
Praxis
Zur Zukunftsfähigkeit der Kirche – Ergebnisse der Befragung von Fach- und Führungskräften beider großen Kirchen
Die Kongressreihe „Strategie und Entwicklung in Kirche und Gesellschaft“ existiert seit 2009. Der Strategiekongress findet (außerhalb von Pandemiezeiten) alle zwei Jahre statt. Er hebt und fokussiert Themen, die „in der Luft liegen“ und das Potenzial haben, die vielfältigen Dimensionen kirchlich-gesellschaftlicher Entwicklung zu sichten, zu bewerten und zu gestalten.
Auf dem ursprünglich für 2021 geplanten und dann wegen Corona auf 2022 verschobenen 7. Strategiekongress gehen die Teilnehmer:innen der Frage nach, ob es Sinn macht, zu versuchen, die Kirchen bewährten Transformationsmustern folgend zu reformieren oder nicht längst angezeigt ist, sich zu unterbrechen und mit Kirche in der tradierten Gestalt aufzuhören, um Raum für Neues zu gewinnen.
Im Vorfeld des Kongresses wurden im Frühjahr 2021 Verantwortungsträger*innen und Expert*innen beider großen Kirchen anonym zu ihrer Sicht auf die Zukunft von Kirche befragt. Ziel der Untersuchung war es zu verstehen, wie die Fach- und Führungskräfte die Zukunftsfähigkeit ihrer eigenen Kirche als Institution einschätzen, welche Einstellungen und Verhaltensweisen sie ihr gegenüber wahrnehmen und welche Wirkung dies auf das eigene Empfinden und Handeln hat.
In diesem Artikel werden die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung beschrieben und grafisch dargestellt.
1 Fragestellungen
In der Studie sollten ausgehend vom Kongressthema folgende Fragestellungen empirisch untersucht werden:
- Wie bewerten Führungs- und Fachkräfte in den Kirchen die Zukunftsfähigkeit der Institution Kirche in ihrer aktuellen Gestalt?
Die Frage wurde in Form eines pointierten Statements vorgelegt: „Die jetzige Gestalt von Kirche hat keine Zukunft.“ Die Befragten sollten den Grad ihrer Zustimmung angeben auf einer Skala von 1 (= ich stimme gar nicht zu) bis 6 (ich stimme voll zu). - Wie bewerten Führungs- und Fachkräfte in den Kirchen die Zukunftsfähigkeit einzelner Aspekte der aktuellen Organisationswirklichkeit?
Ausgehend vom Eingangsstatement wurde gefragt: „Was ist nicht mehr zukunftsfähig?“ Dazu standen folgende Aspekte zur Auswahl: Botschaft, Mission, Haltungen, Kommunikation, Nutzer*innenbeziehungen, Angebote, Strukturen, Entscheidungsprozesse, Rollengefüge und Ressourcenbeschaffung. Mehrfachnennungen waren möglich. - Was löst der aktuelle Zustand bzw. die wahrnehmbare Entwicklung der Kirche bei Führungs- und Fachkräften emotional aus?
Der Satz „Die absehbare Entwicklung von Kirche löst bei mir aus …“ konnte differenziert durch Ankreuzen folgender emotionaler Zustände ergänzt werden: Zuversicht, Trauer, Wut, Motivation, Resignation, Hilflosigkeit, Widerstand, Aktivität, Trotz, Verzweiflung, Schuldgefühle, Hoffnung, Scham, Irritation, Freude, Angst, Gelassenheit, Überforderung, Enttäuschung, Starre, Dankbarkeit, Schmerz, Sehnsucht, Leere, Stress und Verunsicherung. Auch hier waren Mehrfachnennungen möglich. - Wie erleben Führungs- und Fachkräfte in der aktuellen Situation die Reaktion der Umwelt gegenüber der Kirche?
Gefragt wurde nach der Art des Erlebens: „Ich erlebe Einstellungen und Verhalten gegenüber der Kirche als …“ Zur Qualifizierung dieser Aussage standen folgende Eigenschaften zur Verfügung: feindselig, wohlgesonnen, ungeduldig, unerbittlich, unterstützend, nachsichtig, ermutigend, enttäuscht, wertschätzend, anklagend, desinteressiert, neugierig, distanziert, überheblich, belustigt, liebevoll, abwertend, bewundernd und indifferent. Das Ausmaß der Zustimmung sollte zur jeweiligen Aussage auf einer Skala von 1 (= ich stimme gar nicht zu) bis 6 (ich stimme voll zu) angegeben werden. - Wie gehen Führungs- und Fachkräfte mit der Situation um, welche Handlungsoptionen sehen sie?
Unter der Leitfrage „Wie reagiere ich in dieser Situation?“ wurden folgende Statements zur Bewertung angeboten:- Ich reflektiere mein Tun
- Ich suche Gleichgesinnte
- Ich gehe den Weg, den ich für richtig erachte
- Ich experimentiere und probiere Neues aus
- Ich besinne mich auf die Wurzeln
- Ich versuche Kirche ganz neu zu denken
- Ich entwickle Strategien für die Zukunft der Organisation
- Ich suche aktiv nach Inspiration von außen
- Ich gehe voran
- Ich konzentriere mich auf das Wesentliche
- Ich halte mir Optionen offen
- Ich schaffe Dinge aktiv ab
- Ich bete viel
- Ich konzentriere mich auf das Alltagsgeschäft
- Ich warte die weitere Entwicklung ab
- Ich bin bestrebt, das Bestehende zu erhalten
- Ich ziehe mich zurück
- Ich tue nur noch das, was von mir erwartet wird
- Ich schaue weg
Die Statements sollten jeweils auf einer Skala von 1 (= ich trifft gar nicht zu) bis 6 (trifft voll zu) zu bewertet werden.
- Wie schätzen Führungs- und Fachkräfte in der aktuellen Situation ihre Einflussmöglichkeiten ein?
Die Schlussfrage „Wie hoch schätzen Sie Ihre Möglichkeiten ein, die Kirche in Ihrem Verantwortungsbereich zu verändern?“ war auf einer Skala von 1 (= sehr geringe Möglichkeiten) bis 6 (sehr große Möglichkeiten) zu beantworten.
2 Befragungsdesign
Im Rahmen dieser Studie wurden Fach- und Führungskräfte der beiden großen Kirchen Deutsch-lands befragt. Die Befragung wurde von Ende Mai bis Juli 2021 durchgeführt, insgesamt wurden 1.436 Personen per Mail zur Teilnahme eingeladen:
Evangelisch: Landesbischöf*innen, Regionalbischöf*innen, Präses, Präsident*innen, Prälat*innen, Superintendent*innen, Pröpst*innen, Dezernats-/Referats- bzw. Abteilungsleitungen der 20 Glied-kir¬chen der EKD sowie deren Verantwortliche aus den Bereichen Personal, Personalentwicklung, Aus-/Weiterbildung, Gemeindeberatung und Supervision/Coaching der Landeskirchen; alles in allem 602 Personen.
Katholisch: (Erz-)Bischöfe, Weihbischöfe, Generalvikare, Hauptabteilungsleiter*innen der Gene-ralvikariate, Dechanten, Dekane bzw. Regionalvikare der 27 (Erz-)Bistümer Deutschlands sowie¬¬ deren Verantwortliche aus den Bereichen Personal, Personalentwicklung, Aus-/Weiterbildung, Gemeindeberatung und Supervision/Coaching; 834 Personen
Die Befragung erfolgte online und war anonym angelegt. Weder der Zugang zum Fragebogen noch die gestellten Fragen lassen einen Rückschluss auf einzelne Teilnehmer*innen der Befragung zu. Der Fragebogen umfasste neben den genannten sieben inhaltliche Fragen(-komplexen) drei er-gänzende Fragen zur Person. Die Fragen waren neutral formuliert, um nach Möglichkeit keine Antworttendenzen zu induzieren. Die Antwortmöglichkeiten bei Fragen auf nominalem Datenni-veau und zu bewertende Statements wurden den Befragten randomisiert angezeigt, um Reihen-folgeeffekte zu vermeiden.
3 Rücklauf
Um die Anonymität der Antwortenden zu wahren und die Abbruchwahrscheinlichkeit zu senken, wurden lediglich drei zentrale Daten zur Person erfasst: Konfession, Geschlecht und Ebene (Obe-re/ mittlere Führungsebene, Fachebene). Diese sozio-demographischen Daten sind auch geeignet, den Rücklauf zu beschreiben.
1.1 Konfession
Von den angeschriebenen 1.436 Personen haben sich 408 beteiligt, das entspricht einer Rücklaufquote von 28% (Rücklaufquote evangelisch: 24%; katholisch: 29%).

Abb. 1: Verteilung der Konfessionen in Grundgesamtheit und Rücklauf
3.2 Geschlecht
Von den an der Befragung Beteiligten waren 77% männlich, 23% weiblich und 0,3% divers.

Abb. 2: Geschlecht (alle Befragten)

Abb. 3: Geschlecht nach Konfession
3.3 Ebene
Von den an der Befragung Beteiligten gehörten 22% zur oberen Führungsebene, 67% zur mittleren Führungsebene und 11% zur Fachebene.

Abb. 4: Ebene

Abb. 5: Ebene nach Konfession
4 Ergebnisse
4.1 Zukunftsfähigkeit der Kirche
4.1.1 Grundlegende Einschätzung der Zukunftsfähigkeit
Frage: „Die jetzige Gestalt von Kirche hat keine Zukunft.“
Skalierung: 1 (stimme gar nicht zu) bis 6 (stimme voll zu)

Abb. 6: Häufigkeitsverteilung zur Abfrage der Zukunftsfähigkeit der jetzigen Gestalt von Kirche
- Knapp 40% der Befragten schätzen die jetzige Gestalt von Kirche tendenziell als zukunftsfähig ein (Werte 1-3, „Zuversichtliche“), gut 60% als tendenziell nicht zukunftsfähig (Werte 4-6, „Skeptische“)
- Die Verteilung weicht von einer Standard-Normalverteilung ab; es deutet sich vielmehr eine bimodale Verteilung an mit zwei Peaks: um den Wert 2 (kleinere Gruppe der „Zuversichtlichen“) die und um den Wert 5 (größere Gruppe der „Skeptischen“).

Abb. 7: Nur evangelische Befragte: Häufigkeitsverteilung zur Abfrage der Zukunftsfähigkeit der jetzigen Gestalt von Kirche

Abb. 8: Nur katholische Befragte: Häufigkeitsverteilung zur Abfrage der Zukunftsfähigkeit der jetzigen Gestalt von Kirche
- 43% der evangelischen Befragten schätzen die jetzige Gestalt von Kirche tendenziell als zukunftsfähig ein („Zuversichtliche“), bei den katholischen Befragten sind es 36%.
- 57% der evangelischen Befragten schätzen sie als tendenziell nicht zukunftsfähig ein („Skeptische“), 64% der katholischen.
- Die Verteilung bei den evangelischen Befragten entspricht eher einer Standard-Normalverteilung, während sich bei den katholischen Befragten eine bimodale Verteilung andeutet (Peaks bei 2 und 5) und im Vergleich zu den evangelischen Befragten eine deutlichere Schiefe erkennbar ist.
- Für 43% der katholischen Befragten ist die aktuelle Gestalt von Kirche kaum oder gar nicht zukunftsfähig (Werte 5 und 6). Dies trifft für 29% der evangelischen Befragten zu.
- Die Verteilung weicht von einer Standard-Normalverteilung ab; es deutet sich vielmehr eine bimodale Verteilung an mit zwei Peaks: um den Wert 2 (kleinere Gruppe der „Zuversichtlichen“) die und um den Wert 5 (größere Gruppe der „Skeptischen“).

Abb. 9: Häufigkeitsverteilung zur Abfrage der Zukunftsfähigkeit der jetzigen Gestalt von Kirche nach Ebene
Mittelwerte: Obere und mittlere Führungsebene: 3,8; Fachebene: 4,2. Dieser Unterschied ist statistisch signifikant.
- Die Ebenen unterscheiden sich im Blick auf die Frage der Zukunftsfähigkeit der jetzigen Gestalt von Kirche.
- Die mittlere und obere Führungsebene unterscheiden sich wenig voneinander. Der Unterschied liegt in der Gruppe der „Zuversichtlichen“.
- Der Anteil derer, die die aktuelle Gestalt als voll oder weitgehend zukunftsfähig einschätzen (Werte 1 und 2), ist bei der oberen Führungsebene höher als bei der mittleren Führungsebene.
- Die Fachebene unterscheidet sich von der mittleren/oberen Führungsebene stärker.
- Der Anteil derer, die die aktuelle Gestalt als kaum oder gar nicht zukunftsfähig einschätzen (Werte 5 und 6), ist bei der Fachebene deutlich höher als bei den Führungsebenen.
- Umgekehrt ist der Anteil derjenigen, die die aktuelle Gestalt für kaum oder gar nicht zukunftsfähig halten (1 und 2), bei der Fachebene geringer als bei der Führungsebene.
4.1.2 Differenzierte Einschätzung der Zukunftsfähigkeit
Die Frage zur differenzierten Einschätzung der Zukunftsfähigkeit wurde in Abhängigkeit von der grundlegenden Einschätzung auf zwei Arten gestellt: Für „Zuversichtliche“ (diejenigen, die tendenziell, die jetzige Gestalt von Kirche als zukunftsfähig einschätzen) und „Skeptische“ (diejenigen, die sie tendenziell für nicht zukunftsfähig halten).
Frage Zuversichtliche:
„Eventuell gibt es Bereiche, die Sie für weniger zukunftsfähig halten. Was konkret ist aus Ihrer Sicht nicht mehr zukunftsfähig?“
Frage Skeptische:
„Was konkret ist aus Ihrer Sicht nicht mehr zukunftsfähig?“
Skalierung:
Vorgabe von 10 nominalen Items: Botschaft, Mission, Haltungen, Kommunikation, Nutzer/innenbeziehungen, Angebote, Strukturen, Entscheidungsprozesse, Rollengefüge, Ressourcenbeschaffung. Mehrfachnennungen möglich.

Abb. 10: Was aus Sicht der Befragten nicht mehr zukunftsfähig ist: Häufigkeit der Nennungen (Mehrfachnennungen möglich)
- Am wenigsten zukunftsfähig aus Sicht der Befragten ist die Art und Weise, wie die Kirchen strukturell aufgestellt sind (Strukturen, Entscheidungsprozesse, Rollengefüge) – zwischen 61 und 72%.
- Die Art und Weise des Zusammenspiels der unterschiedlichen Akteure (Haltungen, Kommunikation, Nutzerbeziehung) werden von 40% und 50% der Befragten kritisch gesehen.
- Gut ein Drittel der Befragten sehen Angebote und Ressourcenbeschaffung (Agieren in Absatz- und Beschaffungsmärkten) als nicht mehr zukunftsfähig.
- Fast gar nicht in Frage gestellt werden Botschaft und Mission.

Abb. 11: Was aus Sicht der Befragten nicht mehr zukunftsfähig ist: Häufigkeit der Nennungen nach Konfession
- Es existieren markante Unterschiede zwischen katholischen und evangelischen Befragten.
- ¾ der katholischen Befragten schätzen die die Art und Weise, wie die Kirchen strukturell aufgestellt sind, als nicht mehr zukunftsfähig ein.
- Evangelische Befragte sehen diesen Bereich ebenfalls kritisch, wenngleich auf niedrigerem Niveau. Das betrifft insbesondere das Rollengefüge, das lediglich von 44% als nicht zukunftsfähig markiert wird.
- Die Hälfte der katholischen Befragten halten die Art der Kommunikation für nicht zukunftsfähig, bei den evangelischen sind es ein gutes Drittel.
- Umgekehrt verhält es sich bei der Einschätzung der Angebote und Ressourcenbeschaffung: Sie werden von 40% der evangelischen Befragten als nicht zukunftsfähig eingeschätzt und von ca. 30% der katholischen.
- Zwar auf niedrigem Niveau, aber in der Relation deutlich: Mission und Botschaft werden von evangelischen Befragten eher in ihrer Zukunftsfähigkeit angezweifelt als von katholischen.
4.2 Emotionale Reaktionen auf den aktuellen Zustand der Kirchen
Frage: „Was löst der aktuelle Zustand der Kirche bei Ihnen aus?“
Skalierung: 1 (stimme gar nicht zu) bis 6 (stimme voll zu)
Items: Zuversicht, Trauer, Wut, Motivation, Resignation, Hilflosigkeit, Widerstand, Aktivität, Trotz, Verzweiflung, Schuldgefühle, Hoffnung, Scham, Irritation, Freude, Angst, Gelassenheit, Überforderung, Enttäuschung, Starre, Dankbarkeit, Schmerz, Sehnsucht, Leere, Stress, Verunsicherung.

Abb. 12: Reaktionen auf den Zustand der Kirchen
- Mit Abstand stärkste Reaktion ist „Sehnsucht“.
- Die ersten vier platzierten Reaktionen sind positiv konnotiert: Sehnsucht, Aktivität, Motivation und Hoffnung.
- Die untersten sieben sind negativ konnotierte Reaktionen: Schuldgefühle, Starre, Angst, Verzweiflung, Leere, Resignation, Trotz.

Abb. 13: Reaktionen auf den Zustand der Kirchen nach Konfession – sortiert nach der Größe der Differenz zwischen den Konfessionen
- Es existieren z.T. sehr deutliche Unterschiede zwischen evangelischen und katholischen Befragten[note]Bei 15 der 26 Items sind die Mittelwertunterschiede statistisch signifikant (im Diagramm: Scham bis Freude)[/note].
- Wo Differenzen bestehen: Alle positiv konnotierten Reaktionen sind bei den evangelischen Befragten und alle negativ konnotierten Reaktionen sind bei den katholischen Befragten stärker ausgeprägt.
- Am größten ist die Differenz bei den eher negativ konnotierten Reaktionen Scham, Wut, Schmerz, Enttäuschung, Trauer und Widerstand.
- Die evangelischen Befragten reagieren dagegen stärker mit Dankbarkeit, Aktivität und Zuversicht als die katholischen Befragten.
- Sehnsucht ist bei beiden Konfessionen die stärkste Reaktion.
- Die Top 5 evangelisch: Sehnsucht, Aktivität, Motivation, Hoffnung, Zuversicht.
- Die Top 5 katholisch: Sehnsucht, Schmerz, Enttäuschung, Aktivität, Trauer.

Abb. 14: Reaktionen auf den Zustand der Kirchen nach Ebene (nur bei statistisch signifikanten Mittelwertunterschieden) – sortiert nach der Größe der Differenz zwischen den Konfessionen
- Bei 8 der 26 Merkmale existieren signifikante Mittelwertunterschiede zwischen den Befragten der Fachebene und denen der oberen Führungsebene.
- In den Merkmalen Motivation, Hoffnung, Gelassenheit und Sehnsucht zeigen die Befragte der oberen Führungsebene höhere Werte, umgekehrt ist es bei den Merkmalen Resignation, Wut, Starre und Irritation.
4.3 Wahrgenommene Einstellungen und Verhalten gegenüber der Institution Kirche
Frage: „Wie erleben Sie aktuell die Einstellungen und das Verhalten gegenüber der Institution Kirche?“
Skalierung: Vorgabe von 19 nominalen Items: feindselig, wohlgesonnen, ungeduldig, unerbittlich, unterstützend, nachsichtig, ermutigend, enttäuscht, wertschätzend, anklagend, desinteressiert, neugierig, distanziert, überheblich, belustigt, liebevoll, abwertend, bewundernd, indifferent. Mehrfachnennungen möglich.

Abb. 15: Wahrgenommene Einstellungen und Verhalten gegenüber der Institution: Häufigkeit der Nennungen (Mehrfachnennungen möglich)
- Die acht am häufigsten genannten Einstellungen bzw. Verhaltensweisen sind negativ konnotiert; mit einem Schwerpunkt auf Abstand (Ausnahme: abwertend und feindselig).
- Erst danach kommen auch positive Merkmale wie wohlgesonnen, wertschätzend und unterstützend. Am wenigsten werden benannt: bewundernd, liebevoll, nachsichtig.

Abb. 16: Wahrgenommene Einstellungen und Verhalten gegenüber der Institution: Häufigkeit der Nennungen (Mehrfachnennungen möglich) nach Konfession, sortiert nach der Häufigkeit bei den evangelischen Befragten
- Die katholischen Befragten erleben im Vergleich zu den evangelischen Einstellungen und Verhaltensweisen der Umwelt viel häufiger als enttäuscht, anklagend, ungeduldig und feindselig und unerbittlich.
- Die evangelischen Befragten erleben vergleichsweise stärker Indifferenz und positiv konnotierte Einstellungen und Verhaltensweisen wie Wohlgesonnenheit, Wertschätzung und Unterstützung.
4.4 Bevorzugte Handlungsoptionen der Befragten
Frage: „In dieser Situation sind verschiedene Handlungsoptionen denkbar. Wie reagieren Sie auf die Situation?“
Skalierung: 1 (stimme gar nicht zu) bis 6 (stimme voll zu)

Abb. 17: Bevorzugte Handlungsoptionen der Befragten, sortiert nach der Höhe des Mittelwerts
- Der Aussage „Ich reflektiere mein Tun“ wird am stärksten zugestimmt.
- Die höchsten Zustimmungswerte haben positiv konnotierte Handlungsoptionen.
- Rückzugsoptionen erfahren kaum bzw. keine Zustimmung.

Abb. 18: Bevorzugte Handlungsoptionen der Befragten nach Konfession, sortiert der Differenz der Mittelwerte
- Statistisch signifikante Mittelwertunterschiede zwischen den Befragten der Konfessionen gibt es von den Handlungsoption „halte mir Optionen offen“ bis „experimentiere und probiere Neues aus“. Diese sind weitgehend mit Aktivität konnotierte Optionen.
- In allen diesen Handlungsoptionen liegen die Mittelwerte der evangelischen über denen der katholischen Befragten mit Ausnahme des Merkmals „Ich konzentriere mich auf das Wesentliche“.
- Top 5 Evangelisch:
1. reflektiere mein Tun
2. suche Gleichgesinnte
3. entwickle Strategien für die Zukunft der Organisation
4. experimentiere und probiere Neues aus
5. suche aktiv nach Inspiration von außen - Top 5 Katholisch:
1. reflektiere mein Tun
2. gehe den Weg, den ich für richtig erachte
3. suche Gleichgesinnte
4. besinne mich auf die Wurzeln
5. experimentiere und probiere Neues aus

Abb. 19: Bevorzugte Handlungsoptionen der Befragten nach Ebene (nur bei statistisch signifikanten Mittelwertunterschieden) – sortiert nach der Größe der Differenz der Mittelwerte
- Die Mittelwerte bei der Führungs- und Fachebene unterscheiden sich in 7 der 19 Merkmale statistisch signifikant.
- Die Führungsebene hat vergleichsweise höhere Werte bei den Merkmalen:
- Ich bete viel
- Ich besinne mich auf die Wurzeln
- Ich gehe voran
- Die Fachebene hat vergleichsweise höhere Werte bei den (insgesamt eher niedrig bewerteten) Merkmalen:
- Ich tue nur noch, was von mir erwartet wird
- Ich konzentriere mich auf das Alltagsgeschäft
- Ich schaue weg
- Ich warte die weitere Entwicklung ab
4.5 Wahrgenommene Einflussmöglichkeit
Frage: „Wie hoch schätzen Sie Ihre Möglichkeiten ein, die Kirche in Ihrem Verantwortungsbereich zu verändern?“
Skalierung: 1 (keine Möglichkeiten) bis 6 (sehr große Möglichkeiten)

Abb. 20: Häufigkeitsverteilung zur wahrgenommenen Einflussmöglichkeit
Mittelwerte:
- Alle Befragten: 3,7
- Evangelisch: 3,8 | Katholisch: 3,7 (Unterschied ist statistisch nicht signifikant)
- Weiblich: 3,7 | Männlich: 3,8 (Unterschied ist statistisch nicht signifikant)
- Obere Führungsebene: 3,9 | Mittlere Führungsebene: 3,8 | Fachebene: 3,2
(Unterschied zwischen Führungs- und Fachebene ist statistisch signifikant)
- Die wahrgenommenen Einflussmöglichkeiten sind normalverteilt.
- Die Führungsebene schätzt ihre Einflussmöglichkeit höher ein als die Fachebene.
- 40% der Befragten sehen keine oder eher geringe Einflussmöglichkeiten, 60% sehen gewisse oder tendenziell große Einflussmöglichkeiten.

Praxis
Kirchenaustritte: Keine Trendwende in Sicht
Bisherige Entwicklung und gegenwärtige Lage
Kirchenaustritte sind beileibe kein neues Thema: Schon zum Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts haben die ersten großen Austrittswellen in der Nachkriegsgeschichte der damaligen Bundesrepublik zu aufgeregten Debatten in Kirche und (Medien-)Öffentlichkeit geführt.1 Darüber hinaus lieferten sie den Hintergrund für größere empirische Studien in diesem Feld2; auch die erste Erhebung über Kirchenmitgliedschaft der EKD setzt einleitend hier an, und sie geht der Austrittsneigung evangelischer Kirchenmitglieder genauer nach.3
Allerdings haben sich im Zuge des gesellschaftlichen Wandels auch die kirchlichen Rahmenbedingungen in den etwa 50 Jahren, die seitdem vergangen sind, grundlegend geändert. Trotz der ersten großen Austrittswellen war die Kirchenzugehörigkeit damals für die meisten noch weitgehend selbstverständlich, was sich nicht zuletzt in den Mitgliedszahlen der beiden großen Kirchen dokumentiert: Zusammengenommen waren 1970 91 % der Bevölkerung der BRD evangelisch oder katholisch.4 Heute befinden sich die Kirchen in einer völlig anderen Situation: Der vielzitierte Bedeutungsverlust von christlicher Religion und Kirche schlägt sich nicht zuletzt in einem Anstieg der Zahl der sogenannten Konfessionslosen in Deutschland auf 42 % im Jahr 20215 nieder; in der religionsbezogenen Struktur der Bevölkerung stellen sie damit den inzwischen mit Abstand größten Anteil. Heute ist es längst nicht mehr der Kirchenaustritt, sondern vielmehr die Kirchenmitgliedschaft, die begründungspflichtig geworden ist.6
Heute ist es längst nicht mehr der Kirchenaustritt, sondern vielmehr die Kirchenmitgliedschaft, die begründungspflichtig geworden ist.
Die jüngsten Zahlen zur EKD-Statistik scheinen den anhaltend negativen Trend der Kirchentwicklung einmal mehr zu untermauern bzw. sogar zu verstärken: Die Zahl der Evangelischen hat Ende 2021 erstmals die Marke von 20 Millionen unterschritten (19,73 Mio.). Ganz erheblichen Anteil daran hat der neue Spitzenwert von 280.000 Kirchenaustritten im Jahr 2021.7 Mit 1,38 Prozent errechnet sich (gemessen an der Zahl der Kirchenmitglieder des Vorjahres) die bisher höchste Austrittsquote. Auch wenn darin Nachholeffekte aus den pandemiebedingt eingeschränkten Möglichkeiten zu diesem Schritt im Vorjahr enthalten sein werden: Es deutet nichts darauf hin, dass sich dieser Trend über kurz oder lang umkehren könnte, dass die Austrittsquote künftig wieder deutlich unter einem Prozent liegt.
So muss davon ausgegangen werden, dass die jüngste Modellrechnung für die EKD mit einem Verlust an Kirchenmitgliedern von etwa 50 Prozent bis 20608 noch erheblich zu kurz greift, zumal die Jüngeren (bis 35 Jahre), die etwa die Hälfte der Ausgetretenen stellen, das ohnehin schon gravierende Nachwuchsproblem der Kirche verschärfen, indem sie nicht zuletzt auch als (potenzielle) Eltern für Taufe und religiös-kirchliche Sozialisation ihrer Kinder weitgehend ausfallen.
Die Austrittsstudie des SI9
Die Anfrage zu einer genaueren Klärung der Wege und Anlässe zum Kirchenaustritt ist an das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD (SI) im Zuge der Veröffentlichung der Zahlen zu den Austritten aus der evangelischen Kirche für 2019 (EKD Pressemitteilung vom 20.06.2020) herangetragen worden. Sie wiesen bereits einen auffallend starken Anstieg im Vergleich zu den Vorjahren und eine neue Spitze der Austrittsquote (1,28 %) aus. Dabei fehlte es an eindeutigen Erklärungsmöglichkeiten, wenngleich durchaus Vermutungen kursierten, die auf konkrete Anlässe abstellten, wie etwa die medial überaus präsenten Skandale zur sexualisierten Gewalt an Kindern (dies vor allem mit Bezug auf die katholische Kirche) oder die Beteiligung der evangelischen Kirche an einem Seenotrettungsschiff (Seewatch 4) im Rahmen der Hilfe für Geflüchtete. Über eine empirische Untersuchung sollten die konkreten Anlässe eruiert und genauere Einblicke in das Austrittsgeschehen gerade bei jenen gewonnen werden, die ihre Entscheidung, die Kirche zu verlassen, in den letzten Jahren umgesetzt haben.
Es deutet nichts darauf hin, dass sich dieser Trend über kurz oder lang umkehren könnte, dass die Austrittsquote künftig wieder deutlich unter einem Prozent liegt.
Im Herbst 2020 wurde zunächst eine qualitative Teil-Studie (Fokusgruppen) mit vormals Evangelischen durchgeführt, die ihre Kirche seit 2018 verlassen hatten. Leitend dabei war ein Verständnis des „Kirchenaustritts als Prozess“10, der bis in die Kindheitstage zurückreichen kann, was die Ergebnisse eindrücklich bestätigen. Spätestens nach der Konfirmation reduzierte sich der handlungspraktische Bezug zur Kirche für die meisten (wieder) auf den Weihnachtsgottesdienst und die Teilnahme an Kasualfeiern.
In der nachfolgenden bundesweiten Repräsentativbefragung wurden 2021 insgesamt 1.500 aus der evangelischen oder katholischen Kirche Ausgetretene befragt (via forsa.omninet), darunter 1.000 Personen, die ihre Entscheidung zu diesem Schritt seit 2018 umgesetzt haben, sowie zum Vergleich 500 Personen, deren Austritt vor dieser Zeit erfolgt ist (in beiden Stichproben je zur Hälfte vormals Evangelische und Katholische).
Zur Bedeutung konkreter Anlässe für den Kirchenaustritt
Ein im Blick auf die weitere kirchliche Entwicklung wichtiges Ergebnis der Studie zeigt, dass konkrete Anlässe nur zu einem kleineren Teil für die gestiegenen Austrittsquoten zu veranschlagen sind, was keineswegs im Sinne eines entdramatisierenden Befundes missverstanden werden darf. Ein Viertel der seit 2018 ausgetretenen vormals Evangelischen gibt an, dass ein solcher Anlass ausschlaggebend beim Entschluss zum Austritt war, bei den vormals Katholischen sind es mit 37 % deutlich mehr. Unter ihnen steht tatsächlich der „Kindesmissbrauch“ mit großem Abstand an erster Stelle (79 %), gefolgt von der Ablehnung Homosexueller in der Kirche (63 %) und den Skandalen um die Verschwendung finanzieller Mittel (61 %). Bei den vormals Evangelischen folgen auf die sexualisierte Gewalt an Kindern (41 %) und Finanzskandale (39 %) verärgernde kirchliche Stellungnahmen (31 %); die Größenordnung ihrer Nennungen fällt damit wesentlich niedriger aus.11 Hier zeigt sich deutlich, dass diese – zumeist medial vermittelten – ‚Aufreger‘-Themen unter den Katholischen auf ungleich breitere Resonanz treffen. Genauere Analysen ermitteln denn auch, dass sie sich bei Angabe dieser Themen als ausschlaggebenden Anlass zum Zeitpunkt ihrer Austrittsentscheidung noch etwas stärker mit ihrer Kirche verbunden fühlten, und das im Unterschied zu den Evangelischen, bei denen die Nennung von Skandalen (Kindesmissbrauch, Verschwendung finanzieller Mittel, Ablehnung von Homosexuellen) eher eine bestätigende Funktion für die eigene besonders ‚kirchenferne‘ Haltung beim Entschluss zum Austritt zu übernehmen scheint.
Die große Mehrheit aber gibt an, dass es bis zur Umsetzung ihrer längst getroffenen Entscheidung, der Kirche auch offiziell den Rücken zu kehren, einfach eine längere Zeit gebraucht hat (Evangelische: 70 %, Katholische: 63 %). Ein Befund, der umso bedenklicher stimmt, als er unter den Jüngeren (18 bis 35 Jahre) noch deutlicher hervortritt. Zur Illustration sei an dieser Stelle auf zwei O-Töne aus dem qualitativen Teil der Studie verwiesen; dort wird die Kirchenzughörigkeit mit der Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio verglichen, „das man nicht nutzt und seit Jahren zahlt“, oder die längere Dauer bis zur Umsetzung der Austrittsentscheidung mit der Trägheit bei der Suche nach einem neuem Stromanbieter: „Es ist bequem, wenn man bleibt“. Allerdings trägt der letztere Vergleich kaum, wenn man die Ergebnisse zur Frage nach einer religiösen bzw. kirchlichen Neuorientierung nach dem Austritt betrachtet: Unter den vormals Evangelischen sind es gerade einmal 3,5 %, die eine solche konkret benennen, unter den vormals Katholischen 2,2 %. Für die allermeisten beinhaltet der Kirchenaustritt vielmehr eine generelle Absage an religionsbezogene Zugehörigkeiten.
Die große Mehrheit aber gibt an, dass es bis zur Umsetzung ihrer längst getroffenen Entscheidung, der Kirche auch offiziell den Rücken zu kehren, einfach eine längere Zeit gebraucht hat
Schließlich könnte eine weitere Variante der Austrittsentscheidung künftig noch wachsende Bedeutung erlangen, sofern man die jüngeren Ausgetretenen als Trendsetter einordnet: Fast ein Fünftel unter ihnen antwortet, dass sich „einfach eine gute Gelegenheit zum Kirchenaustritt ergeben“ habe; deren Nutzung deutet kaum auf eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dieser Entscheidung hin.
Entscheidend: Plausibilität der Kirchenmitgliedschaft
Nachgefragt wurden im Weiteren auch tieferliegende Gründe für den Kirchenaustritt, insgesamt 17 an der Zahl. Aus ihnen schält sich unter anderen eine Dimension heraus, die im Rekurs auf frühere Studien als überdauernd betrachtet werden muss. Wir haben sie als persönliche Irrelevanz von Religion und Kirche bezeichnet. Bekannt ist sie schon lange, in empirisch etwas abweichenden Varianten auch als „Gleichgültigkeit“ gegenüber bzw. „innere Distanz zu Kirche und Glauben“12 oder – wie in der fünften Erhebung der EKD über Kirchenmitgliedschaft – als „Religiöse Indifferenz“13 benannt. Dabei sind es einmal mehr die Jüngeren, bei denen die Zustimmungen zu den Aussagen dieser Dimension, die vor allem auf die subjektiv fehlende Bedeutung von Religion, Glauben und Kirche abstellen, auffallend hoch ausfallen.
Es sind einmal mehr die Jüngeren, bei denen die Zustimmungen zu den Aussagen dieser Dimension, die vor allem auf die subjektiv fehlende Bedeutung von Religion, Glauben und Kirche abstellen, auffallend hoch ausfallen.
In unserer Studie ist die Ersparnis der Kirchensteuer – besonders deutlich bei den vormals Evangelischen – Teil dieser Dimension, was auf die Relevanz von Kosten-Nutzen-Abwägungen im Austrittsgeschehen14 verweist: Die Kirchensteuerzahlung steht nicht für sich allein; erst im Abgleich mit den (fehlenden) Bezügen zu Religion, Glauben und Kirche erlangt sie ihre Bedeutung als Kostenfaktor der Kirchenmitgliedschaft. Überdies zeigt sich, dass eine Verminderung oder Aussetzung der Kirchensteuer nur bei einem ausgesprochen kleinen Anteil die eigene Austrittsentscheidung verhindert hätte: Knapp 3 % bzw. 2 % sind sich sicher, dass solche Maßnahmen sie umgestimmt hätten. Das eigentliche Problem liegt vielmehr im mangelnden bzw. fehlenden Gewicht der Nutzenseite; es ist die Plausibilität der Kirchenmitgliedschaft, die kaum herzustellen ist, wenn es keinen Bezug (mehr) zu Glauben und Kirche, kein religiös-kirchliches Commitment gibt, bei dem sich ansetzen ließe.
In einer weiteren Dimension sind Austrittsgründe miteinander verbunden, die sich als Versagen der Kirche kennzeichnen lassen, das sich sowohl auf ihren eigenen christlich gegründeten Anspruch als auch auf den Umgang mit den gesellschaftlichen Anforderungen bezieht. Bei dieser Kombination fallen die Zustimmungen bei den vormals Katholischen besonders hoch aus, allen voran die Unglaubwürdigkeit der Kirche (85 %; vormals Evangelische: 69 %). Auch hier dokumentiert sich eine affektive Aufladung: Sie wählen bei ihren Bewertungen besonders häufig die entschiedene Position bei der Abstufung ihrer Zustimmung.
Das eigentliche Problem liegt vielmehr im mangelnden bzw. fehlenden Gewicht der Nutzenseite.
Religiöse Sozialisation: Ausgangspunkt für den Kirchenaustritt als Prozess
Schließlich unterstreichen auch die Ergebnisse der Repräsentativbefragung für die vormals Evangelischen, dass der religiösen Primärsozialisation eine Schlüsselrolle beim Kirchenaustritt als Prozess zukommt: In den Wahrnehmungen der Befragten zeichnet sich in der Generationenfolge, ausgehend von den Großeltern über die Eltern und die eigene Erziehung bis zur aktuellen Selbsteinschätzung, eine überwiegend geringe und weiter nachlassende Religiosität ab, die handlungspraktisch von einer schon in der Kindheit dominierenden, auf die jahreszyklischen (Weihnachts-)Festgottesdienste und/oder Kasualfeiern begrenzten, punktuellen Berührungen mit der Kirche flankiert wird. Bei den vormals Katholischen scheint sich demgegenüber zwischen Kindheit und Jugendalter ein gewisser Bruch vollzogen zu haben: Während sie ihre eigene Erziehung noch überwiegend als religiös beurteilen und in ihrer Kindheit mehrheitlich den sonntäglichen Gottesdienst besucht haben, unterscheidet sich ihre eher geringe Nutzung kirchlicher Angebote bereits in der Jugendzeit (im Alter von 15 bis 20 Jahren) kaum mehr von den vormals Evangelischen, und in ihrer aktuellen ebenfalls weit überwiegend geringen bzw. fehlenden subjektiven Religiosität lässt sich nur in der Tendenz eine positive Abweichung erkennen.
Fazit und Aussicht
Die Ergebnisse der Studie lassen kaum auf eine Trendwende bei der Entwicklung der Kirchenaustritte hoffen, die ja großen Anteil am weiteren Mitgliederverlust der beiden großen Kirchen haben. Es scheint fast, als gäbe es schwerlich eine Chance darauf, den Zirkel zu durchbrechen, der sich aus der fehlenden Plausibilität der Kirchenmitgliedschaft ergibt; denn sie speist sich insbesondere aus der „persönlichen Irrelevanz“ religiös-kirchlicher Bezüge, die bei den meisten – zumindest der vormals Evangelischen – schon in Kindheitstagen geprägt wurde. Dies wiegt umso schwerer, als die Begründungspflichtigkeit der Kirchenmitgliedschaft weiter zunehmen wird. Angesichts des seit langem stetig steigenden und inzwischen hohen Anteils der sogenannten Konfessionslosen in unserer Gesellschaft ist nicht auszuschließen, dass sich sogar eine Sogwirkung entfaltet, wie sie bereits für die säkulare Mehrheitskultur im Osten Deutschlands beschrieben wurde.15 In diese Richtung weist jedenfalls eine Äußerung aus dem qualitativen Teil der Studie: „Der Austritt ist eine kleine Massenbewegung, man kriegt es mit, schließt sich an, der Mensch ist ein Herdentier“.
Der Austritt ist eine kleine Massenbewegung, man kriegt es mit, schließt sich an, der Mensch ist ein Herdentier.
Es wäre allerdings ein Fehler, aus diesen im Gesamtblick für die Kirchen wenig erfreulichen Ergebnissen zu schließen, dass damit nur die geordnete Organisation der ohnehin unausweichlichen Schrumpfungsprozesse bleibt. Vielmehr kommt es darauf an, noch genauer hinzuschauen, ob und welche Chancen sich wahrnehmen lassen; das betrifft auch das Handlungsfeld der religiösen Sozialisation, in Kita und Schule, in der kirchlichen Kinder- und Jugendarbeit.16 Eine wichtige Voraussetzung dafür liegt in einer Weitung der Perspektive, die sich über die Konzentration auf die (bereits aktiven) Kirchenmitglieder hinaus auch auf Interessen und Bedürfnisse der Bevölkerung – im (lokalen) Umfeld – richtet, unabhängig von deren mentaler Verbundenheit oder der formalen Zugehörigkeit zur Kirche.
Es gibt bereits viele Aufbrüche in den Kirchen(-Gemeinden), es werden Zukunftsprozesse initiiert und gestaltet. Zweifellos wird sich – auch darüber – das Gesicht der Kirchen verändern. Aber sie sind, unbeschadet der aufgezeigten Probleme und Dilemmata, nach wie vor wichtige Playerinnen in unserer Gesellschaft, neben anderen. Der damit einhergehenden Verantwortung gilt es nachzukommen.

Praxis
Kirche zwischen Krise und Kairos
In der Spannung zwischen würdevollem Sterben und neuem Wachstum
Ich möchte eine kurze Selbstverortung voranstellen, um transparent zu machen, dass ich mich in einer doppelten Rolle befinde, zum einen als Theoretiker, der sich täglich mit gesellschaftlichen und kirchlichen Transformationsprozessen3 beschäftigt und als Praktiker, der sich als Teil der evangelischen Kirche in verschiedenen Reformprozessen4 befindet. Beide Blickwinkel stehen in einer (kreativen) Spannung, die sich auch in diesem Beitrag widerspiegeln.
Kirche und Krise: Kritik der kirchlichen Vernunft
Die Krise der Kirchen kommt mit großer Ansage und ohne besondere Überraschungen, denn bereits seit Ende der 1960er Jahre haben es die großen Kirchen mit kontinuierlichem Mitgliederschwund zu tun. Die erste Mitgliedschaftsuntersuchung der EKD trug schon den selbstoffenbarenden Titel „Wie stabil ist die Kirche?“. Aber bei einer fundierten Grundfinanzierung brauchte es kaum Veränderung. Stattdessen hat sich die Kirche als Organisation weiter professionalisiert. Dies ist aus organisationstheoretischer Perspektive erwartbar, denn eine Organisation ist den eigenen Beharrungskräften unterworfen und reproduziert sich automatisch selbst. Der ehemalige Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, Gerhard Wegner, schreibt kritisch, dass die Evangelische Kirche dabei zur Anstalt geworden sei, die sich zwar wunderbar selbst verwalte, aber dadurch immer schwerer zu reformieren sei.
Kirche in Not
In den letzten Jahren hat sich der Kirchenaustritt aber mit über 500.000 Ausgetretenen pro Jahr zu einem wahren Exodus entwickelt und der Ausblick der Freiburger Studie5 auf das Jahr 2060 verheißt die Halbierung der beiden großen Kirchen. Damit ist allen klar, dass die Kirchen in den nächsten Jahren vor einem massiven Umbau stehen und manche Kirchenverantwortlichen reden von einem „Kipppunkt“ für die Kirchen. Dabei gibt es kaum jemanden in den Kirchen, der dies leugnen würde, ganz im Gegenteil: Die Krisen der Kirchen werden ernst genommen und die aktuellen Transformationsprozesse betreffen nicht nur die Finanzen, sondern einen Wandel auf allen Ebenen, der von den Fragen des Gebäudemanagements über veränderte Berufsbilder bis zu neuen Kirchentheorien und alternativen Organisationsstrukturen reicht. Dies wurde erkannt und es wird versucht, jedes dieser Probleme konstruktiv anzugehen. Dabei mangelt es nicht an klugen Ideen und angefangenen Prozessen, sondern eher an der Wirksamkeit der Umsetzung. Der Verantwortliche für Erprobungsräume der Evangelischen Kirche Mitteldeutschland Thomas Schlegel bringt dies auf den Punkt, wenn er schreibt: „Auf den verschiedenen Ebenen unserer Kirche wissen wir, wie hoch der Handlungsdruck ist – und in welche Richtung wir weiterdenken sollten. Es bleibt aber meist bei diesem Konjunktiv. Es mangelt nicht an Einsichten und Ideen, sondern an deren Umsetzung.“6 Und ja, dies ist herausfordernd, denn der Umbau geschieht bei voller Fahrt. Und so wird jede neue Finanzlücke mit größter Energie angegangen, für jede der beschriebenen Herausforderungen ein neues Reformpapier geschrieben und ein weiterer Prozess eingeleitet, was an der Basis aber meist auf Skepsis stößt und manch einem „Reformstress“ verursacht.
Es mangelt nicht an klugen Ideen und angefangenen Prozessen, sondern eher an der Wirksamkeit der Umsetzung.
Eine Ursache sieht der Soziologe Hans Joas für die beiden Großkirchen in den kirchlichen Ebenen, wenn er sagt, dass quasi-staatliche Organisationsstrukturen einerseits und kulturvereinsartige Ritualpraktiken anderseits Kirche ausmachen und sich in ihrer Verstehens- und Veränderungslogik abstoßen.7 So blockieren sich die kirchlichen Ebenen oftmals selbst und die Kirche schrumpft vor sich hin, und dies mit großer Sorgfalt.
Nicht für den Fehler, sondern für das Fehlende
Die Störungen der Krisen haben keinen Vorrang, führen nicht zu Unterbrechungen des Gewohnten, sondern werden ausgelagert, der Mangel wird verwaltet und jede Störung sorgfältig abgearbeitet. Kirche ist eine Meisterin der Improvisation und Verwalterin des Mangels geworden. Die Mühle dreht sich derweil weiter, das Klagen wird lauter, die Situation nicht besser, im Gegenteil. Jedem ist klar, dass die Krisen in den nächsten Jahren größer und unbeherrschbarer werden. Die sogenannten Babyboomer gehen in Rente und es können gar nicht so viele Kirchen zusammengelegt oder geschlossen werden, wie Personal fehlen wird. Die Kirchenaustritte bleiben auf hohem Niveau und es müssen zweistellige Millionenbeträge eingespart werden.
Man möchte den Kirchen fast zurufen: Mehr Mut beim Sterben.
Die Verwaltung ächzt unter der Belastung und das kirchliche Personal muss den Gürtel noch enger schnallen, so dass selbst die größten Idealist:innen mit ihrem „Überlastungsstolz“ an ihre Grenzen kommen werden. Und man möchte den Kirchen fast zurufen: Mehr Mut beim Sterben. Oder, um es etwas konstruktiver mit dem Schweizer Pädagogen Paul Moor zu sagen: „Nicht für den Fehler, sondern für das Fehlende“.8 Innehalten, die Krise aushalten und wagemutig fragen: Was will uns die Krise sagen? Ergeben die Lücken vielleicht neue Freiräume? Aber die Kirchen lassen die Krise zu schnell verstummen. Sie sagt uns nichts mehr. Aber wir müssen die Krise verstehen, bevor wir was ändern können.
Kirche und Kairos – Auf die Krise hören lernen
Der tschechische Soziologe, Religionsphilosoph und römisch-katholische Priester Tomáš Halík hat diese Frage aufgenommen und versucht, in seinem neuen Buch „Der Nachmittag des Christentums“ eine Antwort zu finden. Seine Frage ist dabei: Kann die Krise ein Kairos sein? Das Wort Kairos bezeichnet dabei Gottes Zeitpunkt, an dem Veränderung möglich ist, etwas zum Guten zu wenden, und zwar mitten und durch die Krise selbst. Bei dieser Frage nach dem Kairos geht es nicht darum, die Krise zu leugnen, sondern im Gegenteil anzuerkennen, dass die Kirchen über einen langen Zeitraum unter anhaltenden massiven Störungen im kirchlichen System leiden.
Kann die Krise ein Kairos sein?
Die Frage ist nun aber nicht, wie wir dieses System möglichst durch die Krise bringen und erhalten können, sondern was die Krise über das System sagt. Dadurch wird es nicht einfacher und auch die Komplexität bleibt bestehen, aber die Haltung und die geistliche Urteilskraft ändern sich und dies ist vielleicht genau das, was der Kirche vielfach im Wege steht. Die Wunden und Verwundungen der Kirche werden zu schnell verbunden, damit die eigenen Verletzungen nicht gesehen werden – aber vielleicht braucht es genau diesen schmerzlichen Blick auf die eigenen Wunden? Nochmal Tomáš Halík, der dazu schreibt: „Ich betone immer, dass die Kirchenreform tiefer gehen muss als nur bis zu Veränderungen in den institutionellen Strukturen, dass sie aus den tiefen Quellen einer theologischen und spirituellen Erneuerung hervorgehen muss.“9 Die Krise der Kirche ist auch und zuerst eine geistliche Krise. Es geht um ein Hören auf den Kairos Gottes in der Krise. Ich möchte dies exemplarisch an drei Fragen aus der Krise verdeutlichen:
a) Kirchenaustritte: Ist die Kirche ist aus dem Leben vieler Menschen ausgetreten?
Jährlich wiederholt sich ein ähnliches Schauspiel mit ähnlichen Diskussionen, und zwar immer dann, wenn die neuesten Austrittszahlen bekannt gegeben werden. Die Gründe sind zügig gefunden und mit Kirchensteuer, Jugend und Säkularisierung schnell erkannt. Keine Frage, die spielen eine Rolle, aber man bekommt den Eindruck, dass die Kirchen die Gründe meist bei den austretenden Menschen und seltener bei sich selbst suchen. Doch vielleicht ist es umgekehrt und die Kirche tritt aus dem Leben der Menschen aus, weil sie keine Relevanz mehr hat, nicht verstanden wird und die Beziehungsebene verloren gegangen ist.
Man bekommt den Eindruck, dass die Kirchen die Gründe meist bei den austretenden Menschen und seltener bei sich selbst suchen.
Wenn wir in die empirischen Daten zum Kirchenaustritt schauen, dann stellen wir schnell fest, dass fast jedes fünfte Mitglied der evangelischen Kirche über einen Kirchenaustritt nachdenkt.10 Interessant ist, dass die Personen, die über einen Kirchenaustritt nachdenken, im Durchschnitt 50 Jahre alt sind, eher männlich als weiblich, verheiratet und vollbeschäftigt, dass sie weiter an Gott glauben (40 Prozent) und mindestens einmal am Tag beten (32 Prozent). Sie haben außerdem eine lange Geschichte mit ihrer Kirche, aber haben sich von ihr entfremdet. Sie haben eine Art „Beziehungskrise“, die sich in fehlender Bindung zeigt, was dazu führt, dass viele (55 Prozent) nie oder selten den Gottesdienst besuchen.11 Wenn wir uns ein Querschnittsbild von über 50 Kirchenaustrittsstudien anschauen, dann verfestigt sich dieses Bild zu einem idealtypischen Modell des Kirchenaustritts.12

Abb. 1: Idealtypisches Modell des Kirchenaustritts (Quelle: Riegel, U., Kröck, T., & Faix, T., Warum Menschen die katholische Kirche verlassen: Eine explorative Untersuchung zu Austrittsmotiven im Mixed-Methods Design, in: Etscheid-Stams, M., Laudage-Kleeberg, R., Rünker, T. (Hrsg.), Kirchenaustritt oder nicht – wie Kirche sich verändern muss, Freiburg, Herder 2018, 125-207, hier 188.)
Zwar erlebt fast jedes Kirchenmitglied sogenannte verursachende Motive, aber diese führen ebenso selten zum Austritt wie allein die klassischen Anlässe Kirchensteuer oder persönliche enttäuschende Erlebnisse. Das bestimmende Motiv ist die fehlende Bindung, die zu einem negativen „Kosten-Nutzen-Faktor“ wird. Je geringer die Bindung, desto leichter fällt der Austritt. Es gilt also in die vielfältigen Beziehungen zu investieren, denn am Ende geht es bei Kirche um Gott und die Menschen.
b) Gottesdienste: Brauchen wir mehr Vielfalt als Vielfach das Gleiche?
Kirche ist mehr als Gottesdienste, trotzdem laden Gottesdienste dazu ein, Glauben zu teilen und sind öffentliche Veranstaltungen der Kirchen in unserem Land. Aber die Zahl der Gottesdienstbesucher:innen nimmt stetig ab und dies liegt nicht an der Qualität der Gottesdienste an sich, sondern daran, dass es vielfach das gleiche Angebot gibt für nur eine bestimmte Zielgruppe. Wir erleben eine Zeit von tiefgreifenden Traditionsabbrüchen und einer Pluralisierung der Gesellschaft, im Zuge dessen sich die „Volkskirche“ zu einer „Kirche der Völkchen“ wandeln muss. „Völkchen“ meint dabei die stärkere Abbildung der gesellschaftlichen Pluralität in unterschiedlichen kirchlichen Orten, die aus den jeweiligen kulturellen Milieus und Teilmilieus erwachsen und so sprachlich und inhaltlich kontextualisiert Teil der jeweiligen Lebenswelt sind.
Dies liegt nicht an der Qualität der Gottesdienste an sich, sondern daran, dass es vielfach das gleiche Angebot gibt für nur eine bestimmte Zielgruppe.
Wir brauchen deshalb in Zukunft auch als Kirche mehr Vielfalt, um die pluralen gesellschaftlichen Verzweigungen in die Kommunikation des Evangeliums einzubeziehen. Spiritualität boomt und hat einen vitalen Sitz im Leben vieler Menschen, aber die Kirchen profitieren davon nicht, weil sie mit ihrer Sprache und ihren Veranstaltungen diesen Sitz im Leben immer weniger ansprechen. Damit dies gelingt braucht es strukturelle Voraussetzungen.
c) Strukturen: Haben sich die Menschen nicht schon längst aus den starren Strukturen der Kirchen herausgelebt?
Die sozialen Grundstrukturen vieler Kirchen sind in Kirchenordnungen und Kirchenverfassungen geregelt, in Kirchenkreise und Parochien eingeteilt, worüber dann die Finanzen gesteuert werden. Dies hat über Jahrzehnte gut funktioniert, aber auch hier gibt es seit den 1970er Jahren eine anhaltende Diskussion, ob es nicht eine Reform braucht. Es geht dabei nicht darum, dass das Bisherige schlecht ist, es war für viele Jahrzehnte passend und angemessen, sondern dass es nicht mehr in die gesellschaftlichen Realitäten der Menschen passt. Natürlich gibt es gute Gründe für die aktuelle Grundorganisation von Kirche, weil dadurch nicht nur der Gottesdienst oder die Jugendarbeit der einzelnen Kirchgemeinden finanziert werden, sondern auch Teile der lokalen Diakonie und Bildungseinrichtungen wie Kindergärten oder Beratungsstätten. Die Problematik beschreibt Steffen Bauer: „Ich behaupte, unser bisheriges Parochialsystem wird in wesentlichen Teilen ausgehebelt werden. Nicht weil wir die Parochie auflösen, das meine ich überhaupt nicht, aber indem wir Fragen der Zuständigkeiten und der Rechte neu klären.“ 13
Menschen wollen selbst wählen, was in ihren spirituellen Ausdruck passt.
Viele Menschen verstehen nicht, warum sie Arbeit, Partner:in und Wohnort selbst wählen dürfen, aber bei der Kirche einer Gemeinde zugewiesen werden. Sie wollen selbst wählen, was in ihren spirituellen Ausdruck passt: Die Taufe im Schwimmbad, den besonderen Gottesdienst in der Nachbargemeinde einmal im Monat, ansonsten gerne die modernen Onlinegottesdienste aus der Stadtgemeinde, auch wenn dieser weit weg ist, wichtig ist, dass es die Jungschar für die Tochter vor Ort weiterhin gibt. Da passt kein Parochialprinzip mit Kirchensteuerzuweisung an eine Pfarrei und von einer konfessionellen Zuordnung einer Mitgliedschaft haben wir noch gar nicht gesprochen. Es ist einiges in Bewegung, Menschen leben nicht mehr nur an einem Ort, sondern sind gleichzeitig in mehreren Welten unterwegs, was bedeutet, dass die Ortsgemeinde und die Parochie erweitert werden müssen.
Menschen leben nicht mehr nur an einem Ort, sondern sind gleichzeitig in mehreren Welten unterwegs.
Und als wäre das nicht kompliziert genug, gibt es natürlich auch die Gruppe der Hochverbundenen, für die die Parochie und ihre Gottesdienste Kernelemente ihres Glaubens sind, die sie nicht aufgeben möchten und hoffen, dass sie auch Menschen anderer Glaubensprägungen wichtig werden. Denn in vielen Diskussionen steht unsichtbar im Raum: Wir wollen Veränderung, aber wir wollen nichts ändern, weil es das Wesen unseres Glaubens ausmacht. Und dies zeigt einmal mehr die Spannung zwischen Krise und Kairos in der Kirche steht. Dazu kommen verschiedene Verständnisweisen von Veränderung. Während die Bewahrenden Veränderung eher als Krisenmanagement und Optimierung des Alten verstehen, sehen die Innovativen Veränderung eher als radikale Transformation des Gesamtsystems. Beide Logiken stehen in einer Spannung zueinander, die sowohl lähmend als auch produktiv sein kann. Was beide eint, ist das Wissen, dass „einfach immer weiter“ nicht mehr möglich ist, da die Ressourcen begrenzt sind und dass es in der Zukunft nicht ohne Abschiede gehen wird. Deshalb wird es in Zukunft mehrere parallele sich ergänzende Rollen geben müssen, wie Innovator*in (Veränderung), Stabilisator*in (Bewahrung), Indikator*in (Vermittlung) und Rahmengeber*in (Identitätswahrung), aber auch diese Rollen und Prozesse werden Abschiede nicht verhindern.
„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein…“
Keine Frage, Abschiede sind schmerzhaft, aber nehmen wir das Jesuswort aus Joh 12,24 als Hilfe und Metapher, dann steckt auch eine Hoffnung und ein Versprechen darin, denn im Sterben liegt die Voraussetzung des Neuanfangs. Ja, aus dem Sterben selbst erwächst das Neue.
Im Sterben liegt die Voraussetzung des Neuanfangs. Ja, aus dem Sterben selbst erwächst das Neue.
In der Natur nennt man diesen Prozess „Keimung“. Damit ein Same keimen kann, braucht er bestimmte Voraussetzungen wie Wärme, Wasser, Licht und Sauerstoff. Wenn alles zusammenkommt, kann der Wachstumsprozess des fruchtbaren Samens beginnen. Er bildet eine Keimwurzel, aus der dann die Streckung der Sprossachse beginnt. Danach bildet sich der vollständige Keimling heraus. Jetzt stirbt Stück für Stück der Same ab, nährt dadurch den neu entstehenden Keimling mit allem, was er braucht, da dieser noch keine Photosynthese betreiben kann. Während dieser Phase sind Same und Keimling fest miteinander verbunden. Deshalb spielt zu Beginn der Same eine entscheidende Rolle, mit der Zeit nimmt dieser mehr und mehr ab und andere Faktoren wie Wasser, Licht und Sauerstoff werden zu wichtigen Faktoren für das weitere Wachstum. Viele Samen sind zunächst nicht keimungsfähig. Sie brauchen eine bestimmte Wärme, damit der Keimungsprozess starten kann. Deuten wir diese Metapher auf unser Thema, dann ist die Kirche der Samen, aus dem das Neue herauswachsen wird. Die Wärme stellt den Kairos dar, der das Wachstum des Samens auslöst. Er stirbt eben nicht einfach, sondern beginnt einen Transformationsprozess, in dem er sich Stück für Stück in einen Keimling verwandelt. Dabei sind Same und Keimling am Anfang eng verbunden und erst nach und nach erwächst das Neue und wird selbstständig.
Die zentrale Frage ist: Wie sieht der Transformationsprozess aus? Was wird in das Neue übergehen und was muss sterben?
Der Umgang mit dem eigenen Erbe wird so zu einem schöpferischen Akt. Denn es gibt eine Verbindung zwischen Exnovation und Innovation. Der Einsparungszwang der Finanzen zwingt die Kirchen zum Glück der Veränderung. Natürlich kann das Bild überreizt werden und hat seine Grenzen, aber die zentrale Frage ist: Wie sieht der Transformationsprozess aus? Was wird in das Neue übergehen und was muss sterben? Auch in den Wissen, dass das vermeintlich Neue wiederum sterben wird. So einfach diese Fragen zu sein scheinen, so schwierig sind sie in der Praxis, weil dahinter über Jahrzehnte gewachsene Strukturen mit Menschen stehen, die sich dafür haupt- und ehrenamtlich immens eingesetzt haben. Sterben ist nicht leicht. Es ist schmerzvoll. Nehmen wir diese Fragen ernst, dann können wir feststellen, dass die Kirchen in einem Prozess der Sterbebegleitung von Liebgewordenem, das einen selbst geprägt hat, stehen und gleichzeitig Geburtshelferin des Neuen sein dürfen. In der Biologie nennt man diese Vorgänge, die die Entstehung etwas Neuem auf organische Art und Weise beschreiben, Emergenz.
Die Kirchen stehen in einem Prozess der Sterbebegleitung von Liebgewordenem, das einen selbst geprägt hat, und dürfen gleichzeitig Geburtshelferin des Neuen sein.
Aus dem Bisherigen bilden sich neue Eigenschaften, die zwar auf das Bisherige zurückgehen und deren zukünftige Form noch nicht vollkommen klar ist. Aus diesem Zusammenspiel des Bisherigen und Werdenden entsteht ein neues System. Auf die Kirchen bezogen bedeutet dies den Abschied von der Volkskirche als Vollversorgersystem, wie wir es kannten, und ein Erwachsen einer Kirche der Völkchen. Und vielleicht ist es auch hilfreich nicht von der Kirche an sich zu sprechen, sondern zu differenzieren und in jedem Kirchenkreis ganz praktisch zu fragen, was sterben muss, was daraus Neues erwachsen kann und was es dafür braucht.
„… wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“
Damit dies geling, möchte ich sechs Konsequenzen aus dem bisher Beschriebenen ziehen, die helfen können, die Krise zu gestalten und den Kairos zu ergreifen.
a) Würdevolles Sterben lernen
Würdevolles Sterben stellt eine zentrale Aufgabe in den iterativen Veränderungsprozessen unserer Zeit da, denn Neues kann nur entstehen, wo Raum dafür geschaffen wird. Liebgewonnene Traditionen, Kreise oder Strukturen müssen verabschiedet werden. Alles hat seine Zeit und würdevolles Sterben heißt, dass die Arbeit der Vergangenheit gewürdigt und ernst genommen wird. Wertschätzung gegenüber dem, was Menschen manchmal über Jahrzehnte investiert haben, muss ausgedrückt werden, so dass Übergänge gemeinsam gestaltet werden können. Eine theologische Entsprechung finden wir bei Paulus in Phil 2,7, dem sogenannten Kenosis-Prinzip. Die Selbstentäußerung der Menschwerdung Christi steht dabei als Vorbild für Loslassen, Verzicht und Entleerung für die Gläubigen und hat vor allem in der Orthodoxen Kirche eine reichhaltige Tradition. Es braucht ein Loslassen dessen, was wertvoll war, um neu gefüllt zu werden. Dabei darf getrauert werden, über das, was verloren geht und wertvoll war, aber dafür braucht es Zeit und entsprechende Formate. Loslassen ist schmerzhaft, bedeutet aber auch Entlastung und Freiraum für Neues und gemeinsame Suchbewegungen. Damit hängt eine zweite Voraussetzung zusammen.
Neues kann nur entstehen, wo Raum dafür geschaffen wird. Liebgewonnene Traditionen, Kreise oder Strukturen müssen verabschiedet werden.
b) Umlernprozesse gestalten
Wir müssen lernen zu verlernen, damit wir überhaupt bereit sind, wieder neu lernen zu können. Verlernprozesse beschreiben die Notwendigkeit, unsere eigene Tradition mit unserem Denken und Fühlen zu hinterfragen und uns von bisherigen Traditionen zu distanzieren, um wieder Raum für Neues zu bekommen. „Re-Design“ nennt das die Organisationstheorie. Wir neigen alle dazu, die eigene Tradition, Geschichte, Erfahrung als das Wichtigste und Unverzichtbare anzusehen. Ein Kernpunkt dabei ist es, die eigene Haltung zu reflektieren und zu verändern, neu hinzuhören und zu Lernenden zu werden. Für Kirche heißt das, vor Gott zu kommen und dabei auch den eigenen Denkrahmen sprengen zu lassen. Umlernprozesse sind also geistliche Prozesse, die Kirchen herausfordern, gegenüber dem Reden Gottes und dem Wirken des Heiligen Geistes neu aufmerksam zu werden, sowohl gegenüber äußeren Ereignissen als auch gegenüber inneren Ereignissen. Hörende Kirche werden und dahin gehen, wo Gott wirkt, und nicht nur das wiederholen, was man immer schon gemacht hat. Vielfältige Spiritualität partizipatorisch leben, sich neu von Gottes Geist ergreifen lassen, das Unverfügbare wagen (Hartmut Rosa) in einer Welt, in der wir sonst versuchen alles im Griff zu haben. Denn eines ist klar: Die gesellschaftlichen Transformationen schreiten voran und nehmen auf die Zögerlichkeit der Kirchen keine Rücksicht.
c) Transformation by Design or Desaster
So nennt der Organisationspsychologe Harald Welzer die Möglichkeiten, mit den aktuellen Transformationen umzugehen und meint damit, dass die Veränderungen auf alle Fälle kommen und entweder gesteuert werden oder einfach geschehen. Transformationsdesign bedeutet dabei die Gestaltung eines Richtungswechsels und der Entwicklung eines Zukunftsbildes. Der Clou dabei ist, dass es nicht um ein Mehr geht, sondern die gestalterische Aufgabe lautet: Von allem weniger. Dieses Narrativ passt in die Krisen der Kirche und lässt schon den Kairos erkennen. Die Entwicklung lebendiger Zukunftsbilder für die Kirchen ist deshalb eine der Hauptaufgaben, um die verschiedenen Menschen, Ebenen und Reformversuche zu einer gemeinsamen Vision zu verbinden. Wenn dies nicht gelingt, bleiben die Reformen Versuche, die an der Gemeindebasis nichts erreichen und im intellektuellen Besserwissermodus kluger Menschen verpuffen. In der Organisationstheorie nennt man dies „Lernen zweiter Ordnung“ und es bedeutet, dass Kirche als Organisation selbst zu einer Lernenden wird und dass es nicht nur darum geht, das Richtige theoretisch zu verstehen, sondern selbst zur Veränderung zu werden. Es geht um eine Haltung, die die Beteiligten einlädt, Co-Kreative im Veränderungsprozess zu sein.
Die Entwicklung lebendiger Zukunftsbilder für die Kirchen ist deshalb eine der Hauptaufgaben, um die verschiedenen Menschen, Ebenen und Reformversuche zu einer gemeinsamen Vision zu verbinden.
Ein Schlüssel ist dabei die Kommunikation, die sich von einem „wie jetzt, nur besser“ hin zu einem ehrlichen „es wird anders“ bewegen muss. Dies wird Change-Kommunikation genannt und versucht Zukunftsbilder zu gestalten, die die Menschen mitnehmen und die Fragen stellen, wie beispielsweise: Wie kann Kirche in der Zukunft aussehen? Warum wollen wir Veränderung? In welche Richtung geht es? Warum bringt mir das was? Was verändert sich für meinen Bereich? Wie kann ich mitmachen?
d) Kirche in den neuen Zwischenräumen
Wie wir zu Beginn des Artikels gesehen haben, lösen sich zwei wichtige Konstanten der Kirchen zunehmend auf. Der kanadische Philosoph Charles Taylor14 zeichnet diese zunehmende Auflösung geschichtlich nach und beschreibt, dass sich damit auch die klassischen Trennungen zwischen dem säkularen Menschen (Suchender A) und dem religiösen Menschen (Bewohner A), sowie dem Kirchenmitglied (Bewohner B) und dem Nicht-Mitglied (Suchender B) zunehmend auflösen.
Die erste Gruppe (Bewohnende A) schließt sich zunehmend der säkularen Erzählung an und lebt ihren Glauben weitgehend in immanenten Plausibilitätsstrukturen. In der zweiten Gruppe (Bewohnende B) brechen Menschen aus dieser säkularen Erzählung aus und spüren, dass es in dieser Perspektive einen transzendenten Glauben gibt. Die Kirche hat für sie und für ihr Glaubensleben eine wichtige Funktion. Da dieser Teil der Bewohnenden aber stetig abnimmt und die Zahl der Suchenden dagegen zunimmt, kommt es zu einer starken Bewegung. Auch die Suchenden teilen sich in zwei Gruppen auf, diejenigen die bei ihrer Suche einer spirituellen oder auch indifferenten Spiritualität folgen (Suchende B) und diejenigen, die keinerlei spirituelle Anknüpfungspunkte haben (Suchende A). Die erste Gruppe der Suchenden, sucht außerhalb der Kirche nach Sinn und Orientierung für ihr Leben, da sie mit den Antworten der Kirche aber oftmals nicht zufrieden ist. Diese Bewegungen der vier Gruppierungen führen zu neuen Zwischenräumen, auf die bisherige Formate von Kirche noch wenig eingestellt sind. Was bisher oftmals als „Ränder der Kirche“ bezeichnet wurde, wird die neue Mitte werden. Die kirchlichen Orte der Zukunft werden kontextuell aus diesen Zwischenräumen und ihrer spirituellen Indifferenz erwachsen und Teil des jeweiligen Sozialraums sein.15
Was bisher oftmals als „Ränder der Kirche“ bezeichnet wurde, wird die neue Mitte werden.
e) Keine Projektisierung der Kirche, sondern Strukturreformen
Und dieses ist in den letzten Jahren schon vielfach geschehen und neue kirchliche Orte, wie Erprobungsräume, Fresh X, Mut- oder Citypastoral (und viele andere) sind in den Zwischenräumen entstanden. Und viele dieser neuen Orte fühlen sich genauso „dazwischen“, sind Teil einer Kirche und doch selbstständig, gehören dazu und sind doch anders. Eine der zentralen Fragen der Zukunft wird sein, wie eine gute strukturelle Einbindung gelingt, die Nähe und Distanz steuert. Und ja, das Heil liegt nicht in den Strukturen. Aber Strukturen bestimmen eben auch den Inhalt (The Medium is the Message). Es gibt zwei Gefahren. Zum einen, dass die neuen Projekte der Kontrolle und den Regeln des alten Systems unterworfen werden, die alte Logik das Neue ausgrenzt oder erstickt. Zum anderen besteht die Gefahr, dass die Projekte zu wenig eingebunden sind, dass sie ihre Freiheit feiern, aber kaum oder keinen Einfluss auf das Gesamtsystem Kirche haben und so zu gut aussehender, teuer subventionierter kirchlicher Folklore verkommen. Denn eines ist klar, die Mechanik der Ressourcenverteilung über das Parochialsystem (als dominantes Organisationsprinzip) wird eine strukturelle Öffnung brauchen und dies bedeutet einen tiefen Einschnitt in Kirchenrecht und Kirchentheorie. Die neuen Strukturen müssen die gesellschaftlichen und spirituellen Zwischenräume abbilden und auf die liquiden gesellschaftlichen Veränderungen reagieren können.
Die neuen Strukturen müssen die gesellschaftlichen und spirituellen Zwischenräume abbilden und auf die liquiden gesellschaftlichen Veränderungen reagieren können.
f) Vom Ich zum Wir
Im Reformprozess der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck gab es einen beeindruckenden Prozess des Hinhörens.16 Die Verantwortlichen wollten hören, was die Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche über Kirche eigentlich denken, was ihre Hoffnungen sind, worüber sie sich ärgern und was sie sich in Zukunft erhoffen. Die Ergebnisse waren vielfältig und geben einen guten Einblick wie unterschiedlich Menschen heute Kirche sehen und was sie von ihr erwarten. Ein gutes Hören auf die Krise. Interessant dabei war, dass in der Ausdrucksweise oft von „der Kirche“ und „die da (oben)“ gesprochen wurde. Diese Wortwahl wäre bei Menschen außerhalb der Kirche nachvollziehbar, aber sie wurde auch innerhalb der Kirche verwendet und bezog sich meist auf die jeweilig höhere Kirchenebene. Die Veränderung dieser Haltung scheint mir ein Schlüssel für gelingende Veränderungsprozesse zu sein. Nicht die anderen, auch nicht ich, sondern wir werden Kirche verändern.
Der Philosoph und Strategieberater Jürgen Werner bringt dies auf den Punkt, wenn er schreibt: „Jede große Veränderung beginnt mit der Organisation von Kräften. Erst wenn die Vielzahl der Überzeugungen zu einer Stimme sich vereinigen, wenn die unterschiedlichen Sichten auf eine Sache sich zu einer Richtung formieren, wenn die individuellen Interessen zurückstehen, weil vor allem ein einziges Ziel zu erreichen ist, kurz: wenn aus Ich und Ich ein Wir wird, dann können selbst scheinbar aussichtslose Verhältnisse sich wandeln. Freiheit und Wahrheit gewinnen immer dann, wenn wir sie als gemeinschaftsstiftende Wirklichkeiten anerkennt. Unter allen Machtinstrumenten ist der Zusammenhalt das stärkste.“17Es ist also eine der zentralen Aufgaben für die Kirchen, diesen Zusammenhalt zu generieren und die verschiedenen Pole miteinander zu verbinden: sowohl hauptamtlich als auch ehrenamtlich, sowohl alt als auch jung, sowohl Kirchenraum als auch Sozialraum, sowohl parochial als auch an anderen Orten, sowohl Struktur als auch Agilität, sowohl traditionell als auch kontextuell etc. – wohlwissend, dass manches davon sterben wird und hoffungsvoll das fördernd, was gerade schon neu daraus heranwächst.
Nicht die anderen, auch nicht ich, sondern wir werden Kirche verändern.
Dieses wir gilt um so mehr, wenn wir einen Blick auf die Kirchen in Deutschland werfen, denn noch arbeiten sich die einzelnen Landeskirchen und Bistümer, Freikirchen und Verbände selbst an den beschriebenen Herausforderungen ab. Wo muss hier ein neuer Blick des Gemeinsamen entstehen, der sich aus dem Zwang der eigenen Frömmigkeitsstile und konfessionellen Engführungen herausbildet, ohne in die Falle einer Einheitskirche zu laufen? Wo können gemeinsame Lernprozesse gestartet werden, wo gemeinsame Kooperationen geschlossen werden und voneinander gelernt werden? Wo müssen auch Vorurteile abgebaut werden, die dem entgegenstehen?
Verheißungsorientiert und mutig Kirche im Kairos Gottes leben
Und bei all dem gilt: Es gibt nicht den einen goldenen Weg der Kirchen in die Zukunft, dafür ist die Lage zu komplex, die Menschen und Frömmigkeitsstile zu unterschiedlich und die Kirchen in sich zu heterogen. Es gilt, den Kairos der Krise zu ergreifen, die gemeinsame Verantwortung des würdevollen Sterbens anzunehmen und die aus dem Samenkorn sprießenden neuen Keimlinge zu erkennen und zu bewässern. Denn es ist am Ende Gottes Kirche, an der wir mitwirken dürfen. Denn Gottes Vision für seine Kirche schlägt alle Reduktionsängste. Dann kann aus dem Weniger ein Mehr werden und Neues erwachsen. Dabei gilt es auch, geduldig zu sein. Auszuhalten. Auch einander. Die Sprache des Neuen gemeinsam einzuüben und gemeinsam zu glauben, dass Gottes Verheißung unabhängig von den bisherigen Ressourcen ist. Denn der Geist Gottes, der größer ist als all unsere Ideen von Kirche, Reformvorschläge und Sparmaßnahmen, bewahre uns, nicht das eigene zu tun, sondern uns immer wieder neu auf ihn auszurichten.

Praxis
Kirchenentwicklung in Zeiten des Klimawandels
Es gilt, radikale und rasante Lösungen zu finden
Der Klimawandel erschüttert uns. Existentiell. Auf Plakaten steht „There is no planet B“ oder „Climate is changing why aren’t we?“. Die Reaktion auf den Klimawandel muss gleichermaßen radikal, wie rasant sein – bevor seine Folgen unwiderruflich bleiben, bevor immer mehr Lebensgrundlagen zerstört und Arten gestorben sind, bevor künftige Risiken weiter steigen. So ist der Klimawandel auch eine ethische Herausforderung in Bezug auf die intra- und intergenerationelle sowie die internationale Gerechtigkeit. Der ökologische Klimawandel verlangt grundlegende Veränderungen ganzer Systeme und Prinzipien, die bisher in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und im individuellen Leben gegolten haben. Was in den vergangenen Jahrzehnten korrigiert wurde, reicht bei weitem nicht, um die Zukunft zu sichern und zu gestalten. Es braucht Innovationen und Interventionen in einem bisher nicht geahnten und gewohnten Umfang.
Es braucht Innovationen und Interventionen in einem bisher nicht geahnten und gewohnten Umfang.
Eindruck des kirchlichen Klimawandels
Auch die katholische Kirche in Deutschland befindet sich in einer bemerkenswerten, historischen Zeitenwende: Theologisch im Synodalen Weg zu sehen; zu erkennen an der Dynamik, die „Out in Church“ u.a. in Bezug auf die Neufassung des Kirchlichen Arbeitsrechtes erreichen konnte; daran abzulesen, dass in verschiedenen Ordinariaten bzw. Generalvikariaten neue Leitungsmodelle entstehen; als Postulat in verschiedenen Untersuchungen zu Ursachen des Missbrauchs in der Kirche zu lesen; in Bezug auf die Professionalität von Prozessen bspw. in der Personalarbeit; angesichts stetig steigender Anforderungen an die Verwaltung.
Auch die Kirche „vor Ort“ ist längst nicht mehr, wie sie war. Wenn ich auf meine Situation Mitte der 1990er- und 2000er-Jahre schaue, kann ich sagen: Die soziale, territoriale und jahreszeitliche Rahmung war klar kirchlich getaktet. Meine Jugend war von fußläufig entfernten Kirchtürmen, von der Zeitrechnung „nach“ bzw. „vor dem Zeltlager“, von liturgischer Vielfalt, wöchentlichen Gruppenstunden, jungen Kaplänen, rappelvollen und weihrauchüberladenen Hochfesten und rauschenden Karnevalspartys geprägt. Das machte unser pulsierendes St. Marien aus. Die intensiven Erinnerungen an eine solche Zeit sind noch so lebendig, dass sie manchmal übersehen lassen: Das alles ist wesentlich Geschichte. Die monumentale Gestalt der Kirche meiner Jugend ist unwiederbringlich geschmolzen, wie ehrwürdige und beeindruckende Gletscher, von denen heute nur noch kleine Reste zu sehen sind. Auch das Katholische Jugendamt in einem pulsierenden Katholischen Stadthaus mit seinen Angeboten gibt es längst nicht mehr; die Jugendkirche TABGHA ist in eine andere Stadt gezogen. Alle diese Ressourcen sind erschöpft – diese „artenreichen Regenwälder“ sind aufgebraucht. Dass die kirchliche Realität längst eine völlig andere als noch vor zwei Jahrzehnten ist, sage ich gar nicht klagend. Wichtig ist mir der ehrliche Abgleich, um wieviel anders die kirchliche Welt und Ihr Umfeld geworden sind – nicht nur für mich im Ruhrgebiet. Es ist ein enormer Wandel in hoher Geschwindigkeit.
Es ist ein enormer Wandel in hoher Geschwindigkeit.
Kipp-Punkte des kirchlichen Klimawandels
Beim Klimawandel ist von „Tipping Points“ die Rede. Es geht um Veränderungen, die unumkehrbar sein und Kaskadeneffekte auslösen können. In Bezug auf den kirchlichen Klimawandel will ich mit Rückgriff auf die klassischen kirchlichen Jahresstatistiken drei solcher Kipp-Punkte ansprechen – nämlich (1) den Anteil der Katholikinnen und Katholiken an der Bevölkerung, (2) den Anteil derer, die den sonntäglichen Gottesdienst besuchen und (3) die Anzahl und Quote der Kirchenaustritte. Diese Daten sind exemplarische Indikatoren dafür, wie weit der kirchliche Klimawandel bereits fortgeschritten ist und wie groß umgekehrt die Handlungsnotwendigkeit ist.
(1) Der Anteil der Katholikinnen und Katholiken an der Bevölkerung Deutschlands hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg von knapp 50% auf rund 25% halbiert. Die Entwicklung ist eine Einbahnstraße und heißt: Schrumpfen. Dies geschieht derzeit und künftig in noch höherer Dynamik als durchschnittlich in den letzten Jahrzehnten (Stichworte: Alterspyramide, Kirchenaustritte). Ein öffentlich benannter Kipppunkt war im Frühjahr 2022 erreicht, als erstmals weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland einer christlichen Kirche angehörten. Dass Christinnen und Christen die Minderheit in Deutschland darstellen, ist eine historische Zäsur.
Dass Christinnen und Christen die Minderheit in Deutschland darstellen, ist eine historische Zäsur.
(2) Der Anteil der Kirchenmitglieder, die den sonntäglichen Gottesdienst besuchen, ist in der Corona-Pandemie auf einen historischen Tiefpunkt gesunken: Waren es 1950 noch gut 50 Prozent, 1980 noch knapp 30 Prozent, im Jahr 2010 immerhin noch 12,6 Prozent der Mitglieder, die sonntags Gottesdienst feierten, lag der Anteil der Gottesdienstbesucher*innen im Jahr 2021 gerade einmal bei 4,2 Prozent. In meiner Heimat waren es nicht einmal drei von 100 Personen. Viel tiefer kann die Quote kaum fallen.
(3) Der enorme kirchliche Erosionsprozess wird beim Blick auf die Austrittsdynamik noch deutlicher: Bewegte sich die Quote der Austritte lange knapp über oder unter 0,5 Prozent, so lag der bundesdeutsche Durchschnitt 2019 erstmals über 1 Prozent. Im Jahr 2021 traten dann 1,7 Prozent der Katholikinnen und Katholiken aus ihrer Kirche aus. Auch hier ist eine neue Dimension erreicht.
Diese Zahlen signalisieren: Es gibt einen gravierenden Wandel, der in eine extreme, fundamental neue Situation geführt hat und der die Kirche weiter treiben und beschäftigen wird. Dies hat immer weniger mit den Erfahrungen der bisherigen katholischen Kirche zu tun. Unter den neuen Bedingungen im kirchlichen Klimawandel kann die Kirche nur neu und anders funktionieren.
Erstarrung als Reaktion auf den Klimawandel
Es geht nicht um überschaubare, beschreibbare Transformationen. Es geht vielmehr um den disruptiven Übergang in eine völlig andere Ära.
Am Klimawandel ist zu erkennen: Das eigene Dasein auszurichten, während sich die Welt radikal verändert, ist kein einfaches Unterfangen. Der Klimawandel ist immer ein paar Schritte voraus. Oder andersherum: Das System (ob Land/Gesellschaft oder Kirche), das sich wandeln muss, ist immer ein paar Schritte zu langsam. Aus den Erfahrungen und mit dem Wissen der Vergangenheit soll plötzlich eine unbekannte und sich noch gestaltende Zukunft organisiert werden. Das ist eine strukturelle Überforderung für jede Organisation.
Die katholische Kirche ist mit ihrer Größe und ihrem hohem Organisationsgrad, mit der Verknüpfung von Legislative, Exekutive und Judikative, mit den verquickten Dimensionen von Pastoral und Verwaltung und durch einen starken Überbau aus Wissenschaft, Tradition und Moral besonders unbeweglich in dieser herausfordernden Situation. Dabei geht es ja längst nicht mehr darum, dass sich der sinnstiftende Markt um die Kirchen herum „ein wenig“ entwickelt, die politische Haltung zur Kirche „langsam“ indifferenter wird oder die Entscheidung über die Zugehörigkeit zur Kirche „zunehmend“ einem Nutzen-Kalkül folgt. Es geht nicht um überschaubare, beschreibbare Transformationen. Es geht vielmehr um den disruptiven Übergang in eine völlig andere Ära. Intellektuell sind das „Ende der Volkskirche“, oder der „Pfarrfamilie“ längst erfasst – so wie die Story vom Waldsterben oder vom Treibhauseffekt. Es sind auch Entwicklungsprozesse zur „Pfarrei der Zukunft“ auf den Weg gebracht – im Rahmen der bisherigen Möglichkeiten. Die Herausforderung ist nun aber: Der Klimawandel ist so rasant und radikal, dass zwangsläufig rasant(er!) radikale(re!) Lösungen gefunden werden müssen.
Die Herausforderung ist nun aber: Der Klimawandel ist so rasant und radikal, dass zwangsläufig rasant(er!) radikale(re!) Lösungen gefunden werden müssen.
Wie beim Klimawandel: Es gibt kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsdefizit. Das ist verständlich, denn der kirchliche Klimawandel verschiebt die Rahmenbedingungen der Kirche der Zukunft erheblich. Diese Zukunft ist nur ansatzweise greifbar – gerade, weil sie von Unberechenbarkeit, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit geprägt ist (Stichwort VUCA-Welt). Der Druck, den der kirchliche Klimawandel mit sich bringt, ermöglicht schon seit einiger Zeit beachtliche Kirchenentwicklung. Mancherorts führt der kirchliche Klimawandel so zu viel Engagement, innovativer Kraft und zu bemerkenswerten Entwicklungsprozessen. Allerdings ist die Transformationsnotwendigkeit mit all ihrer disruptiven Seite so gewaltig, dass die bestehenden Organisationen und Personen in der Kirche auf allen Eben – zumal in einer Kultur, die auf Sicherheit und Steuerbarkeit ausgerichtet ist – kontinuierlich überfordert werden.
Entschlossene Kirchenentwicklung in Zeiten des Klimawandels
Was ist in dieser Situation nun zu tun? Wie könnte eine rasante wie radikale Reaktion auf den kirchlichen Klimawandel aussehen? Klar, es braucht Ehrlichkeit (auch in Bezug auf die Überforderung), Verantwortliche benötigen Entschlossenheit, Mut und Durchhaltevermögen; eine solide strategische Ausrichtung und passende Steuerungsinstrumente helfen sicher genauso, wie gut geschulte Führungskräfte; wichtig wären eine strukturierte Personalentwicklung und ein Klima mit ausgeprägter Feedbackkultur, großer Fehlerfreundlichkeit und besonderer Wertschätzung von Unternehmer*innentum, Innovation und Zukunftsorientierung; Ressourcen müssen passend verteilt sein und Dinge konsequent beendet werden. All das ließe sich nun durchbuchstabieren. Mit Blick auf die Radikalität des Klimawandels schlage ich jenseits all dieser richtigen Dinge drei Grundorientierungen (als Conditio-sine-qua-non) für eine gelingende Kirchentwicklung vor:
Rückbau- und Abbauprozesse sollten strukturell und personell von Entwicklungs- und Aufbauprozessen getrennt werden.
1. Trennung von Abbau und Aufbau
Rückbau- und Abbauprozesse sollten strukturell und personell von Entwicklungs- und Aufbauprozessen getrennt werden. Das gäbe einen klaren Fokus für beide Richtungen – mit den je eigenen und unterschiedlichen Zielen, Methoden und Haltungen. Damit diese Trennung wirksam aus der Überforderungsfalle herausführen kann, sollte sich die Trennung konsequent in Aufbaustruktur und Prozessen von Diözesen niederschlagen; nicht zufällig haben große Energiekonzerne ihre Sparten für erneuerbare Energie von fossiler Verstromung getrennt und nicht zufällig haben auch große Behörden Innovationshubs eingerichtet. Im kirchlichen Klimawandel könnten sich diejenigen, die für den Abbau verantwortlich sind, mit ihrem wichtigen Wissen der Vergangenheit um die Versorgung dessen, was (noch) da ist kümmern und dessen Weg in die Zukunft unterstützen. Entlang der Metapher des Klimawandels: Es geht um den Erhalt, die Pflege und die Bewirtschaftung des land-, forst- und fischereiwirtschaftlichen Grundvermögens. Es geht um die Dienstleistung für Gemeinden und Verbände. Besonderes Augenmerk sollte auf dem Erhalt und der Erhöhung der Biodiversität, dem Schutz der Ressourcen liegen.
Daneben gibt es den Bereich der Innovation. Hier geht es darum, interaktiv und agil, „out of the box“ zu denken, über den Tellerrand zu schauen, Entrepreneurship und Startups zu fördern, externe Partner*innen zu gewinnen und den Technologietrends (KI, Metaverse, Big Data, Cloud…) für die Kirche nutzbar zu machen. Dieser Bereich kümmert sich mit der Vermutung, was der Zukunft gerecht wird, um die Neuentwicklung. Mein Plädoyer gilt also einer gleichberechtigten Doppelstruktur. Denn die Typen, die die beiden Richtungen (Abbau vs. Aufbau) verkörpern sind sehr unterschiedlich. Der Versuch in den vergangenen Jahren, beide Dimension unter einen Hut zu bringen und zu integrieren, sind vielfach gescheitert oder wirkten nur sehr eingeschränkt. Die „Schwerkraft“ des bestehenden kirchlichen Systems ist, also die Selbsthaltungskraft (Autopoiesis), ist so groß, dass es ein sehr starkes und unabhängiges Gegengewicht braucht, wenn man es mit der Entwicklung in Kirche ernst meint. Wenn die Trennung umgesetzt wird, würde das Thema „Entwicklung“ an zwei unterschiedlichen Orten vorangetrieben. Das würde zusätzliche Geschwindigkeit, eine Verdoppelung der Chancen und vor allem die Freiheit bringen, wirklich neue, nicht vom Bestehenden her regulierte Lösungen zu entwickeln.
Eine zweite Grundbedingung gelingender Kirchenentwicklung liegt in der konsequenten Differenzierung von Pastoral und Verwaltung.
2. Trennung von Pastoral und Verwaltung
Eine zweite Grundbedingung gelingender Kirchenentwicklung liegt in der konsequenten Differenzierung von Pastoral und Verwaltung. Es geht beim Klimawandel ja um etwas sehr „Großes“ – es geht um die Lebensgrundlage des Menschen, theologisch gesprochen um das „Leben in Fülle“ und das „Heil der Menschen“. Im Vordergrund müsste also die Frage stehen, wie dies künftig gelingt. Wie kann die Umwelt zuerst als „Schöpfung“ wahrgenommen werden – oder anders: Wie kommt Gott ins Spiel? Das Wozu (Why) der Kirche liegt hier. Alle Themen der Verwaltung sollten dieser Perspektive konsequent dienen. Das heißt auch: Die Verwaltung ist nicht selbst die steuernde Größe in Bezug auf die Pastoral. Vielmehr hat die Verwaltung den Auftrag, den Wandel als Dienstleister zu ermöglichen – bei Abbau und Aufbau. Damit ihr das gelingt, braucht es in der kirchlichen Verwaltung weiterhin enorme Schritte der Konsolidierung, der Kooperation und Digitalisierung, um deutlich effizienter, professioneller und attraktiver zu arbeiten. Dafür braucht es übergreifende Standards in den Prozessen und mehr Zusammenarbeit auf mittlerer und überdiözesaner Ebene.
Diese Entwicklung ist bei weitem nicht allein aus der eigenen Logik, den bisherigen Erfahrungen und Kompetenzen, aus der bisherigen Organisation und mit den bisherigen Personen zu gestalten.
3. Professionalisierung mit Hilfe Dritter
Die Pastoral und die Verwaltung haben jeweils große Transformationsaufgaben zu bewältigen. Diese Entwicklung ist bei weitem nicht allein aus der eigenen Logik, den bisherigen Erfahrungen und Kompetenzen, aus der bisherigen Organisation und mit den bisherigen Personen zu gestalten. Es braucht – für Abbau und Aufbau, für Pastoral und Verwaltung – jeweils zusätzliche Expertise und phasenweise auch zusätzliche Man-/Woman-Power. Dies kann teilweise dadurch integriert werden, indem neue und „andere“ Mitarbeiter*innen gewonnen und die Personalentwicklung neu ausgerichtet wird oder indem bspw. bereichsübergreifende, iterative Projektarbeit oder Rotationen etabliert werden.
Es wird aber auch notwendig sein, durch die Zusammenarbeit mit anderen – als Kooperation mit anderen öffentlichen Trägern, durch Beauftragung spezialisierter Beratungsunternehmen etc. – zusätzliche Expertise und Ressourcen zu gewinnen. In allen Feldern gibt es kompetente Dienstleister, die bei guter Steuerung und angemessener Einbindung in den vier Feldern bisheriger/künftiger Pastoral/Verwaltung rasante und radikale Entwicklung unterstützen können. Jetzt von den noch vorhandenen Einnahmen, Mittel für die aufbauende Kirchenentwicklung einzusetzen ist auch eine Antwort auf die ethische Seite des Klimawandels. Es geht um das Sichern und Neu-Finden der kirchlichen Lebensgrundlagen für die jungen und folgenden Generationen.
Entscheidende Phase
Wer den Klimawandel in der Kirche akzeptiert und darauf mit zusätzlicher Freiheit reagiert, kann gleichermaßen Stabilität und Innovation intensivieren und deren Entwicklungen beschleunigen.
Ich glaube immer noch: Kirche kann da gelingen, wo sie Freiheit ermöglicht und aushält. Organisationsentwicklerisch übersetzt bedeutet das, die beschriebenen Trennungen und die externe Unterstützung so zu organisieren, dass alle von den je verschiedenen Strukturen, Prozessen, Teams, Methoden und Kulturen profitieren. Alle Dimensionen haben ihre Berechtigung – alle braucht es jetzt! Abbau bedeutet, geordnet und mit Bedacht kleiner zu werden, Sozialformen und Angebote in der Pastoral sowie Verwaltungsprozesse sicher und stabil fortzuführen und sukzessive anzupassen. Aufbau bedeutet parallel dazu, mutig und entschlossen los- und zuzulassen und ganz neue Dimensionen der Pastoral und Möglichkeiten einer Verwaltung zu erschließen. Wer den Klimawandel in der Kirche akzeptiert und darauf mit zusätzlicher Freiheit reagiert, kann gleichermaßen Stabilität und Innovation intensivieren und deren Entwicklungen beschleunigen. Ob die Zeit für die Kirche noch reicht? Ich weiß es nicht – vermute aber: es wird sehr knapp; erste Kipppunkte sind überschritten. Wenn Kirchenentwicklung noch gelingt, dann jetzt.

Praxis
Transformation der Kirche – einige notwendige Paradigmenwechsel
In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat es – bei aller Ungleichheit und Ungleichzeitigkeit – bereits viele Veränderungs-Impulse gegeben. Dabei wurden insbesondere Mittel wie Reformpapiere3 und besondere Kommunikationsorte4 genutzt, die von Projekt- oder Steuerungsgruppen in Projektstrukturen vorbereitet und koordiniert wurden.
Nach und nach traten und treten neben die Grundstruktur der parochial geordneten Ebene der Kirchengemeinde und ausdifferenzierten mittleren und gesamtkirchlichen Ebene nun Projekte oder Gemeinden auf Zeit, andere Kommunikationsorte des Evangeliums, andere Formen der analogen und digitalen Kommunikation (Erprobungsräume, freshX usw. ).
Die Aufgabe der Leitungsverantwortlichen hat sich in dieser Zeit deutlich verändert. Nachdem lange die Frage knapper Ressourcen bestimmend war und in der Regel zu Optimierungen, Konzentrationen, Fusionen und Verbesserungen in der bestehenden und bewährten Logik geführt haben, geht es heute um die Frage der Transformation, also einer wirklichen Erneuerung5 der Kirche in einer Welt, die an eine Kirche der Zukunft andere und neue Anforderungen stellt.
Heute geht es um die Frage der Transformation, also einer wirklichen Erneuerung der Kirche in einer Welt, die an eine Kirche der Zukunft andere und neue Anforderungen stellt.
Die bisher dominante Sozialform der Ortsgemeinde „erfordert sehr viele Gemeinden mit Gebäuden und Hauptamtlichen, die finanziert werden und auch zur Verfügung gestellt werden müssen“; dies ist eine „der finanziell und personell aufwendigsten Formen christlicher Sozialität, die man sich hätte ausdenken können.“6 Heute sind somit die Grenzen der Optimierung der bisherigen Organisationslogik erreicht und zum Teil bereits überschritten. Es braucht also grundlegend neue Formen. Es braucht eine Transformation dieser prägenden Sozialgestalt, um in vielfältiger Weise die Kommunikation des Evangeliums im Kontakt mit sehr verschiedenen Lebensvollzügen zu ermöglichen.
Diese Transformation geschieht in einer komplexen Umgebung mit anhaltend hoher Unsicherheit der Akteur*innen7. Die Unterscheidung von einfachen, komplizierten, komplexen oder chaotischen Umgebungen8 und die daraus resultierenden Folgen für das Führungshandeln sind in Kirche nur selten bekannt oder bewusst. Dies führt dazu, dass aktuell auf komplexe Herausforderungen noch immer mit Mustern aus einfachen oder komplizierten Umgebungen reagiert wird.
Aktuell wird auf komplexe Herausforderungen noch immer mit Mustern aus einfachen oder komplizierten Umgebungen reagiert.
Eine grundlegende Transformation der Kirche benötigt einige grundlegende Paradigmenwechsel, damit die Strukturen der Kirche zukünftig so beschaffen sind, „dass möglichst viele Menschen in ihnen dem Evangelium begegnen können.“9
In der kirchlichen Führungspraxis hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten vorsichtig die Einsicht breit gemacht, Führung als Funktion einer komplexen sozialen Organisation zu verstehen. Dies versetzt die Verantwortlichen in die Lage, mit Komplexität und großer Unsicherheit angemessen umzugehen und geklärt und abgestimmt zu handeln.
Die folgenden Überlegungen nehmen diese Entwicklung auf. Sie sind aber keine methodische Handreichung für die Durchführung von Transformationsprozessen, sondern eine Art abstrakte Seh-Hilfe für diejenigen, die in der Verantwortung für diesen grundlegenden Umbau der Kirche stehen.
1. Von der Zukunft her denken und handeln
Ein grundlegender Unterschied zwischen Institution und Organisation besteht in der jeweiligen zeitlichen Ausrichtung der Entscheidungen. Eine lebendige und lernende Organisation fragt von der Zukunft her. Sie begründet von den zu erwartenden Herausforderungen her die jeweilige Ausrichtung, ihre Aktivitäten und den Einsatz der Ressourcen. Zugleich wendet sie sich damit gegen die Neigung der Institution, sich primär aus den Aktivitäten, Einsichten und Erfolgen der Vergangenheit zu versorgen. Die Institutionen-Logik unserer kirchlichen Körperschaften wird besonders in der ausführlichen Darstellung der je eigenen Geschichte deutlich. Dies bestimmt nicht selten die Frage nach der eigenen Identität, des eigenen Profils und hat starke Bewahrungskraft für die zukünftige Ausrichtung. Nicht selten geschieht dies unbewusst und unreflektiert. Die Frage jedoch, was wir in der Zukunft sein wollen, damit der Auftrag der Kommunikation des Evangeliums in einer grundlegend veränderten Welt möglichst gut ausgeführt werden kann, wird (noch immer) selten gestellt.
Die Institution neigt dazu, sich primär aus den Aktivitäten, Einsichten und Erfolgen der Vergangenheit zu versorgen.
Die theologische Einsicht, dass die Gestalt, die Ordnung und der Einsatz von Ressourcen in der Kirche dem Auftrag und dem Zeugnis der Kirche folgen, ist unbestritten (Confessio Augustana VII mit einem funktionalen Kirchenbegriff, Barmen III). In der Praxis haben es jedoch neue Einsichten, Projekte und Initiativen deutlich schwerer als bereits etablierte Arbeitsfelder. Das Bewährte ist in der Regel auch personell und wirtschaftlich besser ausgestattet als das „Neue“ und „Zukünftige“ (Pilotprojekte, befristete Finanzierungen usw.). Aber für die lange geübte Praxis der Addition des Neuen zum Alten sind die Ressourcen zu knapp geworden; waren es in den vergangenen Jahrzehnten die finanziellen Möglichkeiten so sind es heute die personellen.
Für die lange geübte Praxis der Addition des Neuen zum Alten sind die Ressourcen zu knapp geworden.
Wenn von der Zukunft her gedacht, gehandelt und entschieden wird, benötigt eine kirchliche Organisation (Kirchengemeinde, Dekanat, Landeskirche, Akademie …) in regelmäßigen Abständen eine vergemeinschaftete Vergewisserung über den eigenen Existenzgrund (Warum gibt es uns?)10 und über ein attraktives Zukunftsbild, das den Mitarbeitenden gerade in komplexen Umgebungen und in Unsicherheit eine grundlegende Orientierung und Motivation ermöglicht. Hierzu dienen Strategieprozesse, Zukunfts-/Visionsprozesse, Leitbildentwicklungen, Kirchenkreis- und Gemeindekonzeptionen11 usw.
Mit Hilfe solcher Instrumente entscheiden die Leitungsorgane einer Organisation auch über die Art und Tiefe der als notwendig angesehenen Veränderung. Und selbstverständlich sind solche Entscheidungen auch Konzentrationen auf Schwerpunkte und deren Ausstattung mit Finanzen und Personal. Zugespitzt: es zählt nicht mehr die bisherige Dauer der Wahrnehmung einer Aufgabe, sondern die zukünftige Relevanz für die Kommunikation des Evangeliums.
Die Unterscheidung von Verbesserung/Optimierung auf der einen und Erneuerung/Transformation auf der anderen Seite12 ist hier wesentlich und hilfreich. In der Kirche wurde lange der Modus von Verbesserung/Optimierung als notwendig und ausreichend angesehen. Mehr oder weniger langsam wurden die Strukturen (z.B. von Kirchengemeinden oder Kirchenkreisen/Dekanaten) an die Bevölkerungsentwicklungen angepasst: Zusammenlegung von Gemeinden, Reduktion von Pfarrstellen, Fusionen von Dekanaten usw. Das grundlegende parochiale Paradigma wurde beibehalten und auf einen größeren Raum „gedehnt“. Diese dauerhaften – und oft nachlaufenden (!) – Strukturanpassungen sind ermüdend, erzeugen Widerstände und binden Kraft und Zeit.
Es zählt nicht mehr die bisherige Dauer der Wahrnehmung einer Aufgabe, sondern die zukünftige Relevanz für die Kommunikation des Evangeliums.
Aus der Zukunft gedacht stellen sich heute neue und andere Fragen: Ist die Sozialgestalt einer Kirche, in der überall alle Angebote für alle Generationen gemacht werden – noch angemessen? Wie erhält die Kommunikation des Evangeliums in unserer Region neue Kraft und spürbaren Ausdruck? Was ist Gottes Weg mit uns? Auf welche Frage in unserem Sozialraum antwortet das Evangelium heute?
Auf diese Weise wird ein Paradigmenwechsel möglich: Personalgemeinden und digitale Angebote ergänzen das Wohnsitzprinzip; die enge rechtliche Verknüpfung von Pfarrstelle und Kirchengemeinde wird gelockert; nicht mehr überall wird das kirchliche Vollprogramm vorgehalten; Profile und Schwerpunkte werden erkennbar; im Sozialraum entstehen neue Netzwerke (insbesondere mit diakonischen Orten und ökumenischen Partner*innen); kirchliche Orte kommen neu in den Blick.13
2. Zyklisch statt linear
Eine weiterer Paradigmenwechsel vollzieht sich im Verständnis von Leitung und Steuerung sowie deren praktischer Ausprägung. Die staatsanaloge Prägung des deutschen Protestantismus hat dazu beigetragen, dass ein Grundverständnis linearer Steuerung zur mentalen Grundlage in nahezu allen Leitungsorganen geworden ist. Daraus folgt, dass – zugespitzt formuliert – nahezu alle Energie auf dem Weg zur Beschlussfassung in den Leitungsorganen gebunden wird. Ist dann ein Beschluss, eine Verordnung oder ein Kirchengesetz zustande gekommen, bedarf es „nur noch“ der Umsetzung. Der cantus firmus in den Reformbemühungen der vergangenen Jahrzehnte lautete deshalb nicht selten: Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern „nur“ ein Umsetzungsproblem. In der Tat sind grundlegende Beschlüsse gefasst worden, deren Umsetzung oder Wirkung nicht regelmäßig überprüft oder in die jeweilige Organisation implantiert worden ist z.B. durch Fortbildungen, Prozesse der Implementierung oder aufsichtliches Handeln.
Grundlegend für eine lebendige und lernende Organisation ist eine regelmäßige Selbstbeobachtung in verabredeten klaren Zyklen.
Grundlegend für eine lebendige und lernende Organisation ist eine regelmäßige Selbstbeobachtung in verabredeten klaren Zyklen. Damit, dass alle zehn Jahre eine Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung14 durchgeführt wird, ist schon längst ein Controlling-Instrument der regelmäßigen Selbstbeobachtung eingeführt, um auf diese Weise über den Zustand der eigenen Organisation besser Bescheid zu wissen.
Im zyklischen Denken und Handeln wird in regelmäßigen Abständen überprüft, ob die Annahmen und Rahmenbedingungen noch stimmen, ob die Zukunftsbilder noch im Blick sind, ob die eigenen Ziele erreicht werden können oder ob die beschlossenen Maßnahmen und Instrumente dazu nützlich sind, den gewollten Weg erfolgreich zu beschreiten15.
Während ein jährlicher Blick auf die Jahresabschlüsse etabliert ist, werden zunehmend auch weitere Kennzahlen und Indikatoren beschrieben, die dabei helfen, dass jedes Jahr oder alle zwei, drei oder fünf Jahre eine Soll-Ist-Differenz zwischen dem Zukunftsbild, dem Leitbild, der Konzeption mit Zielen und der jeweils wahrgenommenen Wirklichkeit erhoben wird. Damit sind die Grundlagen des Controllings beschrieben und etabliert, die eine lebendige und lernende Organisation benötigt.
Zunehmend werden auch weitere Kennzahlen und Indikatoren beschrieben, die dabei helfen, dass eine Soll-Ist-Differenz zwischen dem Zukunftsbild, dem Leitbild, der Konzeption mit Zielen und der jeweils wahrgenommenen Wirklichkeit erhoben wird.
Es ist unumstritten, dass die finanziellen und personellen Ressourcen der Kirche zurückgehen werden16. Der unveränderliche und überzeitliche Auftrag der Kirche wird also in Zukunft in anderen Formen und auf anderen Wegen in die Welt getragen werden als dies heute der Fall ist. Dies erfordert mutige Entscheidungen über Schwerpunktsetzungen und neue Formen der Kommunikation des Evangeliums. Solche Entscheidungen werden sich nicht an der Vergangenheit, sondern an der Zukunft ausrichten und durch die Leitungsorgane – insbesondere in Klausurtagungen – einer regelmäßigen Selbstbeobachtung unterzogen.
3. Partizipation ergänzt Zuständigkeit – Ambidextrie
Dies geschieht in Zukunft nicht mehr allein durch Entscheidungen von Leitungsgremien und –organen bzw. Zuständigkeitslogiken, sondern in und mit Prozessen, in die in unterschiedlicher Intensität Mitarbeitende, Betroffene oder Interessierte eingebunden werden. Solche Prozesse brauchen einen klaren Auftrag, ein zeitliches Ziel, geklärte Rollen, angemessene Partizipation und prozessorientierte Transparenz. Da jede Veränderung und erst recht eine grundlegende Transformation Verunsicherung und Ängste hervorruft, bedarf es der Partizipation derer, die von den Veränderungen und ihren Folgen betroffen sind. Hierin spiegeln sich ein Menschenbild und Verständnis von Gemeinschaft, das darauf vertraut, dass Gemeindemitglieder, Mitarbeiter*innen und andere Betroffene viele Gaben einbringen und ihre Kompetenzen zur Verfügung stellen, um einen guten Weg in die Zukunft zu finden. Der Heilige Geist fühlt sich im Plural durchaus wohl.
Die Gestaltung und Verantwortung von Organisationen durch Beteiligungsprozesse braucht Zeit und ein gutes methodisches Handwerkszeug wie Großgruppenmethoden, World Cafe, Art of hosting17, Circle18 usw., in denen deutlich ist, dass der Gastgeber/die Gastgeberin insbesondere für den Diskursraum in den Prozessen verantwortlich ist, auf die Kreativität und auf die Kompetenz der Teilnehmenden vertraut.
Partizipative Praktiken, agile Praktiken und gut strukturierte Prozesse ergänzen in der Praxis von kirchlichen Organisationen die traditionellen Abläufe, Zuständigkeiten, Hierarchien und Arbeitsweisen; sie ersetzen sie nicht.
„Partizipative Verfahren sind nicht nur aufwendig. Sie bedeuten auch einen grundlegenden Kulturwandel… Partizipationsprozesse erzielen passgenauere, effizientere Lösungen. Der Widerstand gegen die Umsetzung wird vermindert. Die Bereitschaft wächst, konstruktiv mit Umsetzungsschwierigkeiten umzugehen. … Menschen, die beteiligt wurden, sagen: Das ist unser Gemeindehaus, unsere neue Struktur, unser Leitbild.“19
Partizipative Praktiken, agile Praktiken und gut strukturierte Prozesse ergänzen in der Praxis von kirchlichen Organisationen die traditionellen Abläufe, Zuständigkeiten, Hierarchien und Arbeitsweisen; sie ersetzen sie nicht. Gerade Phasen von Transformation benötigen eine gute Stabilität im Kern einer Organisation. Die Herausforderung besteht darin, beides für die jeweiligen Aufgaben und Anforderungen zu beherrschen und die Kunst der Ambidextrie/Beidhändigkeit zu erlernen. „Eine zukunftsfähige Kirche braucht sowohl die Pflege der Tradition als auch die Entwicklung neuer Konzepte. Um beides zu können, ist es nötig, widersprüchliche Logiken und Haltungen gleichzeitig zu bedienen.“20 So können wir in zwei Betriebssystemen21 gleichzeitig handeln und die Transformation in unruhiger Zeit gestalten.
4. Rolle(n) statt Position oder Amt
Eine weitere grundlegende Veränderung auf dem Weg zu einer Organisation, die sich in komplexen Herausforderungen weiter entwickeln kann, betrifft die leitenden Personen und Führungskräfte, die in diesen unübersichtlichen Herausforderungen handeln und handeln müssen. Ebenso wie in vielen Organisationen außerhalb von Kirche vollzieht sich ein Paradigmenwechsel im Führungsverständnis. Führungskräfte von der Pfarrerin bis zum Bischof, der Einrichtungsleitung bis zum Vorstand diakonischer Unternehmen, die einem zurückliegenden „heroischen“ Führungsverständnis nahestanden, machten das Gelingen organisationaler Prozesse einzig und allein von ihrem individuellen Handeln, ihrer Persönlichkeit und ihren besonderen Fähigkeiten abhängig22. Inzwischen ist zum einen die hierin angelegte individuelle Überforderung für die Akteurinnen und Akteure in Leitungsaufgaben deutlich geworden, aber ebenso ist eine veränderte theologisch-geistliche Grundhaltung gewachsen, die eine Leitungsaufgabe als eine kommunikative, dienende und gemeinschaftliche Aufgabe wahrnimmt und gestalten will. Wir erleben einen Paradigmenwechsel von der „Position“ oder vom „Amt“ hin zu einer angemessenen Wahrnehmung von unterschiedlichen, geklärten und bewusst wahrgenommenen Rollen in komplexen Bezügen23.
Wir erleben einen Paradigmenwechsel von der „Position“ oder vom „Amt“ hin zu einer angemessenen Wahrnehmung von unterschiedlichen, geklärten und bewusst wahrgenommenen Rollen in komplexen Bezügen.
Soziale Systeme und lebendige Organisationen sind wesentlich durch Interaktion und Kommunikation gestaltet. Eine Kernaufgabe von Führungskräften in Kirche liegt aktuell darin, Kommunikationsprozesse so zu strukturieren, dass die breit verteilte Expertise (Gaben und Kompetenzen) der Organisation hinreichend mobilisiert und gleichzeitig ein erarbeitetes Entscheidungsergebnis durch den Prozess gute Akzeptanz erfährt.24
Es ist deutlich, dass für die disponierende Seite25 des kirchlichen Leitungshandelns viel stärker als in der Vergangenheit moderierende, fokussierende und coachende Fähigkeiten gefragt sind. In besonderer Weise ist dies bereits auf der mittleren kirchlichen Leitungsebene (Dekanin, Superintendent, Pröpstin) sichtbar. Die vielfältigen und komplexen Anforderungen an die Führungskräfte auf dieser Ebene sind dadurch gesteigert, dass in der „Mitte“ die aktuellen und zukünftigen strukturellen Veränderungen angeregt, eingeleitet, umgesetzt und begleitet werden müssen. Sowohl aus aktuellen Untersuchungen26 als auch durch einen Blick in die Kirchenverfassungen ist abzulesen, dass sich die Grundaufgaben dieser ephoralen Ämter deutlich ergänzt haben: um Aufgaben der Personalführung und Personalentwicklung, Gestaltung von Veränderungen, Begleitung und Deutung von Prozessen, Kommunikation und Moderation in Konflikten usw.
Das neue Profil („die Organisation in die Zukunft führen und das Personal gut begleiten“) hat das Leitungsamt der mittleren kirchlichen Ebene in seinem Selbstverständnis deutlich erweitert und die Anforderungen an die Personen, die diese Aufgaben wahrnehmen, ebenso. In nahezu allen Landeskirchen finden sich aktuell ähnliche Leitvorstellungen wie Einbeziehung der Beteiligten, Gestaltung gelingender Prozesse, empathische Kommunikation, Förderung der ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitenden, kompetente Bearbeitung von Konflikten, theologische Orientierung in Veränderungsprozessen.27 Eine kommunikative, Prozesse gestaltende und coachende Rolle verändert so das „alte“ Amt.
5. Gemeinsam statt einsam: Führung ist Mannschaftssport
Aus diesen Einsichten – insbesondere aus der Einsicht, dass die Aufgabe der Zukunftsgestaltung eine Kommunikationsaufgabe möglichst vieler Akteurinnen und Akteure ist – folgt unmittelbar die Einsicht, dass Führungsaufgaben von mehreren Personen wahrgenommen werden sollen und können.
“Führung in der Kirche ist keine Einzeldisziplin, sondern ein Mannschaftssport.”
Hierzu führen auch die zunehmende Komplexität sowie die steigenden Anforderungen an Führungskräfte in ökonomischer, rechtlicher, fachlicher und kommunikativer Hinsicht. Die Vielfalt der Anforderungen und Rationalitäten, die das Handeln in Unsicherheit und Komplexität erfordert, führt zum Gedanken der Arbeits- und Aufgabenteilung in Führungskoalitionen. Führung in der Kirche ist keine Einzeldisziplin, sondern ein Mannschaftssport. Diese Einsicht hat in der evangelischen Kirche eine lange Geschichte. Und trotzdem ist es relativ neu, im (multiprofessionellen) Team abgestimmt zu arbeiten, zu leiten, einander zu entlasten, gaben- und kompetenzorientiert zu agieren und gemeinsam die aktuelle Transformation zu verantworten.
6. Bleibende Konzentration auf den Auftrag: Warum gibt es uns?
In der aktuellen Transformation geht es nicht um das Bewahren oder Verändern von Aufgaben oder Grenzen, es geht auch nicht in erster Linie um Befugnisse kirchlicher Ebenen oder um die Frage nach dem Verhältnis und dem Einfluss von Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen.
In dieser grundlegenden Transformation geht es im Kern um den Kern des Auftrags der Kirche! Wie kann dieser Auftrag in einer sich verändernden Welt so wahrgenommen werden, dass die befreiende und tröstende Kraft des Glaubens die Menschen erreichen kann.
Die Kirche ist in keinem Fall und nirgendwo Selbstzweck und nur für sich selbst da.
Es geht um die Mitte, um den Grund, um das Warum. Die Kirche ist in keinem Fall und nirgendwo Selbstzweck und nur für sich selbst da. Sie ist immer bestimmt durch ihren Auftrag: Gottes Wort von der Liebe und von der Befreiung kommt zu den Menschen in Wort und Tat, damit Menschen gut leben und getröstet sterben können.
Es ist die zentrale Führungsaufgabe in der Kirche in all ihren Gliederungen und auf allen Ebenen, dafür zu sorgen, dass dies durch die angemessene Sozialgestalt der Organisation mit den vorhandenen Ressourcen durch die handelnden Personen auch geschehen kann.
Der Auftrag bleibt – die Gestalt wandelt sich. Diese Mitte, dieser unveränderliche Auftrag der Kirche entspringt dem Glauben an den Auferstandenen, der seine Wirklichkeit in dieser Welt lebendig macht. An erster Stelle ist es das Wirken Gottes durch den Heiligen Geist, der Menschen verändert und zum Glauben ruft und so die Kirche hervorbringt. Sie kann nicht von Menschen durch noch so viel Kraft, Mühe und Organisation „gemacht“ werden. Das ist grundlegend für das evangelische Kirchenverständnis. Darüber, dass dieses Bemühen Glauben findet, verfügt die Kirche nicht selbst.
Aber ebenso und zugleich gehört es zur Führungsverantwortung in der Kirche, dass die Botschaft des Glaubens glaubwürdig geschieht und dass die Botschaft des Glaubens in einer Form geschieht, die der Botschaft entspricht und nach Möglichkeit auch „alles Volk“28 äußerlich erreicht.
„Zu den wichtigsten und schwierigsten Differenzierungen der Theologie gehört eben die Unterscheidung von dem, was Sache Gottes ist (opus dei), und dem, was Sache des Menschen ist (opus hominum). Entscheidend ist dabei, dass beides nicht ‚komplementär‘, also auf einer Ebene gedacht wird, sodass Gottes Wirken das menschliche Wirken begrenzt. Vielmehr ist das Verhältnis ‚kategorial‘ zu verstehen: Gottes Wirken macht menschliches Wirken erst möglich – und gewinnt zugleich in ihm Gestalt.“29
Kirche ist eben auch lebendige Organisation, damit Gottes Geist die Menschen berührt.
Die Kirche ist Gabe, bevor sie Aufgabe wird. Aber sie ist eben zugleich Aufgabe des menschlichen Handelns, das nach Gott und seinen Weisungen fragt: im Hören auf sein Wort, im Austausch der Gemeinschaft, im Hören auf die Menschen, im Vertrauen auf Gottes Gegenwart in dieser Welt.
So ist die Kirche eben auch lebendige Organisation, damit Gottes Geist die Menschen berührt. So bleiben Handeln aus einer Zukunftsperspektive, Partizipation und zielorientiertes Management zur Gestaltung der evangelischen Kirche notwendig. Aber dies ist grundsätzlich „nur eine Angelegenheit von begrenzter Reichweite“30, weil alles menschliche Tun in Gottes Wirken eingebunden ist und dadurch ermöglicht wird. Der Halt des Gottvertrauens prägt die Haltung und das Verhalten.
Wandelnde Pfade, Schatten und Licht. Alles ist Gnade. Fürchte Dich nicht.
(baltischer Hausspruch)

Praxis
Die unentschiedene Kirche
Die römisch-katholische Kirche will keine Organisation sein. Das heißt zunächst: Sie will nicht nur Organisation sein. Ihrem Selbstverständnis nach ist die Kirche natürlich viel mehr als ein Finanzamt, ein Handyhersteller, eine Partei oder ein Fußballverein. Von diesen unterscheidet sie sich nicht nur durch den erhabeneren Zweck, immerhin geht es um nicht weniger als um die Mitwirkung am Erlösungswerk. Denn sie ist kein reiner Zweckverband, sie ist sakramental bestimmte Gemeinschaft der Heiligen, mystischer Körper Christi.
Natürlich bestreitet niemand, dass auch die Kirche ganz profan verwalten oder, wie man heute wohl eher sagen würde, managen muss. Sie stellt Personal ein, bezahlt es, entlässt es, investiert, erteilt Bauaufträge. Sie ernennt Beauftragte, erstellt Richtlinien, führt – mal mehr mal, mal weniger geordnet – Akten. All das mag, wenn es denn eklatant schiefläuft, zu Skandalen führen, aber es bleibt doch nachrangig gegenüber dem hehren Anspruch der Ekklesiologie. Wer die Kirche als Organisation anspricht, so scheint es, verkennt das Eigentliche, das Wesentliche.
Wer die Kirche als Organisation anspricht, so scheint es, verkennt das Eigentliche, das Wesentliche.
Aus einer soziologischen Perspektive, wie ich sie hier einnehme, ist eine solche Selbstbeschreibung aufschlussreich. Man denkt unwillkürlich daran, wie Universitäten – zweifellos deutlich profanere Einrichtungen als Kirchen – noch vor wenigen Jahrzehnten in heute kaum noch nachvollziehbarer Weise metaphysisch aufgeladen wurden.1 Inzwischen sind aus ihnen ziemlich normale Organisationen geworden. Ist Ähnliches auch für die römisch-katholische Kirche denkbar?
Doch es geht mir hier nicht darum, eine auf- und abgeklärte wissenschaftlichen Deutung als Organisation einer vermeintlich defizitären Selbstbeschreibung gegenüber als überlegen darzustellen. Tatsächlich stellt sich auch aus wissenschaftlicher Sicht, die Deutung der Kirche als (eine?) Organisation als durchaus knifflig dar.2 Schon gar nicht will ich suggerieren, dass Kirchen letztlich genauso ticken wie Unternehmen und Verwaltungen, genauso zu gestalten und zu managen wären. Vielmehr geht es darum, nach Funktionen und Folgen der Selbstbeschreibung nachzudenken und sichtbar zu machen, was mit der Abwehr der Organisationsidee ausgeschlossen wird oder jedenfalls aus dem Blick gerät. Und ich vermute gerade hier wesentliche Konfliktlagen der katholischen Kirche, wie sie gerade in den aktuellen Debatten um den Synodalen Weg in Deutschland immer wieder zum Vorschein treten.
Vielmehr geht es darum, nach Funktionen und Folgen der Selbstbeschreibung nachzudenken und sichtbar zu machen, was mit der Abwehr der Organisationsidee ausgeschlossen wird oder jedenfalls aus dem Blick gerät. Und ich vermute gerade hier wesentliche Konfliktlagen der katholischen Kirche.
Den für mich zentralen Punkt kann ein kurzes und, wie ich denke, typisches Zitat aus einem Interview beleuchten, in dem der Augsburger Bischof Bertram Meier unlängst sein Bild von der Struktur der Kirche andeutete. Ist diese, so fragt der Oberhirte rhetorisch, nicht „doch geordnete communio hierarchica? Also mit einer Hierarchie, mit einer Ordnung auch der Autoritäten, der Leitung, die nicht wir uns als Organisationskonzept ausgedacht haben, sondern die Jesus uns geschenkt hat.“3
Was hier vorsichtig formuliert ist, legt doch klar offen, was Meier – und mit ihm ein viele andere katholische Gläubige – ein Organisationsverständnis der Kirche zurückweisen lässt. Die Idee von Hierarchie und Autorität sollte es eigentlich nicht sein. Viele Organisationen sind überaus hierarchisch, für manche soziologische Autoren ist Hierarchie sogar ein konstitutives Merkmal der Organisation.4 Eher scheint es, dass Autorität und Hierarchie im Organisationskontext plötzlich als profane Macht erscheinen. Und für viele exponierte Vertreter der katholischen Kirche scheint es bemerkenswerter Weise wenig Schlimmeres zu geben, als Hierarchie mit Macht in Verbindung zu bringen und so „das Geheimnis der Kirche auf eine bloße Machtinstitution zu reduzieren“.5
Und für viele exponierte Vertreter der katholischen Kirche scheint es bemerkenswerter Weise wenig Schlimmeres zu geben, als Hierarchie mit Macht in Verbindung zu bringen und so „das Geheimnis der Kirche auf eine bloße Machtinstitution zu reduzieren“.
Doch es geht noch um etwas anderes. Die Organisation, das ist das Ausgedachte und damit auch das mit Fehlbarkeit behaftete Menschenwerk. Organisationskonzepte, das lehrt die Erfahrung, klingen verheißungsvoll und scheitern grandios. Man kann sich vorstellen, dass hier unliebsame Erfahrungen mit der einen oder anderen betriebswirtschaftlich inspirierten Managementidee mitschwingen. Mit solchen Organisationen nun kontrastiert der Bischof die Ordnung der Kirche. Sie ist für Meier nicht ausgedacht, sie ist durch Jesus geschenkt. Und damit gerade nicht Organisation. Denn zumindest aus soziologischer Sicht sind Organisationen entschiedene Ordnungen. Sie sind also Ordnungen, die auf menschliche (!) Entscheidungen zurückgehen, die, und erst das macht Entscheidungen zu Entscheidungen, kontingent waren, also auch anders hätten ausfallen können. Wir haben uns etwas ausgedacht, aber wir hätten uns auch etwas anderes ausdenken können. Die Kirche ist dagegen die unentschiedene Kirche, weil sie die durch Christus gestiftete Kirche ist. Als solche ist sie den Entscheidungen irrender Menschen entzogen.
Wohl gemerkt: Hier geht sich nicht nur die Frage, wer etwas entscheiden kann, wie sie in der aktuellen Debatte um den Synodalen Weg in Deutschland immer wieder gestellt wird. Was kann die Synodalversammlung entscheiden? Was bleibt in der Kompetenz der einzelnen Bischöfe? Was kann durch die Kirche in Deutschland entscheiden werden, was nur durch die Weltkirche? Was bleibt der individuellen Letztentscheidung durch den Papst vorbehalten? Nein, hier geht es um die Entscheidbarkeit als solche. Die Kirche mag alle möglichen Entscheidungen treffen können und tatsächlich auch treffen, aber sie kann nicht über ihre fundamentale „Ordnung“ befinden. Diese ist, ebenso wie die als offenbarte Wahrheit verstandene katholische Heilslehre, der Entscheidbarkeit entzogen. Genauer: Gerade weil die Kirche selbst als Heilsanstalt gedeutet wird, wird die Frage nach der „Ordnung“ selbst zur Heilsfrage. Eine solche Aufladung dient funktional gesprochen der Legitimation bestehender kirchlicher Strukturen, und das heißt auch der klerikalen Macht, mindestens ebenso jedoch der Immunisierung – und das unabhängig davon, ob sie vom Bischof in strategischer Absicht vorgetragen oder einfach nur geglaubt wird.
.Aus soziologischer Sicht sind Organisationen entschiedene Ordnungen. Sie sind also Ordnungen, die auf menschliche (!) Entscheidungen zurückgehen, … Die Kirche ist dagegen die unentschiedene Kirche, weil sie die durch Christus gestiftete Kirche ist. Als solche ist sie den Entscheidungen irrender Menschen entzogen.
Freilich ist offen, inwieweit die kirchlichen Selbstdeutungen die Gläubigen jetzt und in Zukunft zu überzeugen vermögen. Noch spannender ist aber vielleicht, wo genau die Grenzen zwischen dem Entscheidbaren und dem Unentscheidbaren gezogen werden. Was genau gehört zur gestifteten Ordnung, was ist Menschenwerk? Wenn der Kirchenhistoriker Hubert Wolf die Vielfalt auch dezentraler und kollegialer Strukturen herausarbeitet, in denen die katholische Kirche in der der Weltkirche wie in den Diözesen in der Vergangenheit Entscheidungen getroffen hat,6 so zeigt er damit faktische Spielräume auf. Und er tritt in die Debatte über die Frage ein: Worüber können wir eigentlich entscheiden?
Absehbar bleibt die Kontroverse um die Reform der römisch-katholischen Kirche, in der es natürlich keineswegs nur, aber eben auch um Organisationsgestaltung geht, in dieser Lage gefangen. Wer die bestehenden Organisationsstrukturen verteidigen möchte, wird immer argumentieren können, dass Reformerinnen die Ekklesiologie oder die Lehre vom sakramentalen Priestertum nicht richtig verstanden haben. Reformdebatten können so in theologische Scharmützel transformiert werden. So lässt es sich verharren. Doch wer weiß, wie lange sie diese Strategie noch trägt.
Absehbar bleibt die Kontroverse um die Reform der römisch-katholischen Kirche, in der es natürlich keineswegs nur, aber eben auch um Organisationsgestaltung geht, in dieser Lage gefangen.

Praxis
Warum es so sein „muss“
Theologische Anmerkungen zu ekklesiologischen Auflösungsszenarien
Dass wir am Ende einer Epoche kirchlichen Lebens und eines damit zusammenhängenden kirchlichen Gefüges stehen, dazu braucht es nur die Einsicht in Entwicklungsprozesse, die seit 60 Jahren religionssoziologisch gut dokumentiert sind. Um so erstaunlicher ist es, dass seit genau derselben Zeit ein Reformprojekt das nächste ablöst: Es gab und gibt immer noch die Hoffnung, ein Bild-, Lebens- und Gestaltgefüge zu erhalten, das – mindestens in den Herzen der damit engagierten Menschen – erfolgreich gewesen ist. Wer hofft, dass mit einer besseren Kirchenstruktur, mehr Partizipation, reformierten Moralvorstellungen, mit mehr Spiritualität und Liturgie eine Kirche in die Zukunft geführt werden kann, die authentisch und glaubwürdig das Evangelium bezeugt und Menschen sammelt, verbleibt nach V. Dessoy in einer linearen „Kybernetik erster Ordnung“.
Diese Hoffnung ist verständlich, aber eine eher verzweifelte Utopie. Denn sie will doch ein Gestaltgefüge und einer Bilderwelt bewahren, die eben nicht von heute ist. Allen progressiven Fanfarenstößen zum Trotz ist sie viel verwandter mit ihren konservativen Gegnern, die auch in Untergangs- und Rettungsfanfaren stoßen. Es geht immer darum, „die Kirche“ zu bewahren und zu entwickeln. Aber auch hier findet eine folgenschwere Verwechslung statt: auch hier wird das Bild einer Kirchengestalt so eng verknüpft und verwechselt mit dem Glutkern der christlichen Botschaft.
Vielleicht ist das unvermeidbar, weil eben diese Botschaft sich immer wieder neu inkarniert, inkulturiert und Gestalt geben muss – aber das würde ja auch heißen, dass immer neue Auflösungsprozesse dann geschehen, wenn Gesellschaften sich verändern und verwandeln. Und genau so war es in der Kirchengeschichte – und genauso ist es heute.
Lässt sich, jenseits der verzweifelt-aggressiven Schuldzuweisungen, der Fehler und Skandale, und der offensichtlichen Dysfunktionalitäten vieler kirchlicher Situationen auch theologisch hier ein Deutungszugang finden?
Wie dramatisch dies gefühlt wird, zeigen die Ratlosigkeit, die Rastlosigkeit und die polarisierte Emotionalität, die apokalyptische Semantik, der Zorn und die Wut, die sich auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens zeigen. Diese tief gefühlte und gelebte Unruhe zeigt an, dass es wirklich wahr ist: eine Kirchenwirklichkeit zerbröselt und löst sich auf.
Lässt sich, jenseits der verzweifelt-aggressiven Schuldzuweisungen, der Fehler und Skandale, und der offensichtlichen Dysfunktionalitäten vieler kirchlicher Situationen auch theologisch hier ein Deutungszugang finden?
Eschatologische Notwendigkeit
Wer sich am II. Vatikanischen Konzil erfreut, der ist froh über die theologische Neuausrichtung des Kirchenverständnisses. Die starke strukturelle Fixierung einer hierarchischen Machtasymmetrie, die Idee und das Bild einer „societas perfecta“ und der ideologischen Fixierung einer Gemeinschaft der Ungleichen wird im Rückgriff auf die Schrift und die Theologie der Kirchenväter überwunden. Kirche ist das wandernde Volk Gottes – diese Theologie des Volkes Gottes inspiriert die Kirchenaufbrüche der Nachkonzilszeit. Die sich in der Folgezeit zeigenden Konflikte machen mehr als deutlich, wie die Rede von der Gleichwürdigkeit aller Christen, die Neujustierung des gemeinsamen Priestertums aller Getauften und die Rekalibrierung der Amtstheologie tatsächlich ein anderes Paradigma ekklesiologischen Nachdenkens im Blick haben.
Gleichzeitig hat die Rede vom wandernden Gottesvolkes für die Kirche eine provozierende Herausforderung. Kirche ist auf dem Weg und übersteigt sich ständig selbst. Weil es Gott ist, der sein Volk durch die Zeit führt, „bleibt“ die Kirche nur sie selbst, wenn sie sich in jeder Zeit neu sammeln lässt, neu formiert und neuen Gestaltwerdungen Raum gibt. Damit dreht sich die Perspektive um: es geht eben nicht darum, eine bestimmte Gestalt der Kirche durch die Geschichte zu tragen und zu bewahren, sondern sich immer wieder neu vom Geist Gottes durch die Geschichte tragen zu lassen – und zu entdecken, welche Gestalt der Kirche in welcher Zeit angemessen ist.
Die Rede vom wandernden Gottesvolkes hat für die Kirche eine provozierende Herausforderung. Kirche ist auf dem Weg und übersteigt sich ständig selbst.
Jede Kirchengestalt ist also grundsätzlich und notwendig immer wieder in einem Auflösungsprozess, weil sie grundsätzlich und notwendig in einem ständigen Werdeprozess ist. Und dieser Werdeprozess, der in sich immer neue Momente der Auflösung zugunsten des Werdens einer neuen Gestalt ist, hat einen radikalen eschatologischen Fluchtpunkt: die Kirche ist eben nicht der Zielpunkt des Weges Gottes mit dieser Welt, sondern sie ist ein Mittel, „Zeichen und Werkzeug“, dass sich am Ende der Zeiten auflöst. Das biblische Bild des himmlischen Jerusalems (Offb 21) macht drastisch deutlich, dass der Weg des Volkes Gottes durch die Geschichte, die verschiedenen Kirchengestalten nur dem einen Ziel der letztlichen Auflösung der Kirche im Reich Gottes dienen. Damit wird klar, dass jede Kirchengestalt immer wieder in der Logik der Auflösung und des Geborenwerdens steht – und dass diese Prozesse eben nicht zu steuern oder zu vermeiden sind, sondern der inhärenten Notwendigkeit und Dynamik des Evangeliums und des wirkenden Geistes entsprechen.
Das Muss des Sterbens
Zweifellos aber ist diese Logik des Werdens auch immer eine Logik des Sterbens. Es ist geradezu die unverwechselbare Identität des christlichen Glaubens, der sich in die Geschichte einschreibt, dass er die österliche Perspektive mitbringt: Tod und Auferstehung Christi geben auch den Rhythmus seiner Kirche vor – und das ist ja die eigentliche frohe Botschaft: jeder Tod spricht vom Leben, das neu wird und kommen wird, weil das wirkliche Leben, das Leben in Fülle, wächst aus dem Geheimnis des Sterbens. Was ein für alle Mal in Kreuz und Auferstehung geschehen ist, wird zum Lebensrhythmus des Christseins, wird zu Logik kirchlicher Existenz.
Damit aber wird das Ende einer Kirchengestalt zum Warten auf das Werden einer Kirche, die noch nicht bekannt ist. Das macht es herausfordernd: denn alle Rede einer Kirchenentwicklung muss ja noch einmal neu gelesen werden, wenn Entwicklung nicht einfach strategische Maßnahmen meint, sondern sich viel radikaler einschreibt in die Geschichte von Tod und Auferstehung Jesu – und Entwicklungsprozesse dem Handeln Gottes an seinem Volk nachspüren wollen.Damit wird klar, dass jede Kirchengestalt immer wieder in der Logik der Auflösung und des Geborenwerdens steht – und dass diese Prozesse eben nicht zu steuern oder zu vermeiden sind, sondern der inhärenten Notwendigkeit und Dynamik des Evangeliums und des wirkenden Geistes entsprechen.
Das heilsgeschichtliche „Muss“ des Leidens und Sterbens gehört also zur DNA der Kirche, vor allem ihrer Gestalt. Deswegen ist es auch riskant, aus der vergehenden (und sich auflösenden) kirchlichen Gegenwart Zukunftsprojektionen zu wagen – denn viel zu treffsicher würden sie nur Vergangenheit mit eigenen Wunschprojektionen verknüpfen.
Umgekehrt: gerade auch die Auflösung und das Ende einer Kirchenformation ist wirklich mit einer konstitutiven Ohnmacht verknüpft, mit Schmerzerfahrungen des Verlustes, mit Angst und Verlassenheit. Es ist unschwer zu erkennen, dass die derzeitigen Transformationsprozesse als Sterbeprozess gelesen werden können: die Nichtannahme der Wirklichkeit, die zu einem langem Weiter-so führten, die Ideen zu Verbesserung und Veränderung der Trends verzögern zwar das Sterben, verhindern es aber nicht. Die Erfahrung und das Gefühl der Gottverlassenheit und die Erfahrung der Ohnmacht gegenüber diesen Prozessen führen zu einer verzweifelt-depressiven Grundgestimmtheit. Sie ähnelt denen der Jüngerinnen und Jünger unter dem Kreuz.
Demütige Selbstrelativierung
Zweifellos wirkt auf mich die derzeitige Diskussion um die weitere Entwicklung der Kirche sehr selbstreferenziell und redundant. Kein Ausweg, nirgends, aus den schon bekannten Pfaden und Abhängigkeiten. Kein Ausweg erkennbar aus dem Wunsch, sich selbst zu erhalten. In diesem Kontext ist mir die theologische Reflexion Dietrich Bonhoeffers weiterhin zentral. Hier bündeln sich die beiden benannten Akzente von Eschatologie und Kreuzestheologie in ekklesiologischer Zuspitzung mit einer provozierenden Ergänzung. Dietrich Bonhoeffer vermag das Ende einer gewohnten Kirchen- und Glaubensgestalt zu verknüpfen mit einer ekklesiologisch zugespitzten Theologie der reinigenden Läuterung. Er verweist – in seinem bekannten Taufbrief an sein Taufkind – darauf, dass die Kirche (und er meint seine protestantische Kirche) sich um sich selbst und ihren Selbsterhalt gekümmert hat – und genau dies führt zur Unfähigkeit, die frohe Botschaft und den Kern des Glaubens relevant und existenziell für sich selbst und die Zeitgenossen zu sagen: Und deswegen formuliert er: „… unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neugeboren werden aus diesem Beten und diesem Tun. Bis du groß wird – so schreibt er an seine Taufpatenkind – wird sich die Gestalt der Kirche sehr verändert haben. Die Umschmelzung ist noch nicht zu Ende, und jeder Versuch, ihr vorzeitig zu neuer organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen, wird nur eine Verzögerung ihrer Umkehr und Läuterung sein“.1
Wir sind nicht die Kirchenentwickler, sondern wir sind hineingenommen in einem Prozess der Neugeburt, der nicht nur die Gestalt der Kirche verändert, sondern vor allem und in allem die Christen.
Hier wird die innere Dimension des Zerbrechens und Neuanfangens benannt und zugleich eine demütige Selbstrelativierung ins Wort gehoben: wir sind nicht die Kirchenentwickler, sondern wir sind hineingenommen in einem Prozess der Neugeburt, der nicht nur die Gestalt der Kirche verändert, sondern vor allem und in allem die Christen. Beten und Tun des Gerechten sind die Grundmerkmale christlicher Existenz und adventliches Warten auf das Neuwerden. Bonhoeffer warnt hier, Kirche neu zu organisieren, bevor sie nicht radikal in neuer Gestalt geboren wird.
Die Anerkenntnis der Selbstzentrierung auf die Kirche und ihren Erhalt ist dabei der erste Schritt, um in eine noch unerkannte Zukunft zu gehen, die hier nicht vorhersehbar ist. Ein Prozess der Umkehr und Läuterung führt in eine neue Demut.
Auszuhaltende Uneindeutigkeit – Vom Übermut des Totsagens
Wenn immer wieder von der „letzten Chance“ der Kirche die Rede ist, wenn immer wieder unterstrichen wird, dass wir kurz vor dem Ende der Kirche stehen, dann ist theologische Achtsamkeit gefragt. Wer genauer hinschaut, der erkennt nämlich recht schnell, dass die Prozesse der Auflösung und Verwandlung nicht organisierbar sind, sondern geschehen. Mir wird das immer wieder deutlich an den prophetischen Versuchen, bestimmte Formationen in der Kirche totzusagen: weder sind bislang Gemeinden gestorben, noch sind Ordensgemeinschaften von der Bildfläche verschwunden. So wahr es ist, dass es eine konstitutive Überalterung vieler kirchlicher Formate und Gottesdienste gibt, so überraschend ist doch, dass immer noch viele Formen existieren, viele Menschen sich leidenschaftlich engagieren und Formen und Formate tragen, die totgesagt wurden.
Offensichtlich ist die Theo-Logik der Auflösung nicht einfach die Logik eines konsekutiven Prozesses zwischen Sterben und Auferstehen, sondern sie ist gekennzeichnet von einer unübersichtlichen Uneindeutigkeit und Vielfalt. Nein, der Tod lässt sich nicht vorhersagen, das Sterben ist oft ein langer Prozess, die Versuche des Erhaltens sind mit viel Leidenschaft durchtränkt – und es wird nicht schnell und einsichtig deutlich, dass das Alte gegen das Neue ausgespielt wird.
Gerade immer dann, wenn – meist durch äußere Einflüsse – Sterben und Auflösung gesellschaftlicher und kirchlicher Sicherheiten radikale Zusammenbrüche hervorriefen, entstanden neue ungewohnte kirchliche Wirklichkeiten, die der jeweiligen Zeit entsprachen und zugleich die Kraft des Evangeliums in neuartiger Weise bezeugten.
Die Rede von einer „blende ecology of church“, einem „kirchlichen Mischwald“ und also einer zu hütenden Vielfalt von kirchlichen Werde- und Vergehensprozessen ist daher wichtig: Kriterium des Sterbens, sich Auflösens und Werdens ist immer die Kraft des Evangeliums, die göttliche und inspirierende Geistkraft – und die lässt sich natürlich in Menschen und ihren Initiativen erkennen.
Charismatischer Gegenwartsüberschuss – Von der Ohnmacht der Kirche und der Macht des Evangeliums
Genau an dieser Stelle wird deutlich, dass wir – selbst einbezogen mit unseren Bildern, Hoffnungen, Erwartungen, Theologien und Projektionen in diese schmerzhaften Auflösungs- und Werdeprozesse – eher mitwirkende Beobachter und Akteurinnen sind in einem Prozess, den wir nicht überschauen können. Die Fokussierung des Blickes richtet sich theologisch deswegen weniger auf das Absterben und Auflösungsprozesse als vielmehr auf das schüchterne und kleine Werden neuer Erfahrungen.
Wer einen Blick in die Kirchengeschichte wagt, wird dabei nämlich immer wieder mit unerwarteten Aufbrüchen konfrontiert, die aus der Geisteskraft, charismatischen Persönlichkeiten und ihren Sammlungsbewegungen hervorgehen. Gerade immer dann, wenn – meist durch äußere Einflüsse – Sterben und Auflösung gesellschaftlicher und kirchlicher Sicherheiten radikale Zusammenbrüche hervorriefen, entstanden neue ungewohnte kirchliche Wirklichkeiten, die der jeweiligen Zeit entsprachen und zugleich die Kraft des Evangeliums in neuartiger Weise bezeugten.
Das ist nicht planbar, das ist auch nicht wünschbar, sondern es geschieht aus dem charismatischen Überfluss des Evangeliums, das auch in zusammenbrechenden Kirchenkonstellationen verkündet wurde. Dass dies auch immer wieder Konflikte auslöste, lässt sich in der Ordensgeschichte wie der Geschichte charismatischer Verbands- und Gemeinschaftsgründerinnen gut verfolgen. Offensichtlich gehört dies konstitutiv zur Logik der kirchlichen Entwicklungen jeder Zeit.
Konziliare Transformationshinweise
Das zweite Vatikanische Konzil hat deswegen sehr exakt beschrieben, in welcher Weise diese Transformationsprozesse die Praxis der Theologie prägen können und müssen. Wenn es nämlich theologisch nicht denkbar ist, die Wandlungsprozesse der Kirche gewissermaßen von außen vorherzusagen und zu prägen, dann bleibt – im Konzil ähnlich wie bei Dietrich Bonhoeffer – ein Zugang, der zum einen existenziell die Lebensperspektive der Christinnen und Christen ins Spiel bringt: Christsein und Christwerden geschieht dann, wenn wir Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen unserer Zeit teilen (GS 1) – und so wird auch Kirche neu geboren, wenn sie die Zeichen der Zeit (GS 4) Ernst nimmt und sich auf die Transformationen, die ihre eigene Auflösung/Neugeburt implizieren, einlässt.
So wird Kirche neu geboren, wenn sie die Zeichen der Zeit (GS 4) Ernst nimmt und sich auf die Transformationen, die ihre eigene Auflösung/Neugeburt implizieren, einlässt.
Diese Dynamiken als Gemeinschaft zu entdecken und auf diesem Lernweg zu bleiben, darin liegt die synodale Herausforderung gerade in den Zeiten, in denen Kirche sich neu konfiguriert und damit ab- und auflöst aus alten Paradigmen. So formuliert das Konzil: „Im Glauben daran, daß es vom Geist des Herrn geführt wird, der den Erdkreis erfüllt, bemüht sich das Volk Gottes, in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, die es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind.“ (GS 11).
Diesem Entdeckungsprozess, der konstitutiv synodal ist, geht es um eine Umkehrung der bisher bestandswahrenden Ekklesiozentrik, die sich in den vielen Diskussionen, Polemiken, Restrukturierungsprozessen und schmerzhaften Depressionen erkennen lässt: es bleibt das sich-aussetzen und entdecken, welchen neuen Weg Gott heute mit den geliebten Menschen dieser geistvollen Welt geht, um Kirche neu werden zu lassen. Zweifellos heißt das aber zugleich: entdecken, wie Gott Menschen sammelt und wie Gott loslässt und Auflösung zulässt.

Praxis
Die “nächste Kirche” ist die “letzte”
Theologisch motivierte Erinnerung an die Zukunft
Vorbemerkungen
Es gibt von Erich Fried1 eine dichterisch verdichtete Sinnbestimmung des prophetischen Handelns, die – in Abgrenzung von einem verbreiteten Vorverständnis – diesen Dienst nicht als eine Vorhersage, sondern als eine Erinnerung versteht:
Ein Prophet
Dieser Narr
erinnert sich
an die ZukunftMit seinem Auge
das verfinstert ist
vor der NachtMit seinem Ohr
das nicht mehr hört
vor dem SchweigenMit seinem Hirn
das verbrennt
vor dem FeuerMit seinem Schrei
Immer ist die „letzte“ Form anzustreben, die bleibende, die bewährte, die sinngestiftete … Die Kirche soll in jeder Zeit Gottes ewigen Ansprüchen an sie genügen.
Narren sind in einer Gemeinschaft fremd erscheinende Gestalten, die auf sich aufmerksam machen möchten, weil sie Anliegen haben, die sonst übersehen werden könnten. In diesem Sinne möchte ich hier einen prophetischen Narrendienst tun und mit einem Schrei beginnen: Die „nächste“ Kirche ist die „letzte“! Ich verstehe diese Aussage – bewusst mehrdeutig – so: Aus theologischer Perspektive gibt es nicht die Möglichkeit, eine nummerisch bestimmte Reihung von aufeinander folgenden Kirchen vorzunehmen; es gibt keine „nächste“ Kirche, die die bestehende(n) ablösen könnte; immer trägt die „nächste“ Kirche die Spuren der „letzten“ an sich. Darüber hinaus steht jede Kirchenzeit unter präsentisch-eschatologischem Vorzeichen: Immer ist die „letzte“ Form anzustreben, die bleibende, die bewährte, die sinngestiftete; die Rede vom „Letzten“ meint niemals eine Zeitangabe, sie intendiert vielmehr immer einen qualitativen Anspruch, der sich aus dem Wesen einer religiös begründeten Institution ergibt: die Kirche soll in jeder Zeit Gottes ewigen Ansprüchen an sie genügen. Da dies offenkundig im Blick auf die heute real existierende Römisch-katholische Kirche angesichts der Formen ihrer systemisch begründeten Schuldverstrickung in erschreckender Weise nicht zutrifft, ist für viele Menschen ihre Kirche „die letzte“, in der sie bis zu ihrem Austritt noch verblieben waren.
Da dies offenkundig im Blick auf die heute real existierende Römisch-katholische Kirche angesichts der Formen ihrer systemisch begründeten Schuldverstrickung in erschreckender Weise nicht zutrifft, ist für viele Menschen ihre Kirche „die letzte“, in der sie bis zu ihrem Austritt noch verblieben waren.
Ich greife im Fortgang Aspekte auf, die zu bedenken, das Redaktionsteam mich gebeten hat. Sie sind gedanklich nur lose miteinander verbunden, lassen sich jedoch im Grundduktus mit einem Weg von der Erinnerung in die Erwartung in Verbindung bringen.
Heilsame Desillusionierungen auf den Wegen mit Gott
Die Geschichte der Menschheit mit Gott ist von Beginn an ernüchternd: Gott schenkt selbstlos paradiesisches Leben und bald schon geht es verloren: Adam und Eva achten Gottes Verbot nicht und überschreiten die gesetzten Grenzen; Kain ermordet den Bruder Abel, weil Gott dessen Opfergabe bevorzugt; das Böse wird immer mächtiger, die Türme sollen bis in den Himmel reichen. Die Erzählungen von den Sünden in der „Urzeit“ (vgl. Gen 3-11) sind keine historischen Berichte: Niemand der genannten Personen hat je gelebt. Die Urgeschichten erzählen davon, was niemals war und immer ist, Allmaliges als Erstmaliges: Misstrauen, Neid, Gewaltbereitschaft, Angst und Hochmut sind Phänomene, die ihren Grund im Menschen haben und im Generationenzusammenhang systemisch immer komplexer werden. Und so geht es weiter – in allen Epochen in der Geschichte von Israel: Patriarchen schicken ihre Frauen in die Wüste, Brüder verkaufen sich wechselseitig, Kriege werden geführt, Feinde getötet, falsches Zeugnis gegeben und Ehebruch begangen.
Jesus erleidet das Geschick eines gottesfürchtigen Gerechten: Er wird getötet.
Zwei Wahrnehmungen schmerzen Menschen in biblischer Zeit besonders: Es gibt unschuldig leidende Menschen wie Ijob, und die gottesfürchtigen Gerechten werden zu Tode gequält. Es gibt keinen einsichtigen Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen. Es gibt kein verlässliches Glück in irdischer Zeit. Zudem ist die Natur unbeherrschbar, kein Mensch kann alle Tiere ernähren und den Wolken die Wege weisen. In seinen Reden nimmt Jesus Bezug auf diese Wahrnehmungen und wendet sie ins Positive: Gott sorgt für Pflanzen, Tiere und Menschen. Jesus teilt das Geschick der unerhört gebliebenen Gotteskünder: Seine Mahnreden und Rufe zur Umkehr verhallen; sein Leben mit großer Freude an den Gütern des Daseins weckt Argwohn; seine gelebte Feindesliebe wirkt überfordernd. Jesus erleidet das Geschick eines gottesfürchtigen Gerechten: Er wird getötet.
Einschnitte und Reformen
Aus christlicher Sicht beginnt jede Reform mit dem Geschehen an Pfingsten: Die aus Angst vor der Gefährdung des eigenen Lebens sich verbergenden Jüngerinnen und Jünger erfahren eine Wende durch das unvorhersehbare Wehen des Geistes Gottes: Sie werden mutig, fürchten nicht mehr das Martyrium, verstehen jede menschliche Sprache. Petrus, der verheiratete Fischer, geht auf die Straße und bekennt sich zu Jesus Christus, dem Lebendigen, dem Auferstandenen. Diesem Einschnitt, dieser Zäsur geht auf der erzählerischen Ebene die Himmelfahrt Jesu Christi voraus: Bis heute ist der auferstandene Christus nicht mehr erschienen. Sein Geist wirkt – und Menschen sind darauf angewiesen, zwischen Gottes Geist und dem eigenen Geist zu unterscheiden.
Aus christlicher Sicht beginnt jede Reform mit dem Geschehen an Pfingsten.
Paulus ist als Missionar und als Theologe für den Beginn des Christentums von unermesslicher Bedeutung. Er hat den Einschnitt – den Eigenstand dem Judentum gegenüber – theologisch begründet: Entscheidend bei seiner Wende zum christlichen Bekenntnis ist die Einsicht, dass kein Mensch das gesamte Gesetz, das in sich eine gute Weisung Gottes ist und bleibt, vollständig immer halten kann: Alle Menschen sündigen und sind auf Gottes Barmherzigkeit angewiesen. Alle Menschen leben, weil Gott barmherzig ist. Niemand darf sich über Andere erheben; alle sind gleich in der Verlorenheit der Schuldverstrickung, die in den Tod führte, wäre Gott nicht langmütig, gütig und reich an Huld und Treue.
Paulus hat seine theologische Überzeugung von der barmherzigen Liebe Gottes, nicht nur in seinen Briefen immer wieder aus konkretem Anlass begründet, er hat auch gelebt, was er verkündigt hat. Er ermutigte zu Entgrenzungen: „Denn alle seid ihr durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich, denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“ (Gal 3,26-28). Jesus hat die Reform des jüdischen Gottesvolks im Sinn gehabt; nur wenige haben sich ihm angeschlossen. Paulus hat den Schnitt vollzogen – mit dankbarer Erinnerung an seine jüdische Herkunft.
Paulus … ermutigte zu Entgrenzungen: „Denn alle seid ihr durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus … Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich, denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“ (Gal 3,26-28)
Hoffnungsbilder
Das große Hoffnungsbild der biblisch orientierten Glaubenden ist Gott in seinem Handeln, das nur in Ausschnitten geschaut werden kann. Von dem barmherzigen Handeln Gottes ist Vieles in den biblischen Schriften erzählt: Gott bekleidet die nackten ersten Menschen mit Fellen; er schützt den Mörder Kain; er lässt je zwei Tiere in die Arche; Haga und Ishmael überleben in der Wüste; der ehebrüchige David und Batseba sind die Eltern von Salomo; Israel darf heimkehren aus Babylon; wer die gottesfürchtigen Gerechten tötet, kommt vor Gericht; Jesus Christus ist auferstanden. Immer ist es Gott, der das geschenkte Leben nicht verloren gibt.
Die Bibel erzählt in Bildern, die der gegenwärtigen Wirklichkeit entnommen sind, von den „letzten“ Ereignissen, die in der Gegenwart bereits beginnen (vgl. Jes 60-66). Metaphern sind dazu da, sie in ein Gespräch zu bringen: Erhofft wird eine gelingende Gemeinschaft in Verbindung mit einem Mahl in guter, aufrichtender, tröstlicher Kommunikation. Geschaut wird eine Stadt, die vor den Feinden geschützt ist und Lebensmöglichkeiten eröffnet. Das Paradies – der umzäunte, geschützte Garten – wird von den Liebenden neu erobert (vgl. Hld). Bäume blühen mehrfach im Jahr (vgl. Offb 22,2).
Die biblischen Hoffnungsbilder sind nicht ohne Zusammenhang: Sie lassen Situationen vor Augen erscheinen, in denen Menschen bis heute zumindest anfanghaft in unbedrohter und froher Gemeinschaft miteinander leben und Freude am Dasein haben. Dies zu leben, ist Aufgabe der nächsten und der letzten Kirche.
Die biblischen Hoffnungsbilder sind nicht ohne Zusammenhang: Sie lassen Situationen vor Augen erscheinen, in denen Menschen bis heute zumindest anfanghaft in unbedrohter und froher Gemeinschaft miteinander leben und Freude am Dasein haben. Dies zu leben, ist Aufgabe der nächsten und der letzten Kirche.
Diagnosen und Therapien
Die Kirchen in dieser irdischen Zeit bereiten keinem Menschen ein Paradies. Dies geht vom Grundansatz aus auch nicht. Immer wird es eine auch systemisch bedingte Schuldverstrickung geben – nicht nur in den Kirchen – in jeder Gesellschaft. Die Kirchen stehen dabei unter besonderer Beobachtung – aus guten Gründen. Sie erheben einen hohen ethischen Anspruch und sollten ihn einlösen in der gelebten Wirklichkeit. Die Hoffnungsbilder bleiben Bilder der Hoffnung – und erhoffen lässt sich redlich nur das, was selbst aus eigenen Kräften nicht erreicht werden kann.
In welche Welt sind die Kirchen derzeit gestellt: Kriege sind ausgebrochen; getaufte Menschen sterben durch die Hand von Getauften. Lange schon bedroht der Hunger das Leben vieler Menschen. Kinder werden in den Medien und in Briefen gezeigt – die Erinnerung an sie möge zur Spende motivieren – ja, bitte, bitte! Die Bildungswege sind für Männer und Frauen weltweit sehr unterschiedlich. Die Lebensmöglichkeiten der künftigen Generationen sind weltweit aufgrund der Klimakrise gefährdet. Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Frage nach Diensten und Ämtern von Frauen in der Kirche? Haben wir nicht andere Sorgen weltweit?
Angesichts der Komplexität der Lebenswirklichkeiten hat die Kirche weltweit nur die Möglichkeit, auf synodalen Wegen möglichst mit vielen im Gespräch zu sein – und den Worten Taten folgen zu lassen, auch wenn es schmerzt im Blick auf den eigenen Wohlstand.
Wer könnte je beanspruchen, heute die Lösung auf alle Fragen der Menschen weltweit zu haben? Niemand wird dies beanspruchen können! Es darf jedoch von der Kirche erwartet werden, dass sie sich mehr anstrengt, damit für einzelne Menschen in der Nähe rasch Hilfe zum Überleben organisiert wird. Die Fragen nach den politischen Zusammenhängen und den systemischen Verstrickungen verbleiben dabei dennoch. Sie sollten nicht der Anlass sein, konkrete Hilfe zu verweigern. Ist es nicht so: Angesichts der Komplexität der Lebenswirklichkeiten hat die Kirche weltweit nur die Möglichkeit, auf synodalen Wegen möglichst mit vielen im Gespräch zu sein – und den Worten Taten folgen zu lassen, auch wenn es schmerzt im Blick auf den eigenen Wohlstand.
Besinnung auf das Wesentliche
Das Christentum hat seinen Ursprung in der befreienden Botschaft, die Gott in Jesus von Nazareth verkündigt hat, und die in Gottes Geist in Zeit und Geschichte gegenwärtig bleibt. Ich fasse inhaltlich das Kriterium für diese Treue zum apostolischen Ursprung in der Rede vom menschlichen Zeugnis für Gottes Versöhnungsbereitschaft trotz aller Sünde zusammen. Gott bewahrt der sündigen Schöpfung seine barmherzige Beziehungswilligkeit. Sünde und Tod können ihre zerstörerische Macht dort nicht entfalten, wo Gott als Quelle der Versöhnung und des unverlierbaren Lebens erfahren wird. Menschen, die in den apostolischen Dienst berufen werden, haben dies mit Wort und Tat zu verkündigen.
Das Christentum hat seinen Ursprung in der befreienden Botschaft, die Gott in Jesus von Nazareth verkündigt hat, und die in Gottes Geist in Zeit und Geschichte gegenwärtig bleibt.
Spirituelle Erfahrungen sind mit Bewusstsein erfasste Geschehnisse, in denen Menschen in der Kraft der Gegenwart des Geistes Gottes an die Tiefen ihrer Daseinsfragen herangeführt werden und eine vertrauenswürdige, gläubige Antwort erkennen und ergreifen können. Spiritualität ist der in Gottes Begleitung geschehende Weg zum Grund des je ganz eigenen Lebenslaufes, der sich in der Gemeinschaft der Mitgeschöpfe vollzieht. Dieser geistliche Weg kann eine unterschiedliche äußere Gestalt haben: stilles Hören, drängendes Flehen, ausdauerndes Singen, mutiges Handeln, zeichenhafte Gebärden, offene Gespräche. Wer jemals erfahren hat, dass andere Menschen jener Antwort, die sie selbst auf die gemeinsamen Lebensfragen gefunden haben, in glaubwürdiger und ansprechender Weise Ausdruck verleihen können, der wird sich dem Reiz des geistlichen Miteinanders nicht mehr entziehen wollen. Das Leben lässt viel zu wünschen übrig. Gemeinsam fällt es leichter, sich in die Dunkelheiten des Daseins zu begeben, den unausweichlichen Tod und die belastende Sünde zu bedenken. Nur in Gemeinschaft lässt sich das Licht des Vertrauens auf den Gott des Lebens hüten.
Rolle der Theologie
Jeder Mensch ist angenommen und bejaht von Gott trotz aller Sünde und vor jeder Leistung. Niemand ist aufgrund einer Tat je verloren. Es gibt immer Perspektiven. Niemand ist je allein. Alle Charismen sind willkommen. Die Versöhnung aller mit allen ist möglich. Jeder Dienst und jedes Amt sind diesem Ziel zugeordnet. Autorität hat allein die Liebe.
Wir leben angesichts der weltweiten Reformprozesse in den Kirchen erneut in einem spannenden Zeitalter. Viele erkennen die Dringlichkeit, manche wollen eher abwarten, nicht wenige denken mit und bringen ihre Erfahrungen ein. Drei Aufgabe sind in diesem Gesamtgeschehen der Theologie eigen: Sie hat Zusammenhänge zu erschließen, Orientierung zu geben und die Qualität der Argumentation anzumahnen.
Von Herzen wünsche ich, dass die „letzte“ Kirche die „nächste“ sei: Bald schon ersichtlich wird in der Zeit – präsentisch-eschatologisch – welche Hoffnung wir leben: Jeder Mensch ist angenommen und bejaht von Gott trotz aller Sünde und vor jeder Leistung. Niemand ist aufgrund einer Tat je verloren. Es gibt immer Perspektiven. Niemand ist je allein. Alle Charismen sind willkommen. Die Versöhnung aller mit allen ist möglich. Jeder Dienst und jedes Amt sind diesem Ziel zugeordnet. Autorität hat allein die Liebe.

Praxis
Das Neue denken
Von Systemen unter Druck
Systeme, die unter Druck geraten, werden oftmals nicht weiter, sondern enger. Dies ist eine soziologisch-systemische Beobachtung, die in dieser Ausgabe von futur II ausführlich beschrieben und diskutiert wird. Krisen – insbesondere existentielle – produzieren eine geradezu paradoxe Reaktion: Statt nach kreativen, offenen, ungewöhnlichen Lösungen zu suchen, die dazu angetan wären, um einen Weg aus der Krise zu suchen, wird der Blick verengt, man wird ängstlich und hält am vermeintlich ‚Bisherigen‘, das eigentlich genau in die Krise geführt hat, lieber fest als nach produktiven Lösungen zu suchen. Systeme unter Druck bevorzugen es, den Druck zu erhöhen, anstatt nach Entlastung und Gestaltungsräumen zu suchen. Erstarrung ist das Resultat – eine Situation eingefrorener Handlungsoptionen.
Befände man sich in einer Supervision oder einem Coaching, würde man die Klienten oder das Team fragen, welche Krisen bisher schon erlebt und wie diese produktiv gelöst werden konnten. Ressourcenorientierung, ob persönlich-biographisch, in der Geschichte des Teams oder der Institution, ist das Stichwort, das als hilfreich erlebt wird, um sich aus dem Klammergriff der Krise zu befreien. Es geht darum, Abstand zu gewinnen, Reflexionsräume zu schaffen und so die Perspektive zu erweitern, um eingefrorene Handlungsoptionen aufzutauen und wieder aktiv in die Gestaltung zu kommen.
Bietet die Bibel Perspektiven, Ideen, Ansätze des ‚Neuen‘, mit denen man kreativ auf Krisen und Systeme unter Druck blicken könnte?
Bei der Frage nach den Ressourcen von Kirche als Institution und von Theologie als Reflexionsraum ist gemäß dem Selbstverständnis kirchlicher Lehre die Heilige Schrift als normative Größe eingeschrieben. In der Tat bieten die biblischen Schriften einen Orientierungsrahmen, der gerade deswegen als Ressourcenreservoir gehoben werden kann, weil die Texte selbst in historischen Situationen entstanden sind, auf deren Herausforderungen sie versuchen zu reagieren. Um biblische Texte mit ihren spezifischen Sinnspitzen zu verstehen, reicht es daher nicht aus, diese isoliert zu betrachten, vielmehr sind sie historisch zu kontextualisieren und aus den zeitgenössischen Diskursen zu verstehen.
Die Frage also ist: Bietet die Bibel Perspektiven, Ideen, Ansätze des ‚Neuen‘, mit denen man kreativ auf Krisen und Systeme unter Druck blicken könnte?
Dass das ‚Neue‘ gefährlich ist, weil es unerprobt ist und man etwas wagen müsste, das war in der Antike allgemeine Überzeugung. Besser war immer das Alte, weil es systemstabilisierend als das Erprobte und Bekannte galt. Nichtsdestotrotz findet sich in der biblischen Tradition die Rede vom ‚Neuen‘ ausführlich bei dem Propheten, der mit den Kunstnamen ‚Deuterojesaja‘ oder ‚Jesaja II‘ bezeichnet wird. Unter diesen Begriffen subsumiert man die Kapitel 40-55 des Jesajabuchs, die sich deutlich von den vorhergehenden Kapiteln 1-39 unterscheiden und daher nicht dem Propheten Jesaja zugeschrieben werden können, sondern in der Tradition Jesajas einer späteren prophetischen Stimme zuzuordnen sind. Die historischen Eckdaten, die in den Kapiteln 40-55 enthalten sind, ermöglichen es, diese recht genau, und zwar in die Mitte des 6. Jh. v. Chr. unter persische Herrschaft, zu datieren.
Das Alte war an ein Ende gekommen und es sah nicht so aus, als könne daraus etwas Neues entstehen.
Damit fallen die Texte in eine politisch turbulente und für Israel höchst krisenhafte Zeit, in der sich zwei Krisen überlagern: Zum einen war die politische Großwetterlage von einem imperialen Wechsel geprägt; die Herrschaft der Babylonier wurde von den Persern abgelöst und brachte – wie jeder Systemwechsel – massive Verunsicherungen mit sich. Zum anderen traf diese politische Verschiebung Israel selbst in einer tiefgehenden internen Krise: Wenige Jahrzehnte war der eigene Staat von den Babyloniern mehrfach erobert worden. Damit ging die Deportation weiter Bevölkerungskreise einher, die viele hundert Kilometer weit weg transportiert und in der unbekannten Fremde angesiedelt wurden. Höhepunkt der Erschütterung war, dass auch der Jerusalemer Tempel in einer gezielten Aktion zerstört worden war. Diese Erschütterung war so existentiell und nachhaltig, weil in der Antike Tempel eigentlich nicht zerstört wurden, vielmehr engagierten sich Neueroberer als Förderer der lokalen Kulte. Jedoch genau das Gegenteil war geschehen. Es war eine Niederlage, die alle Bereiche des Lebens umfasste. Das Alte war an ein Ende gekommen und es sah nicht so aus, als könne daraus etwas Neues entstehen. Damit waren gerade die Deportierten intern einem gewissen Druck, hatten sie doch als die alte Mittel- und Oberschicht genau die Verhältnisse mitzuverantworten, die zu den Ereignissen geführt hatten. Die alte (Macht)Elite musste sich buchstäblich mit den Trümmern auseinandersetzen.
In dieser Situation gab es verschiedene Stimmen, die versucht haben, Perspektiven zu entwickeln. Eine davon ist ‚Deuterojesaja‘. Mit ‚Deuterojesaja‘ ist ein neuer Ton zu hören. Ob dieser in der Situation selbst bei der alten Elite mehrheitsfähig war, ist schwer zu beurteilen – aber nicht die ‚alten‘ Stimmen, sondern ‚Deuterojesaja‘ ist bewahrt und erhalten geblieben. Diese Texte sind in die normative Überlieferung eingegangen und haben sich damit als leitend und relevant für die Zeitgenossen ‚Deuterojesajas‘ und die folgende Überlieferung erwiesen.
Diese neuen Dinge sind qualitativ so anders, dass man nicht mehr den früheren Dingen gedenken, sondern sich dem Neuen zuwenden soll.
In der Situation der Krise stimmt ‚Deuterojesaja‘ die ungewohnte Rede vom „neuen Lied“ an: „Singt dem Herrn ein neues Lied“ (Jes 42,10). Kontrafaktisch zum Eingeübten und Gewohnten steht das „Neue“ hier nicht für das, was man ablehnen muss, sondern positiv für genau das, was ansteht und als das, zu dem als neue Handlungsoption aufgerufen wird. Was ‚Deuterojesaja‘ unter „neu“ versteht, ist dem Vers zuvor zu entnehmen: In Jes 42,9 handelt es sich um Gottesrede, der zur Folge das „Neue“ sich von den „früheren Dingen“ als den Dingen, die bisher geschehen sind, abhebt. Dieses „Neue“ lässt Gott – so die Ankündigung – „sprießen“. Mit der aus der Pflanzenwelt entlehnten Metapher wir das „Neue“ nicht nur angekündigt, sondern es soll zugleich immer größer werden, es soll wachsen und gedeihen. Diese neuen Dinge heben sich somit von den Bisherigen nicht nur ab, sondern sind qualitativ so anders, dass man nicht mehr den früheren Dingen gedenken, sondern sich dem Neuen zuwenden soll. Ganz ähnlich wird dieser Gedanke wenige Kapitel später wiederholt (Jes 48,3-6): Hier werden erneut die vergangenen Dinge als zurückliegend und für Gegenwart und Zukunft nicht mehr prägend verstanden. Stattdessen wird das „Neue“ als das von Gott Erwünschte präsentiert: „Von jetzt an lasse ich dich etwas Neues hören, / etwas Verborgenes, von dem du nichts weißt“ (Jes 48,6).
In der Situation der Krise und des gesellschaftlichen wie politischen Umbruchs ist die Rede von dem „Neuen“ zu einer Chiffre des Aufbruchs geworden, mit dem die zeitgenössische Situation reflektiert wurde und so die in ihr liegenden Möglichkeiten und Handlungsoptionen erkannt wurden. Als wenige Jahrzehnte nach der Eroberung Jerusalems, der Zerstörung des Tempels und der Deportation die Herrschaft der Babylonier von den Persern als der neuen, den Alten Orient bis nach Griechenland hin bestimmenden Macht abgelöst worden waren, war die Zeit für neue Perspektiven reif: Anders als für andere Völker der Vorderen Orients sind die Perser als die neuen Herren nicht als Gefahr und neue Krise, sondern auch als Chance verstanden worden. Wie steht es bei ‚Deuterojesaja‘? …man soll ein neues Lied singen!

Praxis
Auf dem Weg zur nächsten Kirche
Wenn sich komplexe, dynamische Systeme verändern
Wir stehen an der Schwelle zur “nächsten Kirche”.1 Tiefgreifende Umwälzungen deuten sich an. Was lässt sich aus systemischer Perspektive über den Prozess sagen und wie lässt sich das theologisch übersetzen?
Wovon wir ausgehen können
Unsere Gesellschaft befindet sich in einem epochalen Umbruch und mit ihr die Kirchen. Wenn sie als Ordnungsfigur überleben wollen, müssen sie in der „nächsten Gesellschaft“ (Dirk Baecker) anschlussfähig sein und hierfür ihre internen und externen Prozesse neu formatieren. Die Herausforderung ist gewaltig, zumal Religion seit Jahrzehnten unter einem grassierenden Relevanzverlust leidet, der auf einer veränderten „Nachfragestruktur“ (Detlev Pollack; KMU 5) beruht. Das Bedürfnis nach Religion ist abhandengekommen. Man braucht die Kirchen nicht mehr, weil sämtliche Funktionen der Daseinsbewältigung, -vorsorge und -absicherung anderweitig und besser realisiert werden. Heilung und Befreiung finden andernorts statt, so dass der Kern der christlicher Botschaft, das Heilsversprechen in Jesus Christus, in unserer modernen Gesellschaft kaum noch damit verknüpft werden kann.
Für die katholische Kirche kommt hinzu, dass sie Entwicklungen nachholen muss, gegen die sie sich seit der Aufklärung mit aller Macht gewehrt hat: Gewaltenteilung, Gleichberechtigung, differenzierter Umgang mit Sexualität etc. Ein Blick aus der Zufriedenheitsforschung zeigt, wie bedeutsam gerade diese Aspekte sind. Man würde sie dort als sog. Basismerkmal bezeichnen. Solche Merkmale sind in einer aufgeklärten Gesellschaft Selbstverständlichkeiten, die – ähnlich der Sauberkeit im Hotel – bei Nicht-Vorliegen zu starker Unzufriedenheit führt, bei Vorliegen jedoch keinerlei positiven Effekt auf die Zufriedenheit haben. Beim Synodale Weg gibt es zumindest in Teilen die Intention, hier aus der Defensive zu kommen. Aber selbst wenn es gelänge, würde die Kirche dadurch noch lange nicht attraktiv – eben nur weniger schlimm.
Es geht – ähnlich wie am Übergang zur Neuzeit – um eine systemische Transformation, die bis in die DNA der Institution hinein reicht und deren Ergebnis ungewiss ist.
Das Menetekel der Kirchenspaltung, das den Synodalen Weg begleitet, knüpft an die Erfahrung des letzten großen gesellschaftlichen Umbruchs an, den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Damals entstand über einen längeren Zeitraum hinweg unsere modere Gesellschaft. Im Zuge der damit einhergehenden gesellschaftlichen Verwerfungen zerbrach die Einheit der Kirche. In der Folge wurde allerdings ihr institutioneller Charakter in Abgrenzung zu den anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen immer weiter gestärkt. Die Kirchen sind seit dieser Zeit – ungeachtet zahlreicher operativer Anpassungsprozesse – als Institutionen in ihrem Kern auf möglichst hohe Stabilität und Funktionalität programmiert.
Reformen bleiben bis heute in der bestehenden Organisationslogik verhaftet, die ihr in den letzten 250 Jahren das Überleben gesichert hat (Kybernetik 1. Ordnung). Der fortschreitende gesellschaftliche Wandel stellt die Kirchen vor die Herausforderung, in kürzester Zeit zu lernen, sich dauerhaft in dynamischen und volatilen Kontexten zu bewegen. Es geht – ähnlich wie am Übergang zur Neuzeit – um eine systemische Transformation, die bis in die DNA der Institution hinein reicht und deren Ergebnis ungewiss ist (Kybernetik 2. Ordnung).
Reformen bleiben bis heute in der bestehenden Organisationslogik verhaftet, die ihr in den letzten 250 Jahren das Überleben gesichert hat (Kybernetik 1. Ordnung).
Das Szenario einer Spaltung liegt da auf der Hand. Allerdings ist es diesmal mit einer „einfachen“ Spaltung sicher nicht getan. Sie wird heute absehbar die Form einer Zersplitterung haben, vergleichbar einer berstenden Windschutzscheibe. Daher sind die Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Synodalen Weg durchaus berechtigt. Man könnte auch sagen, das ist ein mögliches Szenario in diesem Prozess, womöglich sogar das Trendszenario. Aber ist dieser Prozess unausweichlich? Was kann Kirche von den Sozialwissenschaften lernen?
Wie Systeme lernen
Wir kennen es aus der Psychologie: Es gibt unterschiedliche Formen des Lernens und der Weiterentwicklung. Beim Lernen einfacher Dinge (z.B. Vokabeln) zählt allein die Häufigkeit, mit der man etwas wiederholt und sich einprägt: Je mehr, desto besser. Bei komplexeren Vorgängen, z.B. beim Gehen- oder Sprechen-Lernen, sieht das anders aus: Lernen geschieht am Modell, experimentell und sprunghaft. Lange bleibt es beim Versuch und plötzlich, mit einem Schlag, ist das Gelernte da, ein qualitativer Sprung.
Der Psychologe Jean Piaget nennt die beiden Lern- bzw. Entwicklungsparadigmen Assimilation bzw. Akkomodation. Bei der Assimilation werden neue Erfahrungen in bestehende kognitive Schemata integriert. Gelingt dies aufgrund von Fremdheit nicht (mehr), sind also stärker abweichende oder inkompatible Erfahrungen zu verarbeiten, muss das Schema verändert, die „kognitiv-emotionale Struktur“ (Luc Ciompi) neu konfiguriert werden.
Organisationen haben in besonderer Weise die Tendenz, Muster, Routinen und Strukturen auszubilden, die sie von Personen lösen und auf Dauer stellen, d.h. vor allem Stabilität und Funktionalität gewährleisten.
Die beschriebenen Phänomene lassen sich auch in sozialen Systemen beobachten, gerade auch in Organisationen. Sie haben in besonderer Weise die Tendenz, Muster, Routinen und Strukturen auszubilden, die sie von Personen lösen und auf Dauer stellen, d.h. vor allem Stabilität und Funktionalität gewährleisten. Solche Muster sind hochgradig sinnvoll: Das System „funktioniert“ und muss sich nicht ständig neu erfinden. Allerdings ändern sich laufend die Umweltanforderungen. Systeme versuchen dann zunächst und oftmals über eine lange Strecke, im Rahmen ihrer bisherigen Logik zu bleiben. Mehr desselben und erhöhte Anstrengungen innerhalb der bestehenden Muster und Routinen sind die Folge. Kommt Ressourcenmangel hinzu, führt dies i.S. der Kybernetik 1. Ordnung zu fortschreitender Konzentration, Verdichtung und Zentralisierung. Gelingt die Anpassung an die Umweltanforderungen auf diese Weise nicht mehr, ist das „Betriebssystem“ bzw. „Geschäftsmodell“ betroffen. Das schließt die Basisprämissen der Organisation, ihre innere Logik, ihre DNA mit ein.
Die Entwicklung von Kultur und Gesellschaft verläuft ähnlich, nur in ganz anderen zeitlichen Dimensionen. So beschreibt Peter F. Drucker der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit als Übergang in eine neue „Medienepoche“, die das Zusammenspiel gesellschaftlicher Kräfte grundsätzlich veränderte: Aus der Ständegesellschaft wurde die moderne funktionale Gesellschaft, wie wir sie kennen. Entscheidend für diese Entwicklung war nach Drucker die revolutionären Erfindung des Buchdrucks, die sämtliche Steuerungs- und Kontrollsysteme des Mittelalters zu Fall brachte. Heute stehen wir aufgrund der revolutionären Entwicklung der Informationstechnologie in einem ähnlich tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch, der in keinem kirchlichen Reformprozess bislang eingepreist ist.
Wenn es chaotisch wird
Was passiert genau, wenn lineare Anpassungsprozesse nicht zum Erfolg führen, wenn der Austausch einzelner Komponenten nicht mehr hilft, sondern das Betriebssystem erneuert werden muss? Diese Frage reflektiert die Chaostheorie. Forschungsergebnisse zeigen, dass Übergänge dieser Art zunächst scheinbar chaotisch verlaufen. Die bestehende Ordnung zerfällt, Altes funktioniert nicht mehr und neue Routinen stehen noch nicht zur Verfügung. Das Ergebnis ist weder deduktiv ableitbar noch vorhersagbar. Es gibt keine Kontrolle. Weiter geht es allenfalls experimentell, ohne Garantie auf Erfolg.
Im kirchlichen Kontext nehmen diese im Vorfeld chaotischer Veränderungen typischen Erlebens- und Verhaltensweisen seit einiger Zeit auf dramatische Weise zu.
Die Ergebnisse der Chaosforschung (Henri Poincaré, Benoît Mandelbrot, Mitchell Feigenbaum u.a.) zeigen zudem einen engen Zusammenhang zwischen der Komplexität der geforderten Anpassung und der Art des zugehörigen Lernprozesses. Innerhalb gewisser Toleranzgrenzen lernen Systeme stetig. Die innere Organisation bleibt erhalten (Clayton Christensen nennt das auch „inkrementelle Innovation“). Wenn allerdings die Umweltanforderungen stärker abweichen, muss es zu einer Anpassung der inneren Organisation kommen ( „disruptive Innovation“ nach Christensen).
Solche Übergänge sind „emergent“, sie sind nicht machbar, sondern ereignen sich. Für Beobachtende verlaufen sie zumeist sprunghaft. Zunächst wird das System instabil, womöglich über eine längere Zeit. Der damit einhergehende Kontrollverlust erzeugt Stress im System. Er löst bei allen Beteiligten Irritation und vielfach ambivalente Gefühle wie Ohnmacht, Wut oder Trauer aus. Im Verhalten kann die Verunsicherung Unterschiedliches bewirken. Typische Stressreaktionen sind: Man schaut weg, man verleugnet oder bagatellisiert, man verstärkt seine Anstrengungen, verteidigt seine Claims, polarisiert und geht in den Angriffsmodus über oder verlässt das Feld und geht einfach. Diese Phänomene sind umso intensiver und dauern umso länger, je mehr gelernt werden muss, d.h. je umfassender und tiefgreifender die notwendige Dekonstruktion ist.
Im kirchlichen Kontext nehmen diese im Vorfeld chaotischer Veränderungen typischen Erlebens- und Verhaltensweisen seit einiger Zeit auf dramatische Weise zu.
Je tiefgreifender und damit auch chaotischer ein Übergangsprozess verlaufen kann, desto wichtiger ist es, einen Rahmen zu setzen, der das, was dann passiert, halten kann und ihm Sinn gibt
Am Kipppunkt
Der Einschätzung, dass die jetzige Form von Kirche – in welcher konfessionellen Prägung auch immer – unwiderruflich zu Ende geht, wird heute selbst in Kirchenkreisen kaum jemand ernsthaft widersprechen. Die „nächste Kirche“ (die Kirche in der nächsten Gesellschaft) wird anders sein und es ist zu vermuten, dass die Veränderung sprunghaft verläuft. Solche Veränderungen lassen sich nicht steuern und sind grundsätzlich ergebnisoffen. Für viele scheint dieses Szenario zu schmerzhaft, um es an sich heranzulassen. Andere überhöhen sie spirituell. Wieder andere sehen darin die Erlaubnis, einfach das zu tun, was man halt für richtig hält oder gerne tut. Sie verbindet, dass man darauf verzichtet, den Transformationsprozess systematisch anzugehen und gemeinsam darum zu ringen. Hier zeigen sich schon Ansätze zur Zersplitterung.
Der Rahmen chaotischer Übergangsprozesse lässt sich bewusst gestalten (etwa die inneren Frames, mit denen die Beteiligten auf den Prozess schauen). Der gewählte Rahmen hat deutliche Effekte auf den Verlauf und u.U. auch das Ergebnis (selbst, wenn es nicht vorhersagbar ist). Aus therapeutischen Prozessen, z.B. in einer Familientherapie, wissen wir: Je tiefgreifender und damit auch chaotischer ein Übergangsprozess verlaufen kann, desto wichtiger ist es, einen Rahmen zu setzen, der das, was dann passiert, halten kann und ihm Sinn gibt. Ein solcher Rahmen ist im Kern das Commitment, im Vertrauen (aufeinander, auf Gott) den Weg des Loslassens auf diese offene Weise in gemeinsamer Verantwortung füreinander und miteinander zu gehen.
Vieles deutet darauf hin, dass dieser Kipppunkt zumindest für die katholische Kirche in Deutschland näher rückt, vielleicht auch schon überschritten ist.
Aufgrund der nicht-linearen Eigendynamik von Systemen gibt es für die Möglichkeit der Gestaltung solcher Prozesse allerdings nur ein begrenztes Zeitfenster. Auf dem Weg zu Veränderungen, die in die Tiefenstruktur des Systems reichen und daher absehbar disruptiv verlaufen, gibt es einen Kipppunkt, an bzw. nach dem es keine oder nur noch sehr begrenzte Möglichkeiten gibt, sich zu vereinbaren, um den Rahmen für den Übergang zu gestalten. Die Gefahr ist groß, dass sich dann nicht nur die Gestalt (hier die konkrete Kirchengestalt), sondern darüber hinaus der kommunikative Bezug aufeinander und damit das System in seiner Substanz (Kirche als systemische Wirklichkeit jenseits organisatorischer Ausprägungen) Schaden nimmt oder sich sogar auflöst. Aus einem „kontrollierten“ wird ein „unkontrolliertes“ Chaos mit einem hohen destruktiven Potenzial. Deutlich beschleunigte Trends, verschärfte Diskussionen über den „richtigen“ Weg in die Zukunft, das wechselseitige Absprechen von Kirchlichkeit, Drohungen und Schuldzuweisungen, die Frequenz kritischer Ereignisse, die größer werdende Zahl derer, die aufgeben etc. deuten darauf hin, dass dieser Kipppunkt zumindest für die katholische Kirche in Deutschland näher rückt, vielleicht auch schon überschritten ist.
Unterschiedliches Handling in den Kirchen
Die Kirchen unterscheiden sich im Umgang mit dieser Situation erheblich.2 In der katholischen Kirche ist die Kirchenbindung traditionell stärker ausgeprägt, als in den evangelischen Kirchen. Dennoch erreicht hier die Absetzbewegung inzwischen den Kern treuer und aktiver Katholiken in den Gemeinden. Die Austrittswelle nimmt Fahrt auf und ist inzwischen stärker als in der evangelischen Kirche. 60% der Verantwortungsträger in der katholischen Kirche halten die bisherige Gestalt von Kirche tendenziell für nicht zukunftsfähig, deutlich mehr als dies bei Verantwortungsträger:innen in den evangelischen Kirchen der Fall ist.3 Für sie scheint die Situation noch eher gestaltbar. Zudem sind in der katholischen Kirche Trennung und Kirchengründung keine Optionen, im Notfall bestehende Spannungen zu lösen. Man kann also dort das Feld nicht so einfach verlassen bzw. wechseln. In der Folge sind in der katholischen Kirche aktuell Polarisierungstendenzen deutlich virulenter. Das führt vielfach zu Lähmungserscheinungen, zu Aktionismus und zu weiterem Vertrauensverlust.
In der katholischen Kirche ist die Kirchenbindung traditionell stärker ausgeprägt, als in den evangelischen Kirchen.
Die Idee, dass Kirche über eine längere Zeit mit zwei (oder mehr) Betriebssystemen unterwegs sein könnte ist in den Evangelischen Kirchen zumindest im Fachdiskurs angekommen (Philipp Elhaus spricht von „Ambidextrie“).4 Die breite Aufstellung von „Erprobungsräumen“5 ist – losgelöst von der Frage, was dort faktisch passiert – ein erster Versuch, dies systemisch zu verankern. Davon ist die katholische Kirche noch entfernt. Dort laufen Ansätze, vom Pfad abzuweichen und zu experimentieren, eher im Windschatten oder so planvoll und risikoavers, dass systemrelevante Änderungsimpulse kaum zu erwarten sind und letztlich nicht gewollt werden, sofern sie denn systemrelevante Erschütterungen auslösen könnten, um die es ja im Kern dabei geht.
Mit einem Kipppunkt in näherer Zukunft scheint kaum jemand zu rechnen. Weder Entwicklungsprozesse noch Risikomanagement der Diözesen und Landeskirchen sind darauf ausgerichtet. Man geht in der Praxis trotz vielfältiger Hinweise und Signale zumeist von nahezu linearen Prozessen und einer langfristig gesicherten Handlungsfähigkeit aus. Man glaubt oder suggeriert, die Prozesse kontrollieren zu können.
Mit einem Kipppunkt in näherer Zukunft scheint kaum jemand zu rechnen. Weder Entwicklungsprozesse noch Risikomanagement der Diözesen und Landeskirchen sind darauf ausgerichtet.
In den evangelischen Kirchen ist das Wissen um die grundlegende Andersartigkeit der „nächsten Kirche“ durchaus vorhanden. Nur stellt sich angesichts des verbreiteten Pragmatismus und der dominanten Kultur der Machbarkeit die Frage, ob faktisch das Tempo und die Tiefe der Reformen reichen, um den unkontrollierten Zusammenbruch zu verhindern und den qualitativen Sprung in die nächste Kirche zu schaffen. In der Katholischen Kirche ist es angesichts der in den letzten 200 Jahren vollzogenen Zentralisierung von Macht und deren pyramidaler Zuspitzung und Immunisierung in der Hand des Papstes und der römischen Kurie mehr als fraglich, ob es bei den Verantwortungsträgern überhaupt die Bereitschaft gibt, lokal unterschiedliche Betriebssysteme geschweige denn eine Vielfalt unterschiedlicher Kirchenkulturen zuzulassen.
Sterben und Auferstehen – die DNA von Kirche
Wenn von Kirche gesprochen wird, ist der damit bezeichnete Sachverhalt mehrdeutig, weil der Begriff in unterschiedlichen Kontexten bzw. Sprachspielen gebraucht wird. Abgesehen davon, dass es in einem engen katholischen Verständnis überhaupt keine evangelischen Kirchen geben kann, bedeutet Kirche Unterschiedliches, je nachdem ob man mit einer kirchenrechtlichen, theologisch-dogmatischen, praktisch-theologisches, organisatorischen, betriebswirtschaftlichen, soziologischen … Brille auf die (gleiche) Wirklichkeit schaut.
Problematisch wird es, wenn systematisch logische Kategorienfehler gemacht und normativ gesetzt werden.
Dies ist zunächst unproblematisch, sofern man den Interpretationskontext jeweils mitliefert bzw. markiert. Geschieht dies nicht, entsteht Verwirrung, die man zumeist – bei gutem Willen – kommunikativ aufklären kann. Problematisch wird es, wenn systematisch logische Kategorienfehler gemacht und normativ gesetzt werden. Dies ist dann der Fall, wenn eine bestimmte Organisationsform, die in einem bestimmten historischen Kontext entstanden ist, mit der dahinterliegenden systemischen (Erfahrungs-)Wirklichkeit (die sich organisatorisch in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich konkretisiert hat) oder gar einer noch dahinterliegenden geistlichen Wirklichkeit gleich und absolut gesetzt wird. Dieses Manöver ist leicht durchschaubar: Es geht darum, bestehende Machtverhältnisse (die jede Organisation in der einen oder anderen Form mit sich bringt) zu immunisieren. Christian Hennecke zeigt in seinem Beitrag “Warum es so sein muss” in dieser Ausgabe, dass diese Position auch theologisch nicht haltbar ist.6
Differenziert man allerdings zwischen der Institution bzw. Organisation Kirche, also der Kirche in ihrer aktuellen rechtlichen und organisatorischen Verfasstheit, und der dahinterliegenden und umfassenderen, 2000 Jahre währenden Kommunikations- und Erfahrungswirklichkeit Kirche, i.S. Luhmanns der systemischen Wirklichkeit Kirche, eröffnen sich ganz neue Entwicklungsperspektiven.
Ganz offensichtlich geht die aktuelle Gestalt von Kirche in Deutschland als Institution und Organisation ihrem Ende entgegen.
Ganz offensichtlich geht die aktuelle Gestalt von Kirche in Deutschland als Institution und Organisation ihrem Ende entgegen. Die anstehende Kulturveränderung ist organisatorisch so fundamental, dass deren DNA (ihre innere Logik, die Grundprinzipien ihrer Reproduktion als Organisation) betroffen sind. Das sorgt natürlich für Unruhe, v.a. bei denen, die Macht haben und Verantwortung tragen.
Damit geht jedoch die systemische Wirklichkeit hinter allen historisch bedingten organisatorischen Erscheinungsformen von Kirche nicht unter, im Gegenteil, sie zeigt, dass sie lebt. Die Wirklichkeit, der Kommunikations- und Erfahrungszusammenhang derer, die mit der Botschaft in Berührung gekommen sind und sich als Glaubensgemeinschaft verstehen, theologisch das Volk Gottes, beruht auf der Begegnung mit der unbedingten Liebe Gottes in Jesus Christus. Das ist der Kern christlicher Hoffnung: die Heilszusage Gottes, die in Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi erfahren wurde. Sterben und Auferstehen sind Kern der DNA von Kirche als System und Bewegung. Genau hier liegt der Masterplan ihrer über 2000-jährigen Geschichte. Sie verfügt über das Know-how, ihre konkrete Gestalt immer wieder grundlegend, bis in deren DNA hinein, zu verändern. Und genau das ist ihr Kernauftrag: Die Heilserfahrung und -zusage in jeder Zeit jeweils neu zu formulieren und zu formatieren.
Sterben und Auferstehen sind Kern der DNA von Kirche als System und Bewegung
Christian Hennecke schreibt: „Zweifellos aber ist diese Logik des Werdens auch immer eine Logik des Sterbens. Es ist geradezu die unverwechselbare Identität des christlichen Glaubens, der sich in die Geschichte einschreibt, dass er die österliche Perspektive mitbringt: Tod und Auferstehung Christi geben auch den Rhythmus seiner Kirche vor – und das ist ja die eigentliche frohe Botschaft: jeder Tod spricht vom Leben, das neu wird und kommen wird, weil das wirkliche Leben, das Leben in Fülle, wächst aus dem Geheimnis des Sterbens. Was ein für alle Mal in Kreuz und Auferstehung geschehen ist, wird zum Lebensrhythmus des Christseins, wird zu Logik kirchlicher Existenz.“7
Relevant vom Ursprung her
Am Anfang der christlichen Bewegung stand also eine Erfahrung und deren Deutung, die in ihrer Verbindung für die Menschen damals, Juden und Nicht-Juden, offensichtlich sehr überzeugend war, unabhängig davon, in welchem kulturellen Kontext sie sich bewegten. Die Evangelien beschreiben die Person Jesu und ihren Umgang mit den Menschen, in einer Vielzahl von Bildern und Geschichten. Stets ging von ihm eine Wirkung von Heilung und Befreiung aus. Jesus begründete sein Handeln mit einer besonderen Beziehung zu Gott. Seine Jünger verstanden Handeln Jesu als Hinweis auf etwas Größeres, auf Heil und Erlösung. Sie verknüpften sein Auftreten mit dem Anbrechen des endzeitlichen Reiches Gottes (hebräisch מלכות malchut, griechisch Βασιλεία τοῦ Θεοῦ). In ihm sahen sie den Gesandten Gottes und drückten das Besondere an ihm – abhängig von der jeweiligen Kultur – in unterschiedlichen Bildern und Begriffen aus.
Umkehr, Sinnesänderung (griech. μετάνοια metánoia) steht am Anfang des Evangeliums und ist ein Kernbegriff im Neuen Testament (Mk 1,9-15). Es geht um nachhaltige Veränderung: Durch das Wirken Jesu entstand (in der Wahrnehmung der Zeugen) ein Raum, der neue Erfahrungen ermöglichte, die einen tiefgründigen Unterschied machten, die den kognitive Bezugsrahmen grundlegend veränderten und in diesem Sinne Umkehr, Wandlung und Entwicklung auf eine verheißene gute Zukunft hin in Gang setzten (vgl. Lk 24,13-35).
Die Christen sind Spezialisten für Wandlung und Entwicklung. Sie machen durch die Art ihres Beziehungsangebotes einen Unterschied. Sie sind ihrer Zeit voraus, sie verweisen auf eine Wirklichkeit, einen Fluchtpunkt in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit.
Taufe und Mahlgemeinschaft sind rituelle Zeichen und Vergegenwärtigung dieser Erfahrungswirklichkeit. Sie war allem Augenschein nach so stark und fundamental, dass sie die Botschaft der frühen Christen auch über den Tod Jesu hinaus lebendig und wirksam halten konnte. Sie steht in direktem Zusammenhang mit dem Sendungsauftrag Jesu „Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung!“ (Mk 16,15). Das Ende (der Auftrag) ist nur vom Anfang (der Umkehrerfahrung) her zu verstehen.
Systemisch betrachtet, wird hier – ausgehend von Jesus selbst – für die Jünger und die frühen Christen eine Rolle skizziert, die Hinweise geben kann, wie Kirche für eine Gesellschaft, die sich im Umbruch befindet, relevant werden könnte. Die Christen sind Spezialisten für Wandlung und Entwicklung. Sie machen durch die Art ihres Beziehungsangebotes einen Unterschied. Sie sind ihrer Zeit voraus, sie verweisen auf eine Wirklichkeit, einen Fluchtpunkt in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit. Eine Kirche, die dieser Logik folgt, übernimmt horizontale Führung in der Gesellschaft.
Voraussetzung hierfür ist, dass die Kirchen selbst den Erneuerungsprozess in seiner ganzen Breite und Tiefe annehmen und angehen.
Systemtherapie: Selbstreferenz und Umweltreferenz gewinnen
Systeme sind immer selbstreferenziell. Sie können nur das sein, was in ihrem Systemcode angelegt ist. Systeme sind lebendig, wenn sie Umweltreferenz herstellen, sich auf veränderte Umweltbedingungen immer wieder neu einstellen. Systeme werden dysfunktional, wenn der Zugang zu den eigenen Potenzialen oder die Kommunikation mit der Umwelt nicht (mehr) gelingt.
Aus systemtherapeutischer Perspektive ist bei den Kirchen (bei der katholischen Kirche stärker als bei den evangelischen Kirchen) sowohl die Fähigkeit, Umweltreferenz herzustellen, als auch die Fähigkeit, Selbstreferenz herzustellen, über weite Strecken blockiert oder gestört.
Wie kann ein gestalteter Weg aus dieser Engführung und Blockade aussehen?
Am Anfang jeden therapeutischen Heilungsprozesses steht die existentielle Erkenntnis und Vergewisserung der Beteiligten, dass die bisherigen Lösungsversuche gescheitert sind und man als System keine Zukunft hat, wenn man sein Agieren nicht unterbricht und vom bisherigen Pfad abweicht.
Diese Erkenntnis führt nicht automatisch zum Handeln. Sie kann zu schmerzhaft sein, dass die Beteiligten in alte Muster zurückfallen oder sich mit kleineren Reparaturen an der Fassade begnügen, um ein besseres Gefühl zu haben. Erst wenn die Motivation, den qualitativen Sprung zu machen groß genug ist, wenn Neugier und Lust auf das Neue groß genug sind, entsteht Bewegung. Hilfreich ist es dabei, Frames zur Verfügung zu stellen, die den Übergang und die damit verknüpften Emotionen verstehbar und handhabbar machen. Für die Bereitstellung einer solchen Rahmung ist der Bezug auf die biblische Botschaft von zentraler Bedeutung.
Am Anfang jeden therapeutischen Heilungsprozesses steht die existentielle Erkenntnis und Vergewisserung der Beteiligten, dass die bisherigen Lösungsversuche gescheitert sind und man als System keine Zukunft hat, wenn man sein Agieren nicht unterbricht und vom bisherigen Pfad abweicht.
Den Fokus vom Funktionieren (wollen) auf Lernen (wollen) zu legen und dafür Raum zu schaffen, sich zu unterbrechen und loszulassen, ohne zu wissen, was kommt, zu experimentieren und Fehler zu machen, ist unabdingbar für nachhaltige Veränderung. Wenn der Weg ins Ungewisse gelingen soll, braucht es einen verlässlichen Beziehungsrahmen, das Commitment, das Kommende mit all seinen Turbulenzen im Vertrauen aufeinander und auf die gemeinsame Erfahrung der Liebe Gottes, in Verantwortung füreinander gemeinsam zu gehen. Hier ist es sicher so, dass die sich zeigende Zersplitterung ein Commitment umso schwieriger (und unverbindlicher) macht, je größer das System ist.
Wenn es dann losgeht, die Ressourcen für den laufenden Betrieb des Bisherigen systematisch und substanziell zu reduzieren (das beginnt angesichts der verbleibenden Zeit bei 50%), vorhandene Muster und Routinen zu unterbrechen, Bestehendes loszulassen, um überhaupt Räume für Lernen und Entwicklung zu schaffen, gerät das System zwangsläufig in Stress (das Fehlen von Stress ist ein Indikator, dass man nur an der Oberfläche kratzt). Wenn nichts mehr so funktioniert, wie bisher, und das Neue noch längst nicht erkennbar ist, entsteht Ungewissheit und Leere. Die Akteure sind irritiert, Emotionen kommen hoch, Interessensunterschiede werden sichtbar, Konflikte entstehen. Das gilt es miteinander auszuhalten und auszutragen. Hier hat Führung eine wichtige Rolle: das System zusammen und auf dem Weg zu halten und den Beteiligten bei allen Verwerfungen, die auftreten können, die Sicherheit zu geben, dass es eine gute Zukunft gibt. Hier ist die größte Gefahr, in Aktionismus zu verfallen und damit letztlich in die alten Muster.
Den Fokus vom Funktionieren (wollen) auf Lernen (wollen) zu legen und dafür Raum zu schaffen, sich zu unterbrechen und loszulassen, ohne zu wissen, was kommt, zu experimentieren und Fehler zu machen, ist unabdingbar für nachhaltige Veränderung.
Theologisch gesprochen führt der Weg der Erneuerung über das Kreuz (Joh 12,24). Nur wenn die Leere und Verlassenheit des Kreuzes ausgehalten wird, ist man bereit und in der Lage, auf das zu hören und zu erkennen, was wichtig ist, was der Kern der Hoffnung ist, das „Why“ (Simon Sinek), das antreibt und begründet, die Identität, die alles, was an Neuem kommt, verknüpft und energetisiert. Gerhard Wegner nennt das den „nächsten Glauben“. Er schreibt: „Das Neue wächst aus den Erfahrungen der Teilhabe an der Kraft Gottes: aus der leibhaftigen Partizipation an Kraftfeldern des Geistes.“8 Das Risiko eines solchen Weges ist allerdings, zu merken, dass es dieses gemeinsame „Why“ gar nicht (mehr) gibt oder die Schnittmenge der individuellen „Whys“ nicht mehr ausreicht, um etwas Gemeinsames daraus zu machen. Dennoch: Wenn es so ist, wird die Auflösung so oder so kommen.
Wenn das Mindset stimmt und der Raum vorhanden ist, wird Energie freigesetzt, dass Neues aus sich heraus entstehen kann. Dennoch ist auch hier Führung gefordert. Was gebraucht wird, ist abhängig von der Situation und den Kontextbedingungen. Es geht dabei stets um eine gute Balance zwischen strategischer Orientierung, Förderung und Unterstützung von Innovation und geschickter, sukzessiver Transformation, bei der v.a. Entscheidungen im Vordergrund stehen.
Das Risiko eines solchen Weges ist allerdings, zu merken, dass es dieses gemeinsame „Why“ gar nicht (mehr) gibt oder die Schnittmenge der individuellen „Whys“ nicht mehr ausreicht, um etwas Gemeinsames daraus zu machen.
Der beschriebene Prozess wird sich emergent von unten ereignen, wenn die Akteure es einfach tun. Er kann von der Führung behindert oder aber i.S. horizontaler Führung unterstützt werden. Letzteres braucht viel Fingerspitzengefühl, um das rechte Maß an notwendiger Sicherheit und hinreichendem Tempo zu finden. Mehr Tempo scheint angesagt und mehr Mut, Bisheriges sein zu lassen.