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Foto: MihiScholl: Knottenkino (CC BY 2.0), Bildausschnitt

Konzept

Karl-Heinz Knöss

Von der Zukunft her führen mit Hilfe von Otto Scharmers „Theorie U“

1. Veränderung von Kirche

Gesellschaftlicher Wandel findet in immer kürzeren Zeitabständen statt und wird zudem ständig komplexer und weltumfassender. Die christlichen Kirchen in Deutschland sind von dieser Entwicklung nicht ausgenommen. Auch sie müssen hierauf angemessen reagieren, indem sie den Willen und die Kraft für einen durchgehenden Reformprozess aufbringen. Hiervon sind alle kirchlichen Ebenen betroffen, die Gemeinden und Seelsorgebereiche, die Kirchenkreise und Diözesen, die Landeskirchen und Bistümer, nicht zuletzt die Bischofskonferenz und die EKD.

Beide Kirchen haben in der Vergangenheit mit unterschiedlichen und vielfältigen organisatorischen Initiativen versucht, Veränderungen herbeizuführen. Den meisten dieser Reformprozesse ist eins gemeinsam: sie reagieren auf äußere Impulse, wie Mitgliederschwund und Rückgang der finanziellen Ausstattung, indem sie Lösungen suchen, die weitgehend systemkonform angelegt sind. Bei Gemeinden sind das Fusionen, die Aufgabe von Gemeindebezirken und -zentren, der Abbau von Personalstellen etc. Nicht selten wird vorgeschlagen, sich auf die „Kerngeschäfte“ zu konzentrieren und hier die Qualität zu verbessern. Mit anderen Worten: man reagiert mit horizontalen, kaum in die Tiefe gehenden Veränderungsansätzen.

Eine nachhaltige Erneuerung der Kirchen kann nur von innen, das heißt aus der Wurzel heraus erfolgreich sein.

„Wenn ihr beim Geld anfangt, könnt ihr das alles gleich vergessen“. Diese Worte, vom römisch-katholischen Pfarrer Franz Meurer aus Köln kundgetan auf dem evangelischen Kirchentag in Bremen 2009, geben in diesem Zusammenhang  zu denken. Wenn dieser Satz richtig ist – und davon bin ich überzeugt –, dann kann eine nachhaltige Erneuerung der Kirchen nur von innen, das heißt aus der Wurzel heraus erfolgreich sein. Vertikal angelegte Veränderungsprozesse sind daher vonnöten. Diese zielen durch konkrete Auftragsvergewisserung und Reformulierung des biblischen Auftrags im gegebenen Kontext auf grundlegende Mentalitäts- und Handlungsveränderungen ab. Die „Theorie U“ von C. Otto Scharmer1 schlägt eine solche Vorgehensweise vor und beschreibt diesen Weg in anschaulicher und beeindruckender Weise. Angesprochen sind hier vor allem die Führungsgremien und –kräfte sowie die sie begleitenden Organisationsberater und –beraterinnen.

Es scheint so, dass die herkömmlichen Methoden, Veränderungsprozesse zu gestalten, immer weniger erfolgreich sind. „Die Wahrscheinlichkeit des Erfolges von Change-Prozessen in Deutschland liegt bei unter 21%.“23 Die Erfahrung zeigt, dass die meisten dieser Veränderungsprozesse horizontal angelegt sind. Die Alternative ist auch von diesem Gesichtspunkt heraus gesehen, zukünftige Veränderungsprozesse entlang des „U“ der Theorie U, das heißt vertikal und damit tiefer gehender, zu gestalten.

2. Eine kurze Einführung in die „Theorie U“

Der deutsche Aktionsforscher C. Otto Scharmer lehrt und forscht am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT). Gleichzeitig ist er als Berater weltweit für unterschiedlichste Institutionen tätig. In dieser Kombination von praktischen Erfahrungen und wissenschaftlicher Reflexion ist sein Werk „Theorie U“ entstanden. Der Impuls dazu kam wohl aus der Frustration über relativ viele nicht gelungene Veränderungsprozesse, die er zusammen mit seinem Kollegen Peter Senge immer wieder beobachtet hat. Eine allein systemische Vorgehensweise reicht in vielen Fällen scheinbar nicht mehr aus. Ausgangspunkt seines Denkens ist das, was er als „Blinden Fleck“ bezeichnet: Man kann das Werk eines Malers aus der Perspektive des Ergebnisses (Bild), des Schöpfungsprozesses (Beobachtung während des Malens) und des Zeitpunktes an dem der Maler zu malen beginnt (die leere Leinwand, Zeitpunkt der Intuition) betrachten. Für Veränderungsprozesse gilt Vergleichbares: Was ist zu tun? Wie ist es zu tun? Und was sind die inneren Quellen, aus denen heraus wir es tun? Die Idee, sich aus diesen inneren Quellen heraus in die im Entstehen begriffene Zukunft zu erfühlen, ist das wesentlich Neue an der Theorie U. Scharmer bezeichnet dies mit dem Terminus „Presencing“ (siehe unten).

2.1 Fünf Ebenen von Veränderungen4

C. Otto Scharmer geht von fünf Ebenen von Veränderungen aus, wie sie in Abbildung 1 veranschaulicht sind.

scharmer

Abb. 1: Fünf Ebenen (E1-5) von Veränderungen, Quelle: Scharmer, aaO, 52, nach Abb. 2.2

Die Darstellung beschreibt zwei Dimensionen. „Die horizontale Achse macht die Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Haltung, die den Weg von der Wahrnehmung oder dem Erspüren über den Entschluss zum In-die-Tat-Umsetzen beschreibt. Die vertikale Achse beschreibt die verschiedenen Ebenen von Veränderungen: von der oberflächlichsten Antwort, der Reaktion, bis zum umfassenden Regenerieren.“5

Die linke Seite des U verdeutlicht, wie der gemeinsame Wille und Grund entdeckt wird. Die rechte Seite des U verdeutlicht den Weg des Handelns, wie die gemeinsam entdeckte Intention realisiert werden kann.

Presencing (Gegenwärtigung oder Anwesendwerden) ist die Verbindung von zwei Begriffen: presence (Anwesenheit) und sensing (spüren). Presencing heißt, sein eigenes höchstes Zukunftspotential zu erspüren, sich hineinziehen zu lassen und dann von diesem Ort aus zu handeln – d.h. Anwesendwerden im Sinne unserer höchsten zukünftigen Möglichkeit.

Das Neue an Scharmers Ideen ist die Schwerpunktsetzung auf die 5. Ebene. Nicht beim Lernen und Handeln aus Vergangenheitserfahrungen stehenbleiben, sondern das Lernen und Handeln aus der Quelle heraus in die „im Entstehen begriffenen Zukunft“ ableiten. Den Prozess, der in die entstehenden Zukunftsmöglichkeiten hineinzieht nennt Scharmer Presencing. „Presencing (Gegenwärtigung oder Anwesendwerden) ist die Verbindung von zwei Begriffen: presence (Anwesenheit) und sensing (spüren). Presencing heißt, sein eigenes höchstes Zukunftspotential zu erspüren, sich hineinziehen zu lassen und dann von diesem Ort aus zu handeln – d.h. Anwesendwerden im Sinne unserer höchsten zukünftigen Möglichkeit.“6

An diesem tiefsten Punkt des U ist das Erspüren und das Verbinden mit den eigenen Quellen essenziell, gerade und besonders auch in kirchlichen Organisationen. Das heißt, sich hier seinem biblischen Auftrag und seinen wirklichen Aufgaben bewusst zu werden und daraus die zukünftigen Handlungen abzuleiten.

2.2 Ein Gang durch das U7

Wie der Weg der Veränderungen durch das U aussieht veranschaulicht die Abbildung 2.

Abb. 2: „Die sieben Erkenntnisräume“

Abb. 2: „Die sieben Erkenntnisräume“, Quelle: Scharmer, aaO, 69 nach Abb. 2.9

 

Die sieben Erkenntnisräume (aus Abb. 2) werden von Scharmer wie folgt beschrieben:

  • „Runterladen: Muster der Vergangenheit wiederholen sich – die Welt wird mit den Augen des gewohnheitsmäßigen Denkens betrachtet.
  • Hinsehen: Ein mitgebrachtes Urteil loslassen und die Realität mit frischem Blick betrachten – das beobachtete System wird als von dem Beobachter getrennt wahrgenommen.
  • Hinspüren: Sich mit dem Feld verbinden, eintauchen und die Situation aus dem Ganzen heraus betrachten – die Grenze zwischen Beobachter und dem Beobachteten verschwimmt, das System nimmt sich selber wahr.
  • Anwesend werden: sich mit dem Quellort – dem inneren Ort der Stille – verbinden, von dem aus die im Entstehen begriffene Zukunft wahrnehmbar werden kann.
  • Verdichten der Vision und Intention – Kristallisieren und Bewusstmachen der Intention und Vision, die aus der Verbindung zu dem tieferen Quellort entstehen.
  • Erproben des Neuen in Prototypen, in denen die Zukunft durch praktisches Tun gemeinsam erkundet und entwickelt wird.
  • Das Neue praktisch anwenden und institutionell verkörpern: das Neue durch beispielsweise Infrastrukturen und Alltagspraktiken in eine Form bringen.“8

Damit man jeweils in die tiefer liegenden Erkenntnisräume gelangt, müssen Haltepunkte durchlaufen werden, die quasi auf die nächsten Stufen vorbereiten. Diese Halte- oder Umschlagpunkte werden von Scharmer auch als Schwellen bezeichnet.

Damit man jeweils in die tiefer liegenden Erkenntnisräume gelangt, müssen Haltepunkte durchlaufen werden, die quasi auf die nächsten Stufen vorbereiten. Diese Halte- oder Umschlagpunkte werden von Scharmer auch als Schwellen bezeichnet.

„Die Schwelle des Loslassens (auf dem Weg hinunter) wird zu einer Schwelle des Kommenlassens (auf dem Weg hinauf). Das Kommenlassen führt zu einem Moment, an dem die am tiefsten Punkt des U-Prozesses entstandene Intention und Vision sich verdichten können. Die Schwelle des Umwendens, d.h. die Wendung nach innen (auf dem Weg hinunter), wird zu einer Schwelle des Hervorbringens, d.h. der Wendung nach außen in der Erprobung konkreter Prototypen (auf dem Weg hinauf) […]. Die Schwelle des Innehaltens verwandelt sich über das Innehalten bezüglich Gewohnheiten und Routinen (auf dem Weg nach unten) in die Schwelle des Verkörperns (auf dem Weg nach oben). Verkörpern ist die Schwelle, an der das Neue mittels Handlungen, Infrastrukturen und Praxis seine Form bekommt.“9

Um die Praktiken des Öffnens auf der linken Seite des U umsetzen zu können, muss eine Atmosphäre aufgebaut werden, die das Erkunden sämtlicher Vorgänge im System möglich werden lässt. Dies gilt auch für die Praktiken der Stille, damit die Verbindung mit den tieferen Quellen, dem grundlegenden Auftrag und den sich abzeichnenden Zukunftsmöglichkeiten erkennbar wird. Für die Praktiken des Prototyping sind die Voraussetzungen zu schaffen, um die neuen Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln, zu testen, eventuell wieder fallen lassen zu können und letztlich zu realisieren.

Um in die Tiefe des U zu gelangen sind laut Scharmer drei Kernkompetenzen wesentlich, die die beteiligten Menschen sowie die beteiligten Systeme aufbauen oder verstärken müssten. Diese Kernkompetenzen lassen sich den notwendigen Handlungen auf den verschiedenen Ebenen zuordnen.

Für die Ebene 2 sind mehr die intellektuellen und analytischen Fähigkeiten (gemessen in IQ) von Bedeutung. Scharmer nennt dies Öffnung des Denkens.

Auf der Ebene 3 geht es mehr um die Fähigkeit, sich emotional in das Denken und Fühlen anderer Menschen hineinzuversetzen, um deren Sichtweisen und Handlungen zu verstehen. Diese Fähigkeit wird in EQ gemessen und von Scharmer mit Öffnung des Fühlens bezeichnet.

Auf den Ebenen 3 und 4 geht es darum „das alte Ich und die alte Intention loszulassen und das neue werdende (oder höhere) Ich und die neue Intention anwesend werden und kommen zu lassen.“10 Hierfür ist eine sogenannte spirituelle Intelligenz (gemessen in SQ) notwendig. Diese Kernkompetenz nennt Scharmer Öffnung des Willens. Diese dritte Kernkompetenz ist zur Zeit noch am wenigsten ausgebildet. Daher ist es eine vordringliche Zukunftsaufgabe diese aufzubauen. Eine Herausforderung, die kirchlichen Organisationsberatungseinrichtungen eigentlich liegen sollte.

2.3 Hinweise für konkrete Beratungskonzepte

An dieser Stelle möchte ich die Handlungsschritte auf dem Weg zum Grund des U anhand der 5 Ebenen noch etwas deutlicher machen.

Handlungen auf der Ebene 1 führen noch nicht in Richtung Tiefe. Hier geht es um Probleme, die durch schnell wirkende Lösungen beseitigt werden müssen. Das geschieht in der Regel durch das Wiederholen einer bereits vertrauten Handlung, also im vertrauten Muster. Bei akuten Fällen und bei Gefahr im Verzug, ist diese Vorgehensweise sicherlich sinnvoll.

Auf den Ebenen 2-4 gibt es auch noch weitere horizontalen „Abkürzungen“ (Re-structuring, Re-designing, Re-framing). Man muss sich genau überlegen, ob das Nehmen dieser „Abkürzungen“ wirklich zum gewünschten Erfolg führt. Wie oben schon erläutert, scheitern immer mehr Veränderungsprozesse, die auf diesen Ebenen angelegt sind.

Denn je komplexer die Herausforderungen werden, je weniger helfen hergebrachte Antworten und Methoden. Wir leben in Zeiten großer gesellschaftspolitischer Umbrüche, von denen auch die Kirchen massiv betroffen sind. Um hierauf zu reagieren und zu nachhaltigen Lösungen zu gelangen, ist das Gehen der nachfolgenden Schritte (bis zum Grund des U) eine große Chance, denn sie gehen über das gewohnt Systemische noch hinaus.

Die Ebene 2 zeichnet sich dadurch aus, dass man innehält, wirklich und ohne schon zu werten auf die gegebene Situation und Fakten hinschaut. Es ist ein erstes Öffnen, jenseits schon gedachter Problemanalysen. Hier geht es dann auch schon darum, dass Menschen beginnen, in einen offenen Dialog einzusteigen, um miteinander zu teilen, was sie wahrnehmen. Es geht hier nicht um Überzeugungen oder um richtig und falsch, sondern um ein gemeinsames Hinsehen.

In der Ebene 3 geht es dann darum, das eigene Herz zu öffnen und hinzuspüren, auf das was andere Menschen beschäftigt und wie sie wahrnehmen. Es geht um empathisches Zuhören und sich Einlassen auf andere Interpretations- und Verständnismöglichkeiten. Gesprächsrunden wie im „World Cafe“ wären eine mögliche Methode dafür.

Die Ebene 4 handelt vom offenen Willen. Das heißt, wirklich loszulassen von allen bisherigen Denkstrukturen und sich einzugestehen, dass grundlegend etwas anders werden muss, ohne schon genau zu wissen was und wie. An dieser Stelle darf es dieses Nichtwissen nicht nur geben, sondern diese Offenheit ist in gewisser Weise Voraussetzung für den Übergang in die nächste Ebene.  In der Meditation würde man diesen Zustand wohl mit „Leerwerden“ bezeichnen.

Der kybernetische Methodenkoffer für diese Ebene ist noch so gut wie leer. Für die Entwicklung geeigneter Methoden, kann man sicher auf Erfahrungen aus den Künsten und der Meditation zurückgreifen. Dieses offene Feld zu bestellen, wird eine interessante Herausforderung sein. Da hier auch der Erfahrungsschatz noch recht klein ist, gilt es, sich vorsichtig heranzutasten.

Ebene 5 ist der Ort des Presencing. Das bedeutet ganz gegenwärtig sein, ganz spüren, ganz offen sein für das, was aus dem gemeinsamen Quellgrund und aus der Zukunft heraus entsteht. Der Kopf ist ausgeschaltet. Es ist ein Zustand wie wir ihn aus der Meditation kennen. Diesen Zustand eine Zeit lang aushalten, einfach nur warten, damit sich eine Lösung intuitiv entwickelt. Vertrauen haben, wie ein Künstler, dass etwas wirklich Neues entsteht. Was an dieser Stelle passiert, beschreibt Scharmer so: „Du wartest und wartest und lässt deine Erfahrungen sich mit der Situation verbinden. In gewisser Weise gibt es kein Entscheiden. Das, was zu tun ist wird (von selbst) offensichtlich.“11 Und die Praxis zeigt, es entsteht tatsächlich das, was anders ist, als das, was wir schon kennen. Der kybernetische Methodenkoffer für diese Ebene ist noch so gut wie leer. Für die Entwicklung geeigneter Methoden, kann man sicher auf Erfahrungen aus den Künsten und der Meditation zurückgreifen. Dieses offene Feld zu bestellen, wird eine interessante Herausforderung sein. Da hier auch der Erfahrungsschatz noch recht klein ist, gilt es, sich vorsichtig heranzutasten.

Wie nun das Neue, das Andere realisiert werden sollte, zeigt der Weg auf der rechten Seite des U. Der Kopf, das (neue) Denken und Planen übernimmt nun wieder mehr die Regie, wobei die Erkenntnisse des Presencing den roten Faden vorgeben.

Das heißt, mit der Erstellung einer Konzeption werden

  • die Kerngeschäfte, -aufgaben
  • die notwendigen Prozesse
  • die entsprechenden Strukturen

entweder angepasst oder gänzlich neu entwickelt.

Hierfür ist der Methodenkoffer von systemischen Beratern und Beraterinnen ganz gut gefüllt und ausreichende Erfahrungen sind vorhanden.

Scharmer empfiehlt mit der Entwicklung von überschaubaren Prototypen zu beginnen. Diese könnte man als kleine Erfahrungs- und Erfolgsinseln bezeichnen. Man kann quasi gemeinsam üben, wie das Neue entwickelt wird und sich an der erfolgreichen, schnellen Umsetzung freuen. Man kann aber ebenso die Erfahrung machen, dass, auch nach dieser intensiven Vorarbeit, nicht alles auf Anhieb funktioniert und lernen, wie in solchen Fällen nachjustiert werden muss. Damit baut man einen Erfahrungsschatz auf, mit dem die dann anstehenden größeren Projekte professionell abgearbeitet werden können. „Prototypen sind Landebahnen für die Zukunft und ermöglichen ein Erkunden der Zukunft im praktischen Tun.“12

Der Weg durch das U ist allerdings nicht als ein vorstrukturierter Prozess zu begreifen, der einfach nur hintereinander abgearbeitet werden kann. Erst Schritt 1 fertig, dann Schritt 2 fertig usw. Nein, die Schritte bedingen sich gegenseitig und schließen sich gleichzeitig ineinander ein. „Alle Phasen finden einander überlappend statt, eher wie ein Tanz.“13

Diesen Tanz müssen Führungskräfte und Beteiligte, Berater, Beraterinnen und Klienten gemeinsam tanzen. Dadurch werden die Herausforderungen für die Verantwortlichen wesentlich komplexer, auch weil jeder Veränderungsprozess noch individueller auf  die jeweilige Problemlage und auf die beteiligten Menschen abgestimmt werden muss.

Jedes Führungshandeln sieht nicht nur anders aus, sondern viele der jeweils nächsten Schritte ergeben sich erst während des Veränderungsprozesses. Dies erfordert eine hohe Flexibilität und Methodensicherheit.

Die weiteren Hinweise resultieren teilweise aus konkreten Erfahrungen und aus Rückmeldungen der Beteiligten:

  • Vor dem „Gang durch das U“ ist es zwingend erforderlich, die Beteiligten genau darüber zu informieren auf was sie sich da einlassen und welche Ressourcen (Engagement, Zeit, Geld) zur Verfügung gestellt werden müssen.
  • Eine detaillierte Zielvereinbarung am Beginn des Prozesses ist noch nicht möglich. Das Ziel lautet, den tiefsten Punkt des U zu erreichen, zu der Quelle zu gehen, sein Selbst und seinen Auftrag zu definieren und eine Ahnung von der Zukunft zu erhalten. Hieraus, und erst jetzt, ergibt sich dann eine genaue Zielfestlegung.
  • Die Verantwortung für Veränderungsprozesse liegt eindeutig bei den Führungskräften bzw. -gremien. Beliebt ist es, diese Verantwortung auf Steuerungsgruppen zu verlagern. Dies führt in vielen Fällen dazu, dass die erarbeiteten Lösungen von der Führungsebene nicht akzeptiert werden. Dies kann zum einen daran liegen, dass man in Wirklichkeit gar keine Veränderungen will und dann das „Scheitern“ des Veränderungsprozesses den Mitgliedern der Steuerungsgruppe zuschieben kann.
  • Ein anderer häufiger Grund ist aber auch: die oberste Ebene hat schlicht den gesamten komplexen Prozess nicht mitbekommen, kann ihn nicht nachvollziehen und versteht daher die erarbeiteten Lösungsangebote nicht. Fazit: Die oberste Ebene muss auf jeden Fall eng in den kompletten Beratungsprozess eingebunden werden.
  • Es ist empfehlenswert, den Erkenntnisprozess von der Ebene 2 bis zur Ebene 5 nicht über einen zu langen Zeitraum anzusetzen. Mehrere Einzeltermine hierfür zu verwenden ist nicht sinnvoll, da immer wieder die Anschlussfähigkeit zum vorherigen Schritt hergestellt werden muss. Das ist schwierig und kostet viel Zeit. Als praktikabel hat sich erwiesen, einen „atmosphärisch dichten“ Zeitabschnitt von wenigen Tagen hierfür einzuplanen. Dies ist ausreichend, für zum Beispiel die Erarbeitung einer Gemeindekonzeption. Bei komplexeren Fragestellungen können auch mehrere Zeitabschnitte notwendig werden.
  • Auf der Ebene 3 sollen andere Perspektiven wahrgenommen werden. Führungsgremien in den Kirchen setzen sich fast ausschließlich aus Menschen, die in den traditionellen Milieus beheimatet sind, zusammen. Lebensweisen, Glaubensvorstellungen, Gottesbilder aus anderen Milieus werden kaum zur Kenntnis genommen oder höchstens oberflächlich berücksichtigt. Milieuforschungsergebnisse und die Erkenntnisse aus der Integralen Forschung sind hier wertvolle Hilfen. (siehe Literaturempfehlung)
  • Die meisten herkömmlichen Veränderungsberatungen enden mit der Erstellung eines Maßnahmenkatalogs in der Hoffnung, dass er auch umgesetzt wird. Zumindest das Erstellen, Testen, Evaluieren und u.U. Modifizieren von Prototyplösungen gehören zwingend noch zum Veränderungsprozesssprozess.

4. Ausblick

Scharmers „Theorie U“ ist in ihren Einzelaspekten nicht gänzlich neu. Neu und faszinierend sind vor allem die Gesamtsystematik und alles um die Ebene 5 herum. Für das sichere Handeln auf dieser Ebene muss noch viel an Erfahrungen gesammelt und untereinander ausgetauscht werden.

Neues Denken in Systeme zu implantieren ist eine ausgesprochen schwierige Aufgabe. Verantwortlich hierfür sind in erster Linie die Führungskräfte. Sie müssen dies wollen und vorleben.

Die immer komplexer werdenden zukünftigen Herausforderungen sind nur mit neuen Wegen und einem neuen Denken zu bewältigen. Dafür hat C. Otto Scharmer „Theorie U“ entwickelt. Neues Denken in Systeme zu implantieren ist eine ausgesprochen schwierige Aufgabe. Verantwortlich hierfür sind in erster Linie die Führungskräfte. Sie müssen dies wollen und vorleben. Mit anderen Worten: sie müssen einen Mentalitätswechsel herbeiführen. Organisationsberater und –beraterinnen sollten und könnten dazu die Anstöße geben und natürlich die Prozesse kompetent begleiten.

Die Einsicht in den notwendigen Mentalitätswechsel ist nach meinen Beobachtungen, gerade auch bei den christlichen Kirchen in Deutschland, ein noch sehr junges Pflänzchen. Zwei Aspekte machen aber Hoffnung:

  • gerade die Kirchen haben die besten Voraussetzungen auf dem Gebiet der Entwicklung der spirituellen Kompetenz (SQ) eine Führungsrolle zu übernehmen,
  • die Zukunft wird uns keine andere Wahl lassen.
  1. C. Otto Scharmer: Theorie U. Von der Zukunft her führen: Presencing als soziale Technik, Heidelberg 2009.
  2. C4-Consulting, TU-München (Hg.): Veränderungen erfolgreich gestalten 2007 und Michalk, S.: Angewandte Organisationsentwicklung in mittelständigen Unternehmen, Wiesbaden 2005.
  3. Die von der Gemeindeberatung/Organisationsentwicklung (GO) der Evangelischen Kirche im Rheinland  durchgeführten Kundenbefragungen in Gemeinden und Kirchenkreisen deuten auch deutlich in diese Richtung. Die Zufriedenheit mit den Ergebnissen von Beratungsprozessen zu Umstrukturierungen ist, gemessen an den anderen Beratungsfeldern, am geringsten. Auch die Nachhaltigkeit von Beratungen, d.h. die Umsetzung der Ergebnisse lassen zu wünschen übrig. Siehe K.-H. Knöß, Qualitätsreport der GO 2010 (internes Papier der GO der EKiR).
  4. Scharmer, aaO, 30f.
  5. Scharmer, aaO, 51f. 
  6. Scharmer, aaO, 30f.
  7. Scharmer, aaO, 57ff.
  8. Scharmer, aaO, 62f.
  9. Scharmer, aaO, 61f.
  10. Scharmer, aaO, 64.
  11. Scharmer, aaO, 55 (Klammer vom Verfasser eingefügt).
  12. C. Otto Scharmer, Katrin Käufer, „Führung vor der leeren Leinwand“, OrganisationsEntwicklung 2/2008.
  13. Scharmer, aaO, 68.

Literatur in Auswahl

  • C. Otto Scharmer, „Theorie U, von der Zukunft her führen“ 2009, Carl-Auer-Verlag
  • Die aktuellen Sinus-Milieus (2010), Sinus-Institut, Heidelberg
  • Studie „Spiritualität in Deutschland“ 2006, IDENTITY-FOUNDATION
  • Beck/Cowan, „Spiral Dynamics“ 2007, Kamphausen Verlag
  • Küstenmacher/Haberer/Küstenmacher, „GOTT 9.0“ 2010, Gütersloher Verlagshaus
  • J.W. Fowler, „Glaubensentwicklung“ 1989, Chr. Kaiser Verlag

Schlagworte

ChangemanagementKonzeptPresencingTheorie U

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