Veränderung von Haltungen und eine Transformation des kirchlichen Selbstverständnisses. Diese veränderte Form kirchlichen Lebens lässt sich freilich schlecht vermarkten. Denn sie agiert im Modus der Schwäche und bietet sich als Ressource für das Miteinander von Menschen an. Es bleibt nicht nur unklar, ob die Kirche selbst etwas „davon hat“. Es entsteht auch das notwendige und konstitutive Risiko, im Modus der Schwäche ausgenutzt zu werden.27

Was Kirche ist und wie sie in die Debatten und Problemlösungen vor Ort eingebunden wird, entscheidet sich in den Beziehungen vor Ort.

Diejenigen, die in diesem gemeinwohlorientierten Konzept einer kirchlichen Identität die konkrete Gestalt von Kirche je neu entwickeln, sind die unterschiedlichen, sich für ein Miteinander engagierenden Menschen – nicht nur Christ:innen, Kirchenmitglieder oder Funktionäre. Was Kirche ist und wie sie in die Debatten und Problemlösungen vor Ort eingebunden wird, entscheidet sich in den Beziehungen vor Ort. Hier wird Kirche den „Kirchenleuten“ aus der Hand genommen. Wo dies bereits durch ein kirchliches Einbringen in die Stadtteilarbeit erfolgt, entsteht eine große Pluralität kirchlichen Lebens.

Heterogenität der Sozialformen: Zwei Klassiker

Zu den markanten Gesellschaftsphänomenen des 20. und 21. Jahrhunderts gehört eine ganze Fülle von Migrationsphänomenen. Jenseits der öffentlichen Debatten um die Fürsorgepflicht für geflüchtete Menschen ist ein weitreichendes Spektrum an Phänomenen zu beobachten. Denn alle westlichen Gesellschaften sind von einer beeindruckenden Historie unterschiedlicher Migrationsphasen geprägt. Ein kleines Element der breiten historischen und soziologischen Forschung sei hier herausgegriffen: Der Journalist Doug Saunders hat sich intensiv mit der Frage beschäftigt, welche lokalen Verhältnisse gegeben sein müssen, damit Menschen mit Migrationsgeschichte zu gesellschaftlicher Teilhabe gelangen. Er hat dabei Stadteile und Kommunen als „Arrival Cities“ identifiziert, in denen sich günstige Bedingungen für wirtschaftliche Aufstiege, Erlangen von Wohlstand und gesellschaftliche Partizipation erkennen lassen. Diese „Arrival Cities“ sind für Fragen der Kirchenentwicklung ein besonders interessantes Lernfeld28, nicht nur weil die katholische Kirche in Deutschland zunehmend von Menschen mit Migrationsgeschichte geprägt wird und vor diesem Hintergrund das Bewusstsein für äquivalente Ansätze einer „Arrival Church“ erstaunlich gering ausgeprägt sind. Damit „Arrival Cities“ ihre wichtige gesellschaftliche Funktion erfüllen können, sind lediglich ein paar Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Sie lassen sich also durch Maßnahmen flankieren und fördern, aber sie lassen sich nicht planen. Sie müssen einfache Bedingungen für Berufseinstiege und günstigen Wohnraum gewährleisten. Ebenso wichtig sind Bildungseinrichtungen mit geringen Distinktionsgrenzen und die Möglichkeit, günstiges Wohneigentum zu erlangen. All diese Elemente schaffen Freiräume und wirken für Menschen ermutigend, die nach ihrem Platz in einem unüberschaubaren Umfeld suchen.

All diese Elemente schaffen Freiräume und wirken für Menschen ermutigend, die nach ihrem Platz in einem unüberschaubaren Umfeld suchen.

Zu den großen und wenig gewürdigten christlichen Traditionselementen gehört die Aufgeschlossenheit gegenüber verschiedenen Sozialformen. Dennoch gelangen im 21. Jahrhundert in den westlichen Gesellschaften zwei für die katholische Kirche zentrale Sozialformen in eine umfassende Krise: Die Gemeinde und ihre theologische Rückbindung in der Gemeindetheologie und ihrem Ideal größtmöglicher Vertrautheit und Nähe der beteiligten Menschen schwindet. Sie wird von den eigenen Kirchenmitgliedern zumindest unter den Vorbehalt gestellt, dass sie sich gegenüber dem eigenen Lebensstil und Selbstverständnis als kompatibel erweisen muss. Damit wechselt sie von einem Modus selbstverständlicher Dominanz und administrativer Bevormundung in den Modus des Angebots. Die US-amerikanische Religionspraxis zeigt, dass dies in den lokalen Bezügen auch den Konfessionswechsel als Instrument der singularisierten ästhetischen Passung umfasst und Bekenntnisfragen vollends nivelliert werden.

Da es mittlerweile ganz unterschiedliche Konzepte säkular-kommunitären Lebens in Deutschland gibt, lässt sich hier eine Form von „Kloster 2.0“ ausmachen, die sich weitgehend losgelöst von bestehenden Kloster- und Ordenstraditionen entwickelt hat.

Die zweite Sozialform, die gegenwärtig im Schwinden begriffen ist, findet sich in Ordensgemeinschaften und Klöstern. Im Unterschied zur Kirchengemeinde haben die Ordenstraditionen zwar keine umfassende Dominanz, waren aber gerade als Alternative zum Gemeindeleben von einer Überidealisierung begleitet. Besonderen Ausdruck findet diese Überidealisierung im Paradigma der Entschiedenheit, das zwar gerne als Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen Sozialformen inszeniert wird und viele Menschen fasziniert, aber praktisch immer weniger Kompatibilität gegenüber spätmodernen Lebensentwürfen und -idealen aufweisen kann und primär über die kommunikative Konzeption des radikalen Ausstiegs aus den dominanten Gesellschaftsstrukturen plausibilisiert werden kann. Vor diesem Hintergrund ist erstaunlich, dass markante Entwicklungen im Bereich des kommunitären Lebens und der Generationen übergreifenden Wohnkonzepte kaum mit den Ordenstraditionen in Beziehung gesetzt werden. An ihnen lässt sich ein beachtliches Interesse an gemeinschaftlichem, klosterähnlichem Leben ablesen. Wie eine im Angebotsmodus entwickelte Gemeinde meist vom konfessionellen Bekenntnis abgekoppelt ist, so sind klosterähnliche Gemeinschaften kommunitären Lebens von klassischen religiösen Bekenntnissen getrennt und werden stattdessen von säkularen Bekenntnissen, z.B. Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit, bestimmt. Sie sind zudem losgelöst vom radikalen Entschiedenheitsparadigma lebenslanger Bindung und von der Verknüpfung mit der Bereitschaft zu zölibatärer Lebensweise. Da es mittlerweile ganz unterschiedliche Konzepte säkular-kommunitären Lebens in Deutschland gibt, lässt sich hier eine Form von „Kloster 2.0“ ausmachen, die sich weitgehend losgelöst von bestehenden Kloster- und Ordenstraditionen entwickelt hat.

Es ist problematisch, wenn in einigen Diözesen Gemeinden tendenziell als Auslaufmodell betrachtet und hinsichtlich der Transformationsprozesse häufig entmutigt werden.

Während die Sozialform der Gemeinde im Rahmen eines Transformationsprozesses in den ausgeprägten Modus des Angebots wechselt, dabei die Anzahl von Gemeinden verringert und ihre Kultur vom Machthabitus befreit wird, sind entsprechende Transformationen bei Klöstern und Ordensgemeinschaften bislang kaum sichtbar (was derzeit auch an der Diskreditierung von neuen Gemeinschaftsformen durch lehramtliche „Überförderung“ und der Krise durch sexuellen und geistlichen Missbrauch liegen kann).

Beide klassischen Sozialformen werden nicht verschwinden, sie werden eher in neue Formen und Modi überführt. Es ist problematisch, wenn in einigen Diözesen Gemeinden tendenziell als Auslaufmodell betrachtet und hinsichtlich der Transformationsprozesse häufig entmutigt werden. Derartige Strategien und ihre Überführung in Pastoralpläne übersehen das Potenzial transformierter Gemeindemodelle, die in Form eines kirchlichen Angebotes immer noch relativ viele Menschen ansprechen können – viel mehr, als es aufwändig geförderten innovativen Projekten bislang gelingt.

Die heterogene Landschaft kirchlicher Sozialformen und die gemeinwohlorientierte Indienstnahme aller kirchlichen Praxis gehen mit einer radikalen Dezentralität und einer Reduktion zentraler Steuerung einher.

Die Würdigung sozialförmiger Heterogenität im Sinne einer Kultur der Ermöglichung, wie sie im Rahmen von Stadtplanung an den „Arrival Cities“ studiert werden kann, drückt sich also nicht allein in der Förderung innovativer Projekte aus, sondern jenseits dieser „großen Gesten“29 eher in der Schaffung von Rahmenbedingungen, in denen bestehende Sozialformen zu den skizzierten Transformationsprozessen ermutigt werden können. Das Ergebnis lässt sich als maximale Heterogenität der Sozialformen skizzieren, deren Ermöglichungsgrund vor allem in der Bereitschaft zu einer pluralitätsaffinen Kirchenentwicklung liegt. Diese lässt sich nicht in einem einheitlichen Pastoralplan einer Diözese abbilden. Die heterogene Landschaft kirchlicher Sozialformen und die gemeinwohlorientierte Indienstnahme aller kirchlichen Praxis gehen mit einer radikalen Dezentralität und einer Reduktion zentraler Steuerung einher. Sie wären Ausdruck einer genuin christlichen „Identität im Plural“30 und ermöglichen eine Kirchenentwicklung, in der die Heterogenität unterschiedlicher Sozialformen kirchlichen Lebens nicht geplant, sondern ermöglicht wird. Ohne Plan – unbedingt!

Praxis

Von Volkskirche zu kirchlichen Hubs. Ein Vorschlag für ein Handlungsmodell von Kirche

1. Einleitung

Die Institution Kirche befindet sich derzeit in einer eigentümlichen Spannung. Während – jüngst befeuert­ durch die sechste KMU – die Notwendigkeit zur Transformation mittlerweile als common sense gelten kann, durchzieht das volkskirchliche Paradigma weiterhin die diversen Ebenen kirchlichen Handelns:

„In den letzten Jahrzehnten wurde überwiegend auf eine Weiterentwicklung der parochialen Formen, die sich in Regionalisierung, Fusion und Profilbildung äußern, gesetzt. Orientiert man die Reformen jedoch an einer Weiterentwicklung des Bisherigen, bleiben die traditionellen Logiken leitend für die Kirche.“31

Um sicherzustellen, dass neue kirchliche Sozialformen sich nicht insgeheim doch immer wieder auf dieses Paradigma stützen, müssen kirchliche Strukturen nach Uta Pohl-Patalong insbesondere drei Elemente aufgeben:

„eine territoriale Grundorientierung […] zugunsten einer […] subjektgebundenen Zuordnung. […] die Idee eines persönlichen Kontakts zu den Pfarrpersonen […] zugunsten einer inhaltlich orientierten Zugangslogik, […] ein möglichst breites Angebotsspektrum vor Ort zugunsten eines differenzierten und exemplarischen Arbeitens in definierten Handlungsfeldern.“32

Das nachfolgende Handlungsmodell baut auf ebendieser Prämisse auf und plädiert für die Etablierung kirchlicher Hubs. Dabei wird, wie folgt, vorgegangen: Zunächst wird dargelegt, auf welche Problemlagen dieses Handlungsmodell reagiert (Kap. 2). Dabei erfolgt eine kurze Selbstpositionierung der beiden Autorinnen, da wir der Überzeugung sind, dass jede Sichtweise auf Kirche und kirchliche Problemlagen standortbezogen ist. Anschließend wird das Handlungsmodell kirchlicher Hubs vorgestellt (Kap. 3): Was meinen wir mit dem Begriff Hubs und welchen Purpose erfüllt dieses Konzept? Zuletzt werden notwendige Ressourcen thematisiert (Kap. 4).

2. Ausgangslage: Vom Primat kirchlicher Strukturen vor individuellen Lebensrealitäten

Unser Interesse an kirchlicher Transformation resultiert weniger aus den massiven Austrittszahlen oder dem Gedanken eines großflächigen Erhalts kirchlicher Strukturen, sondern vielmehr aus einer eigenen Unzufriedenheit mit gelebter Kirche. Damit sind wir bei der Selbstpositionierung angelangt:

Obwohl wir beide landeskirchlich sozialisiert sowie theologisch ausgebildet wurden und gegenwärtig an einer Promotion im Fach arbeiten, erleben wir eine bleibende Fremdheit in Bezug auf eine Mehrzahl der kirchlichen Angebote. Wir, (noch) keine 30, Berufsanfängerinnen, stehen für eine Gruppe von Menschen, die sich mit dem Blick auf die Abzüge der Kirchensteuer auf der ersten Gehaltsabrechnung fragen: Ist es mir das wert? Für uns beide stellt sich die Frage dabei gleich zweifach, sowohl aus der Perspektive als Kirchenmitglied als auch aus der Perspektive als potenzielle, zukünftige Pfarrerinnen.

Das Aufkommen dieser doppelten Frage lässt sich dabei unserer Ansicht nach auf eine Grunderfahrung zurückführen: Kirchliche Strukturen haben das Primat vor individueller Lebensrealität.

Unser Eindruck ist, dass kirchliche Strukturen derzeit nicht dem Menschen dienen,

Exemplarisch lässt sich dies an der nach wie vor dominierenden territorialen Logik der Evangelischen Kirchen zeigen, die uns beruflich und privat entgegensteht und somit (territoriale) Struktur vor individuellen Realitäten vorordnet: Die vorherrschende Struktur des Gemeindepfarramtes bedingt, dass wir uns (falls wir zukünftig im Pfarramt arbeiten) für eine Landeskirche entscheiden müssen, sodass wir unsere Arbeitsstelle nicht primär nach inhaltlichen, sondern nach lokalen Gesichtspunkten auswählen müssen. Das Paradigma des Gemeindepfarramts verunmöglicht außerdem die Zusammenarbeit mit Weggefährt:innen aus dem Studium – nicht nur weil das Teampfarramt nicht die Regel ist, sondern weil man oft weder in der selben Landeskirche noch im selben Kirchenkreis angesiedelt ist – mit denen wir gleiche Perspektiven und kirchliche Utopien teilen, was dazu führt, dass kreative Synergien nicht genutzt werden können.

Auch privat sind wir als Kirchenmitglieder wenig an den Angeboten interessiert, denen wir formal qua parochialer Logik zugeordnet sind. Die für uns attraktiven Angebote finden wir fast nie innerhalb unserer Parochie, sondern müssen proaktiv nach ihnen suchen, während Kirche selbst sich nur in Form des Gemeindebriefs an uns wendet und somit primär den Sonntagmorgengottesdienst bereithält. Auch das zweite große Angebot der Kasualien ist nur für diejenigen aus unserer Generation relevant, die mit Hochzeit und Kindern einen normierten Lebensweg einschlagen.33

Unser Eindruck, dass kirchliche Strukturen derzeit nicht dem Menschen dienen, lässt sich auch an schwerwiegenden weiteren Beispielen deutlich machen: So sieht Detlef Zander, Sprecher des Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt der Evangelischen Kirchen, im Föderalismus von Kirche und Diakonie einen der Hauptfaktoren, der sexualisierte Gewalt begünstigt und ihre Aufarbeitung erschwert hat: „In diesem System konnten Täter unentdeckt bleiben oder wurden einfach woanders hin versetzt. Dieser Flickenteppich ist nach der Forum-Studie nicht mehr haltbar.“34 Auch die Stimmen, die sich gegen verschiedene Formen der Diskriminierung in der Kirche einsetzen, weisen auf tiefgreifende strukturelle Schwierigkeiten hin. Beispielsweise engagiert sich Sarah Vecera seit Jahren gegen rassistische Strukturen in Kirche und fordert in Bezug auf People of Color: „Die Kirche hat einen Seelsorgeauftrag – auch gegenüber uns. […] Alles, was wir wollen, ist Gleichberechtigung in einer Kirche, die auf einem Glauben basiert, der von vorne bis hinten von Gerechtigkeit geprägt ist.“35

Wie also, so die Leitfrage für unser Handlungsmodell, kann Kirche so gestaltet werden, dass erfahrbar wird, dass kirchliche Strukturen dazu da sind, Menschen in ihrer Vielfalt zu dienen, und nicht der Eindruck entsteht, dass der Mensch kirchlichen Strukturen entsprechen muss?

3. Hubs als kirchliches Handlungsmodell: Was und Warum?

Das Handlungsmodell respektive die Neustrukturierung, die uns für Kirche vorschwebt, entspricht dem, was in der Wirtschaft als Hubs bezeichnet wird. Im Folgenden erklären wir zuerst, was wir damit meinen, und anschließend, warum wir darin einen Lösungsansatz für die just beschriebene Problemlage sehen.

3.1 Was sind kirchliche Hubs?

Ein Hub bezeichnet eine sogenannte Hauptumschlagsbasis, steht also für einen zentralen Ort, von dem aus Waren und Güter weiterverteilt werden. Eine Vielzahl wirtschaftlicher Unternehmen hat sogenannte Innovationshubs installiert, also Orte, an denen verschiedene Akteur:innen zum kreativen Austausch zusammenkommen.36

Derartige Organisationsformen sind auch im Rahmen der Institution Kirche nicht per se neu: So wurde in der reformierten Kirche im Kanton Zürich vor einigen Jahren das sogenannte RefLab ins Leben gerufen, das sich selbst als „digitales Lagerfeuer für spirituelle Nomad:innen und Entdecker:innen“37 bezeichnet und mit einem Kernteam aus acht Personen in diversen digitalen Formaten (Blog, Podcasts, Instagram, YouTube) Content zu einer Themenbreite von „Theologie und Religion, Psychologie und Seelsorge, Philosophie und Ethik, Spoken Word und Satire, Kultur und Spiritualität, Aktualität und Film“38 produziert.

Dass Hubs aber selbstverständlich auch auf lokaler Ebene anzusiedeln sind, zeigt das MUT-Projekt „church refresh“, indem ein Team aus Haupt- und Ehrenamtlichen den Sozialraum Münchner Innenstadt als Spielwiese für unterschiedliche kirchliche Formen erprobt. In gezielter, inhaltlich-kontextueller Ausrichtung auf die Bedürfnisse und Lebensphasen nicht-kirchlicher Menschen finden sich hier Angebote wie share!Abendessen, Yoga+ oder Hiking Churches.39

Trotz der inhaltlichen Unterschiedlichkeit der beiden Angebote zeichnen sie sich durch zwei Gemeinsamkeiten aus, in denen in unseren Augen ihre besondere Attraktivität – für Kirchenmitglieder und Kirchengestaltende – liegt:

Statt in einem individualisierten Gemeindepfarramt sind die Mitarbeitenden der einzelnen Hubs in größeren Teams organisiert.

1) Statt in einem individualisierten Gemeindepfarramt sind die Mitarbeitenden der einzelnen Hubs in größeren Teams organisiert. Trotz jeweiliger eigener Zuständigkeiten und der Möglichkeit zur selbstständigen Entfaltung in diesen Bereichen ermöglicht dies einen kreativen Austausch, agiles Arbeiten, regelmäßiges Feedback zur ständigen Verbesserung des Angebots sowie ein gabenorientiertes Arbeiten, statt dem Anspruch, Allrounder:in zu sein.

2) Die Mitarbeitenden sind nicht primär für ein bestimmtes territoriales Gebiet zuständig, sondern schließen sich nach einer kontextuellinhaltlichen Logik zusammen. Anders als im Modell der Volkskirche ist das Ziel nicht eine flächendeckende Versorgung der Bevölkerung, sondern vielmehr die Etablierung gut durchdachter Angebote für verschiedene Kontexte.

Unser Handlungsmodell sieht nun vor, die gesamte kirchliche Struktur in Form von Hubs zu organisieren. Kirchliche Mitarbeitende bewerben sich dann nicht mehr auf einzelne Gemeinden, sondern vielmehr auf bestimmte, kontextorientierte Hubs, wobei in unserer Vorstellung eine Bewerbung nicht an eine Landeskirche gebunden ist, sondern vielmehr landeskirchenübergreifend stattfinden kann. So können Ressourcen erheblich gebündelt werden, da beispielsweise nicht jede Landeskirche einen eigenen Digitalen Hub benötigt, sondern dieser einmal im Rahmen der EKD etabliert werden kann. Somit können verstärkt Synergien zwischen den einzelnen Landeskirchen genutzt und Ressourcen eingespart werden.

Die Mitarbeitenden sind nicht primär für ein bestimmtes territoriales Gebiet zuständig, sondern schließen sich nach einer kontextuellinhaltlichen Logik zusammen.

Weiterhin müssen bzw. sollten die Mitarbeitendenteams der einzelnen Hubs keineswegs nur aus Pfarrpersonen bestehen: Gebraucht werden neben Theolog:innen Menschen verschiedener beruflicher Hintergründe, die sich z. B. um Fragen der Organisation und Verwaltung, der Pädagogik oder der Außenkommunikation (z. B. Social Media) kümmern. Somit werden multiprofessionelle Teams etabliert, die aufgabenorientiert arbeiten, sodass Theolog:innen sich auf ihre Kernkompetenzen als Ansprechparter:innen für die theologische Konzeption und Durchführung des Hubs konzentrieren können.

3.2 Warum kirchliche Hubs?

Dieses von uns vorgeschlagene Handlungsmodell reagiert in zweierlei Hinsicht auf unser Anliegen der konsequenten Orientierung kirchlicher Strukturen am Menschen:

Zunächst ist das Konzept kirchlicher Hubs – in unserer Perspektive – für kirchliche Arbeitnehmer:innen attraktiv: Da Hubs nicht auf eine flächendeckende Versorgung einer Parochie abzielen, ermöglicht das Arbeiten in ihnen klare Arbeitszeiten, eindeutige Zuständigkeitsbereiche und Aufgabenteilung durch Teamarbeit sowie interessen- und gabenorientiertes Arbeiten. Dieser Strukturvorschlag reagiert somit auch auf die Überlastungsbeschwerden zahlreicher Pfarrpersonen, die sich nicht zuletzt in hohen Burnout Zahlen widerspiegeln und ein weiterer Beleg für das Primat der Strukturen vor den vielfältigen Bedürfnissen von Menschen sind.40 Ferner dominiert in diesem Handlungsmodell nicht ein Pfarrbild, in das alle Theolog:innen hineinpassen sollten, sondern es ist vielmehr möglich, sich für den Hub zu entscheiden, welcher der eigenen Weise, das Evangelium zu kommunizieren, am meisten entspricht.

Wir plädieren mit unserem Handlungsmodell also dafür, dass Kirche durch themen- und kontextspezifische Hubs konsequent diversitätssensibel agiert, um die frohe Botschaft nicht nur für einen Prototyp von Menschen erfahrbar zu machen.

Vor allem aber sehen wir in Hubs die Chance, Kirche so zu strukturieren, dass sie einem diversitätssensiblen Menschenbild gerecht wird: Anstatt von dem Menschen innerhalb kirchentheoretischer Fragestellungen zu sprechen, können mithilfe des Konzepts der Hubs komplexe Lebenswirklichkeiten unterschiedlicher Menschen in ihrer Vielfalt ernstgenommen und lebensbejahend unterstützt werden. Jeder Hub richtet sich an einer anderen Zielgruppe aus, sodass Kirche nicht mehr nach der Logik aufgebaut ist, alle Menschen mit denselben Angeboten zu versorgen. Vielmehr wird in jedem Hub, Evangelium auf unterschiedliche Weise, kontextspezifisch kommuniziert. Durch diese Vielfalt an subjektbezogenen kirchlichen Angeboten soll strukturell umgesetzt werden, dass nicht der Mensch in das Christentum passen muss, sondern dass das Christentum dem Menschen dient. Wir plädieren mit unserem Handlungsmodell also dafür, dass Kirche durch themen- und kontextspezifische Hubs konsequent diversitätssensibel agiert, um die frohe Botschaft nicht nur für einen Prototyp von Menschen erfahrbar zu machen. Kirchliches Angebot kann so in einer Weise radikal subjektbezogen und qualitativ hochwertig ausgestaltet werden, wie es das derzeitige Konzept des Gemeindepfarramts niemals leisten kann.

Allerdings ist auch hier Vorsicht geboten: Zwar ermöglichen Hubs in unserer Perspektive ein agiles Arbeiten und eine flexible Gestaltung von Kirche, da Hubs weniger als statische Gebilde zu verstehen sind, sondern immer wieder auch neue entstehen und alte aufgegeben werden können, gleichzeitig kann Diversitäts- und Machtsensibilität nicht nur durch bestimmte Strukturen etabliert werden, sondern bedarf permanenter Reflexion. Zum einen gilt es daher, konsequent darauf zu achten, dass schon die Hubs selbst im intersektionalen Sinne (bezüglich Hautfarbe, Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung, Bildungshintergrund und beruflicher Ausbildung) divers sind, um blinde Flecken zu vermeiden und nicht immer nur für dieselbe Zielgruppe (bildungsbürgerlich, weiß, heteronormativ) Angebote zu etablieren. Wir fordern außerdem – schon jetzt, aber auch in unserer Utopie von kirchlichen Hubs – die unbedingte Bereitschaft von kirchlichen Entscheidungsträger:innen und Mitarbeitenden, ihr Problembewusstsein zu schärfen, indem regelmäßig Schulungen, Präventionskampagnen und konsequente Aufarbeitung von Machtverhältnissen durchgeführt werden.

4. Finanzierung

Dieses Plädoyer leitet bereits zu der Frage nach benötigten Ressourcen über, die dementsprechend nicht ausschließlich finanziell beantwortet werden sollte: Wie beispielsweise die Erprobungsräume der EKM zeigen, ist für die Etablierung neuer Sozialformen von Kirche nicht allein die finanzielle Förderung ausschlaggebend. Ebenso zentral sind die Etablierung einer konsequenten Projektentwicklung, Coachings und der Aufbau von Partnerschaften, z. B. zu (Landes-, Kirchenkreis-) Ämtern, durch konkrete Ansprechpersonen.41

Selbstredend stellt sich aber auch die Finanzierungsfrage, die ebenfalls aufbauend auf Erfahrungs- und Evaluationsberichten der landeskirchlichen Innovationsprogramme beantwortet werden kann. So haben etwa die Erprobungsräume der EKM ihre Förderrichtlinien darauf ausgelegt, dass auf bis zu acht Jahre 50 % der Kosten durch eine Sockelfinanzierung von Seiten der Landeskirche übernommen werden und sich die Erprobungsräume darüber hinaus um alternative Finanzquellen kümmern. Obwohl dies zunächst schleppend lief, lassen der aktuelle Monitoringbericht42 und die neu erarbeiteten Hilfestellungen für Fundraising-Kampagnen hier Potential erkennen.

Anstatt klassische parochiale Angebote nach dem Gießkannenprinzip zu finanzieren, plädieren wir für eine verstärkte finanzielle Aufmerksamkeit gegenüber der Ausgestaltung neuer Hubs.

Ferner bedingt unser Handlungsmodell intensive Exnovations- und Ressourcenbündelungsprozesse (wie die Bündelung digitaler Arbeit auf Ebene der EKD). Damit ein Strukturwandel eintritt, wird einiges wegfallen müssen, um dafür zu sorgen, dass Hubs nicht als Exot neben dem alten System parallel existieren. Neu entstehende Hubs können somit wesentlich von den freiwerdenden personellen und finanziellen Ressourcen profitieren. Die Frage der Finanzierung entscheidet sich außerdem auch daran, wie Kirchen finanzielle Schwerpunkte legen: Anstatt klassische parochiale Angebote nach dem Gießkannenprinzip zu finanzieren, plädieren wir für eine verstärkte finanzielle Aufmerksamkeit gegenüber der Ausgestaltung neuer Hubs. Auch in Zeiten von Transformation und knapper werdenden Mitteln muss in experimentelle Hubs investiert werden.

5. Fazit und Ausblick

Mit der Etablierung kirchlicher Hubs schlagen wir ein Handlungsmodell vor, das sicherlich eine gewisse Radikalposition in der mittlerweile jahrelangen Diskussion um die Verhältnisbestimmung zwischen parochialen und nichtparochialen Sozialformen von Kirche einnimmt: Auch wenn, wie am Beispiel von Church Refresh gezeigt, selbstredend weiterhin lokale Angebote vorgesehen sind, steht unser Modell einer flächendeckenden parochialen Versorgungslogik entgegen. Eine konsequente Umsetzung unseres Handlungsmodells bedingt daher nicht nur den Aufbau neuer Strukturen, sondern insbesondere auch intensive Exnovationsprozesse auf verschiedenen kirchlichen Ebenen, da einige nach wie vor festetablierte Angebote wie der Sonntagsmorgengottesdienst hier nicht mehr im bisherigen Umfang selbstverständlicher Teil kirchlichen Lebens sind. Unser Handlungsmodell bedingt eine umfassende Umstrukturierung in mehrerlei Hinsicht wie eine verstärkte, enge Zusammenarbeit auf Ebene der EKD sowie zwischen den einzelnen Landeskirchen oder auch die Neuausrichtung der Ausbildung zum Pfarramt, bei der nicht das Pfarrbild der:s Gemeindeleiter:in zentral ist, sondern die Förderung teamfähiger, changebereiter Theolog:innen, die ein hohes Reflexionsvermögen über die eigene gabenorientierte Weise, Evangelium zu verkünden, besitzen.

Auch wenn die Radikalität des Vorschlags also möglicherweise utopisch anmutet, ist ein Weiterdenken in diese Richtung von unserem Standpunkt aus lohnend: Wie deutlich werden sollte, wird in dieser Denkrichtung aus unserer Perspektive nicht nur der Pfarrberuf attraktiver, sondern es kann somit v. a. strukturell dafür gesorgt werden, dass kirchliche Angebote sich diversifizieren, um der Vielfalt menschlichen Lebens stärker als bislang gerecht zu werden.

Praxis

Kirche als Caring Community – ein Modell mit Zukunftspotenzial

1. Hier wird füreinander gesorgt!

Das Café Bohne in Kirchheim bei Heidelberg ist offen für alle Menschen, unabhängig von ihrem Lebensalter und ihrem sozialen Hintergrund.43  Unter dem Dach des kirchlichen Begegnungszentrums kommen viele zusammen, die unterschiedliche Interessen haben und in angenehmer Atmosphäre einfach nur einen guten, fair gehandelten Kaffee trinken möchten oder an einer der zahlreichen sozialen Aktivitäten teilnehmen möchten. Workshops und Vorträge zu unterschiedlichen Themen, die keineswegs nur religiös sind, bilden das Rahmenprogramm. Menschen werden in ihrer Fähigkeit zur Selbsthilfe gemessen an ihren Bedürfnissen und der aktuellen Lebenssituation unterstützt und können sich bei einem Cafébesuch niederschwellig über soziale Unterstützungsmöglichkeiten informieren. Auch seelsorgliche Begleitung in Lebenskrisen oder lebensgeschichtlichen Umbrüchen, aber auch Seelsorge im normalen Alltag bei Gelegenheitsbegegnungen gehören als fester Bestandteil zum Angebot. Das Café lebt davon, dass sich Menschen abhängig von ihren Gaben und Interessen einbringen, vom intergenerationellen Austausch und Lernen voneinander sowie davon, dass alle eine Haltung des gegenseitigen Interesses und einen wertschätzenden Blick aufeinander teilen. Die Räumlichkeiten werden in diesem Fall von der Kirchengemeinde zur Verfügung gestellt, die andere Sozialraumakteur*innen nutzen können. Die offene und inklusive Atmosphäre des Cafés ist ein wichtiger Faktor für die soziale Integration und die Inklusion, die durch soziale Aktivitäten, wie Workshops und Spieleabende gestärkt wird und soziale Interaktion und die Teilhabe aller ermöglicht. Es ist ein Ort, an dem Menschen sich treffen, kennenlernen, sich austauschen und sich gegenseitig unterstützen können.

Zentral für die Entstehung solcher Projekte ist eine Gruppe von Menschen, die sich für die Förderung von sozialer Integration und Inklusion einsetzt und nicht nur im Raum von Kerngemeinde engagiert ist.

Im Projekt wird der Gedanke von einer Gemeinschaft, in der alle miteinander füreinander sorgen, konsequent umgesetzt. Mit dem offenen Charakter ist das Café eine besondere Form, Kirche zu leben, die niederschwellig und einladend ist für Menschen verschiedener Hintergründe und nicht zwangsläufig einen explizit religiösen oder christlichen Charakter hat. Zentral für die Entstehung solcher Projekte isteine Gruppe von Menschen, die sich für die Förderung von sozialer Integration und Inklusion einsetzt und nicht nur im Raum von Kerngemeinde engagiert ist. Spezifikum solcher Projekte ist, dass sie jeweils sowohl von der Kirchengemeinde als auch von einer kooperativen Struktur aus ehrenamtlichen Mitarbeitenden und Hauptamtlichen seitens der Kirche(n), weiteren sozialräumlichen Akteur*innen (z. B. Sozialdienste) sowie Verantwortlichen aus Ortsgemeinde oder Stadt getragen werden. Sorgende Gemeinden leben von einer Gegenseitigkeit und einer an gemeinsamen Zielen orientierten Kooperation, die häufig auch an einer geteilten finanziellen Trägerschaft erkennbar ist. Durch Prozesse gemeinsamer Entscheidungsfindung soll sichergestellt werden, dass plurale Interessen berücksichtigt und Entscheidungen im besten Interesse aller getroffen werden können.

Herausforderungen durch Säkularisierung und Pluralisierung und die Idee Sorgender Gemeinschaften

Die fortschreitende Säkularisierung und Pluralisierung in westlichen Gesellschaften stellen die traditionelle Rolle der Kirche als Organisation und Institution sowie ihre damit verbundenen Interaktionsprozesse auf eine harte Probe. Gleichzeitig entwickeln sich innovative Modelle des Zusammenlebens, die sich auf Prozesse der Pflege und Sorge mit dem Blick auf die Bedürfnisse der alternden Gesellschaften und der sich verändernden Demografie einstellen. Ein möglicher Ansatz, um diese Herausforderungen aktiv anzugehen, ist das Konzept der „caring community“, das Sorge weder als individuelle Aufgabe noch als kirchliche Zuständigkeit, sondern als kollektive Verantwortung versteht, welche die Gesellschaft als Ganze umfasst.44

Das Konzept der „caring community“ versteht Sorge weder als individuelle Aufgabe noch als kirchliche Zuständigkeit, sondern als kollektive Verantwortung, welche die Gesellschaft als Ganze umfasst.

Die Idee der „Sorgenden Gemeinschaft“ zielt darauf ab, ein Miteinander und Füreinander innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft zu fördern, die auf lokaler Ebene durch Nachbarn, das sich gegenseitig in ihrem Alltag unterstützen, oder auf einer größeren Ebene durch Projekte, die sich an die Bedürfnisse der Gemeinschaft anpassen, realisiert werden kann. Solche Gemeinschaften sind als Teil der Gesellschaft konzipiert und verstehen sich als Gemeinschaften im Plural, die sich durch geteilte Werte, gemeinsame Aufgaben und Ziele, die Teilhabemöglichkeit aller und die kommunikativen Selbstorganisation unter Mitwirkung verschiedener Akteur*innen tragen. Sechs Merkmale sind nach Peter Zängl für sorgende Gemeinschaften konstitutiv: Sie leben von einer verbindlichen Gemeinschaft, die auf geteilten Werten basiert und in gegenseitiger Verantwortung und Sorge füreinander besteht, ermöglichen Beteiligung durch strukturelle Organisation der Teilhabenden und Tausch von Ressourcen. 45

Im Folgenden soll die Idee sorgender Gemeinschaften nicht einfach auf Kirche übertragen bzw. damit identifiziert werden, sondern es wird danach gefragt, wie Kirche in und mit Gesellschaft interagiert und im Sozialraum zur verantwortlichen gegenseitigen Sorge als tragendem Element des Miteinanders beiträgt.

Sorge überzeugt: Kirche als sorgende Gemeinschaft hat hohes Ansehen

Die Kirchen haben sich in den letzten Jahren verstärkt mit der Bildung von sorgenden Gemeinschaften auseinandergesetzt. Diese Gemeinschaften sollen nicht etwa als Ersatz für traditionelle Sorgestrukturen dienen, sondern als eine neue Form der Sorge, die sich auf die Bedürfnisse der Gemeinschaft einstellt. Kirchen sehen in der Bildung von sorgenden Gemeinschaften eine Möglichkeit, die Krise und den Bedeutungsverlust der Kirche konstruktiv zu bearbeiten. Denn eine Kirche, die für andere da ist, überzeugt Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche(n). Nicht zuletzt ist dies ablesbar an den Daten der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Als wichtigster Mitgliedschaftsgrund wird nicht etwa ein eigenes Interesse an Religion, Werten oder Ritualen genannt, sondern die Eigenschaft von Kirche, etwas für andere Menschen, z. B. Arme und Bedürftige, zu tun. Dem stimmen 50 % der evangelischen und 42 % der katholischen Befragten zu.46

Kirche im Sozialraum: Elemente einer sorgenden Kirche

Pointe eines Kirchenverständnisses, das Sorge ins Zentrum rückt, ist dabei eine Umkehr der kirchlichen Eigenlogiken. Es wird also nicht danach gefragt, wie Kirche im Kern organisiert werden kann und wie Verkündigung gelingt, sondern im Miteinander verschiedener Akteur*innen in der Gesellschaft, von denen Kirche als Teil verstanden wird, realisiert sich Kirche in einer diakonischen, zugewandten und seelsorglichen Gestalt.

Eine Kirche, die für andere da ist, überzeugt Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche(n).

Theologisch hat dieses Kirchenverständnis darin, dass das Evangelium sich in Haltung und Handeln am anderen Menschen realisiert und damit Kirche nicht bei sich selbst bleibt, sondern über die institutionellen und organisatorischen Grenzen hinaus in die Kommunikation drängt. Dietrich Bonhoeffer spitzte dies so zu, dass Kirche nur Kirche sei, wo sie für andere da sei. Ihr konstitutives Element liegt also in der Zuwendung zum Anderen, was bis in die biblische Überlieferung hineinreicht (z.B. pointiert Lk 10). Prägnant lässt sich dieses Kirchenverständnis besonders etwa seit den 1960er Jahren beobachten: Es geht mit einer verstärkten Individualisierung und Säkularisierung einher, durch die Forderungen nach einer Zuwendung zur „Welt“ und zur Gesellschaft laut werden.47

Welche Elemente eine sorgende Kirche kennzeichnen, wird in den folgenden Punkten präzisiert.

Partizipation

Sorgende Gemeinschaften leben von Teilhabe und Inklusion, die über die lose Zusammensetzung von einzelnen Mitgliedern hinausreicht. Sie sind prinzipiell einladend und grenztranszendierend gedacht.48 Nur weil viele mitwirken und sich beteiligen, kann sich eine Gemeinschaft entwickeln, die nicht den Interessen einzelner folgt und eher bottum up statt top down organisiert ist. Dazu braucht es viele, die bereit sind, ihre Kompetenzen und Ressourcen einzubringen. Konstitutiv sind daher nicht nur professionelle Akteur*innen, sondern auch freiwillig bzw. ehrenamtlich Beteiligte, die mitwirken und ihre Gaben einbringen können. Eine flexible und an die Bedürfnisse der Gemeinschaft angepasste Organisationsstruktur kann dazu beitragen, dass Freiwillige längerfristig engagiert bleiben. Im kirchlichen Leben sind freiwillig Engagierte mittlerweile für deren Fortbestehen in vielerlei Hinsicht sehr wichtig geworden. Im Rahmen von sorgenden Gemeinschaften können sich Engagierte partizipativ im Rahmen ihrer Möglichkeiten einbringen.

Bedürfnisorientierung statt kirchlicher Angebotslogik

Eine sonst übliche kirchliche Logik kehrt sich im Zusammenhang mit sorgenden Gemeinschaften um. Kirche wird nicht, wie sonst weitgehend üblich, von Angeboten her gedacht, die von kirchlichen Mitarbeitenden für andere entwickelt und bereitgestellt werden.49 Vielmehr basieren sie auf einer präzisen Wahrnehmung dessen, was vor Ort gebraucht und gewünscht wird und welche Themen und Sorgen dort vorherrschen. Sorgende Gemeinschaften gehen demnach nicht von einer normativen Vorgabe des „guten Zusammenlebens“ aus, sondern rekonstruieren dieses aus der empirischen Wirklichkeit der Partizipierenden. Kirche wird zur bedürfnisorientierten Gemeinschaft, die danach fragt, was andere brauchen („Was willst du, dass ich dir tun soll?“ Lk 18,41). Leitvorstellung ist Altruismus statt Selbstzweck oder kirchliches Eigeninteresse.

Diakonie und Seelsorge

Konstitutiv sind Diakonie und Seelsorge für die gegenseitige Sorge, sowohl in inhaltlicher als auch professioneller Hinsicht. Während traditionell beide Felder eher dazu tendieren, aus der Kirche auszuwandern und sich in Spezialfelder und Institutionen zu organisieren, wird die Verschränkung beider Aufgabengebiete von Kirche zentral. Zugleich formieren sich diakonische und seelsorgliche Aufgaben fluide und losgelöst von fest umrissenen Organisationen und Angeboten, wie Diakonie oder Beratungszentren, oder entstehen im Miteinander und in Kooperation von Institutionen und Einrichtungen.

Kirche wird zur bedürfnisorientierten Gemeinschaft, die danach fragt, was andere brauchen. Leitvorstellung ist Altruismus statt Selbstzweck oder kirchliches Eigeninteresse.

So wachsen Gemeindestrukturen, lokale Gemeinden und Institutionen und Organisationen wie Diakonie oder Beratungszentren wieder mehr zusammen und widmen sich gemeinsam den vor Ort virulenten Themen.50 Diakonie und Seelsorge werden dementsprechend als konstitutiv für Kirche gedacht, nicht nur als deren randständige Sonderfelder, die in eigenen Institutionen oder Einrichtungen wie Beratungsstellen angesiedelt sind.51 Eine seelsorgliche und diakonische Kirche basiert zunächst auf der sensiblen Wahrnehmung dessen, was gebraucht wird (Bedürfnisorientierung), und lebt davon, dass Menschen einander im Blick haben und aneinander und an dem, was lebensgeschichtlich beschäftigt, Interesse zeigen. Kirche wird glaubwürdig durch ihr diakonisches und seelsorgliches Engagement und überzeugt so auch jene, die der Kirche sonst eher fernstehen und ihre Angebote und Dienstleistungen vielleicht selbst gar nicht in Anspruch nehmen.52

Öffnung in den Sozialraum

Kirchliche Räume bilden nicht mehr zwangsläufig das Zentrum kirchlicher Interaktion. Vielmehr sind sie manchmal zwar Ausgangspunkt oder wertvolle Ressource als Treffpunkt, werden aber häufig ergänzt durch andere räumliche Angebote und Strukturen. Kirche öffnet sich in den Sozialraum hinein. Grenzen zwischen Innen und Außen, Kerngemeinde und lose Verbundenen fließen ineinander und trennende Dichotomien werden aufgelöst. Angestoßen durch die Orientierung zum Sozialraum werden dessen vielfältige Ressourcen entdeckt und so etwa neue Kooperationen angestoßen, etwa wenn Kirchengemeinden mit Diakonie und kommunalen Trägern zusammenarbeiten. Gerade für strukturell schwache Gebiete oder den ländlichen Raum, die vom Abbau von Sozialstrukturen bedroht sind, schaffen Initiativen im Sinne sorgender Gemeinschaften neue Möglichkeiten.

Gemeinschaft vs. Gemeinde

Wird Kirche als sorgende Gemeinschaft gedacht, steht eine Gemeinschaft im Fokus, die prinzipiell offen und fluide gedacht ist und nicht einer geschlossenen Gruppe ähnelt. Damit wendet sich das Modell gezielt gegen eine binnenkirchliche Perspektive, die eine feste Zugehörigkeit über Mitgliedschaft, Religiosität oder Teilnahme an bestimmten Aktivitäten generiert. Gemeinschaft ist gleichwohl als offen und einladend gedacht und kann sich auch punktuell herstellen.

Gemeinschaft und Verbindlichkeit stehen immer in konstruktiver Spannung zu Offenheit und Vielfalt.

Das gemeinsame Ziel einer Sorge mit- und füreinander impliziert aber keinesfalls eine Beliebigkeit, sondern braucht eine gewisse Verlässlichkeit in der Gestaltung, um Sorgebeziehungen überhaupt realisierbar zu machen. Insofern stehen Gemeinschaft und Verbindlichkeit immer in konstruktiver Spannung zu Offenheit und Vielfalt. Notwendig sind eine Verständigung über gemeinsame tragende Werte und die Orientierung an Zielen.53

Beteiligung Freiwilliger: Auflösung traditioneller Hierarchiestrukturen

Eine sorgende Kirche lebt von freiwillig Engagierten und transzendiert dadurch vorherrschende Machstrukturen, wie sie in traditionellem kirchenleitendem Handeln häufig perpetuiert werden. Engagement kann Selbstwirksamkeit und positives Selbsterleben fördern. Machtstrukturen und Hierarchieverhältnisse werden durch die Betonung von Gemeinschaft und Freiwilligkeit gezielt gebrochen. Es geht nicht nur um diejenigen, die professionell sorgen oder als Theolog*innen die Gemeinde mitleiten und ihre Ideen vorgeben. Es geht um diejenigen, die die Gemeinschaft selbst bilden. Dennoch können nicht alle gleich beteiligt, gleich engagiert sein. Es braucht diejenigen, die hauptamtlich organisatorisch mitsteuern und materiell und personell unterstützen. Und es braucht diejenigen, die ehrenamtlich mitgestalten, die vielen, die ansprechbar sind für materielle, spirituelle, seelsorgliche oder diakonische Anliegen.

Eine gute Koordination und Kooperation aller Beteiligten ist für eine Voraussetzung. Menschen in Leitungsfunktionen müssen sich darum ihrer Rolle des Ermöglichens und Ermächtigens bewusst machen. Es braucht Empowerment, das ehrenamtliches Engagement ernstnimmt und gleichberechtigt behandelt und damit überzeugt ist davon, dass die Umgestaltung und Gestaltung von Zusammenleben nicht allein durch Professionelle getragen werden kann.54 Vielmehr wird dies gerade aus der Perspektive der sorgenden Gemeinschaften als Hybris und Selbstüberschätzung einer hauptamtlich geprägten Kirche entlarvt: Nicht von oben herab kann Kirche gesteuert und verwaltet werden, sondern gelebt wird sie dort, wo sie sich vor Ort in Auseinandersetzung mit Menschen, in den Beziehungen von Menschen miteinander und zueinander realisiert.

Bedeutung für kirchenferne Kontexte

Sorgende Gemeinschaften im Sozialraum sind nicht zwangsläufig kirchlich. Sie sind niederschwellig und laden auch Menschen ein, die den expliziten christlichen Inhalten skeptisch oder fern gegenüberstehen. Dennoch spielt das Christliche in der Begründung des sorgenden Miteinanders für die einzelnen Akteur*innen eine Rolle und kann aus theologischer Sicht als eine Form gelebter Religion angesehen werden.55 Es bleibt dennoch eine Zweckfreiheit insofern bestehen, dass es nicht um die Gewinnung neuer Kirchenmitglieder geht, sondern kirchliches Engagement im Gemeinwesen als gewissermaßen zweckfrei und ohne Eigeninteressen verfolgt werden sollte. Dennoch ist Sorge nicht beliebig, sondern orientiert sich in Haltung und Grundintention an der christlichen Botschaft, die voraussetzt, dass alle Menschen grundlegend bedürftig und vulnerabel sind.56 Damit werden auch Räume und Gelegenheiten geschaffen, die Spiritualität jenseits geprägter gemeindlicher Strukturen erfahrbar machen.

Nicht von oben herab kann Kirche gesteuert und verwaltet werden, sondern gelebt wird sie dort, wo sie sich vor Ort in Auseinandersetzung mit Menschen, in den Beziehungen von Menschen miteinander und zueinander realisiert.

Versteht sich Kirche als eine Akteurin im Sozialraum und in Kooperation mit anderen Akteuren der Gesellschaft, dann werden Ressourcen miteinander geteilt und neue möglicherweise geschöpft. Zahlreiche Projekte, die als Kooperation im Blick auf gemeinsame Sorgeprozesse und Gestaltung des Sozialraums hin bezogen sind, können durch Fundraising und Drittmittel jenseits kirchlicher und staatlicher Eigenmittel erst nachhaltig bestehen.57 Diese neuen Möglichkeiten könnten auch in Zeiten sinkender kirchlicher Ressourcen eine Chance sein.

Zukunftspotenziale und Herausforderungen sorgender Kirche

Zahlreiche Praxisbeispiele zeigen mittlerweile, auf welche Weise Kirche sich erfolgreich in den Sozialraum hinein engagiert und davon auch das Selbstverständnis kirchlicher Akteur*innen entscheidend geprägt wird.58 Vom Engagement für pflegende Angehörige in der Nachbarschaft59 über die Organisation von Vesperkirchen60 bis zum Aufbau gemeinsamen Wohnraums im Quartier61 können die Realisierungsformen von sorgenden Gemeinschaften sehr vielfältig sein. Die Evangelische Landeskirche in Baden fördert beispielsweise gezielt Projekte, die auf eine Ausweitung des Gemeindeverständnisses hinein in soziale Nahraumstrukturen hinwirken wollen. Sind zu Beginn noch viele Projekte im Rahmen von Pflege und der Sorge um und für ältere Menschen entstanden, so zeichnet sich mittlerweile ein Trend hin zur Intergenerationalität ab.62 Gegenseitige Sorge in diakonischer und seelsorglicher Prägung ist für alle Generationen und ungeachtet anderer menschlicher Eigenschaften wie Geschlecht, kulturelle Herkunft oder persönliche Fähigkeiten für ein gutes Zusammenleben bedeutsam. Auch andere Beispielprojekte zeigen, wie Kirche sich durch das Modell der sorgenden Gemeinschaften transformieren kann und dabei einladend und inkludierend wirkt.63 Stark am Modell einer sorgeorientierten Kirche ist zweifelsohne die leicht überzeugende Plausibilisierung von Kirche in der Gegenwart.64
Neben zahlreichen Zukunftspotenzialen, die bereits angerissen wurden, wie nachhaltige Gestaltung von Gemeinschaft, Glaubwürdigkeit und Einladungscharakter von Kirche und verantwortlicher Mitwirkung im Gemeinwesen, sind auch kritische Rückfragen an das Modell zu stellen.

Beispielprojekte zeigen, wie Kirche sich durch das Modell der sorgenden Gemeinschaften transformieren kann und dabei einladend und inkludierend wirkt.

Sorgende Gemeinschaften basieren auf Partizipation und freiwilliger Beteiligung. Sie sind nicht einfach herzustellen, sondern können nur ermutigt werden und in ihren Rahmenbedingungen mit den besten Entwicklungschancen ausgestattet werden. Eine sorgende Beziehung zwischen Menschen entfaltet sich dann, wenn eine gute Kultur der Gemeinschaftlichkeit von den Beteiligten gelebt und erfahren wird.65 Exemplarisch zeigen empirische Befragungen, wie Mitglieder von sorgenden Gemeinschaften immer wieder um die tragenden Grundwerte ihrer Gemeinschaft und Sorge diskutieren und ringen und damit ein Fundament dafür schaffen, was dann gemeinsam getan und organisiert werden soll.

Wenn sorgende Gemeinschaften auf geteilten Werten basieren66, dann müssen solche Werte auch ausgehandelt und kommuniziert werden. Zugleich werden Gemeinschaften immer zwischen Kohäsion und geteilten Überzeugungen als ihrer Grundlage, aber auch aus Spannungen und Vielfalt leben. Wertekonsens und -pluralität zu leben, Offenheit und zugleich Orientierung zu geben, ist nicht immer leicht zu vereinbaren. Kirchen können mit ihrer Expertise im Dialog der Gegensätze und wertorientierten Perspektiven auf Gesellschaft einen wertvollen Beitrag zur Gestaltung dieser Spannungsverhältnisse und Ambivalenzen liefern.

Die Frage, wer Sorge am Ende wirklich übernimmt und nicht nur organisiert oder koordiniert, ist in diesem Modell von Kirche wesentlich. Während der Partizipations- und Teilhabeorientierung klare Vorteile abzugewinnen sind, wird an manchen Stellen in der Umsetzung doch deutlich, dass es doch häufig daran hängt, wer genügend Ressourcen aufbringen kann, um anderen Sorge zuteilwerden zu lassen. Diejenigen, die über weniger Ressourcen und Kapazitäten verfügen, sich aktiv einzubringen, brauchen eher Angebote, die niederschwellig und gut verfügbar sind. Hier sind aber Cafés Beispiele, die beides miteinander verbinden. Sie sind ein bekanntes, niederschwelliges Angebot, bei dem ohne Voraussetzungen, Kenntnisse oder sonstiges erreichbar und zugänglich sind. Schieflagen hinsichtlich von Genderaspekten (Frauen sind weitaus häufiger in tätiger diakonischer oder pflegerischer Sorge aktiv) oder Ressourcenverteilung (freiwilliges Engagement können sich v. a. diejenigen leisten, die finanziell und zeitlich gut gestellt sind) sind keine Seltenheit und sollten seitens der Kirchen kritisch proaktiv reflektiert werden. Zudem muss der Gefahr eines Abbaus von sozialstaatlichen Leistungen durch sorgende Gemeinschaften präventiv begegnet werden, sonst droht eine Ausbeutung.67 Die Problematik einer aktiven Mitgestaltung und Partizipation liegt auch darin, dass viele kirchendistanziert sind und sich erst diejenigen zu einer aktiven Partizipation und Mitarbeit bewegen lassen, die den Angeboten und der Kirche selbst näher stehen. Eine Chance liegt darum in sorgenden Gemeinden, die nicht von vorherein kirchlich „etikettiert“ sind.

Sorge ist nie abstrakt, sondern vollzieht sich konkret. Und dafür lohnt es sich, kirchliche Ressourcen einzusetzen.

Sorgende Gemeinschaften benötigen in ihrer lebendigen Ausgestaltung immer auch Ressourcen und Konkretion: Zum Erfolg tragen konkrete Personen, die in Beziehung gehen und bereits sind, verantwortliche Sorgeprozesse mitzugestalten, konkrete Räume, in denen sich Menschen begegnen und sich austauschen können, sowie konkrete Zeiten bei, die der Gemeinschaft zur Verfügung stehen. Sorge ist nie abstrakt, sondern vollzieht sich konkret. Und dafür lohnt es sich, kirchliche Ressourcen einzusetzen.

Am Ende liegt die Pointe darin, dass Kirche nicht um ihrer selbst Willen da ist. Sie als unsichtbare Kirche jenseits von Organisation und Institution mit dem Sozialraum verschränkt, und verfolgt durch ihr sorgendes Handeln Ziele, die weit über eine Mitgliederorientierung und -gewinnung hinausreichen. Dabei werden sorgende Gemeinschaft und Kirche nicht miteinander identifiziert. Andererseits wird Kirche auch nicht nahtlos mit Gesellschaft gleichgesetzt, vielmehr geht es um eine Kooperation im Interesse eines guten Miteinanders, das offen ist für Pluralität und Vielfalt. Kirche kann so ein Ort sein und andere Orte schaffen, an denen Menschen mit verschiedenen Interessen, Lebensgeschichten, Traditionen und kulturellen Verwurzelungen zusammenkommen.

Es geht um eine Kirche, die theologisch gesprochen, in die Welt hineinwirkt, sie verändern will und dabei weder identisch mit Welt ist, auch wenn es eine weltliche Seite der Kirche selbstverständlich gibt. Sie ist andererseits aber auch nicht getrennt von der Welt als eine Sozialsphäre für sich zu verstehen. Hier wird ein positives Bild von Kirche geschaffen: Kirche cares, nicht nur um und für sich selbst, sondern für alle Menschen, die (in) ihr begegnen. Kirche ist damit der abstrakten Instanz von Organisation und Institution enthoben und verwirklicht sich in Begegnungen und lebendigen Beziehungen.

In den aktuellen kirchlichen Transformationsprozessen kann die Orientierung am Modell der sorgenden Gemeinschaften einen heilsamen, korrigierenden Effekt einbringen. Während diese Transformationsdiskurse dazu neigen, sich immer um kirchliche Binnenwelten zu drehen, wird beim Konzept der Sorgenden Gemeinschaft aus einer anderen Perspektive auf Kirche geschaut. Es geht darum, was Kirche in Verbindung mit anderen zu einer Gestaltung von Beziehungen und dem Miteinander von Menschen beitragen kann, die gemeinsam an einem Ort leben und ein lebenswertes Miteinander gestalten, in dem unterschiedliche Bedürfnisse und Voraussetzungen Platz haben.

Für Interessierte:

Praxis

Sorgt euch (aber bitte nicht um euch selbst) – Perspektiven für eine „caring church“

Endlich wieder in einem „richtigen“ Buchladen. Es ist viele Jahre her, aber die Erinnerung an die Zeit ist stark, als hier großartige Kinderbücher gekauft wurden, zahllose Buchgeschenke für Freund_innen, spannende Krimis für den Urlaub. Dank einer top sortierten Fachabteilung für Philosophie, Psychologie und Soziologie konnte man stets auch beruflich vom Know-how der Inhaberin und ihres Teams profitieren. Seitdem wurden die Besuche in dem kleinen, aber feinen Geschäft rar. Als es letztlich wieder einmal so weit war, fielen die großen Lücken in den Buchregalen schmerzlich ins Auge.

„Wie läuft das Geschäft?“ – Diese Frage kennt jede_r Unternehmer_in – und hasst sie in Zeiten vermehrter Konkurrenz, sinkender Nachfrage, steigender Ausgaben und rückläufiger Gewinne. Es schmerzt und braucht Zeit, zu realisieren, dass die einmal so überzeugende Geschäftsidee nicht mehr recht funktionieren mag. Der einen fällt dann ein, wie man aus früher Bewährtem und jetzt für Kund_innnen scheinbar uninteressant Gewordenem wieder ein „gutes“ Geschäft machen kann; dem anderen bleibt nur der Rückzug vom Markt.

Es macht für uns Sinn, Kirche als „Unternehmung“ und hier insbesondere Kirchengemeinden als deren „Filialen“ vor Ort in den Blick zu nehmen.

„Wie läuft das Geschäft?“ – Irgendwas sperrt sich dagegen, diese Frage auch den Verantwortlichen für die so vielen und unterschiedlichen kirchlichen Angebote zu stellen. Kaum jemand hier agiert aus kommerziellen Motiven, Wettbewerbsdenken scheint den meisten fremd. Aber wenn Vergleiche bekanntlich häufig auch hinken: Es macht für uns Sinn, Kirche als „Unternehmung“ und hier insbesondere Kirchengemeinden als deren „Filialen“ vor Ort in den Blick zu nehmen. Dass solches „Gemeindegeschäft“ nicht nur in der Krise steckt, sondern oftmals bereits „Konkurs“ anmelden musste bzw. dies absehbar tun muss, ist bekannt und beschrieben.62

Die nachfolgende Skizze setzt hier nicht den Versuch entgegen, die Gemeindeidee wieder zu vitalisieren.68 Vorgeschlagen wird vielmehr ein „Geschäftsmodell“, das – was paradox anmuten mag und soll – nicht selbstbezüglich den kirchlichen Erfolg anstrebt („lebendige Gemeinde“), sondern Ziel und Zweck allen Handelns in der Sorge der Anderen um die Anderen sieht – und dieses Sorgeengagement aus dem Selbstverständnis einer „caring church“ heraus selbstlos-subsidiär zu unterstützen versucht.69

1. Raus aus der Problemtrance

Wer lösungsorientiert denkt, handelt und mehr oder weniger professionell berät, weiß um die Wirkung, die erzielt werden kann, wenn nicht mehr bzw. nicht ausschließlich das im Zentrum steht, was nicht (mehr) gelingt oder was (noch) nicht den eigenen Vorstellungen und Wünschen entspricht, sondern die Aufmerksamkeit sich richtet auf das bereits Erreichte, den erzielbaren Kompromiss, die zweitbeste Lösung etc. Schon mancher Knoten ist geplatzt und manches Wendemanöver in Sackgassen geglückt, wo positive Umdeutungen von „halb leer“ zu „halb voll“ gewagt wurden.

Solch Einmaleins systemisch-lösungsorientierter Beratung70 lohnt auch den Einsatz in der Neujustierung christlich-kirchlicher Praxis. Dabei sollen die Augen keineswegs verschlossen werden vor der jetzt seit Jahrzehnten bereits und immer schneller voranschreitenden „Erosion der Gnadenanstalt“71 und der inzwischen die Gesellschaft auszeichnenden religiösen Indifferenz und Säkularität.72 Im Gegenteil: Wenn ich mich aus der „Problemtrance“ löse, in die ich unweigerlich gerate, wenn ich mich ausschließlich mit dem „Niedergang“ verfasster Kircheninfrastruktur beschäftigte, hat mehr und anderes eine Chance, wahrgenommen und gewürdigt zu werden – nicht zuletzt die Vielzahl und Vitalität von „Alltags-Kommunitäten“ in Nachbarschaften, Quartieren, Vereinen, Unternehmen, Familien etc. Dort sind, wendet man sich ihnen denn mit wirklich „brennendem Interesse“ zu, beeindruckende Beispiele von Lebensglauben und Lebenssinn bzw. dem Ringen, um ebendiese Alltagskräfte des Mitmenschlichen zu entdecken.73 Und dort konturiert sich durch Exploration und Lernen eine diesem dem Alltag der Menschen dienende Pastoral, der es nicht um Strukturerhalt oder Strukturoptimierung geht, sondern um eine ebendiese Strukturdebatten irritierende, weil selbst-, absichts- und bedingungslose Haltung der Pastoralität, die am Pastoralstil Jesu und seinem radikalen Interesse am Gegenüber Maß zu nehmen versucht.74

2. Caring community, caring church

„Caring Communities“ bzw. „Sorgende Gemeinschaften“ sind Gruppen von Menschen, die sich wechselseitig verantwortlich füreinander fühlen und in denen entsprechend die Sorge um- und füreinander zumindest gemeinsam geteilter Anspruch, meist auch praktizierte Realität ist. Worum genau sich gesorgt und in welcher Weise dieses Sorgeengagement gelebt wird, ist höchst divers: Besuche und Begegnungen gemäß dem Motto „Miteinander statt Einsamkeit“, Unterstützung ambulanter Pflegedienste im Versorgungsauftrag, gemeinschaftliches Gärtnern, multikulturelle Koch-Workshops, selbstorganisierte Trauergruppen, Lebensmittel-Sharing und vieles mehr. Dabei gilt, was Daniela Händler-Schuster und Robert Sempach die beiden Brennpunkte im Begriffspaar „caring communitiy“ nennen: „Die gegenseitige Fürsorge schafft Verbundenheit und Gemeinschaft.“75

Wie gelingt Pastoral vor Ort zu konkreten und authentischen Formen von Compassion und Vernetzung im Sozialraum, wie beherzt und risikofreudig praktiziert sie „Kompliz_innenschaft“ als Modell kirchlicher Präsenz?

Spannend ist zu beobachten, welche Grade von Gemeinschaftsbildung, Verbindlichkeit und Verlässlichkeit die verschiedenen Sorgegemeinschaften für sich entwickeln – und ob/wie sie sich mit anderen Sozialraumakteur_innen vernetzen. Ebenso spannend – und nicht selten ernüchternd – ist dabei der Blick auf kirchliche und hier insbesondere kirchgemeindliche Akteur_innen: Wie gelingt Pastoral vor Ort zu konkreten und authentischen Formen von Compassion und Vernetzung im Sozialraum,76 wie beherzt und risikofreudig praktiziert sie „Kompliz_innenschaft“ als Modell kirchlicher Präsenz?77 Wo Christ_innen und ihre Kirchengemeinden nicht außen vor bleiben, sondern sich „unterhaken“, wenn Sorgebedarfe und Sorgebereitschaften geteilt werden, wird für alle Beteiligten und Beobachter_innen fassbar, was die Konzilsmaxime von der Kirche in der Welt von heute heißen kann.78

Solche „guten Nachbarschaften“ können kirchliche Pastoral im Übrigen vor, wie Rainer Bucher es formuliert, „heilloser Heilungs- und Sorgeanmaßung“ bewahren, wenn sie denn konsequent partizipativ und transparent eingegangen werden. Zudem, so Bucher, müssten drei theologische Prinzipien regulativ greifen: Ekklesiologisch gelte, dass es in der Sorge „wirklich um den selbstlosen Dienst der Kirche am Menschen geht und nicht, wie versteckt auch immer, um kirchliche Machtentfaltung an einem ihrer letzten verbliebenen Orte“; christologisch sei immer wieder gegen die Illusion das Wort zu ergreifen, „es gäbe ein Leben vorbei an Leid, Kreuz und Tod“; um schließlich gnadentheologisch Zeugnis zu geben, „dass Gott es ist und nur er und in völliger Freiheit und aus seiner reinen Gnade und in völliger Unverfügbarkeit, der Hilfe und Beistand, Heil und Heilung schenkt.“79

3. Community building und community organizing

Aber wie entstehen solche sorgenden Gemeinschaften? Kann man ihre Entstehung begünstigen oder gar initiieren? Hilfreich ist hier ein Blick auf das Konzept des „community building“ aus dem angelsächsischen Sprachraum. Dieser Begriff enthält eine Ambiguität, die sich aus seiner Verwendungsgeschichte ergibt: Aus den Sozialwissenschaften bzw. konkret der Sozialen Arbeit stammend, bezeichnet er ursprünglich ein Praxisfeld, dem es um den Aufbau, die Erhaltung und Verbesserung von Gemeinschaften in einer bestimmten geografischen Region, zu einem bestimmten Bedarf oder in einem gemeinsamen Interesse zu tun ist.80 Zunehmend findet sich der Begriff aber auch für ein Set von Techniken, die auf den Aufbau und Erhalt von starken Beziehungen zwischen Anbieter_innen und Kund_innen (nicht zuletzt im digitalen Bereich81) zielen und mithin zum Feld des Marketing gehören. Beide Verwendungsformen sind nicht klar voneinander abgrenzbar und stellen eher die Pole eines Bedeutungsspektrums dar. Gemeinsam ist ihnen, dass sie auf einen engen Zusammenhang zwischen „in Gemeinschaft sein“ und „gemeinsam handeln“ verweisen. Während an dem einen Ende des Spektrums die Gemeinschaft selbst schon der Zweck des community building zu sein scheint, ist am anderen Ende der Aufbau einer Gemeinschaft weniger Ziel, sondern eher Mittel, um einen im Konsens getragenen Zweck zu erreichen. Freilich schwingt selbst von einem Ende des Kontinuums gedacht, das jeweils andere immer noch mit: Selbst dort, wo Gemeinschaft als Selbstzweck begriffen wird, wird doch immer noch unterstellt, dass eine gute Gemeinschaft Sozialkapital darstellt, welches die Mitglieder zu konstruktivem Handeln befähigt. Umgekehrt wird jeder noch so zweckbezogene Aufbau von Gemeinschaft nicht leugnen können, dass der Zweck eben nur in Gemeinschaft überhaupt erreichbar und sie deshalb immer schon in den Zweck eingeschrieben ist. Folgt man diesem Gedankengang, kann man Gemeinschaft eigentlich nur performativ verstehen. Anders formuliert: Handeln stiftet Gemeinschaft – auch wenn freilich nicht jedes kollektive Handeln in gleicher Weise gemeinschaftsstiftend wirkt.

„Community organizing“ will Bürger_innen ermutigen und unterstützen, in ihrem Umfeld ungewöhnliche Koalitionen zu wagen und sich so zu vernetzen, dass sie ihre Interessen und Anliegen wirkmächtiger vertreten können.

„Community organizing“ will Bürger_innen ermutigen und unterstützen, in ihrem Umfeld ungewöhnliche Koalitionen zu wagen und sich so zu vernetzen, dass sie ihre Interessen und Anliegen wirkmächtiger vertreten können. Aus den USA kommend und dort mit dem Namen des Bürgerrechtlers Saul David Alinsky verknüpft, hat dieses sozialarbeiterische und nicht zuletzt auch politische Bildung verfolgende Handlungskonzept auch in Europa Fuß gefasst. In Deutschland dürfen Leo Penta bzw. das von ihm gegründete Deutsche Institut für Community Organizing (jetzt: Community Organizing Deutschland) als Hauptakteure genannt werden; sie bauen „Bürgerplattformen“ auf und beziehen dabei kirchliche bzw. religiöse Gemeinschaften selbstverständlich in ihre Vernetzungsinitiativen mit ein.82

4. Dimensionen von Gemeinschaft

Um auszuleuchten, was kollektives Handeln auszeichnen muss, um gemeinschaftsstiftend wirken zu können, lohnt sich ein Blick auf das für viele so vertraut erscheinende Handlungskonzept der Themenzentrierten Interaktion (TZI). Für die TZI wird Interaktion in Gruppen bekanntlich durch vier Faktoren bestimmt: „Ich“ (also die Individuen, aus denen die Gruppe besteht), „Wir“ (das Zusammenspiel dieser Individuen in der Gruppe, also die Gestalt ihrer Verbundenheit), „Es“ (der Zweck bzw. die Aufgabe der Interaktion) und „Globe“ (d. h. die Umstände und Bedingungen, unter denen die Gruppe arbeitet).83 Auch wenn dieses Modell von Ruth Cohn aus der Arbeit mit therapeutischen Gruppen heraus entwickelt wurde, besteht doch der Anspruch, letztlich jede Art von Gruppenprozess modellieren zu können.84 Von entscheidender (und häufig in der Rezeption übersehener) Bedeutung ist dabei, dass die vier Faktoren von gleicher Wichtigkeit sind und daher für eine gelingende Gruppeninteraktion stets in ein Gleichgewicht gebracht werden müssen.85

Ein stabiler Gemein-Sinn muss stets sowohl die grundlegenden Bedürfnisse des Einzelnen wie die Mechanismen des Zusammenwirkens der vielen Eigen-Sinne berücksichtigen und immer neu austarieren.

Bezieht man dieses Vier-Faktoren-Modell auf die oben diskutierte Frage nach gemeinschaftsstiftendem Handeln, ist es der Faktor des „Es“, der das Handlungsziel der Gemeinschaft beschreibt.86 Wenn das „Es“ einer Gruppe nicht hinreichend klar ist, gerät sie in Schwierigkeiten. Ein von bürgerschaftlichem Engagement getragener Verein wird z. B. große Probleme bekommen, wenn der Vereinszweck im Rahmen von Veränderungsprozessen unklar oder gar obsolet wird. Da alle vier Faktoren unauflösbar verschränkt sind, werden sich diese Bestimmungsschwierigkeiten des „Es“ (wenn auch nicht immer zur gleichen Zeit und in gleichem Ausmaß) auf alle drei anderen Faktoren auswirken: Die Mitglieder der Gruppe werden sich weniger zugehörig fühlen (Ich), Strukturen und Prozesse werden unter Stress geraten (Wir) und ab einem bestimmten Punkt werden sich auch Schwierigkeiten in der Außendarstellung ergeben (Globe), die sich etwa auf die Netzwerkbeziehungen oder die Einwerbung von Spenden negativ auswirken können.

Um ein klareres Verständnis dafür zu entwickeln, wie ein nachhaltig (sorge-)gemeinschaftsstiftendes „Es“ aussehen kann, ist es notwendig, auch „Ich“ und „Wir“ im Blick zu behalten, um zu ergründen, wie sie mit dem „Es“ (wir wollen es im Folgenden als „Gemein-Sinn“ bezeichnen) und dem Organisationsumfeld („Globe“) zusammenhängen. Hier nur so viel: Ein stabiler Gemein-Sinn muss stets sowohl die grundlegenden Bedürfnisse des Einzelnen wie die Mechanismen des Zusammenwirkens der vielen Eigen-Sinne berücksichtigen und immer neu austarieren.

5. Schritte voran, wo scheinbar kein Fortschritt mehr möglich ist

Um hier nicht nur über Gemeinschaften zu theoretisieren bzw. an die Bildung von Sorgegemeinschaften zu appellieren, sei auf Konzepte aus der Persönlichkeits- und Organisationsentwicklung hingewiesen, die aus unserer Sicht hilfreich sein können, um die komplexe Bildung von Gemein-Sinn zu unterstützen. Dabei wollen wir dafür werben, dass es nicht reicht, diesen Sinn vorauszusetzen oder zu hoffen, dass er im gemeinsamen Tun schon manifest wird. Gerade in Zeiten, in denen tradierte Sinnkonstrukte sich ausgesprochen kritischen Fragen ausgesetzt sehen, sind Prozesse der Selbstvergewisserung individuellen und kollektiven Sinns wichtige Investitionen in den Zusammenhalt von Organisationen. Dabei darf das konkrete (Sorge-)Handeln natürlich nicht zu kurz kommen; notwendig ist vielmehr eine Verschränkung von konkretem Handeln und sinnhaft-strategischer Reflextion.

Wir sind davon überzeugt, dass Veränderung eine durch Störungen in die Wege geleitete Erweiterung des Selbstkonzeptes braucht; deshalb ist solchen Störungen methodisch Raum zu geben

Dabei ist aus unserer Erfahrung der entscheidende Punkt für personale und organisationale Entwicklungsprozesse mit nachhaltigen Fortschritten dort, wo Konzepte und theoretische Überlegungen nicht mehr weiterführen und gerade hierdurch Raum dafür entsteht, tiefere Interaktionsebenen in den Blick zu nehmen. Genau dies wird mit dem berühmten Störungspostulat der TZI angesprochen.87 Eine Störung hat deshalb Vorrang, weil sie das Prozessmoment ist, an dem tieferliegende emotive, motivationale oder sinnbezogene Fragen prägnant werden. Wenn es gelingt, sie einzubeziehen, kann sich nachhaltige Veränderung ergeben. Wir sind davon überzeugt, dass Veränderung eine durch Störungen in die Wege geleitete Erweiterung des Selbstkonzeptes braucht; deshalb ist solchen Störungen methodisch Raum zu geben – selbstverständlich auch im Kontext von Pastoral und hier nicht zuletzt im von vielerlei tiefgreifenden Störungen behafteten Feld der Kirchengemeinden, die für viele Menschen solche Vergemeinschaftungen längst haben obsolet werden lassen.

6. Von der Individuation zum Gemein-Sinn

Im letzten Abschnitt haben wir schon angedeutet, dass ein stabiler Gemein-Sinn immer auch die individuellen Sinnstrukturen einschließen muss. Gemeinschaft muss Raum für die individuelle und inter-individuelle Selbst-Orientierung bieten, da die Suche nach Eigen-Sinn zu Gemein-Sinn führen kann.

Genau diese Erfahrung findet sich häufig in psychotherapeutischen und selbsterfahrungsbasierten Gruppenprozessen: Teilnehmende arbeiten in der Gruppe an ihren individuellen Themen. Auch wenn andere Gruppenmitglieder nicht aktiv in diese Prozessarbeit einbezogen sind, indem sie etwa eigene Beobachtungen oder Erfahrungen beisteuern, beschreibt die große Mehrzahl diese Arbeit dennoch als bewegend und in Bezug auf eigene Themen als hilfreich, da man sich in den Erfahrungen und Prozessen der Anderen oftmals wiedererkennt. In vielen Fällen scheint es dabei leichter, die Schwierigkeiten, Leiden und Leistungen der je anderen anzuerkennen als die eigenen.

 

Wäre es nicht auch ein Plus von Glaubensgemeinschaften, wenn sie sich hier als ein undogmatisches, offenes und vom radikalen Interesse am Gegenüber geprägtes Sinn-Forum verstünden?

Der Mythenforscher Joseph Campbell geht in seinem erstmals 1949 veröffentlichten Hauptwerk „The Hero with a Thousand Faces“ der archetypischen Grundstruktur von Mythen und Heldenerzählungen nach und weist für sie ein konsistentes Muster aus.88 Dieser sogenannte „Held_innenreise-Zyklus“ wurde von vielen Therapeut_innen und Coaches zu einem Seminarkonzept für Selbsterfahrung weiterentwickelt.89 Dabei ist die Annahme leitend, dass die gemeinsame Reflektion auf individuelle Sinnstrukturen immer auch zur Reflextion auf eine geteilte Sinndimension beiträgt. Außer in solchen Selbsterfahrungsgruppen oder in gruppentherapeutischen Kontexten gibt es jedoch selten Raum für derartige gemeinsame Sinnexplorationen. Wäre es nicht auch ein Plus von Glaubensgemeinschaften wie beispielsweise Kirchengemeinden oder den mit ihr vernetzten Sorge-Gemeinschaften, wenn sie sich hier als ein undogmatisches, offenes und vom radikalen Interesse am Gegenüber geprägtes Sinn-Forum verstünden? Raum für den im weitesten Sinne spirituellen Eigen-Sinn zu bieten, kann zugleich eine Investition in Gemein-Sinn sein – darf aber selbstverständlich dafür nicht verzweckt werden!

7. Gemeinschaft stiften

Für die Arbeit an einem gemeinsam geteilten und gemeinschaftsstiftenden Sinn (wer mag, darf hier natürlich auch von „purpose“ sprechen) gibt es inzwischen eine Vielzahl von gut entwickelten methodischen Formaten, jedes davon mit Stärken und Schwächen, welche sie für unterschiedliche Rahmenbedingungen unterschiedlich anempfehlen. Genannt seien an dieser Stelle beispielhaft der „Golden Circle“ von Simon Sinek90 und verschiedene Methoden, die auf der Ikigai-Philosophie des japanischen Kulturraums beruhen.91

Anforderungen an eine „caring church“ unterscheiden sich gar nicht so stark von denen, welche sich agile Unternehmen ausgesetzt sehen.

Ein weiterer interessanter Ansatz für die Suche nach der gemeinsamen Sinndimension einer Gruppe ist die „Theory U“. Vom deutschen Wirtschaftswissenschaftler Otto Scharmer entwickelt, ist sie zugleich Theorie wie Praxiskonzept für die (Weiter-)Entwicklung von Organisationen.92 Ihre besondere Kraft liegt darin, dass sie einerseits ein methodisches Repertoire für die Gesamtheit von Veränderungsprozessen bietet und andererseits die Frage nach dem Sinn als den Kernpunkt solcher Prozesse ausweist.
Egal auf welchem methodischen Weg man sich auf die Suche nach Gemein-Sinn macht, das Entscheidende ist, dass die Mühe der Ebene nicht gemieden wird. Gerade dort, wo durch einen guten etablierten Kanon des Geglaubten der Gemein-Sinn schon verbürgt scheint, ist die Versuchung groß, sich die Anstrengung einer Selbstversicherung zu ersparen. Doch ist das Bemühen um den Gemein-Sinn, der Prozess der Sinnsuche, genauso wichtig (wenn nicht wichtiger) wie dessen Ergebnis. Solch fortgesetzte Suche nach Gemein-Sinn ist ein Stabilitätsanker für Gemeinschaften, für den es Zeit- und sonstige Ressourcen einzuplanen gilt, ohne dabei den Blick auf das praktische (Sorge-)Tun zu verlieren. Hierin unterscheiden sich die Anforderungen an eine „caring church“ gar nicht so stark von denen, welche sich agile Unternehmen ausgesetzt sehen. Sie sind gleichermaßen aufgefordert, ihr Tun immer wieder in Bezug zu ihren normativen Prämissen zu setzen und dabei einen in beide Richtungen zielenden Abgleich vorzunehmen.

8. Haltung er-leben: Die „Inner Developement Goals“

In den letzten beiden Absätzen haben wir versucht, komplementäre Strategien zur Bildung, Unterstützung und Rekalibrierung von Gemein-Sinn zu skizieren, welche wir in Anknüpfung an den ersten Abschnitt dieses Beitrags zugleich als Handlungsziel von Gemeinschaften wie auch als deren Stabilitätsanker betrachten. Gleich ob die Sinnsuche vom individuellen Sinn ausgeht oder direkt am Gemein-Sinn anknüpft, gemeinsam ist ihnen, dass ihre starke Prozessbetonung die Beteiligten vor große Herausforderungen stellen. Die Kontextbedingungen von Gruppenprozessen wie etwa die zur Verfügung stehenden Zeit- und Geldressourcen, die Freiheitsgrade in den institutionellen Entscheidungswegen oder die unterschiedlichen Vorerfahrung der Gruppe mit solchen Prozessen führen zudem dazu, dass nicht jede Gruppe von sehr offenen Prozessszenarien profitieren kann. In vielen Fällen hilft ein Orientierung gebender Bezugsrahmen deshalb gerade in den frühen Prozessphasen, um der Gruppe Sicherheit zu geben und die Bereitschaft für eine Sinndiskurs öffnende gemeinsame Arbeit zu fördern.

Wissen alleine scheint nicht zu reichen, um Menschen ins Handeln zu bringen.

Ein derartiges Rahmenkonstrukt können die im Kontext der Bildung für nachhaltige Entwicklung formulierten „Inner Development Goals“ (IDG) sein. Das Konzept der IDGs wurde von der 2020 in Stockholm gegründeten Non-Profit-Initiative „Inner Development Goals“ erarbeitet, um das Knowledge-Action-Gap im Bereich von Nachhaltigkeit zu schließen. Die von den Vereinten Nationen formulierten und 2016 beschlossenen Nachhaltigkeitsziele (SDG) werden bekanntlich von einer großen Mehrheit der internationalen Akteure geteilt. Auch die Pfade hin zu diesen Zielen sind, jedenfalls in den Grundzügen, hinreichend bekannt. Trotzdem zeichnet sich ab, dass diese Nachhaltigkeitsziele voraussichtlich um ein Beträchtliches verfehlt werden. Wissen alleine scheint nicht zu reichen, um Menschen ins Handeln zu bringen. Die IDGs beruhen deshalb auf der Annahme, dass es neben dem unerlässlichen Wissen um Wirkzusammenhänge auch bestimmter Haltungsfaktoren bedarf, um die Lücke zwischen Wissen und Handeln zu schließen.
Das aus dieser Erkenntnis heraus entwickelte „IDG Framework“ umfasst insgesamt 23 Transformationskompetenzen in fünf Kategorien (1. Sein: Beziehung zu sich selbst, 2. Denken: Kognitive Fertigkeiten, 3. Beziehung: Fürsorge für andere und die Welt, 4. Zusammenarbeiten: Soziale Kompetenzen, 5. Handeln: Wandel vorantreiben). Diese Transformationskompetenzen sorgen nicht nur dafür, dass Menschen individuell und kollektiv befähigt werden, komplexe Herausforderungen zu bewältigen, sondern überdies ein sinnerfülltes, nachhaltiges und selbstbestimmtes Leben zu führen.93

Solche Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie die ihnen zugrundeliegenden Haltungen und Werte sind nicht einfach gegeben, sondern erlernbar. Der Begriff des Lernens mag bei Haltungsmerkmalen irritieren und muss sicherlich anders gefasst werden als bei klassischen Lernmodellen. Nach der hier vertretenen Ansicht geht es darum, sich zu den jeweiligen Haltungsmerkmalen in Beziehung zu setzen, ihnen eigene Bedeutung zu verleihen und sie so in einem je ganz eigenen Sinne zu entfalten. Dieses etwas andere Konzept des Lernens verlangt neben kognitiver Reflexion eben auch Anteile von Selbsterfahrung, welche den Bogen von der oben besprochenen Heldenreise bis hin zu Konzepten wie der Theorie U schließen kann. In den IDGs steht für Prozesse der Sinnsuche eine normative Systematik zur Verfügung, welche einerseits Orientierung vermittelt und andererseits hinreichend flexibel ist, um einen offenen Prozess von Sinnfindung und Gemeinschaftsbildung-zu stützen – selbstverständlich auch in kirchlichen Kontexten.

9. Zwischenbilanz

In unserem Beitrag finden sich unzählige Male die Stichworte „Gemeinschaft“ und „Gemein-Sinn“, weniger oft „Sorge“. Es sollte aber deutlich geworden sein, dass es um Letztere primär geht: um die Sorge umeinander und füreinander. Dieses Sorgegeschehen steht im Mittelpunkt unseres Plädoyers für (Sorge-)Gemeinschaftsbildung, hier kann sie unseres Erachtens ihren Gemein-Sinn und damit ihr „Nutzenversprechen“ und ihre ganz spezifische „Leistung“ finden und einlösen. Wenn in diesem Zusammenhang (und keinesfalls losgelöst davon!) von „Gemeinde“ gesprochen wird, dann weil wir für diese ins Abseits geratene kirchliche Sozialform eine Zukunft sehen, wenn (und nur dann!) sie mutige Schritte hin zur Vernetzung, ja Vergesellschaftung mit nicht-kirchlichen Sorge-Akteur_innen und Sorge-Organisationen geht und diesen eine verlässliche Partnerin wird. Wir sehen Gemeinden aufgefordert zum Gestaltwandel hin zur selbstlosen, gemeinwohlorientierten, sorgeaktiven Sozial-Pastoral! Dabei ist klar, dass dieser Transformationsprozess zumeist nicht bei Null beginnt, häufiger als vielleicht gedacht, sogar bereits als vollzogen gelten darf; diese Ungleichzeitigkeiten gilt es gründlich zu explorieren und zu reflektieren.94 Ein unersetzlicher christlich-kirchlicher, weil jesuanischer Beitrag im Sorgegeschehen kann dabei das Aushalten der Dialektik von Sorge für Menschen in ihren konkreten Nöten einerseits und dem Ernstnehmen der eindringlichen Mahnung: „Sorgt euch nicht …“ (vgl. Mt 6,25-33) andererseits sein.95

Übrigens: Beim eingangs beschriebenen Besuch der Buchhandlung fand sich die „Streitschrift für ein neues Wir“ von Jan Skudlarek. Der Titel lautet schlicht, einfach und doch nicht trivial: „Wenn jeder an sich denkt, ist nicht an alle gedacht“.96

Praxis

Hybride Kirche in Gestalt eines Großevents. Ein zukunftsfähiges Handlungsmodell?

1. Arbeit an der „nächsten Kirche“ zwischen Defuturisierung und Futurisierung

„Jede Weltvereinfachung hat ihre Lebenslüge.“97
Odo Marquard

Die Süddeutsche Jährliche Konferenz (SJK) der Evangelisch-methodistischen Kirche (EmK), der ich als ordinierter Pastor angehöre, hat sich selbst im Frühsommer 2022 einen „Change-Prozess“ verordnet.98 Initiiert durch einen mit großer Mehrheit gefassten Beschluss, sollten organisationale Struktur, das Profil hauptamtlicher Dienstgruppen, Finanzierung, Standortentwicklung und die Rolle der Ehrenamtlichen grundlegend überdacht werden. Der Leidensdruck sei so groß, die Perspektivlosigkeit des bestehenden Systems so deutlich, dass sich etwas ändern müsse, sonst – so das latente Bedrohungsszenario – kollabiere das System früher oder später. Die prognostische „Defuturisierung“99 des Bestehenden wurde zum Pushfaktor, der eine Veränderung unausweichlich zu machen schien.100 Gleichzeitig wurde der Reformprozess von einer Welle der Begeisterung und des Aufbruchswillen getragen, die als Pullfaktor auf den Entscheidungsprozess wirkte. Aufs Neue und Innovative wurde – spätmoderne-typisch – die Hoffnung gesetzt, um der Defuturisierung eine Futurisierung der EmK-SJK entgegensetzen zu können. 1000 verrückte neue Ideen, neue regiolokale Struktur in Großbezirken,101 neue pastorale Rollenbeschreibungen, ein neuer Claim; darin liege Zukunft.

Was ich aus eigener Erfahrung schildere, dürfte keine Besonderheit der EmK sein, sondern eine Situation beschreiben, wie sie viele etablierte Kirchen kennen. Aus den unzähligen Diskussionsrunden und Gesprächen, an denen ich teilnahm, habe ich wiederholt einen Satz in unterschiedlicher Variation von Kolleg:innen wie Ehrenamtlichen gehört; ein Satz, der sich mir nachhaltig eingeprägt hat: „Wie das werden soll, das kann ich mir nicht vorstellen!“ Oder: „Das sprengt mein Vorstellungsvermögen.“ Dieser Satz ist Ausdruck eines konstitutiven Problems von Zukunftsprozessen, -prognosen und -forschung, das sich in unserer hochkomplexen, beschleunigten und volatilen Welt noch verschärft hat. Was noch nicht ist, ist nur im Modus der antizipierenden Imagination. Eschatologisch gewendet, ist das Reich Gottes Gegenwart und zugleich noch in, mit und unter der Welt verborgen. Und unsere Imaginationskraft – so unterschiedlich sie ausgeprägt sein mag – gewinnt ihr Roh(bild)material aus dem bereits existierenden Fundus an Bildern, Narrationen und Theorien102, wie Reiches-Gottes-Vorstellungen auf Metaphern dieser Erfahrungswelt rekurrieren. Je radikaler nun der Bruch, desto schwerer fällt es Menschen, sich ausgehend vom Jetzt vorzustellen, wie die Zukunft werden soll. Wie soll ein multiprofessionelles Team über hunderte Kilometer verstreut kooperieren? Wie sollen Pastor:innen regional leiten und zugleich lokal im Nahraum begleiten? Wie funktioniert eine Netzwerkgemeinde aus vielfältigen Knotenpunkten, deren klassisches Zentrum – der Sonntagsgottesdienst – nur noch von einem Teil als Kern wahrgenommen wird? Wie soll sich Kirche finanzieren, wenn die klassischen regelmäßigen Mitgliedschaftsbeiträge zurückgehen?

Je radikaler der Bruch, desto schwerer fällt es Menschen, sich ausgehend vom Jetzt vorzustellen, wie die Zukunft werden soll.

Wenn ich im Folgenden Gedanken über die „die nächste Kirche“ (Strategiekongress 2024) zu entwickeln trachte, so haben auch diese notwendig Modellcharakter. Denn ein Modell im Werden, das noch nicht ist, kann nur „in der Konstruktion eines fiktiven Gebildes […] sowie in der Übertragung der Eigenschaften dieses Gebildes auf einen komplexeren Wirklichkeitsbereich [bestehen]“103. Das nachfolgende Handlungsmodell ist damit eine imaginierte Konkretionsform vielfältiger Möglichkeiten von der nächsten Kirche und ist in seiner vereindeutigenden Komplexreduktion im Grenzwert immer auch „Lebenslüge“. Es ist ein mögliches Modell, das kontextuell einer spezifischen Perspektive entspringt (s.u. zu den methodistisch-ekklesiologischen Hintergründen). Und es ist ein mögliches Modell, denn das Geschäft mit der Zukunft bringt notgedrungen die Dimension der Unsicherheit, im schlimmsten Fall der orakelnden Glaskugelschau, mit sich.104 Und doch ist dieses Vorgehen der einzige Weg, an einem „systematische[n] Verbessern des Vorstellenkönnens“105 dessen zu arbeiten, was Kirche sein kann.106 Das geschieht in der Hoffnung, dass es mit unserer aller Verunsicherung in Resonanz treten kann.

2. Gegenwartsprobleme, Kriterien und Zielbestimmung

Ein konkretes Handlungsmodell, das ein zukunftsweisendes Agieren der kirchlichen Organisation darstellt, entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern setzt einige denkerische Vorarbeit voraus. Denn es operationalisiert Ziele, die eine Organisation – wie in meinem Fall die EmK-SJK – umzusetzen versucht. Neu ist daher, zuerst zu fragen, wozu Kirche bzw. eine konkrete Gemeinde in Zukunft eigentlich existiert – jenseits von allgemeinen theologischen Plattitüden (wie Kommunikation des Evangeliums, Bau am Reich Gottes usw.). Bevor also ein Handlungsmodell skizziert werden kann, müssen die Ziele erarbeitet werden. Und diesen Zielen wiederum, die sich meist in zu visionären Bildern verdichteten Narrationen ausdrücken, sind Wertentscheidungen inhärent. Was soll eine ‚nächste Kirche‘ auszeichnen? Welche Organisationsgestalt und -kultur soll sie prägen? Die Beantwortung dieser Fragen sind nur in Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition möglich, sonst drohen die Sachziele disruptiv mit der Organisationskultur zu brechen. Dies würde suggerieren, dass Kirche ex nihilo neu entstünde.107

Gleichzeitig entspringen diese Ziele dabei immer auch einer kritischen Auseinandersetzung mit der empirischen Wirklichkeit, die eine Neujustierung von Zielen auslösen. Herkommend aus der evangelisch-methodistischen Tradition haben mich in meinem Modell zunächst vier Kriterien einer zukunftsfähigen (methodistischen) Kirche geleitet, die sich je in ein konkretes Ziel(bild) des Handlungsmodells übersetzen lassen.

a. Konnexialität

Die EmK zeichnet sich durch eine konnexiale Ekklesiologie aus.108 Dieser „Grundsatz [… der] Verbundenheit“ bedeutet, dass Kirche „sich in organisatorischer Verbundenheit ihres Aufeinanderangewiesenseins bewusst ist“109 und sie dieses Bewusstsein in ihrer Kirchenverfassung verbindlich ins Werk setzt.

Wie Universitäten „im Kampf um den Status der Exzellenz“ sind, so kämpfen auch Gemeinden um Sichtbarkeit und Anerkennung mit dem Ergebnis von Win-Lose-Konstellationen.

Die zentrale Einheit von Kirche ist dementsprechend nicht die möglichst autarke Gemeinde, sondern die Jährliche Konferenz, die am ehesten einer Synode ähnelt. Die einzelnen Bezirke schließen sich hier unter einer gemeinsamen Verfassung zusammen, um (u.a.) Ressourcen und Risiken zu teilen. Die Jährlichen Konferenzen bilden wiederum Zentralkonferenzen und diese entsenden Delegierte in die Generalkonferenz.
Auf dem Kriterium der Konnexialität zu beharren, ist kein blinder Traditionalismus. Vielmehr birgt der methodistische Konnexionalismus eine zukunftsfähige Kirchenstruktur in Reaktion auf die negativen Seiten der spätmodernen Singularisierungslogik (Reckwitz). Denn diese bewirkt das Entstehen von Singularisierungsmärkten. Wie Universitäten „im Kampf um den Status der Exzellenz“110 sind, so kämpfen auch Gemeinden um Sichtbarkeit und Anerkennung mit dem Ergebnis von Win-Lose-Konstellationen. Entgegen der (kongregationalistischen) Tendenz, dass jede Gemeinde im Wettbewerbsmodus für sich kämpft und auf ihre eigene Selbstverwirklichung wettet,111 schließen sich konnexial denkende Gemeinden verbindlich zusammen, um zukunftsfähig zu werden. Dies ermöglicht einzelne Krisenfacetten der Kirchen unserer Zeit effizienter zu adressieren, da einzelne Gemeinden schlechter gerüstet sind, die Herausforderungen zu bewältigen. In ein Ziel übersetzt: Die ‚nächste EmK-Kirche‘ schafft es durch ihre konnexiale Verbindlichkeit, Ressourcen zu bündeln, um neben und innerhalb der ‚klassischen‘ Gemeindearbeit innovative Projekte zu initiieren (vgl. die Kollektensammlung des Paulus als Bsp. für konnexiale Unterstützung trotz Differenzen; 2Kor 8f).

Die ‚nächste EmK-Kirche‘ schafft es durch ihre konnexiale Verbindlichkeit, Ressourcen zu bündeln, um neben und innerhalb der ‚klassischen‘ Gemeindearbeit innovative Projekte zu initiieren

Die zuletzt steigende Anzahl an Neugründungsprojekten und FreshX-Projekten in der EmK zeugt von der Bereitschaft, personale und finanzielle Ressourcen gemeinsam zu investieren, wodurch Erwartungssicherheit in der unsicheren Startphase gesichert ist. Neugründungsprojekte wie in Metzingen (www.emk-metzingen.de) oder Turn-Around-Prozesse wie in Dreieich (www.emk-darmstadt-dreieich.de), wo um Kindergarten und Musicals neue Gestalten von Kirche entstanden sind, wären nie realisierbar gewesen ohne die finanzielle und personelle Unterstützung anderer Gemeinden.112

Tiefergehende Probleme einer konnexialen Kirchenstruktur tun sich dann auf den zweiten Blick selbstverständlich auf: wie verbindliche Strukturen geschaffen werden können, die Innovationen ermöglichen und sie nicht mit ihrem administrativ-theologischen Ballast bremsen.113 Diese Probleme können hier nicht gelöst werden und sind ohnehin konstitutiv und damit auf Dauer gestellt.114 Entscheidend ist zunächst, dass innerhalb der Konnexio genügend flexible Spielräume für neue Gestalten von Kirche entstehen. Um eine bloße Addition an Feldern zu vermeiden, die nicht getragen werden können, ist „Loslassen und Beenden“ zu erlernen und zu praktizieren.115

b. Heterogenitätskompetenz – Umgang mit dem Fremden

Aus dem Konnexiogedanken könnte das Missverständnis abgeleitet werden, die ‚nächste Kirche‘ könnte sich in Gestalt eines Franchise-Unternehmens mit Filialen organisieren.116 Dem ist eine mehrdimensionale Heterogenität entgegenzusetzen, mit der auf drei Ebenen kybernetisch kompetent umgegangen werden muss. Erstens gleichen sich die untereinander verbundenen Gemeinden nicht. Um gegenseitige Unterstützung dennoch zu gewährleisten, ist eine Verbindlichkeit trotz und in der Verschiedenheit notwendig. Es wird unterstützt, obwohl das zugrundeliegende Kirchenbild oder Handlungsmodell fremd erscheint. Diese Begegnung mit dem Fremden ist aber zugleich Motor für Reform und Irritation der eigenen (vermeintlichen) Selbstverständlichkeiten.

Zweitens ist – gegen den Homogenitätsgedanken des Church-Growth Movement – die Heterogenität der Gemeinden ad intra zu fördern und zu navigieren. Eine zukunftsfähige EmK-Kirche besteht nicht aus homogenen Inseln, in der sich Gleich und Gleich gesellen, sondern sie ist ein kohäsionsgenerierendes Netzwerk117, in welchem die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe, Vielfalt der Lebensformen und Biografien ausgehalten werden.

Eine zukunftsfähige Gemeinde hat kein Zentrum, in das die Menschen von der Peripherie durch Evangelisation geführt werden sollen.

Schließlich, drittens, ist eine heterogene Beteiligungs- und Mitgliedschaftsform einzukalkulieren.118 Eine zukunftsfähige Gemeinde hat kein Zentrum, in das die Menschen von der Peripherie durch Evangelisation geführt werden sollen. Vielmehr ist sie ein Netzwerk, in welchem unterschiedliche Cluster miteinander verbunden sind – auch als projektbezogen arbeitende119 „Gemeinden auf Zeit“120.

Die argumentative Setzung von Heterogenität als Kriterium und Ziel121 ist – die zukünftige Kirche wird dies schon schmerzlich erfahren haben – kein naiver Lobgesang auf die Vielfalt. Dies unterscheidet alteritätstheoretisch geschulte Heterogenitäts- von Pluralitätsparadigmen.122 Die Andersartigkeit (ἕτερος) der Gemeinden wie der Gemeindezugehörigen untereinander produziert ständig Fremdheitserfahrungen (ξένος), wie die Zunahme an Migration besonders deutlich zeigt.

Das bloß Andere wird in der Konfrontation zum – qualitativ zu unterscheidenden – Fremden, indem es die Ordnung empfindlich stört.123 Kohäsion und Verbindlichkeit werden zu Herausforderungen für künftige (EmK-)Gemeinden und ihre Leitenden. Doch nur wenn es gelingt, diesbezüglich fähig zu werden, wird die Kirche der Zukunft einen Beitrag zur Kohäsion der Gesellschaft leisten, weil sie Netzwerke heterogener Relationen ermöglicht, und nur dann wird es ihr gelingen, in ihrem Netzwerk offene Anknüpfungspunkte für Fremde zu schaffen (vgl. Mt 25,34–36).124

c. Zivilgesellschaftliche und soziale Vernetzung der Kirche – Hybridität der Kirche

Ein Problem vieler EmK-Gemeinden besteht in ihrer mangelnden sozialräumlichen Vernetzung mit relevanten zivilgesellschaftlichen Akteur:innen. Ein Spiegel dessen ist der Befund einer Umfrage, die im Rahmen des Reformprozesses durchgeführt wurde.125 Obwohl primär die Hoch- und Höchstverbundenen zu den Antwortenden gehört haben, gaben nur 50% an, der Kommune würde ohne die Gemeinde etwas fehlen. Netzwerktheoretisch betrachtet, ist zu mutmaßen, dass viele EmK-Gemeinden zu wenig heterogene Verbindungen haben, die sie mit anderen relevanten zivilgesellschaftlichen Akteur:innen, Unternehmen und deren Netzwerken verbinden. Dies ist in der Sichtbarkeitsökonomie, in der wir leben, fatal. Denn selbst wenn die Gemeinde interessante Angebote macht, bleiben diese unsichtbar und die Passung in den Sozialraum bleibt ungewiss.

Die ‚nächste Kirche‘ ist Kirche und Klettern, Kirche und Repaircafé, Kirche und Musical, Kirche und Hindernislauf, Kirche und Taylor Swift, Kirche und Tanzparty oder Theaterpädagogik – Kirche in neuer Gestalt.

Zukunftsfähige EmK-Gemeinden fragen sich mithin im Blick auf jedes ihrer Handlungsfelder, wie sie dabei mit anderen Akteur:innen kooperieren können, um Synergien auszuloten und Sichtbarkeit für ihre Angebote zu schaffen.126 Dadurch erfährt und lernt die ‚nächste Kirche‘ überhaupt erst, was ihre Umgebung beschäftigt (Kontextualität) und welche evangeliumsgemäße Rolle sie darin spielen kann.

Die ‚nächste Kirche‘ versucht Menschen somit dort zu begegnen, wo diese schon sind. Sie ist, wie mein akademischer Lehrer Fritz Lienhard betont, hybride Kirche: Eine hybride Kirche beschränkt sich nicht – im Geiste der Theorie funktionaler Differenzierung – auf die religiöse Funktion der Kontingenzbewältigung mittels traditioneller Formen, sie ist vielmehr Kirche in Gestalt von Aktivitäten, „die sowohl zu religiösen als auch zu anderen gesellschaftlichen Bereichen gehören“127. Die ‚nächste Kirche‘ ist Kirche und Klettern, Kirche und Repaircafé, Kirche und Musical, Kirche und Hindernislauf, Kirche und Taylor Swift, Kirche und Tanzparty oder Theaterpädagogik – Kirche in neuer Gestalt.

d. Diakonizität und Liturgizität

In der Reaktion auf ihre Umgebung agiert Kirche konsequent diakonisch und also mit einem Fokus auf die Bedürfnisse und die Bedürftigen, denen sie aufmerksam zuhört, um mit ihnen das soziale Miteinander zu gestalten. Die jüngste KMU VI hat erneut gezeigt,128 dass dies auch die Erwartung der spätmodernen Menschen an Kirche ist: sich für Arme, Kranke, Schwache, für die Schöpfung und für Gerechtigkeit einzusetzen.

Wenn Kirche sich künftig konsequent in ihrem Handeln diakonisch ausrichtet – was vielerorts schon geschieht, wie exemplarisch die wachsende Zahl an Mittagstischen, Kleidermärkten, Arbeit mit Geflüchteten usw. zeigt –, lässt sie sich dabei nicht von einer bloßen Nachfrage steuern, sondern sie realisiert darin auch ihren biblisch verbürgten Auftrag. Von einer Selbstzentriertheit auf den eigenen Organisationserhalt befreit, richtet sie ihr Augenmerk konsequent auf ihre Nächsten (Lk 10,25–37). Die der Kirche inhärente Heterogenität, die soziale Verschiedenheit in ihrer Umgebung wird so zudem auf ihre Ungleichheitsdynamiken hin durchsichtig.

Eintreten in die Gottesgegenwart schärft Menschen den Blick für die Ungerechtigkeit und stärkt sie in ihrem Einsatz für die Bedürfnisse anderer.

Die diakonische Existenz der Gemeinden ist dabei chiastisch verschränkt mit ihrer liturgischen. Die ‚nächste Kirche‘ gewinnt die „spirituelle Basis“129 aus stimmigen Gottesdiensten, die sie an ganz unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten feiert. Das Eintreten in die Gottesgegenwart schärft Menschen den Blick für die Ungerechtigkeit und stärkt sie in ihrem Einsatz für die Bedürfnisse anderer. Vice versa darf der Gottesdienst keine Emigration aus der Welt sein, vielmehr gewinnt er aus der Welt seine Lebensthemen und führt – wie es besonders beim Abendmahl als Akt des Essens und Sattwerdens deutlich wird – dorthin zurück.

3. Konkretion eines möglichen Handlungsmodells: Großevents als hybride Form der Kirche

Wie lassen sich nun diese Zielbestimmung nach einer diakonischen, zivilgesellschaftlich vernetzten, heterogenitätssensiblen und konnexialen Kirche in Gestalt eines konkreten Modells operationalisieren? Die crux besteht darin, dass es zum einen konkret genug sein muss, um in der Praxis umsetzbar zu sein (dabei droht mangelnde Übertragungsmöglichkeit), und abstrakt genug, um situationsübergreifend anwendbar zu sein (es droht mangelnde Applikabilität). Zum anderen muss das Modell an Bestehendes anknüpfen (drohende Banalität) und zugleich das Bestehende überschreiten (drohender Utopismus). Aufgrund dieser Spannungsfelder stehen für das Handlungsmodell mehrere Cases im Hintergrund, an denen aber lediglich illustriert werden soll, was modellhaft fallübergreifende Strategien der Kirchen- und Gemeindeentwicklung sein können.

10.000 Besucher:innen, 2400 Läufer:innen, ein Hindernisparcours von 10 km mit mehr als 20 Hindernissen, die nur als Teams überwunden werden können, viel Schlamm, rund 300 Ehrenamtliche, 40 Kooperationspartner:innen aus der Wirtschaft, dem sozialdiakonischen und kirchlich ökumenischen Bereich – das ist MudMates.130 Es ist ein Hindernislauf für Teams von mindestens vier Personen, der am 21.09.2024 schon zum dritten Mal in Metzingen stattgefunden hat. Entstanden ist MudMates heraus aus der neu gegründeten EmK-Gemeinde Metzingen mit rund 90 Kirchengliedern und heraus aus der im ehemaligen Gottesdienstraum eingerichteten H3-Kletterhalle. Zentraler Knotenpunkt der Gemeinde ist Pastor Bernd Schwenkschuster.131

Das Event muss den Begabungen und Leidenschaften der organisierenden Kirchengemeinden entspringen. Das kann auch eine Leidenschaft für Popmusik von Adele oder ein Weihnachtsmusical sein.

Dieses Sportevent stand – nebst anderen Projekten – hauptsächlich Pate für die nachfolgenden Überlegungen zu einem zukunftsweisenden Handlungsmodell. Es unterscheidet sich zunächst grundlegend von allen kirchlichen Beteiligungen an sportlichen Events, weil Kirche hier selbst maßgeblich organisierende Initiantin und Partnerin des Events ist und nicht das Religionssystem zu einem bestehenden Sportevent hinzufügt, in dem z.B. zu dessen Anlass ein Gottesdienst gefeiert wird. Das macht dieses Ereignis zu einer hybriden Form von Kirche. Das vorzustellende Handlungsmodell zielt mithin auf ein (nicht notwendig sportives) Großevent, bei dem sich eine Gemeinde132 auf Zeit bildet, an der projektbasiert viele Menschen und Organisationen beteiligt werden.

Das (fiktiv-modellhafte) Event entwickelt sich nicht aus utilitaristischem Kalkül, wodurch eine Kirche(ngemeinde) (im Folgenden abgekürzt K[g]) ein Event instrumentell nutzt, um etwas Bestimmtes zu erreichen (Gemeindewachstum etc.). Auf diesem Wege ließe sich niemals die Begeisterung erreichen, von der es getragen wird und werden muss, um zu funktionieren. Vielmehr muss das Event den Begabungen und Leidenschaften der organisierenden K(g) entspringen. Das kann auch eine Leidenschaft für Popmusik von Adele oder ein Weihnachtsmusical sein.133 Entscheidend ist, dass es hybrid ist und also religiöse Metaphern, Sprache oder auch nur sich religiös-identifizierende Menschen in Zusammenhang mit einem anderen System bzw. einer anderen Praxisform bringt.

Mittelbar erreicht eine K(g) dadurch fünf entscheidende Ziele. Erstens macht die K(g) zunächst die Erfahrung, dass sie ein für viele Menschen relevantes, öffentlichkeitswirksames Event auf die Beine stellen kann (Selbstwirksamkeit). Zweitens entsteht während der Vorbereitung und des Events ein sozialpsychologisch entscheidendes Zusammengehörigkeitsgefühl, gemeinsam an etwas Bedeutsamem zu arbeiten. Dies lässt eine Gemeinde auf Zeit entstehen. In dieser Gemeinde auf Zeit kommt es – anders als in v.a. aus homophilen Bindungen aufgebauten (Kern)Gemeinden – zu „religiös heterogenen Alltagskontakte[n]“. Diese Großevents – und gerade auch die Vorbereitungszeit – schaffen „soziale Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Communities“. Diese „bieten […] die Chance, dass sich Individuen unterschiedlicher religiöser Hintergründe über ihre Glaubensüberzeugungen miteinander austauschen.“134 Drittens erleben Menschen aus kirchenfernen Communities Kirche in einer ungewöhnlichen Gestalt. Es entsteht Singularitätskapital, das sich paart mit einer positiven Grundstimmung des Events. Voraussetzung für die heterogenen Kontakte ist – viertens –, dass durch das hybride Event – je nach Größe – ein enormes Aufmerksamkeitskapital entsteht, das in der Sichtbarkeitsökonomie unserer Zeit von erheblicher Bedeutung für Organisationen ist.135 Schließlich– und das gelingt bei MudMates geradezu mustergültig – entsteht durch das Event ein enormes Netzwerkkapital.136 Für die Durchführung eines solchen Großevents sind Partner:innen aus dem wirtschaftlichen, politischen, sozialdiakonischen und ökumenischen Umfeld unverzichtbar. So ist MudMates bspw. ohne das Bauunternehmen Leonhard Weiss undenkbar, weil schweres Gerät zum Bau der Hindernisse erforderlich ist. Und ebenso braucht es einer Kooperation mit der Stadt/Kommune, deren Zustimmung für die Nutzung großer Flächen und Streckensperrung vonnöten ist. Bedarfe in der Umsetzung wirken hier für die K(g) kreatorisch im Blick auf das Netzwerk; unter der Bedingung, dass Menschen fähig sind, diese Netzwerke zu bauen (s.u. zu den notwendigen Kompetenzen).

Das Event muss mithin auf ein von einer breiten Zielgruppe geteiltes Bedürfnis nach herausgehobenen Erlebnissen reagieren – sei es sportlich, musikalisch etc. –, das Momente des Transzendierens ermöglicht.

Entscheidend für das Gelingen eines Events ist, dass die eigenen Leidenschaften in Resonanz treten mit Trends und Bedürfnissen von Menschen, die mithin aufmerksam zu diagnostizieren sind. MudMates ist ja nicht der erste Hindernislauf dieser Art (vgl. z.B. Mudmasters), sondern diese Form der sportlichen Herausforderungen spricht Menschen gegenwärtig besonders an. Selbiges gilt für Orte, an denen Taylor Swifts Musik zu hören ist. Das Event muss mithin auf ein von einer breiten Zielgruppe geteiltes Bedürfnis nach herausgehobenen Erlebnissen reagieren – sei es sportlich, musikalisch etc. –, das Momente des Transzendierens ermöglicht. Menschen suchen nicht nur irgendein Erlebnis, sondern ein Erlebnis, durch das in besonderer Art und Weise das Alltägliche, die körperliche Grenze oder (durch Musik) das Vorfindliche überschritten wird. Es entsteht Gemeinschaft in einer besonders prägnanten Situation, weil man den Parcours gemeinsam gemeistert hat oder weil man im Zusammenklang aus Musik und Textauslegung in eine Anderswelt gelangt ist.

Menschen bewältigen den Parcours gemeinsam, leiden gemeinsam, freuen sich gemeinsam. Es zählt nicht, wer der:die Schnellste ist, sondern das Ankommen aller ist das Ziel.

Der Religionssoziologie Hubert Knoblauch unterschied sinnvollerweise zwischen kleinen, mittleren und großen Transzendenzen.137 Nicht jede Transzendenzerfahrung ist dabei eine religiöse Gottesbegegnung. Der Witz dieser Großevents liegt vielmehr darin, dass sie nicht schon religiös-christlich prägnant gemacht sind, sondern dass eine Deutungsmöglichkeit besteht. Bei MudMates wird dies darin sichtbar, dass Zusammenhalt, Inklusion oder Klimaneutralität zentrale Werte sind. Das Überwinden von Hindernissen ist metaphorisch geladen und spielt auf die Hindernisse des Lebens an. Als ich selbst als Volunteer mithalf – nicht zuletzt um ethnographisch Eindrücke zu sammeln –, fragte jemand, was die Sieger gewinnen würden. Sofort begann ein Ehrenamtlicher zu erläutern, dass hier nicht das Gewinnen im Zentrum steht, sondern gemeinsam anzukommen und niemanden zurückzulassen. Das Event wurde durchsichtig auf die Werte hin, durch die es getragen wird. Im Falle von MudMates nehmen insbesondere Firmen, Vereine, Freundeskreise usw. teil, für die dies eine Art Teambuilding ist. Menschen bewältigen den Parcours gemeinsam, leiden gemeinsam, freuen sich gemeinsam. Es zählt nicht, wer der:die Schnellste ist, sondern das Ankommen aller ist das Ziel. Selbiges gilt für das Volunteer-Team, durch das Menschen sich einbringen können, um Teil von MudMates zu werden (symbolisiert durch das kostenlose T-Shirt). All diese Aspekte können für sich religiös gedeutet werden, müssen sie aber nicht. Sie sind Anknüpfungspunkte für religiöse Kommunikation und Deutungen. Andere mögliche Großevents werden je für sich prüfen müssen, worin der Erlebnischarakter liegt und worin die kleinen und mittleren Transzendenzen liegen.

Diese Events dürfen nicht instrumentalisiert werden, um Gemeindewachstum zu erzeugen oder Menschen vom christlichen Glauben zu überzeugen.

Nach meiner Wahrnehmung wurde eine dezidiert religiöse Glaubenspraxis während MudMates nicht zentral gesteuert, aber sie fügte sich in Gestalt kleiner Formen wie z.B. das Gebet vor dem Abbau ein, um die Dankbarkeit über wenige Verletzungen am Vortag in ein anderes Licht zu rücken. Das Gebet bettete sich ins gemeinsame Arbeiten ein, wird nicht als Gottesdienst zusätzlich zum Event gefeiert. Oder es kommt – wie mir der Organisator Bernd Schwenkschuster berichtete – zu religiösen Gesprächen beim gemeinsamen Arbeiten.138 Dass diese Ereignisse möglich sind, darf nicht ins Kalkül kippen. Diese Events dürfen nicht instrumentalisiert werden, um Gemeindewachstum zu erzeugen oder Menschen vom christlichen Glauben zu überzeugen. Diese Instrumentalisierung würde gerade die Hybridität gefährden.139 In welcher Gestalt und wie umfassend religiös kommuniziert wird, wäre für MudMates selbst zu erforschen. Generell gilt aber: Diakonische Großevents, in denen wie auch bei MudMates Inklusion, Empowerment und gesellschaftlicher Zusammenhalt im Zentrum stehen, werden zum Ernst- und Testfall des postulierten Chiasmus aus Liturgie und Diakonie: dass das Handeln mit und für die Menschen immer zugleich aus dem Dienst Gottes an den Menschen lebt (vgl. 2.d.).

Es ist diese Hybridität, die Deutungsoffenheit und die entstehende Sichtbarkeit, die das Event auch anziehend für Partner:innen aus anderen gesellschaftlichen Systemen macht. Es entsteht eine Win-Win-Situation. Während die K(g) das Event gar nicht ohne Partner:innen durchführen kann – weil die Hybridität es mit sich bringt, dass die erforderlichen Ressourcen nicht genuin in der Kirche verfügbar sind – und also die Unterstützung der Partner:innen zu gewinnen versucht, können andere Akteur:innen dort durch ihre Teilnahme einen Marketing-Effekt erzielen und am entstehenden Netzwerkkapital und dem sozialen Kapital partizipieren. Das schließt dezidiert auch das Entstehen kleiner und mittlerer Transzendenzen ein; indem im Falle von MudMates bspw. die Azubis von Leonhard Weiss im Rahmen ihrer Ausbildung ein besonderes Teamevent erleben.

Die Ressourcen, die in der Durchführung eines Großevents notwendig sind, sind natürlich beträchtlich – sowohl in Gestalt menschlicher Fähigkeiten und Arbeitskraft als auch in finanzieller Hinsicht. Eine eigene Arbeitsgruppe zum Bereich Fundraising und Finanzierung (Steuerfragen/Finanzadministration) sind eine notwendige Voraussetzung. Diese kümmern sich um das entsprechende Startkapital, die Kooperation mit Sponsor:innen und die saubere finanzielle Abrechnung. Auf diese Bereiche gehe ich nicht näher ein, weil das selbstverständlich und in der betriebswirtschaftlichen Literatur bearbeitet ist. Stattdessen möchte ich zwei andere Aspekte des Bereichs Kompetenzen/Ressourcen diskutieren, weil sie mir pastoraltheologisch und kybernetisch relevant erscheinen.

Die projektbezogene Form des Events und dessen Verknüpfung mit einer Freizeitaktivität kommt der Motivation Ehrenamtlicher entgegen.

Zum einen sind diese Großevents nur mit einem beträchtlichen Einsatz Ehrenamtlicher leistbar. Eine Bezahlung eines großen Teils der Mitarbeiter:innen hätte zur Folge, dass die Gewinnmarge höher sein müsste und dadurch insgesamt höhere Teilnahmegebühren entstünden (Ticketpreise, Verpflegung usw.). Überdies würde dies das Entstehen einer Gemeinde auf Zeit unterminieren. Um dies alles zu vermeiden, ist eine Beteiligung Ehrenamtlicher notwendig. Die projektbezogene Form des Events und dessen Verknüpfung mit einer Freizeitaktivität kommt der Motivation Ehrenamtlicher entgegen. Ihr Engagement wird zeitlich begrenzt, umfasst keine auf Dauer gestellte Verantwortung und es impliziert häufig eine Selbstwirksamkeitserfahrung für die Helfer:innen.

Um das einmal im Blick auf MudMates zu konkretisieren, können die Beteiligten dort z.B. ihre Leidenschaft fürs Handwerken und Basteln ausleben, wenn die Hindernisse geplant und aufgebaut werden. Laut Organisator Bernd Schwenkschuster beteiligen sich deshalb überproportional viele Männer an der Vorbereitung von MudMates (nicht hingegen bei der Teilnahme am Hindernislauf). Woher kommen nun die Ehrenamtlichen? Wie werden diese angeworben? Im Blick auf MudMates ist auffällig, dass zum Gelingen der Konnexionalismus entscheidend ist. Verbindliche ehrenamtliche Mitarbeit wird insbesondere auch aus angrenzenden Gemeinden, durch ökumenische Kooperationen und durch (über-)regionale Akteur:innen (z.B. das Kinder- und Jugendwerk der EmK) gewonnen. Selbstverständlich stoßen Ehrenamtliche auch auf anderen Wegen hinzu (Netzwerkkapital), das dürfte jedoch selten ausreichen, weil Schlüsselstellen durch hochengagierte Mitarbeiter:innen besetzt werden müssen. Daran wird sichtbar, warum der Konnexionalismus in seiner Verbindlichkeit eine zukunftsweisende Grundstruktur von Kirche sein dürfte (s.o. 2.).

Pastoraltheologisch wird um die neuen pastoralen Bilder wie die des Social Entrepreneurs oder der Pionierin gegenwärtig heftig gestritten.

Zum anderen setzen diese an Trends orientierten Großevents spezifische Leitungspersönlichkeiten voraus, die entsprechende Kompetenzen mitbringen. Diese könnte man als Social Entrepreneurs bezeichnen. Diese genaue Definition dieser Funktionsbezeichnung ist zwar innerhalb der Wirtschaftswissenschaft umstritten,140 er ist für die Pastoraltheologie aber weiterführend, weil er als Metapher neue Aspekte pastoraler Identität greifbar macht.

Roger/Osberg zählen fünf Eigenschaft von Social Entrepreneurs auf, die als Blaupause dazu dienen, entscheidende Kompetenzen zu benennen, die für dieses Handlungsmodell unersetzbare Voraussetzungen erscheinen. Social Entrepreneurs sind erstens „inspired to alter the unpleasent equilibrium“141 (in unserem Fall die mangelnde Reichweite von Kirche). Sie bringen also eine ansteckende Leidenschaft mit. Sie sind – zweitens – kreativ darin, alternative Ansätze zu entwickeln, d.h. sie beobachten aufmerksam die Trends und haben die Fähigkeit, in Response eine neue Form von Kirche zu imaginieren. Drittens sind Social Entrepreneurs „Macher:innen“ („take direct action“142). Sie lassen sich mithin nicht von möglichen Vorbehalten bremsen, zögern nicht, sondern sind eher bereit auszuprobieren und im Zweifel zu scheitern (Kann eine Gemeinde ein Event mit 10.000 Besucher:innen stemmen?). Stoßen sie auf vorprogrammierte Widerstände oder sind unsichere Wege zu beschreiten, zeichnen sie sich – viertens und fünftens – sowohl durch Mut aus, Risiken einzugehen, als auch durch Standhaftigkeit, angesichts von Scheitern nicht gleich aufzugeben. Diese personalen Eigenschaften und Kompetenzen sind, mögen sie auch unterschiedlich stark ausgeprägt sein, für die Organisation eines solchen Großevents einer K(g) unumgänglich.

Kirche und Theologie müssen sich im Blick auf Qualifikation, Berufsbilder und kirchlichen Vergemeinschaftungsformen einer Sowohl-als-auch-Logik verschreiben.

Pastoraltheologisch wird um die neuen pastoralen Bilder wie die des Social Entrepreneurs oder der Pionierin gegenwärtig heftig gestritten, wie sich aktuell an Greifensteins Reaktion auf den Studiengang Pionier Ministries in Jena zeigt.143 Trotz aller berechtigter Einwände Greifensteins, dass diese neuen Berufsbilder und Qualifikationswege nicht zu einer Entwertung wissenschaftlicher Kernkompetenzen, anderer Pfarrbilder und in Sonderwelten führen dürfen,144 zeichnet sich m.E. ab, dass Kirche und Theologie sich im Blick auf Qualifikation, Berufsbilder und kirchlichen Vergemeinschaftungsformen einer Sowohl-als-auch-Logik verschreiben müssen.

Social Entrepreneurs sind Produkte von Schwellen, entstehen in Krisenzeiten,145 sie sind also Symptom einer neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit, lassen sich also nicht verhindern, ihre Rolle und Funktion sind vielmehr konstruktiv einzubinden. Gerade – und hier verweise ich nochmal auf den Heterogenitätsgedanken – das Nebeneinander unterschiedlicher Berufsbilder ist zwar unbequem, aber zukunftsweisend. Das lässt sich im Übrigen auch am vorliegenden Case zeigen. Denn wird eine falsche Alternative von traditioneller Parochialgemeinde und projektorientierter Gemeinde auf Zeit von Pfarrer:in und Pionier:in erzeugt, lässt sich das Großevent gar nicht realisieren, weil beide Communities resp. beide Pastor:innenbilder, verbunden durch ein gemeinsames Netzwerk, aufeinander angewiesen sind.

Will Kirche sich von der Kirchensteuer resp. der Primärfinanzierung durch monatliche Mitgliedschaftsbeiträge lösen, müssen sich diese Großevents selbst tragen, gerade auch im Blick auf die entstehenden Personalkosten.

Schlussendlich zur Finanzierung: Durch Großevents generieren K(g) immer auch Einnahmen, sei es durch Ticketverkauf, Verpflegung, Fundraising usw. In der Regel müssen Materialien angeschafft werden, die bei der K(g) und damit als Werte verbleiben. Will Kirche sich von der Kirchensteuer resp. der Primärfinanzierung durch monatliche Mitgliedschaftsbeiträge lösen, müssen sich diese Großevents selbst tragen, gerade auch im Blick auf die entstehenden Personalkosten. Kirche darf darin aber nicht zur Profit-Organisation werden, es drohen sonst performative Selbstwidersprüche zu den kommunizierten Werten. Preise werden mithin immer so zu kalkulieren sein, dass in der Gesamtbilanz nur geringe Gewinnmarschen erzielt werden, die das Fortführen der Arbeit gewährleisten.

4. Ein selbstkritisches Schlusswort: notwendige Relativierungen

Kirchenreformprozesse, Strategiepapiere, Modelle zukunftsweisender Formen von Kirche und der Austausch über Best-Practice-Beispiele haben Hochkonjunktur. Dies ist Ausdruck eines Organisationsreflexes angesichts disruptiver Veränderungen im religiösen Feld. Das Bestehende, so die Diagnose, hat keine Zukunft, Hoffnung liegt im Neuen und einer Flucht nach vorne. Im Schatten all dieser organisatorischen Bemühungen werden immer auch die Gefahren dieser Emphase des Neuen und die Grenzen der Steuerbarkeit sichtbar.146 Es ist sicherlich keine Alternative, sich angesichts der Veränderung in die Nostalgie vergangener Zeiten zu flüchten. Doch im Gestus der Überlegenheit aufzutreten, dass Kirche einfach nur anders (gesteuert) werden müsste, dann ließe sich der Gesamttrend schon umkehren, ist auch eine „Lebenslüge“, die auf „Weltvereinfachung“ basiert. Denn Handlungsmodelle sind keine Patentrezepte, sind keine Erfolgsgaranten, ihre Anverwandlung keine bloße Applikation, sondern von Kontingenzen und Scheitern durchzogen. Wer in diesem einseitigen Duktus in die Zukunft der Kirche denkt, sitzt – darauf hat der Philosoph Gransche zu Recht hingewiesen – dem Missverständnis auf, als seien Modelle selbst identisch mit der Wirklichkeit. Wer diesem Missverständnis einer durch Modelle und Berechnungen vorangetriebenen „Vorstellensexpansion“ folgt, leistet vor allem „Realitätsverdopplung“, denn:

„Die eine Realität folgt aus den Formeln und Modellen und sie leitet, mehr und mehr Voraussicht versprechend, das Handeln. Vollzogen wird das Handeln dann jedoch in einer anderen Realität, die mit Formeln und Modellen immer unvollständig und unterkomplex beschrieben werden kann.“147

Innovationsglaube, der „Fetisch des Neuen“148, kann dann schlimmstenfalls zu einem Verfügbarmachen führen. Die Realisierung eines Handlungsmodells ist aber, soll es in concreto realisiert werden, von Unwägbarkeiten durchzogen. Für hybride Großevents als Form von Kirche gibt es keine Erfolgsgarantie. Es sich zu eigen zu machen, es experimentell auszuprobieren, birgt immer das Risiko des Scheiterns und unkalkulierbarer Nebeneffekte. Vollmundig von einem Handlungsmodell einer nächsten Kirche zu sprechen, verspricht daher immer auch zu viel. Die Zukunft der Kirche ist eben gerade creatura verbi dei und nicht creatura operis humani. Das gilt theologisch wie futurologisch.

Eine zukunftsfähige Kirche braucht beides: die Experimentierfreude, Neues zu entwickeln, um an der Erweiterung unseres Vorstellungsvermögens zu arbeiten. Zugleich ist Demut und Selbstbegrenzung vonnöten.

Es zeigt sich, dass aus dem Handeln-Müssen/-Wollen, ohne die Konsequenzen sicher voraussagen zu können, ein Spannungsfeld werden muss. Eine zukunftsfähige Kirche braucht beides: die Experimentierfreude, Neues zu entwickeln, um an der Erweiterung unseres Vorstellungsvermögens zu arbeiten. Zugleich ist Demut und Selbstbegrenzung vonnöten angesichts allzu überschwänglicher Versprechen, die Kirche mit dem nächsten Strategiepapier zu retten. Denn die implizite Abwertung des Bestehenden und Traditionellen als rückwärtsgewandt ist ebenso eine unterkomplexe Deutung, die lediglich eine weitere Investition von Ressourcen in unnötige Deutungsmachtkonflikte zur Folge hat. Nur durch Selbstrelativierung kann die Lebenslüge der jeweiligen Position markiert werden: dass im Streit um die Zukunft der Kirche immer beide (un)recht haben. Kommt es dazu nicht, treten die jeweiligen Parteien in den Reformprozessen mit Absolutheitsansprüchen auf, die gerade ihre jeweilige Lebenslüge zu verdecken suchen.

Im Konflikt um die Kirchenentwicklung könnte deshalb ein kybernetisch abgewandeltes Diktum Karl Barths zum Grundsatz werden: dass wir in der Kirchenentwicklung Kirche bauen sollten, ohne es zu können, um dann beides – unser Sollen und unser Nicht-Können – zu „wissen und eben damit Gott die Ehre [zu] geben“149. Diese rhetorische Abrüstung und Selbstrelativierung sind Bedingung für einen Gesprächsraum – einen Third Space –, ehrlich über Verlust und Hoffnung zu sprechen; was zu lassen und was zu machen ist. Unter diesen Vorzeichen können neue Handlungsmodelle in der Realität erprobt werden, um sich unterwegs davon überraschen zu lassen, was daraus entstehen kann.

Praxis

Die kommende Kirche? Mit Jacques Derrida auf pastoralen Konversionsflächen

„Wollt ihr mit uns ein paar Spareribs essen?“ Mit diesen Worten begrüßte uns ein freundlicher Ex-GI, als wir aus der Türe traten, um miteinander den Stadtteil Mannheim-Franklin zu erkunden. Wir – das waren: Pastoralreferent Richard Link, Elisabeth Wöhrle und Burkhard Hose vom Würzburger Hubland und das theologische Forschungsteam Anna Asteriadis, Lukas Moser und Christian Bauer. Die Einladung der nebenan grillenden US-Boys haben wir leider nicht angenommen. Warum uns das im Nachhinein ziemlich geärgert hat und welche theologische Erkenntnis es aber dennoch ermöglichte – davon wird gleich noch berichtet.

Konversionsflächen wie der neue Mannheimer Stadtteil Franklin, ein ehemaliges US-Militärgelände, sind urbane Experimentierfelder mit einer guten Portion kulturellen Sexappeals. Zukunftslabore für die Gesellschaft, aber auch für Kirchen. Und daher auch Hotspots nicht nur für die Stadtplanung, sondern auch für die Pastoraltheologie150. Städtische Entwicklungsflächen erweisen sich heute als kirchliche Bekehrungschancen, die neue und andere Formen pastoraler Präsenz ermöglichen.

Denn der Konversionsbegriff ist doppeldeutig. In urbanistisch-säkularem Sinn verweist er auf die Verwandlung von „Nicht-Orten“151 (wie frühere Militärgebiete, Industrieanlagen oder Verkehrsknoten) in lebenswerte Plätze152 Und in theologisch-pastoralem Sinn auf Bekehrungserlebnisse (lat. conversio), die auch einer umkehrbereiten Kirche verheißen sind, die sich angesichts der Missbrauchskrise auf den synodalen Weg153 ihrer eigenen Selbstevangelisierung154 macht: Kirche bekehrt sich auf urbanem Neuland.

Städtische Entwicklungsflächen erweisen sich heute als kirchliche Bekehrungschancen, die neue und andere Formen pastoraler Präsenz ermöglichen.

Für den Weg zu dieser anderen, nicht mehr klerikalen, misogynen und homophoben, nach innen autoritären und nach außen identitären Kirche wähle ich im Folgenden einen ‚etwas anderen‘ Zugang, der vor allem auf die pastorale Kreativität von genuin theologischen Diskursen setzt. Und ich wechsle die Referenztheorie: von deutscher Soziologie zu französischer Philosophie. Anders als beim Strategiekongress Die nächste Kirche geht es weniger um die systemtheoretischen „Strategien“155 einer von Niklas Luhmann inspirierten ‚nächsten Kirche‘156 als vielmehr – dieses Konzept in freundlicher Nahbeziehung kritisch ergänzend, überschreitend, kontrastierend – um die dekonstruktiven „Taktiken“157 einer von Jacques Derrida inspirierten ‚kommenden Kirche‘: Futur 2, aber anders.

Es geht um christliche „Mikroresistenzen“ 158 einer alltäglichen Lebenskunst der Freiheit, deren charismatische Widerborstigkeit mit Michel Foucault darauf zielt, scheinbar übermächtige institutionelle „Systeme der Macht kurzzuschließen, sie zu demontieren oder zu knacken“159. Diese subversiven Freiheitspraktiken unterlaufen die Makrostrategien kirchlicher Herrschaftsstrukturen und wenden sie um zu Mikrotaktiken pastoraler Widerstandsnester: „Es geht darum, […] jene untergründigen Formen ans Licht zu bringen, die diese zersplitterte, taktische und bastelnde Kreativität von Gruppen und Individuen annimmt […]. Viele Alltagspraktiken […] entsprechen dem taktischen Typ […]. […] Ich möchte einigen dieser multiformen, widerborstigen, listenreichen und hartnäckigen Handlungsweisen folgen, die der Disziplin entkommen, ohne ihren Einflussbereich zu verlassen […].“160

1. Konversion im Bauwagen: Entdeckungen einer explorativen Theologie

Geschichten zeugen Geschichten. Daher verstehe ich Pastoraltheologie als eine theologische Geschichtensammlerin, die gute pastorale Geschichten nicht nur einsammelt, sondern auch so weitererzählt, dass andere darüber in ihre eigene Erzählung finden161. Narrative des Gelingens sind dabei besonders wichtig. Denn Menschen kommen erst dann ins Handeln, wenn ihre Lust auf etwas größer ist als ihre Angst vor etwas. Entsprechende Geschichten gilt es, in die Routinen des kirchlichen Alltags hineinzuerzählen. Geschichten aus der Zukunft, die erstaunt sagen lassen: „Ich habe die Geburt der Kirche von morgen gesehen.“162 Die Suche danach führt auf Konversionsflächen163 wie das Würzburger Hubland164, das Wiener Nordbahnviertel165 oder eben nach Mannheim-Franklin166.

Wir müssen ein Teil des Quartiers werden.

Bleiben wir für einen ersten Moment in Mannheim. Auch auf diesem ehemaligen US-Militärgelände gab es eine signifikante kirchliche Perspektivenumkehr167. Hieß es dort erst noch „Das Stadtquartier soll ein Teil von uns werden“, so erkannte man schnell: „Nein, umgekehrt – wir müssen ein Teil des Quartiers werden.“ Dieser umkehrbereite Kirchengeist drückte sich baulich zunächst in einer ökumenischen ‚Bauwagenkirche‘ aus, von der unser Gastgeber mit leuchtenden Augen erzählte und die noch immer ein Hauch von urchristlicher Hauskirche umweht – aus jener Zeit also, in der christliche Gemeinden noch so klein waren, dass sie in ein Wohnzimmer passten. Zurück in die Zukunft?

Gottesdienst wird heute auf Franklin noch immer in ökumenischer Gemeinsamkeit gefeiert – und zwar in einem pastoralen Shabby-Chic-Mehrzweckraum. Ein Klassenzimmer der ehemaligen Elementary School wurde in eine multifunktionale Wohnzimmer-Kirche verwandelt, in der unter anderem Sofas, eine Kaffeemaschine, ein Schreibtisch mit Büroschrank, ein aufblasbares Planschbecken, Secondhand-Sakralmobiliar und ein ganz besonderer Holzaltar zu finden sind. Dieser wurde nämlich von den Inhabern einer Boulderhalle gebaut, bei denen die beiden Seelsorger unterkamen, wenn es ihnen im Bauwagen zu kalt wurde. Vorbild des Altardesigns: ein Clubtisch in der Boulderhalle.

Eine jesuanisch inspirierte Kirche liest am Verhalten von Kindern ab, wie reichgottesfrohes Leben geht

Next door: die ehemaligen US-GIs, die uns spontan zum Barbeque einluden. Wir lehnten – wie bereits berichtet – ab, denn wir mussten ja leider zur Geländeerkundung losgehen. Ein vertaner Kairos? Wahrscheinlich. Es blieb (und bohrte) die Frage, ob man sich nicht viel öfter unterbrechen und einladen lassen sollte. Nicht umsonst hatte bereits Rolf Zerfaß die Gastfreundschaft168 (nicht nur in der Perspektive des Gastgebers, sondern auch des Gastes) zu einem pastoralen Leitbild erklärt. Christoph Theobald spricht sogar von „heiliger Gastfreundschaft“169 als dem stilbildenden Motiv des Christentums.

Auf dem Weg durch das neue Quartier zeigte Richard uns auch die geschlossene Kirche des Militärgeländes, die eventuell gekauft werden soll – obwohl man nur 2x im Jahr (zu St. Martin und an Weihnachten) einen Raum für über hundert Menschen braucht. Spontane Reaktion: Warum wollt ihr eure gute Nachbarschaft zu den Leuten in der Elementary School denn aufgeben? Dort habt ihr doch alles, wonach sich viele in der Pastoral sehnen: ungezwungene Alltagskontakte zu Menschen aus anderen Sozialmilieus…

Ortswechsel auf die Metaebene: ‚Theologisches Clustern‘ in Richards Wohnzimmer. Mit einem richtigen Disclosure-Moment, der sich im Sinne einer felix culpa nicht zuletzt auch unserem Ausschlagen der BBQ-Einladung ‚verdankt‘. Auf dem Boden liegen Eindrücke unserer Raumerkundung, unter anderem die Stichworte „Kinder“ (beim Spiele beobachten), (neue) „Pfade“ (ausprobieren) und „Einladungen/Angebote“ (annehmen). In der theologischen Draufsicht („Freestyle-Theologie“) dann die Erkenntnis: „Das ist ja wie bei Jesus!“, so der überraschte Ausruf des ‚gelernten‘ Exegeten Burkhard Hose. Eine jesuanisch inspirierte Kirche liest am Verhalten von Kindern ab, wie reichgottesfrohes Leben geht. Sie ist im Geist des galiläischen Wanderpredigers unterwegs. Und sie lässt sich wie dieser – anders als wir – in ihren Routinen unterbrechen und in fremde Häuser einladen.

2. Kirche mit leichtem Gepäck: Optionen einer anderen Pastoral

Pastoraltheologie soll inspirieren, d. h. theologisch „auf andere Gedanken bringen“170. Und zwar so, dass die Pastoral vor Ort wieder neu zu Kräften kommt. Dazu kann sie die möglichen Wirklichkeiten von Utopien (im Sinne von idealisierten Kirchenträumen) anbieten. Oder aber die wirklichen Möglichkeiten von Heterotopien171 (im Sinne von realisierten Spielräumen) – so wie man sie z. B. auf städtischen Konversionsflächen antrifft. Sie sind das real existierende Gegenteil von theologischen Luftschlössern. Und sie ermöglichen eine Reise in die Zukunft der Pastoral. Denn hier kann eine zunehmend ressourcenschwächere Kirche nicht mehr auf jahrzehntelang antrainierte Pastoralreflexe zurückgreifen. Ein neues Wohngebiet? Kirche mit Turm bauen, Pfarrhaus und Gemeindezentrum dazu, vielleicht noch ein Kindergarten und ein paar Jugendräume – fertig. Und als personale Ergänzung dieses räumlichen Angebots: Pfarrer, Pastoralreferentin, Diakon, Sekretärin.

Hier kann eine zunehmend ressourcenschwächere Kirche nicht mehr auf jahrzehntelang antrainierte Pastoralreflexe zurückgreifen.

Ein spannendes Experiment nach dem Ende der Selbstverständlichkeiten bzw. jenseits der vermeintlichen Sicherheit von Alltagsroutinen (vom Pfarrbüro über Gottesdienstordnungen und Gremiensitzungen bis hin zur Sakramentenkatechese172): Was bleibt von Kirche eigentlich übrig, wenn sie sich aufgrund schwindender Ressourcen nicht mehr auf Immobilien und (immobile) Traditionen verlassen kann, sondern stattdessen neue Formen pastoraler Präsenz (er)finden muss173? Der Architekt Walter Klasz sagt: Form entsteht, wenn man alles weglässt, was nicht notwendigerweise dazugehört.

Wir haben uns im Rahmen des Würzburger Konversionsflächen-Projektes auf die Suche nach diesem Wenigen, aber pastoral Notwendigen gemacht. An allen erkundeten Orten sind uns als verbindende Gemeinsamkeit folgende Dinge begegnet: die Bibel und ein Tisch für das Herrenmahl, Sofas und Kaffeemaschinen. Überall gab es aber nicht nur diese vier Dinge, sondern auch viele tolle Menschen, die eine gemeinsame spirituelle Haltung der Präsenz174 auszeichnet. Gerade in ihrer freigebenden und raumlassenden Zurückhaltung legt diese Grundhaltung unaufdringlicher Antreffbarkeit performativ ein sehr glaubwürdiges Zeugnis von der schöpferischen Lebenskraft des Evangeliums ab.

An allen erkundeten Orten sind uns als verbindende Gemeinsamkeit folgende Dinge begegnet: die Bibel und ein Tisch für das Herrenmahl, Sofas und Kaffeemaschinen.

Konversionsflächen ermöglichen daher „Heteromorphien“175 einer anderen Pastoral. Sie sind urbane Andersorte, an denen zugleich pastorale Andersformen gefunden werden können. Andersortige soziale Räume („Anderswo“) ermöglichen andersartige Weisen kirchlicher Präsenz („Anderswie“). Es entsteht eine reichgottesfrohe Anderskirche. Metaphorisch gesprochen: Nach dem Untergang der pastoralen Schwerindustrie176 muss die Kirche institutionell und spirituell abrüsten. Jenseits der ‚schweren Moderne‘ könnten auf dem Brachland ‚postindustrieller‘ Glaubensruinen dann – wie in Detroit, der Welthauptstadt alternativer Mikroökonomien – offene Heilsbrachen entstehen, die erste Pionierpflanzen anziehen und sich nach und nach in Biotope nachwachsenden Lebens verwandeln.

Hier lassen sich nicht nur Heterotopien einer andersortigen, sondern auch Heteromorphien einer andersartigen Pastoral entdecken. Denn es ist ja nicht viel gewonnen, wenn man an neuen Orten einfach nur ‚den alten Stiefel macht‘. An den neuen Orten einer tatsächlich anderen Pastoral jedoch zeigt sich nicht nur, wo sich Kirche heute wandelt, sondern auch wie: Anderswo trifft Anderswie. Dabei geht es – um mit Paul Watzlawick zu sprechen – nicht nur um systemstabilisierende „Lösungen erster Ordnung“ („Mehr des Selben“), sondern vielmehr um systemverunsichernde „Lösungen zweiter Ordnung“ („Weniger des Selben“, d. h. „Mehr des Anderen“). Diese erst ermöglichen an neuen Orten wirklich alternative pastorale Formen der christlichen Nachfolge Jesu: Kirche, aber anders.

Die theologische Rede von dieser anderen Kirche, deren Kommen man in Konversionsgebieten auf die Spur kommen kann, ist mit dem biblischen Sprechakt der Prophetie verbunden. Sie ist weniger apokalyptische Vorhersage als vielmehr weisheitliche Hervorsage177 des Kommenden. Nach dem jesuanischen Vorbild der Rede vom Reich Gottes178 beobachtet sie die gegenwärtige Welt, in der Weizen und Unkraut nebeneinander gedeihen (vgl. Mt 13,24-30), mit einem heilsfokussierten Zukunftsblick: Wo sind inmitten der Differenz von weisheitlichem ‚Schon‘ und apokalyptischem ‚Noch nicht‘ verborgene Anzeichen für die Ankunft des Reiches Gottes zu finden: „Fragmente des Guten im Jetzt“179? Analog zum Realitätsbezug dieser (bis hin zum eigenen Lebensopfer) tatbezeugten „apokalyptischen Weisheit“180 fahndet die Rede von der kommenden Kirche nach dem Zukünftigen im bereits Bestehenden: Wo leben Menschen schon heute undercover181 eine kommende Kirche, die noch nicht voll ins Licht getreten ist? Eine „noch nicht gewusste Kirche“ 182, deren Kommen sich gleichwohl schon jetzt abzeichnet und deren Profil sich bereits in ersten Umrissen erahnen lässt?

Es wird wohl eine Kirche ohne Turm und Schaukasten183 sein, dafür aber mit leichtem Gepäck, offenem Geist und einer suchenden Sprache. Diese zutiefst jesusbewegte „Kirche ohne Geldbeutel und Vorratstasche und Schnallenschuhe“184 erkundet ihr Umfeld mit einer lernbereiten, entdeckungsfreudigen Gottesvermutung: „Gott ist an diesem Ort, und ich habe es nicht gewusst“ (Gen 28,16). Das ermöglicht eine Pastoral des Zutrauens in die eigene Unsicherheit, des mitgehenden Interesses und der überraschbaren Offenheit. Konversionsflächen nicht als gesellschaftliche Missionsgebiete, sondern als kirchliche Lernfelder. Verbundenheit statt Kirchenbindung. Selbstbekehrung statt Fremdmission. Nur so können säkulare Konversionsflächen zu Orten des gelebten Evangeliums werden, wo Menschen aufatmen und über sich hinauswachsen, wo sie im Geiste Jesu aufrecht gehen lernen und zu sich und zueinander finden – und wo sich ihr Leben zum Guten wendet.

Es wird wohl eine Kirche ohne Turm und Schaukasten sein, dafür aber mit leichtem Gepäck, offenem Geist und einer suchenden Sprache

Wie im Fall der französischen Bewegung der Arbeiterpriester nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. vor dem Zweiten Vatikanum kann das zu einem neuen Verständnis von der Mission185 der Kirche in der Welt führen. Immer wenn diese ‚Priester im Blaumann‘, die in Autofabriken, Kohlminen und Hafenvierteln das Evangelium bezeugten, indem sie das Leben der Arbeiter:innen teilten, gefragt wurden, wie viele Bekehrungen es denn gebe, haben sie geantwortet: „Nur wenige. Aber wir haben uns selbst bekehrt“. Denn nicht sie haben die Arbeiter:innen zur Kirche, sondern diese haben sie zum Evangelium bekehrt. Mission geschieht dann nicht, weil die Anderen uns brauchen (das tun sie in der Regel nicht), sondern wir die Anderen – ihre anderen Geschichten vom Leben und daher auch ihre anderen Geschichten von Gott. Pastorale ‚Welt-Mission‘ der Kirche als entdeckerische Selbstentgrenzung auf einen je größeren Gott. Daher: Kirche braucht Franklin – und nicht umgekehrt.

Bei dieser conversión pastoral geht es weniger darum, im Sinne einer introvertierten Komm-her-Pastoral186 selbst Einladungen auszusprechen und Angebote zu machen („Mehr des Selben“), sondern im Sinne einer extrovertierten Geh-hin-Pastoral187 stattdessen Einladungen von Anderen anzunehmen und auf fremde Angebote einzugehen („Mehr vom Anderen“). Wie von selbst (jesuanisch gesprochen: automaté188) ergeben sich dann Orte einer quartierspräsenten, andersförmigen Kirche der Zukunft, die das Evangelium ganz ohne Kirchturm und Schaukasten lebt – dafür aber (wie z. B. im Wiener Nordbahnviertel) zur Miete in einem Ladenlokal oder (wie z. B. in Mannheim-Franklin) in einem Bauwagen. Keine Kirche ohne Sofa, Kaffeemaschine und beweglichem Altar: diese konversionstheologische Handlungsmaxime kann auch andernorts die pastorale Fantasie beflügeln, Mut machen und Kräfte wecken. Denn Geschichten zeugen Geschichten. Und auch fremder Boden trägt.

3. Jacques Derrida: Umrisse einer kommenden Kirche

Ein kleines Theorieexperiment zu Beginn. Wenn Sie des Französischen mächtig sind, dann lesen Sie sich doch einmal kurz die beiden folgenden Worte laut vor: différence und différance. Hören Sie einen Unterschied? Vermutlich nicht. Denn rein phonetisch gibt es zwischen diesen beiden Begriffen keinen Unterschied – wohl aber philosophisch. Der erste („différance“) ist von der französischen Orthografie her eigentlich ein Rechtschreibfehler („différence“ wäre korrekt). Aber zugleich ist er auch ein Neologismus, der dem französischen Meisterdenker Jacques Derrida (1930-2004) als diskursives Werkzeug dient, um bestehende Verhältnisse dekonstruktiv zu öffnen. Différance ist in ihrer phonetisch-orthografischen Performanz so etwas wie die potenzierte Differenz, eine Differenz hoch zwei: die Differenz der Differenz. Ein kleiner Buchstabe (a statt e) macht hier den Unterschied.

Mithilfe dieser wurzelhaften, d. h. in sich selbst radikalisierten (lat. radix = Wurzel) Differenz-Differenz lässt sich auch eine ‚kommende Kirche‘ („église à venir“) pastoral weiterführend theologisch rekonstruieren. Differenztheoretisch ist sie nämlich mit dem verwandt, was Jacques Derrida die ‚kommende Demokratie‘ („démocratie à venir“) nennt. Beide Größen leben aus einem radikalen Zwiespalt („différance“), der tief in den Wurzeln des jeweils Eigenen steckt. So war zum Beispiel die griechische Polis, also das erste demokratisch verfasste Gemeinwesen der Menschheit, in ihren Ursprüngen eine höchst beschränkte Demokratie, welche nur die freien männlichen Bürger einer Stadtgesellschaft umfasste – und keine Sklav:innen, Frauen und Fremden. Demokratie gibt es „nur in der différance, in der sie sich von sich unterscheidet. Sie ist […] unendlich in ihrer Unfertigkeit“189.

Eine Zukunft, die man schon kennt (oder auch nur zu kennen meint), ist keine wirkliche Zu-Kunft.

Derrida spricht daher von einer démocratie à venir: einer kommenden, in diesem Sinne unvoll-kommenen bzw. zu-künftigen Demokratie. Im Französischen spielt diese Wendung mit den Worten ‚Zukunft‘ („avenir“) und ‚im Kommen‘ („à venir“) – was ganz ähnlich auch im Deutschen funktioniert: Zu-Kunft ist das, was auf uns zu-kommt. Es geht um eine Demokratie der Zukunft („démocratie d’avenir“), die permanent im Kommen ist („démocratie à venir“), weil sie in der säkularen Messianizität190 eines prinzipiell offenen Morgen immer nur unvollkommen realisiert sein wird. Das umfassende Teilhabeversprechen der Demokratie bleibt ein dauerhaft unvollendetes politisches Projekt, denn von Beginn an sitzt in ihren geschichtlichen Konstituenten eine stets neu zu dekonstruierende Grunddifferenz von hegemonial-inkludierten und subaltern-exkludierten Menschen191

Dieser Gedanke einer ‚kommenden Demokratie‘ tauchte bei Derrida erstmals in Das andere Kap (1989) auf. Er kehrte dann in Marx‘ Gespenster (1993) wieder und wurde zuletzt in Schurken (2003) weiter ausgefaltet. Er steht für eine „kämpferische und schrankenlose politische Kritik“192des Demokratischen, die eine permanente demokratische Selbstüberschreitung im Zeichen universaler Gerechtigkeit erfordert: „Das Kommende […] bezeichnet nicht nur das Versprechen, sondern auch, dass die Demokratie niemals existieren wird im Sinne von gegenwärtiger Existenz […], […] weil sie in ihrer Struktur stets aporetisch bleiben wird. […] Die Verbindung von Demokratie und Gerechtigkeit wird zu einem Motiv […], [welches] […] das Denken der Zu-Kunft mit dem irreduziblen ‚Vielleicht‘ verknüpft.“193

Eine solche différance prägt auch die christlichen Kirchen. Diese beanspruchen, idealerweise eine in jesuanischem Geist entgrenzte Versammlung (griech. ekklēsía) zu sein, die anders als die griechische Polis auch Sklav:innen, Frauen und Fremden (vgl. Gal 3,28) umfasst. Auch hier hilft möglicherweise die Etymologie weiter. Denn der Begriff ‚Kirche‘ lässt sich in verschiedenen Sprachen auf unterschiedliche Wortherkünfte zurückführen, die auf eine ekklesiologische Wurzeldifferenz im Griechischen verweisen194: kyriakḕ (= die dem Herrn Gehörende) für den ‚germanischen’ Sprachraum (vgl. Kirche im Deutschen, Church im Englischen, Kerk im Niederländischen) und ekklēsía (= die Herausgerufene195) im ‚romanischen’ Sprachkontext (vgl. Église im Französischen, Chiesa im Italienischen, Iglesia im Spanischen). Das egalitäre Teilhabeethos der ekklēsía steht in Spannung zur hierarchischen Kirchenverfassung der kyriakḕ. Kirche ist immer beides: demokratische ekklēsía und monarchische kyriakḕ196 (wobei beide Begriffe auch anders interpretiert werden können).

Es geht daher nicht darum, eine Organisation beraterisch abzusichern, sondern sie theologisch zu verunsichern.

Mit Derrida lässt sich somit auch in der Wurzel des Christentums selbst eine Differenz freilegen. Zwischen klerikalen Machtasymmetrien und synodaler Selbstbekehrung liegt auf dieser gerade eine enorme Spannung, über die man auch in organisationsberaterischen Strategieprozessen nicht hinweggehen darf. Denn auch das Christentum ist durch eine différance bestimmt, deren Dekonstruktion in den eigenen Wurzeln etwas zutiefst Befremdliches und zugleich auch Öffnendes zutage fördert. Es geht daher nicht darum, eine Organisation beraterisch abzusichern, sondern sie theologisch zu verunsichern. Ihren Glauben gilt es so zu entsichern, dass er – so John Caputo, der wohl am stärksten von Derrida inspirierte Gegenwartstheologe – auf eine heilsame Weise „von innen her verstört wird“197: „Dieses Verstörende kommt nicht von außen, es steckt tief unten in ihren eigenen Wurzeln“198.

Eine Zukunft, die man schon kennt (oder auch nur zu kennen meint), ist keine wirkliche Zu-Kunft. Derridas wurzelhaft-dekonstruktive Formatierung des Futur 2 („futur antérieur“) spielt daher mit der Differenz von futur (= kalkulierbare Zukunft, für die man stabilisierende Strategien entwickeln kann) und avenir (= offene Zukunft, die subversive Taktiken erforderlich macht). Sein futur antérieur ist ein avenir récursif199: ein existenziell riskanter Blick aus einer ungesicherten Zukunft auf die eigene Gegenwart: So wird es vielleicht gewesen sein. Diese mögliche, möglicherweise aber auch ganz andere Zukunft zu imaginieren, schafft einen ereignishaft entzogenen Nicht-Ort („chōra“200), von dem aus sich dennoch konkrete pastorale Handlungsoptionen für die Gegenwart entwickeln lassen.

Dabei gilt es, sich von den Heilsversprechen von meist kontrafaktisch eingerichteten ‚Steuerungsgruppen‘ zu verabschieden. Komplexe soziale Prozesse lassen sich in ihrer prinzipiellen Offenheit nicht organisational steuern. Man kann nur versuchen, in ihnen zu steuern – als Ganze lassen sich nicht beherrschen. Es gilt das Prinzip Taschenlampe: Man sieht nur so viel mehr in ihrem Lichtkegel, wie man selbst voranzugehen bereit ist. Für diesen nächsten Schritt auf dem unsicheren Gelände einer ‚kommenden Kirche‘ stimmt nicht nur die Spruchweisheit „Wege entstehen im Gehen“, sondern auch ein glücklicher Freudscher Versprecher des Synodalen Weges: „Wege entgehen im Stehen“.

Man muss die Kirche nehmen, wie sie ist – aber man darf sie nicht so lassen

Analog zur dunklen Offenheit alles Kommenden bleiben auch diese kirchlichen Wege im Sinne Luhmanns201 kontingent: Sie könnten – je nach imaginierter Zukunft – auch ganz anders sein. Entsprechende „Kontingenzöffnungen“202 sind die pastorale Aufgabe einer Theologie im dekonstruktiven Futur-2-Modus. Ihre „spekulativen Extrapolationen“203 aus der Gegenwart setzen zwar am gerade Vorfindlichen an, sie überschreiten dessen Empirie aber zugleich auch von einer möglichen anderen Zukunft her und eröffnen auf diese Weise kreative Differenzen des Neuen: Man muss die Kirche nehmen, wie sie ist – aber man darf sie nicht so lassen. Von der Zukunft einer möglicherweise kommenden Kirche ausgehend schon jetzt weiterführende Handlungsoptionen zu eröffnen – das aktiviert nicht nur die theologische Vorstellungskraft, es stimuliert auch den pastoralen Möglichkeitssinn.

Derridas Überlegungen zur ‚kommenden Demokratie‘ gelten daher auch für eine ‚kommende Kirche‘. Auch das dort versammelte Volk Gottes204 kennt nämlich autoritäre Versuchungen und identitäre Begrenzungen, die tief in seinen ekklesialen Wurzeln stecken. Eine ‚kommende Kirche‘ wird deshalb – anders als die jeweils ‚nächste Kirche‘205– nie wirklich (an)gekommen sein. Sie bleibt vielmehr dauerhaft im Kommen, weil auch ihre Vollendung noch immer aussteht (vgl. Lumen gentium 8). Unter eschatologischem Vorbehalt stehend, muss sie sich permanent erneuern („ecclesia semper reformanda“). Und es gibt keine organisationsberaterische Strategie, die ein Futur 2 ihres künftigen Gekommenseins garantiert. Sondern nur pastoralsubversive Taktiken, die den Raum ihres potenziellen Kommenkönnens offen halten. Mehr kann eine Theologie, die gesellschaftliche und kirchliche Transformationen als mitgehendes Außen begleitet, nicht leisten. Aber eben auch nicht weniger.

Praxis

Fest, Flüssig, Gasförmig. Neue Sozialformen von Kirche nach dem Verlust ihrer gemeindlichen Identität

Kaum eine Erfahrung prägt die Gegenwart so sehr wie der Verlust. Der Soziologe Andreas Reckwitz schreibt: „Ob es um die Folgen des Klimawandels geht oder die Verfestigung negativer Zukunftserwartungen, um postindustrielle Modernisierungsverlierer oder um den Umgang mit historischen Wunden, um den Umgang mit individueller Verletzlichkeit, den Populismus, die Nostalgie oder die Resilienz: Verluste sind im Zentrum der Spätmoderne angekommen.“198 Nachdem Reckwitz in früheren Veröffentlichungen zeigen konnte, dass sich der Fortschrittsglaube, der Wirtschaft, Politik, Kultur und das individuelle Selbstverständnis in der Gegenwart prägt, zunehmend als fragil erweist, analysiert er seit einiger Zeit den Verlust als Kehrseite des Fortschritts. In seiner neu veröffentlichten Studie ‚Verlust. Ein Grundproblem der Moderne‘ beschreibt er umfassend, wie in modernen Gesellschaften Verluste entstehen, gezielt reduziert oder sogar unsichtbar gemacht werden sollen und eine produktive Auseinandersetzung möglich ist.

Der Raum offenbart auch ein spezifisch kirchliches Muster: Selbst wenn sich das äußere Umfeld tiefgreifend wandelt, folgen daraus kaum bis keine inhaltlichen Veränderungen.

Dass der Verlust seit einigen Jahren auch eine zentrale Erfahrung der Kirchen in Deutschland ist, stellt keine Neuigkeit dar. Der massenhafte Austritt von Mitgliedern und der damit verbundene Rückgang finanzieller Mittel, der Mangel an haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen, die Aufgabe von Kirchengebäuden und die Fusion von Pfarreien machen Verluste in der Kirche allgegenwärtig – ganz zu schweigen von einem kaum messbaren Vertrauensverlust. Ein kirchliches Muster im Umgang mit Verlusten wird exemplarisch in der Kapelle St. Albanus und Leonhardus in Manheim-neu (Rhein-Erft-Kreis, Erzdiözese Köln) sichtbar. Die Notwendigkeit des zwischen 2019 und 2021 errichteten Neubaus ist Teil der großen Verlustgeschichte umgesiedelter Orte im Rheinischen Braunkohlerevier. Weil der Ort Manheim bis 2022 dem Tagebau Hambach weichen musste, wurde die dortige katholische Kirche 2019 mit der Aussicht auf einen baldigen Abriss profaniert. Als Ersatz wurde im Zentrum von Manheim-neu, heute ein Stadtteil von Kerpen, ein Ensemble aus katholischem Gemeindezentrum, Kapelle und Glockenturm errichtet. Der Innenraum der Kapelle beeindruckt durch einen prismatischen Grundriss, Sichtbeton und eine eindrucksvolle Lichtführung. Die Klarheit des Raumes hat die Architekturfotografin Viola Epler in einem Foto festgehalten, das die Kapelle ohne jegliche Inneneinrichtung zeigt. Lediglich der goldene Tabernakel ist zu sehen, während das Sonnenlicht Muster auf die Wände des ansonsten leeren Raumes zeichnet. Einen deutlicheren Kontrast vermitteln die Fotografien der eingerichteten Kapelle. Wer die Hintergründe des Neubaus kennt, weiß sofort, woher der Großteil der Einrichtung stammen muss. Altar, Kreuz, Taufbecken, Kirchenbänke, Heiligenfiguren, sogar drei große Chorfenster, die nun künstlich beleuchtet werden – nahezu das gesamte Inventar wurde aus der alten, neugotischen Kirche in die neue Kapelle umgezogen. Im Kontext der Umsiedlung des gesamten Ortes ist diese Entscheidung nachvollziehbar, und dennoch kann sich beim Betrachten der Kapelle ein Unbehagen einstellen, weil der Raum nicht nur einen außergewöhnlichen Zusammenfall von Vergangenheit und Gegenwart darstellt, sondern auch ein spezifisch kirchliches Muster offenbart: Selbst wenn sich das äußere Umfeld tiefgreifend wandelt, folgen daraus kaum bis keine inhaltlichen Veränderungen. Die Beharrungskräfte erweisen sich als äußerst stark. Dies gilt nicht nur in Themen der Machtverteilung, Geschlechtergerechtigkeit, Sexualethik und priesterlichen Lebensform, die seit Jahrzehnten mit Reformerwartungen verbunden sind, sondern auch für auf den ersten Blick triviale Prozesse in der Kirche vor Ort. Gerade dort stellt sich jedoch die von Bernhard Spielberg formulierte Entscheidungsfrage, die in St. Albanus und Leonhardus in Manheim-neu optisch sichtbar ist: Wird die Kirche der Zukunft ein „Freilandmuseum, in dem man betrachten kann, wie Menschen früher ihr religiöses Leben gestaltet haben, [… oder hat sie den Mut zu] Feldversuchen, in denen erprobt wird, was es heute heißt, dem Gott des Jesus von Nazaret zu vertrauen“206?

Transformationen von Kirche

Die katholische Kirche der Gegenwart ist ein komplexes Phänomen. Um differenziert über sie sprechen zu können und um in den mit ihr verbundenen Krisen nicht die Orientierung zu verlieren, hat der Pastoraltheologe Michael Schüßler ein einfaches Modell des Soziologen Dirk Baecker auf die Kirche angewendet. Schüßler unterscheidet zwischen der Kirche als Institution, Organisation und Netzwerk. Die drei Sozialformen sind zwar in unterschiedlichen historischen Epochen nacheinander entstanden, haben sich jedoch nicht gegenseitig abgelöst, sondern existieren heute gleichzeitig. Ihre Kirchengestalten lassen sich grob überblicken: Die Kirche als Institution versteht sich als eine durch Gott vorgegebene, ewig bestehende und unveränderliche Autorität, die jedes individuelle Leben normativ bestimmt und kontrolliert. Die Kirche als Organisation konzentriert sich vorrangig auf ihre Mitglieder und errichtet zu deren Verwaltung und für Dienstleistungsangebote eine bürokratisch-formalisierte sowie funktional differenzierte Struktur. Die Kirche als Netzwerk beschreibt verschiedene Beziehungs- und Bindungsformen innerhalb und außerhalb der institutionellen und organisationalen Kirche, die sich in Intensität, Stabilität und Sichtbarkeit stark unterscheiden.207

Die Differenzierung in drei epochale Sozialformen, die heute nebeneinander in der Kirche existieren, ist auch insofern aufschlussreich, als jede von ihnen gegenwärtig ihre eigene Transformation erlebt.

Die Differenzierung in drei epochale Sozialformen, die heute nebeneinander in der Kirche existieren, ist auch insofern aufschlussreich, als jede von ihnen gegenwärtig ihre eigene Transformation erlebt. Die Transformation der Kirche als Institution hinterfragt ihre als unveränderlich und gottgegeben betrachteten Eigenschaften, wie die strikt hierarchische Machtstruktur oder den Ausschluss von Frauen vom Priesteramt. Sie wird zum Beispiel auf der Weltsynode, in Reformbewegungen und in Deutschland insbesondere auf dem Synodalen Weg besprechbar. Die Transformation der Kirche als Organisation vollzieht sich unter dem Druck eines stark veränderten Nutzungsverhaltens ihrer Mitglieder und den unmittelbaren Folgen der krisenhaften Situation der institutionellen Kirche, etwa dem Priestermangel. Sie äußert sich vor allem in der massiven Fusion von Pfarreien, aber auch in Versuchen der Kirchentwicklung. Die Transformation der Kirche als Netzwerk verläuft parallel zu den tiefgreifenden Individualisierungs- und Vernetzungsprozessen postmoderner Gesellschaften, in denen Beziehungen zunehmend flexibler, digitaler, fluider, hierarchiefreier und dezentraler gestaltet werden. Sie zeigt sich beispielsweise in der Auflösung traditioneller Gemeinden und der Entstehung neuer Kontaktstile, Gemeinschaftsformen und Bindungstypen, die anlassbezogen, themenorientiert, projektbasiert oder zufällig sind und häufig im digitalen Raum verortet werden können.

Kirche vor Ort: Von der Verlusteskalation zur Sozialformkreation

Die Allgegenwart des Verlusts in der Kirche zeigt sich auch im lokalen Erleben der beschriebenen Transformationen. Die institutionelle Transformation hat in den Augen vieler am Ort aktiver Katholik:innen bisher nicht die überfällig erwarteten Reformen hervorgebracht und wird deshalb als eine der Hauptursachen für den öffentlichen Vertrauens- und Ansehensverlust der Kirche gesehen, der mittlerweile auch ihre Arbeit überschattet. Die organisationale Transformation bedeutet für lokal engagierte Katholik:innen aufgrund der wiederholten und heute oft massiven Fusion von Pfarreien nicht selten den Verlust ihrer kirchlichen Heimat. Zudem empfinden manche von ihnen die Dienstleistungsorientierung anderer Kirchenmitglieder als Störung ihres vertrauten Kirchenbildes. Die netzwerkdynamische Transformation ist für die Kirche vor Ort bisher oft unbemerkt verlaufen. Sie wird jedoch mittelfristig zum Verlust des territorialpastoralen Monopols der örtlichen Gemeinden führen, da neben ihnen immer mehr neue kirchliche Orte entstehen, die sich keiner traditionellen Gemeinde zuordnen.

Die netzwerkdynamische Transformation wird  mittelfristig zum Verlust des territorialpastoralen Monopols der örtlichen Gemeinden führen, da neben ihnen immer mehr neue kirchliche Orte entstehen, die sich keiner traditionellen Gemeinde zuordnen.

Wie kann ein ehrlicher und konstruktiver Umgang mit dieser „Verlusteskalation“ (Andreas Reckwitz) in der Kirche vor Ort aussehen? Nach dem spirituellen Grundsatz des Evangeliums ‚Wer verliert, wird finden‘208 kann ein zukunftsweisender Weg darin liegen, die Verluste bewusst anzuerkennen – im Vertrauen, dass die Aufgabe von Reformerwartungen, Heimat oder materiellem und immateriellem Besitz nicht das Ende des Evangeliums und der Kirche ist. Bemerkenswert ist, dass das Loslassen (oder zumindest Lockern) von bisherigen Festlegungen in der kirchlichen Praxis häufig mit dem Entstehen neuer Sozialformen einhergeht, die der epochalen Sozialform des Netzwerks zugeordnet werden können. Dass dort zuvor als unverzichtbar geltende Vorstellungen in den Hintergrund treten, steht mit großer Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang mit Resonanz- und Relevanzerfahrungen, die in den neuen Sozialformen im Gegensatz zu den etablierten Sozialformen (wieder) möglich sind. Aus dieser Beobachtung lässt sich die vorsichtige These formulieren, dass eine produktive Auseinandersetzung mit der „Verlusteskalation“ die Sozialformkreation ist.

Liquid church: Ursprung, Konzept, Weiterentwicklung

Die dominierende und lokal fast ausschließlich anzutreffende Sozialform von Kirche ist im deutschsprachigen Raum seit etwa 50 Jahren die Gemeinde. Nach Rainer Bucher entsprechen die Merkmale einer Gemeinde den Voraussetzungen, die Menschen erfüllen müssen, um Teil dieser Sozialform zu sein. Sie erfordert langfristige Integration und engagierte Aktivität, definiert ihre Mitglieder häufig über den Status einer Normbiografie sowie binär nach Geschlecht (zum Beispiel Jugendliche, Familien, Frauen, Senioren) und setzt voraus, dass ihr Zweck klar und allgemein bekannt ist. Zudem unterliegt sie nicht selten einem latenten Institutionalismus, der die Beständigkeit der eigenen Sozialform über die Erfüllung des selbstlosen Auftrags von Kirche stellt.209 Dass die Gemeinde unter den kirchlichen Sozialformen eine Monopolstellung einnimmt, wird bereits im Sprachgebrauch sichtbar. Begriffe wie Kirchen- oder Pfarrgemeinde verdeutlichen, dass die örtliche Existenz der Kirche als Gemeinde verstanden wird. Auch die Pfarrei, deren Sozialformen kirchenrechtlich nicht spezifisch normiert sind, existiert in vielen Diözesen faktisch noch als Gemeinde.

Eine Liquid church, passt sich gezielt ihrer flüssigen Umgebung an, indem sie die Grenzen einer traditionellen Gemeinde übersteigt und ein dynamisches Netzwerk flexibler und vielfältiger Beziehungs- und Bindungsformen von Kirche fördert, beispielsweise auch im digitalen Raum.

Unter mehreren Versuchen, alternative kirchliche Sozialformen jenseits der dominierenden Gemeindepraxis zu beschreiben, befindet sich das Konzept der sog. Liquid church, das seit etwa zehn Jahren auch in der deutschsprachigen Pastoraltheologie diskutiert wird. Titel und Theorie der Liquid church gehen auf das Werk Liquid Modernity aus dem Jahr 2000 zurück, in dem der Soziologe Zygmunt Bauman das Bild einer modernen Gesellschaft zeichnet, in der sich wirtschaftliche, soziale und kulturelle Strukturen ‚verflüssigen‘. Während die Lebensbereiche der festen Moderne von Stabilität, Ordnung und Sicherheit geprägt waren, werden sie in der flüssigen Moderne von Flexibilität, Unverbindlichkeit und ständigen Veränderungen bestimmt. Kritisch bespricht Bauman, dass dies unter anderem zu unsicheren und prekären Lebensbedingungen führen kann.210 Ein Vierteljahrhundert später lässt sich feststellen, dass Baumans Analyse heute in Wirtschaft, Sozialem und Kultur teils in übertriebenem Maße zutreffend ist: Gig Economy, Situationships und Streaming sind nur einzelne Beispiele, die die Merkmale der flüssigen Moderne erfüllen.

Metapher und Analyse aus Liquid Modernity wurden erstmals von Pete Ward, einem britischen Praktischen Theologen, auf die kirchliche Praxis angewendet. In seinem Buch Liquid Church aus dem Jahr 2002 unterscheidet Ward zwei Sozialformen von Kirche: Die Solid church entspricht einer traditionellen Gemeinde, die sich zu festen Zeiten an einem physischen Ort versammelt, sich als universelle Sozialform für alle Gläubigen versteht und aktiv um Mitglieder wirbt, indem sie eine langfristige und verlässliche Gemeinschaft verspricht. Ward erkennt zum einen, dass die Prinzipien der Solid church in der flüssigen Moderne stark unter Druck geraten, und zum anderen, dass ihre Größe entscheidend ist, ob sie ihre Versprechungen von Varietät und Gemeinschaft211 erfüllen kann. Als Kontrast entwirft er deshalb die Vision einer Liquid church, die sich gezielt ihrer flüssigen Umgebung anpasst, indem sie die Grenzen einer traditionellen Gemeinde übersteigt und ein dynamisches Netzwerk flexibler und vielfältiger Beziehungs- und Bindungsformen von Kirche fördert, beispielsweise auch im digitalen Raum.212

Wards Aufschlag einer verflüssigten Kirche wurde in der kirchlichen Praxis und in der Praktischen Theologie verschiedener christlicher Konfessionen und Länder angenommen und weiterentwickelt. In den Niederlanden veröffentlicht der Praktische Theologe Kees de Groot eine tiefgehende Kritik an Pete Wards Ansatz, der seiner Ansicht nach die Risiken der flüssigen Moderne unbeachtet lässt, traditionelle Sozialformen übermäßig relativiert und die Verflüssigung vorrangig auf das Wachstum von Kirche ausrichtet.213 Darüber hinaus präsentiert De Groot eigene Ideen zur verflüssigten Kirchenbildung wie „informelle, spirituelle Gruppen und Gemeinschaften, Taizé-Feiern [… oder] offene Kirchen und Konzerte mit religiöser Musik“214 und skizziert eine verflüssigte Religion, die laut ihm abseits der Kirchen etwa in Medien, Gesundheitswesen und Kultureinrichtungen auftauche und dort eine unerwartete Aktualität habe215. In den USA war Tim Lucas, Pastor einer evangelikalen Freikirche, so begeistert von der Metapher der Liquid church, dass er eine gleichnamige Gemeinde in New Jersey gründete. In einer Publikation, die er gemeinsam mit dem in amerikanischen evangelikalen Kreisen bekannten Autor Warren Bird veröffentlichte, berichtet er vom selbsternannten Erfolg seiner Arbeit – ohne jedoch die soziologischen und praktisch-theologischen Ursprungsanalysen der Liquid church aufzugreifen.216

Im deutschsprachigen Raum beschäftigen sich vor allem Michael Schüßler und Rainer Bucher mit der Liquid church. Insbesondere Schüßler ist es zu verdanken, dass der zuvor vor allem im englischsprachigen Raum geführte Diskurs Eingang in die deutschsprachige Pastoraltheologie fand und dort zeitweilig intensiv besprochen wurde.217 Er selbst erstellt eine kompakte Übersicht des Diskurses218 und setzt sich in seiner Habilitationsschrift zur Zeitdimension von Theologie und Kirche in einer ereignisbasierten Gesellschaft ausführlich mit der Liquid church auseinander219. Schüßlers Überlegungen lassen sich auf den Satz bringen, dass von modernen Menschen „nicht so sehr eine dauerhaft aktive Bindung [nachgefragt wird], sondern die dauerhafte Gelegenheit zu situativen Intensivkontakten“220 und deshalb „der Normalfall [kirchlicher Sozialformen] nicht mehr ausschließlich die kompakte Vergemeinschaftung“221 ist. Als flüssige Orte und Initiativen der kirchlichen Pastoral reflektiert er die Lebenswendefeiern in Erfurt222, den Wandel eines Pfarr- zu einem Stadtteilzentrum in Mainz223, die Gemeinschaft von Taizé und Citykirchen224. Sein primäres Interesse gilt jedoch einer „Ereignis-Netzwerk-Pastoral“225, in der jenseits der institutionellen und organisationalen Kirche „Ereignisse des Evangeliums in den Netzwerken des Lebens als kirchliche Pastoral zu begreifen“226 sind. Damit macht Schüßler stark, dass die Verflüssigung von Kirche vor allem so zu verstehen ist, dass Gott und das Evangelium entgrenzt präsent, erfahrbar und wirksam sind. Rainer Buchers Beiträge firmieren selten unter dem von Pete Ward geprägten Begriff der Liquid church, analysieren jedoch seit mindestens 15 Jahren wiederholt Verflüssigungsprozesse im religiösen und kirchlichen Feld.227 Dabei zeigt Bucher präzise, was er 2022 wie folgt formuliert: „Die individuelle Nutzungslogik religiöser Orte gehorcht also weder mehr dem alten kirchlich-katholischen Gefolgschaftsmuster, das auf exklusive Mitgliedschaft, umfassende kirchliche Biographiemacht und lebenslange Anhänglichkeit zielte, noch dem jüngeren Beheimatungsmuster, das von Gemeinschaftserfahrungen, Engagementspostulaten und Vertrautheitsversprechen geprägt war. Kirchliche Partizipation ist vielmehr in ein situatives Nutzenkalkül eingebaut.“228 Bucher bringt in diesem Satz die kirchliche Deinstitutionalisierung und den Übergang von einer gemeindlichen hin zu einer netzwerkdynamischen Kirche prägnant auf den Punkt. Wer mit seinen Arbeiten zur Gemeindetheologie und -praxis vertraut ist, erkennt, dass er mit „Gemeinschaftserfahrungen, Engagementspostulaten und Vertrautheitsversprechen“229 die von ihm identifizierten Prinzipien einer Gemeinde benennt und für die heutige kirchliche Praxis als nicht mehr anschlussfähig bewertet. Bucher hat wie keine zweite Person in der Pastoraltheologie den Aufstieg, die Krise und das Scheitern der Gemeinde230 beschrieben und schon früh geraten, „von der Gemeindezentrierung zum Netzwerkkonzept“231 überzugehen. Im Hinblick auf die Kirche vor Ort stellt sich jedoch die Frage, ob der Übergang zur Kirche als Netzwerk und damit die Verflüssigung der dominanten Sozialform ‚Gemeinde‘ tatsächlich stattgefunden hat.

Das Problem: Die Verhärtungen der Solid church

Michael Schüßler und Rainer Bucher würden diese Frage auf Grundlage ihrer Forschungen verneinen, jedoch zugleich die Fragestellung selbst problematisieren und auf die Unterscheidung zwischen Kirche als Organisation und Kirche als Netzwerk hinweisen. Ihre Perspektive lautet: Da sich Organisation und Netzwerk in ihren Grundprinzipien nahezu gegensätzlich sind, überrascht es nicht, dass der Versuch, als organisationale Kirche netzwerkdynamisch zu agieren, in der Praxis zur Farce wird. „Man redet vom Netzwerk und tut zugleich alles, um Netzwerke zu verhindern“232, so Schüßler. Das bedeutet: Unter dem Etikett des Netzwerks findet in Wirklichkeit lediglich eine Reproduktion der bestehenden Organisation statt. Nach dieser Beobachtung scheint es nur schlüssig, die Möglichkeit einer unabhängigen Netzwerkstruktur innerhalb der kirchlichen Organisation zu verwerfen und die Existenz von Netzwerken außerhalb von ihr zu suchen.

Das Scheitern einer netzwerkdynamischen Organisation liegt weniger in den gegensätzlichen Prinzipien von Organisation und Netzwerk als in der Verhärtung und deshalb dringend notwendigen Ablösung der Solid church.

Das Verhältnis von Organisation und Netzwerk wurde in der Pastoraltheologie in den vergangenen Jahren teils emotional diskutiert233 und ist bisweilen sogar in Kontroversen über das Fachverständnis abzulesen234. Trotz aller Logik und Richtigkeit der verschiedenen Argumentationslinien stellt sich die Frage, ob nicht auch ein dritter Zugang zum Problem der Nichtexistenz von Netzwerken innerhalb der Kirche als Organisation denkbar ist, der weder die kirchliche Organisation einfach reproduziert noch sie sich selbst überlässt und sich zugleich für die Zukunft des Christentums hauptsächlich außerhalb der organisationalen Kirche interessiert. Der Zugang gründet in der Annahme, dass das Scheitern einer netzwerkdynamischen Organisation weniger in den gegensätzlichen Prinzipien von Organisation und Netzwerk liegt als in der Verhärtung und deshalb dringend notwendigen Ablösung der Solid church.

„Vor denen, die sich in den Liquidierungsprozessen der Gegenwart verhärten, versteinern, habe ich wirklich Angst“235, sagte Rainer Bucher 2014 in einem Interview und beobachtete eben jene Tendenzen in seinen Forschungen zur Gemeindepraxis. Gleichzeitig hat er flüssige Sozialformen von Kirche lange in Koexistenz zur Gemeinde verortet. 2004 räumt er einerseits ein, dass „die Gemeinde als […] naher Erfahrung von Religion […] die zentrale Sozialform mittlerer Reichweite der Kirche bleiben“236 wird und erwägt andererseits in seiner Kritik an der traditionellen Gemeinde und in seinem Interesse an nichtgemeindlichen Sozialformen auch einen „Abschied von der Gemeinde“237. 2012 plädiert er weiterhin dafür, „die Gemeinde als kontinuierliche basisnahe Organisationsform der Kirche [… zu] schätzen“238. 2022 fragt er sich schließlich im Blick auf Seelsorge und Spiritualität: „Warum aber finden sie so wenig Eingang in die alltäglichen Praktiken der Gemeinden und Basisorganisationen?“239

Die Antwort liegt heute auf der Hand: Die Kirche vor Ort hat sich trotz der entsprechenden soziologischen Analysen und praktisch-theologischen Adaptionen nicht zu einer Liquid church entwickelt, sondern in der monopolistischen Beibehaltung der Solid church verhärtet. Der starke Rückgang der aktiven Teilnahme der Kirchenmitglieder wurde ausschließlich mit der ‚Großwetterlage‘ – den institutionellen Krisen und der Säkularisierung – begründet, ursächlich jedoch nicht in der eigenen Sozialform gesucht. Obwohl das Scheitern der Solid church in der Pastoraltheologie erkannt und ihre Prinzipien kritisch diskutiert wurden, führte dies in der Konsequenz nicht zu Ideen, sie zu ersetzen. Wie in Rainer Buchs Arbeiten zur Gemeinde wurden auch im Diskurs zur Liquid church flüssige Sozialformen von Kirche nur in Abgrenzung zur Solid church beschrieben und gewürdigt, ohne über neue ‚feste‘ Formen von Kirche nachzudenken. Dass dies notwendig sein könnte, hätte bereits durch die Mahnung von Zygmunt Bauman angeregt werden können, der in der Verflüssigung sozialer Bindungen auch Risiken sah.

Der sakrosankte Status der traditionellen Gemeinde zeigt sich jedoch auch in innovativen Bewegungen der kirchlichen Praxis. Ein Beispiel sind Fresh X, die unter anderem auf dem Prinzip der mixed economy, einem Miteinander von traditionellen und neuen Gemeindeformen, basieren. Dies mag zunächst unproblematisch erscheinen, bis das Verhältnis der beiden Formen genauer beleuchtet wird. Michael Moynagh, der maßgeblich an der Entwicklung von Fresh X beteiligt war, veranschaulicht das Verhältnis mit dem Bild eines Wagenrades: Die neuen Gemeindeformen platziert er auf der Felge, während die traditionelle Sonntagsgemeinde die Achse bildet, die durch Speichen mit den neuen Formen verbunden ist. Moynagh deutet damit an, dass die neuen Gemeindeformen mittel- bis langfristig in eine Annäherung an oder sogar Integration in die Sonntagsgemeinde münden sollen. Ähnliche Verhältnisbestimmungen lassen sich vielfach finden. So resümiert beispielsweise Michael Schüßler über den Kirchenentwicklungsprozess „Kirche am Ort – Kirche an vielen Orten gestalten“ der Diözese Rottenburg-Stuttgart: „Allerdings zeigt die nähere Betrachtung, dass die Kirchengemeinde im Zentrum bleibt, was weiter zur Identifikation als ‚Mitte der Kirche‘ einlädt“240.

Eine mögliche Lösung: Feste, flüssige und gasförmige Sozialformen von Kirche

Eine mögliche Lösung des Dilemmas liegt in der Ablösung der Solid church durch eine Matrix fester, flüssiger und gasförmiger Sozialformen von Kirche. Der Entwurf berücksichtigt, dass die traditionelle Gemeinde weder verflüssigte Formen von Kirche entwickeln noch – im wahrsten Sinne des Wortes – solide Formen von Nahgemeinschaft garantieren kann und differenziert das Konzept der Liquid church weiter aus. Die Implementierung des Modells in XXL-Pfarreien, die gerade in zahlreichen Diözesen entstehen, könnte sogar einen Ausweg aus dem Problem von „Kreisquadrat und Pfarrgemeinde“241 (Bernhard Spielberg) bieten.

Die drei unterschiedlichen Typen von Sozialformen lassen sich wie folgt umreißen: Feste Sozialformen von Kirche bezeichnen freigewählte, verlässliche und freundschaftliche Nahgemeinschaften. Dazu zählen beispielsweise Gruppen überschaubarer Größe, die sich regelmäßig zum Beten, Gottesdienst, Bibellesen und/oder Austausch treffen, aber auch Gesprächs- und Spielerunden für Menschen, die sich einsam fühlen. Flüssige Sozialformen von Kirche bezeichnen – im Unterschied zur bisherigen Terminologie der Liquid church – sogenannte episodische Gelegenheitsbündnisse. Sie ermöglichen es, über einen bestimmten Zeitraum hinweg projekt- oder anlassbezogen kirchliche Angebote wahrzunehmen, sei es durch die Nutzung der Dienstleistung eines Rituals oder die Teilnahme an einem Kurs zur Vorbereitung auf den Empfang eines Sakraments. Gasförmige Sozialformen von Kirche bezeichnen die im bisherigen Diskurs unter ‚flüssig‘ geführten „situativen Intensivkontakte“242 (Michael Schüßler). Sie bieten spontane, anonyme und einmalige Begegnungen, zum Beispiel bei einem Zusammentreffen mit einer Initiative der Präsenzpastoral243 oder beim Empfangen des Aschekreuzes in der Fußgängerzone am Aschermittwoch (‚Ashes to go‘).

In einer postparochialen Kirche können feste, flüssige und gasförmige Sozialformen auch entscheidend zur Neubestimmung der Pfarrei beitragen – ein Schritt, der angesichts der Entwicklung hin zu XXL-Pfarreien dringend notwendig ist. Eine mögliche Neuausrichtung könnte darin bestehen, die Pfarrei primär als Plattform zu verstehen, die Vernetzung, Kommunikation und Ressourcen bereitstellt, um die unterschiedlichen Sozialformen zugänglich und sichtbar zu machen und auch zu finanzieren. Wie die Kirche der Zukunft aussehen wird, weiß niemand. Klar ist jedoch, dass – ebenso wie in Manheim – neu nicht einfach das alte Inventar in die neue Kapelle hätte geräumt werden sollen – die traditionelle Gemeindetheologie keine tragfähige Basis für neue territorialpastorale Strukturen sein kann. Das Modell der festen, flüssigen und gasförmigen Sozialformen bietet alternativ weit mehr als einen bloßen metaphorischen Ansatzpunkt. Es ist der Beginn wirklicher Möglichkeiten, die Kirche vor Ort als einen Raum von Nähe und Weite zu erfahren.

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