012015

Foto: Remigiusz Agatowski: Zell am See (CC BY-NC 2.0), Bildausschnitt

Konzept

Dieter Pohl

Wer werden wir gewesen sein?

Wir schreiben den 24. Tag im 11. Monat im 2. Regierungsjahr des Perserkönigs Darius – nach unserem Kalender den 15. Februar 519 v.Chr. Im frühen Morgengrauen – so gegen 5 Uhr – steigt ein Mann auf den Tempelberg in Jerusalem.

Die ersten Umrisse der Stadt tauchen im Grau der Dämmerung auf: die Ruinen des alten Tempels, kaputte Häuser, eingestürzte Dächer, Brandspuren an vielen Steinen und Mauern. „Es muss schrecklich gewesen sein“, denkt er, „damals als man die Stadt in Brand gesteckt hatte!“ Und mitten in diesen Ruinen sieht er etwas.

Er bezeichnet es als Vision. Ihm öffnet sich ein Zukunftsbild: So wird es einmal gewesen sein.

Und ich hob meine Augen auf, schaute und siehe:
Ein Mann hatte eine Messschnur in der Hand.
Und ich sprach: „Wohin gehst du?“
Er sprach zu mir: „Jerusalem auszumessen
und zu sehen, wie lang und breit es werden soll.“
Und siehe, der Engel, der mit mir redete, stand da,
und ein anderer Engel ging hinaus ihm entgegen
und sprach zu ihm: „Lauf hin und sage diesem jungen Mann:
Offene Stadt soll Jerusalem sein
vor der Menge an Menschen und Vieh in seiner Mitte.
Und ich will – spricht der Herr – eine feurige Mauer rings um sie her sein
und mich herrlich darin erweisen.“
(nachzulesen beim Propheten Sacharja 2, 5 – 9)

Man kann Jerusalem nicht wieder so hinstellen, wie es einmal gestanden hat:  Das ist eine Binsenweisheit, aber wenn wir uns darauf einlassen, dann merken wir: die Erkenntnis tut weh!

Den Betroffenen tut sie verdammt weh!

Da sind die Jerusalem-Fernen in Babylon. Gerne würden sie Jerusalem wieder so sehen, wie sie es verlassen haben. Gerne würden sie den Gottesdienst im Tempel wieder so erleben wie vor Jahrzehnten: den siebenarmigen Leuchter, die Thora-Rolle, die Psalmen, die Erinnerung an die großen Taten Gottes… Heute würden wir sie die Kirchenfernen nennen. Gerne würden sie die Kirche, den Gottesdienst wieder so erleben wie zu ihrer Kommunions- und Konfirmandenzeit: die Kirchenfenster, den Pfarrer, die Lieder, das Abendmahl, den Segen. Aber die Kirche wandelt sich.

Ihnen gegenüber stehen die Kern-Jerusalemer, die da geblieben sind, die den Niedergang vor Augen haben. Sie träumen von Sicherheit und Schutz, von Bedeutung, vom Wachsen gegen den Trend. Sie haben in ihrer Abgeschiedenheit eine eigene Sprache entwickelt, eigene Interessen und einen eigenen Lebensstil. Sie sind füreinander wie eine Familie geworden, haben ihren eigenen Stolz:

Wir sind die Treuen, die Anderen sind weggegangen, die müssen umkehren und wiederkommen! Und damit es nicht so langweilig wird, streiten sie sich um Gemeindeaufbau-Konzepte. Die einen sagen: Lasst uns mit dem Tempel anfangen, mit unserem Zentrum, mit dem Eigentlichen. Auf zur Mitte: Es gibt eine Sprachlosigkeit in Glaubensdingen: Lasst uns Glaubensseminare halten! Lasst uns über unseren Glauben reden! – unter uns! Die anderen sagen: Lasst uns mit der Stadtmauer anfangen: Das gibt Schutz und Sicherheit für alle, gerade auch für die Benachteiligten! Auf zu den Rändern: Mitgliederpflege, Kundenorientierung, niedrige Schwellen, Wellness-Programm.

Das ist nicht nur ein Streit aus unseren Tagen. Diese Auseinandersetzung gab es damals schon im Jahre 520/519 v.Chr. Zwei Parteien stritten miteinander: die Tempelbaufraktion und die Mauerbaufraktion. Zwei Propheten, Haggai und Sacharja, hatten damit zu kämpfen. Spuren dieses Streits durchziehen ihre Botschaft. Das ist offenbar nichts Neues, wenn die Kern-Gemeinde unter sich ist.

Sacharja hat eine Vision. Sieben Bildfolgen bekam er zu sehen. Wir beschäftigen uns mit der Dritten.

Und ich hob meine Augen auf, schaute und siehe:
Ein Mann hatte eine Messschnur in der Hand.

Endlich taucht einer auf, der was in der Hand hat! Er ist so eine Art Kern-Jerusalemer Bauingenieur oder Betriebswirt. Er kann messen, malen, Pläne schmieden und Ziele abstecken, ja sogar Organigramme zeichnen.

Und ich sprach: „Wohin gehst Du?“
Er sprach zu mir: „Jerusalem auszumessen
und zu sehen, wie lang und breit es werden soll“.

Er will genau hingucken, wahrnehmen. Er will nicht bei seinen schönen Ideen bleiben.

In dieser Vision kommen gleich zwei Deute-Engel vor, zwei Dolmetscher. Die anderen Visionen kommen mit einem aus. Der eine Dolmetsch-Engel vertritt die Willenskraft des Bauingenieurs: Er ergreift die Initiative, will die Sache angehen und seine Pläne umsetzen. Der andere Dolmetsch-Engel irritiert, er bringt das Ganze durcheinander – damit erweitert er auch den Blickwinkel:

Offene Stadt soll Jerusalem sein

Der hebräische Ausdruck, der in der Übersetzung meist mit „ohne Mauern“ wiedergegeben wird, bezeichnet mehr. Er meint „offen“, „offenes Land“, „ländlich“. Jerusalem soll daliegen als einfache Landstadt. Sein Hauptstadt-Status wird kritisch hinterfragt. Darin steckt eine Kränkung: die Hauptstadt wird zur Provinzstadt, die Großstadt wird zur Landstadt.

Statusänderungen tun weh! Statusänderungen von Sozialgebilden schmerzen manchmal mehr als individuelle.

Statusänderungen tun weh! Statusänderungen von Sozialgebilden schmerzen manchmal mehr als individuelle. Wir erleben in unseren Tagen eine Reihe von empfindlichen Statusänderungen:

  • Das christliche Abendland und die westlichen Demokratien sind nicht mehr das, worauf die Welt schaut. Wir werden lernen müssen, andere Kulturen zu achten, auf Augenhöhe zu verhandeln, wirklichkeitsnäher und beteiligungsfähiger zu handeln und Gegensätze einzubinden.
  • Die vormals vorbildliche soziale Marktwirtschaft hat schon vor Jahren Risse bekommen, als die Versorgungssysteme für Gesundheit und Alter brüchig wurden. Das löst Angst aus! Alle Welt ruft nach Vertrauen – was doch eigentlich eine wesentliche Ressource ist, die den Christen geschenkt ist. Wir kommen nicht umhin, uns neue Gedanken zur Wirtschaftsordnung und zu unseren Versorgungssystemen zu machen.
  • Auch die „Volks“-Kirchen sind nicht mehr das, was wir einmal waren: ein selbstbewusstes und selbstverständliches Markenzeichen im Volk der Dichter und Denker. In Duisburg und Köln wurden große, kunstvoll gestaltete Moscheen eingeweiht. Die christlichen Gemeinden dagegen werden kleiner. Sie müssen mit immer weniger Geld, Personal und Gebäuden auskommen. Es ist in unserer Zeit sehr anstrengend, sich ehrenamtlich als Kirchenvorsteher oder im Hauptberuf in der Kirchengemeinde zu engagieren. Die Entwicklung nagt an unserem Selbstbewusstsein.

Zurück zu unserer Vision: Die Ansage des zweiten Deute-Engels deckt auf: Es geht um Tieferes: um Verlust, um Verletzung, um Kränkung. Tief unten steckt Unzufriedenheit, wirkt Unruhe. Sie lässt den Streit zwischen der Tempelfraktion und der Mauerfraktion ausbrechen. Tief unten jammert und nörgelt es: Wer bin ich denn? Was soll ich denn? Was will ich denn? In der Tiefe, nicht in der Länge und Breite steckt die Krise. Dort reicht die Messschnur des Bauingenieurs oder des Betriebswirtes offenbar nicht mehr hin.

Statusänderungen rufen Identitätskrisen hervor: Jerusalem, wer bist Du noch? In der Performance der Vision färbt sich der Himmel rot ein, leuchtend rot: ein Feuer, eine Feuermauer ist zu sehen. Feuer ist in der alten Welt das Element der Wandlung. Es verbrennt und kann verbrennen:

  • Statussymbole: Tempel, Mauern, Bezirksgrenzen, Waffensysteme, spritfressende Autos …
  • Privilegien: Tempelsteuern, Kirchensteuern, Mittelpunktstellungen, Sonderrechte…
  • Ideologien: von der Wiederherstellung des früheren Zustandes, Wachstumsideologien, Alleinvertretungsansprüche

Feuer verbrennt nicht nur. Es leuchtet auch, orientiert, erwärmt, schützt, reinigt.

Das offene Jerusalem begreift, wozu es da ist: Menschen und Tiere – nicht Könige – werden in ihm aus- und eingehen. Der Kernprozess der Wandlung ist die Sinnfrage: Wozu sind wir da? Mit der Antwort auf diese Frage setzt der Heilungsprozess ein: Der privilegierte Status kann zurücktreten, der neue Status greift Raum.

Wir wollen nicht mehr gegen den Trend wachsen, nicht mehr uns selbst und die, die mit uns arbeiten, verheizen, sondern wir werden realistisch, nehmen die Dinge, wie sie kommen, als Fingerzeig Gottes.

Könnte das auch unser Heilungsprozess sein? Die Wachstumsideologie, die wir als Kirche der Wachstums- und Fortschrittsgesellschaft entnommen haben, verbrennt. Sie verliert an Attraktivität. Wir wollen nicht mehr gegen den Trend wachsen, nicht mehr uns selbst und die, die mit uns arbeiten, verheizen, sondern wir werden realistisch, nehmen die Dinge, wie sie kommen, als Fingerzeig Gottes.

Wahrscheinlich verbrennt auch unser Alleinvertretungsanspruch auf den wahren Glauben angesichts so intensiver Tuchfühlung mit Menschen anderer Religionen. Ich bin sicher: es bleibt ein Alleinstellungsmerkmal unter den Weltanschauungen übrig. Ich sehe es in der Rechtfertigung: im bedingungslosen, uneinholbaren, unberechenbaren JA Gottes, das hinter allem Leben steht. Und wenn das Alleinstellungsmerkmal klar ist, müssen wir nicht mehr jammern, werden wir wieder selbstbewusst, können wir wieder werbend reden.

Man kann Jerusalem nicht wieder so hinstellen, wie es einmal gestanden hat. Das tut weh!

Es könnte ja sein, dass die Performance unserer Kirchen – nennen wir es besser: die Veränderung unserer Kirchen – in unseren Tagen weit tiefer greift, als wir es uns vorstellen, weit tiefer als unsere Messschnur reicht. Es könnte ja sein, dass wir angehalten sind, unsere bisherigen Denk-, Verhaltens- und Strukturmuster zu verlernen, um überhaupt entdecken zu können, was zukunftsfähig ist.

„futur2“  – heißt das Titel dieser Internet-Zeitschrift.

„Wer werde ich, wer werden wir gewesen sein?“ fragen wir, indem wir versuchen, von einem Punkt in der Zukunft aus zurückblicken.  Was werden unsere Kinder und Enkel zu unseren Entscheidungen, die wir für ihre und unsere  Zukunft treffen, sagen?

Um uns dieses uns vorzustellen, auszumalen, brauchen wir immer wieder Deute-Engel, die uns auf die tiefen, tiefen Wandlungsprozesse unserer Gesellschaft und unserer Kirchen, die wir in diesen Tagen erst ansatzweise erkennen, hinweisen. Unlösbar damit verbunden ist aber auch, dass wir in unserer Vision von der Zukunft unserer Welt, unserer Kirchen und Gemeinden das Feuer nicht ausblenden.

Wo sich Grenzen ändern, ändern sich auch die Systeme darin. Wo Mauern brennen, gerät das Leben in ihnen in eine neue Beweglichkeit.

Die gegenwärtige Systemtheorie zeigt uns: Wo sich Grenzen ändern, ändern sich auch die Systeme darin. Wo Mauern brennen, gerät das Leben in ihnen in eine neue Beweglichkeit.

Die neue EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft „Engagement und Indifferenz“1 berichtet u. a. über die wachsende Indifferenz unter Evangelischen gegenüber ihrer Kirche und Glaubensinhalten, die – so der ehemalige Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider – „in vielen Hinsichten zu Abschmelzungsprozessen führt“.2

In einer katholischen Studie heißt es: „Die Verbindlichkeit der katholischen Religion als geschlossenes Glaubenssystem scheint in der Vielfalt religiöser und spiritueller Angebote verloren gegangen zu sein. Viele stellen sich ein individuelles Glaubens – Patchwork zusammen und bedienen sich dabei aus vielfältigen (häufig fernöstlichen) Quellen“.3

An den Rändern bröckelt es. Was wird dies im Inneren der Kirchen in Bewegung bringen?

Es ist eine gewagte Sache, angesichts der feurigen Mauer zu leben und zu arbeiten – ungeheuer gewagt! Wie der Engel schon sagte: Es braucht Vertrauen, viel Vertrauen, dass einer dahintersteht der sagt: Ich bin der, der das Evangelium – bei Allem, was immer auch passiert – weiter durch die Menschheitsgeschichte trägt.

  1. Ev. Kirche in Deutschland: Engagement und Indifferenz – Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. www.ekd.de/kmu März 2014
  2. Nikolaus Schneider: Fruchtbare Potentiale und beachtliche Herausforderung. www.ekd.de/kmu (6. März 2014).
  3. MDG – Milieuhandbuch 2013, Heidelberg/München 2013, S.12

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