„Siehe, ich schaffe Neues! Erkennt ihr’s denn nicht?“ Zu Konturen der „nächsten Kirche“
I Systemtheoretische Vorbemerkung
Die nächste Kirche, über die wir nachdenken und die wir verwirklichen wollen, soll eine ganz andere sein als die bestehende, deren Tage ganz offensichtlich gezählt sind.
Die nächste Kirche kann aber nicht im luftleeren Raum beginnen. Wir können nur theoretisch und in der Kybernetik den Reset-Knopf drücken und alles auf Anfang stellen. In der Realität fängt auch die nächste Kirche nicht bei Null an. Da gibt es immer noch viele Menschen, die dem Vergehen der traditionellen Gestalt von Kirche wehmütig und mit Sorge zusehen und die diese Gestalt erhalten wollen. Da gibt es einen unglaublichen, in Parallelität zu den staatlichen Institutionen aufgebauten Behördenapparat, der gegenwärtig eher noch wächst als schrumpft. Da gibt es ein sagenhaftes Vermögen an Grundbesitz, Immobilien und nicht zuletzt Personal. Das alles kann man nicht einfach mit einem Federstrich hinter sich lassen. Wir brauchen eine Übergangszeit, in der die vergangene und vergehende und die nächste, aufbrechende Kirche nebeneinander bestehen und auch miteinander vermittelt werden.
Soll die nächste Kirche eine nicht nur veränderte, angepasste sein, darf sie freilich nicht auf den gelegten Gleisen weiterfahren; darf sie nicht den vorhandenen Bildern und Konzepten von Kirche folgen. Die nächste Kirche darf nicht instrumentalisiert werden als Perpetuierung dessen, was schon ist.
Wir brauchen eine Übergangszeit, in der die vergangene und vergehende und die nächste, aufbrechende Kirche nebeneinander bestehen und auch miteinander vermittelt werden.
Ansätze der Vermittlung der beiden Systeme sind bisher trotz erheblicher Anstrengungen weitgehend gescheitert. Da sind zum einen die mit hohen Erwartungen verbundenen Erprobungsräume. So lange aber der kirchenamtliche und regionale Abstimmungsbedarf so hoch ist, können nicht wirklich neue Wege beschritten werden. So lange sich keine jüngeren Menschen ziehen lassen, weil sie merken, dass eine wirklich grundlegend veränderte Gestalt von Kirche auch in diesem Rahmen nicht möglich ist, entsteht hier keine neue Kirche. – Der zweite Ansatz besteht in ebenfalls mit hohen Erwartungen verbundenen innerkirchlichen Fresh X. Hier waren die Ergebnisse in der Vergangenheit ebenfalls nicht sehr ermutigend, ebenfalls weil der Abstimmungsbedarf mit dem ortsgemeindlichen System zu hoch und der Abstimmungsprozess zu langwierig und kompromissbehaftet war. Im Endeffekt war und ist die Zahl der Menschen, die Neues wollen und bereit sind, ihre Kraft und Zeit für einen solchen Prozess einzusetzen, zu gering. Der Weg in independente Gemeindegründungen oder Gemeindebewegungen, die sich rasant ausbreiten, liegt dann vielfach näher.
Wir stehen also vor einem Systemkonflikt. Zwei diametral unterschiedliche Konzepte stehen sich gegenüber. Beide sind für eine Übergangszeit notwendig, bis die Volkskirche „abgewickelt“ ist und die nächste Kirche Gestalt gewonnen hat. Beide Gestalten von Kirche sind aber aufeinander angewiesen und aneinander verwiesen. Es wäre wohl unverantwortlich, die sterbende Volkskirche und d. h. ja v. a. die Menschen, die in ihr mit Ernst Christen sein wollen, einfach sich selbst zu überlassen. Andererseits braucht auch die nächste Kirche mindestens für eine Übergangszeit eine „Mitgift“, die es ihr ermöglicht, zu starten, zu experimentieren, auszuprobieren und dabei auch scheitern zu dürfen und Fehler zu machen.
Dass ein solcher Weg möglich ist, hat die Anglikanische Kirche mit ihrer mixed economy bewiesen. Hier existieren noch überlebensfähige traditionelle Kirchengemeinden und fresh expressions of church nebeneinander, mit jeweils eigener Administration, Organisation, Verwaltung und Haushalten – verbunden nur auf der Ebene der Kirchenleitung, deren Bischöfe sich für beide Gestalten von Kirche verantwortlich wissen und speziell die neuen, „frischen“ Formen von Kirche unterstützen. Diese dürfen experimentieren, sind sehr erfolgreich und tragen entscheidend bei zu einem neuen Gesicht von einer in der Gesellschaft präsenten Kirche, relevantem Glauben und glaubwürdigem Christentum.
Wir brauchen eine Übergangszeit, in der die vergangene und vergehende und die nächste, aufbrechende Kirche nebeneinander bestehen und auch miteinander vermittelt werden.
Notwendig sind für den Start der neuen Kirche finanzielle Spielräume, organisatorische Selbständigkeit und administrative Freiheit. Es braucht verlässliche finanzielle Budgets und Innovationsfonds. In diese fließen nicht nur die Kirchensteuern derer, die sich an alternativen Gemeindeformen beteiligen. Es gibt auf Zeit feste Zuschüsse, die als Mittel für die Gemeinde-Start-ups zur Verfügung stehen. Es braucht eine organisatorische Selbständigkeit, also den Verzicht auf eine lähmende „Einbindung“, die der Erfahrung nach auf ein Kappen des Innovativen und den Verlust von kreativem Schwung hinausläuft. Es braucht eine administrative Freiheit, die selbständig und selbstverantwortlich genutzt werden kann; die einschließt: probieren können und scheitern dürfen.
Administrativ bedeutet das das Ende der obrigkeitlichen Aufsichtskirche. Es bedeutet, probieren dürfen, ohne dass eine „Pfarrperson“ die theologische Kontrolle hat. Es bedeutet, Abendmahl feiern dürfen, ohne dass ein Pfarrer/in dabei ist, wenn man es mag; wenn sich Kirche ereignet. Es bedeutet: Die Zeiten, an denen man zusammenkommt, dürfen kollidieren mit den offiziellen parochialen Gottesdienstzeiten in der Region; es bedeutet, die berüchtigten und gefürchteten Parallelstrukturen zuzulassen und zu gucken, welche sich bewähren; es bedeutet, die Laien nicht nur rhetorisch in ihrer theologischen Bedeutung immer neu zu beschwören („allgemeines Priestertum der Gläubigen“), sondern tatsächlich mündiges Christsein zu ermöglichen, auch theologische, geistliche Verantwortung für Laien zu ermöglichen; es bedeutet, Gemeinde ohne Pfarrerin bauen zu dürfen, Gemeinde zu leben ohne eigene Immobilien, aber flexibel auf Mietbasis oder – noch gefährlicher – in Wohnzimmern oder Nebenräumen von Gaststätten, Restaurants; es bedeutet, zusammenzukommen an wechselnden Orten, zu verabredeten Zeiten, aber auch spontan, zusammengerufen zu Gebet und Fürbitte durch eine entsprechende App; es bedeutet, sich zu verabreden für eine Gemeinde auf Zeit oder nur für einen bestimmten Berufsstand; es bedeutet, auf Kirchensteuer verzichten zu können, unterschiedliche Mitgliedschaftsmodelle anzubieten, auch Mitgliedschaft zur Probe und auf Zeit; es bedeutet, Optionen zu haben für unterschiedlich intensive Formen der Partizipation oder für die Unterstützung unterschiedlicher Zwecke. Es bedeutet: Freiheit zu haben zum Ausprobieren dessen, was Kirche unter den so radikal geänderten soziokulturellen Bedingungen ausmachen kann, und nach lebensdienlichen Gestalten von Gemeinde zu suchen, die relevant sind, weil sie sich den Lebenswelten flexibel anschmiegen, um in ihnen vom Evangelium her relevant zu sein.
Strategisch gilt es darum, für den Neuansatz Bilder gegen Bilder zu setzen; Gemeinde denken zu dürfen, wie wir sie uns wünschen, weil wir sie so brauchen.
Der Neuansatz hat nur dann eine Chance, wenn er nicht an äußeren Strukturen hängt, wenn er nicht durch das determiniert, festgelegt und eingehegt wird, was doch gerade überwunden werden soll und muss. Der Neuansatz hat nur dann eine Chance, wenn er Visionen von Kirche zuläßt und es erlaubt, sich von alten, bisherigen, gewohnten, aber lebensfernen Bildern von Kirche zu lösen. Schon in der Stoa wusste man: Die Bilder machen uns kaputt. Die Bilder von dem, was sein muss, sein sollte, was andere erwarten, überfordern und lähmen uns.
Strategisch gilt es darum, für den Neuansatz Bilder gegen Bilder zu setzen; Gemeinde denken zu dürfen, wie wir sie uns wünschen, weil wir sie so brauchen.
Der Neuansatz wird dann gelingen, wenn v. a. junge Menschen erkennen, dass tatsächlich unter dem Label Evangelische Kirche die Kirche möglich ist, die sie sich wünschen und die sie gestalten wollen. Scheitert eine solche Kooperation, wäre das für beide Systeme von Nachteil. Es würde das Ende der traditionellen Gestalt von Kirche beschleunigen und den Neustart der nächsten Kirche erschweren.
II Die nächste Kirche
a) Die christologische Mitte1
Vom Vorrang der Theologie
Wir beginnen unsere Überlegungen zur neuen, nächsten Kirche ganz bewusst mit einer Reflexion auf das, was theologisch und geistlich verbindet. Theologie wird entwertet, wenn sie einer auch ohne sie bestehenden Vorstellung von Kirche als nachträgliche Legitimation bloß umgehängt wird. Organisation, Administration, Gestalt und Schwerpunkte müssen sich von der tragenden theologischen Mitte her ergeben und nicht umgekehrt. Es wäre ein „Weiter so“ in den alten Gleisen, einfach in Fragen der Organisation und Administration hineinzuspringen und nach Modellen zu suchen, wie Kirche unter veränderten Umständen weiterleben kann. Wir brauchen aber nicht eine bloß veränderte, sondern eine transformierte, sich von ihrem Ursprung und ihrer Mitte her erneuernde Kirche. Alle Modelle haben den Nachteil, dass sie – weil sie Modellcharakter besitzen – einengen. Was not tut, ist aber der freie, der befreite, der unkonventionelle und kreative Blick.
Kirche ist Kirche von ihrem Mittelpunkt her
Woran könnte er sich ausrichten, wenn er nicht wieder durch Partikularinteressen eingefangen werden soll, wenn nicht an Christus? Jesus Christus ist das verbindende Band der Kirche, derer, die Christen sein wollen. Es kann keinen anderen selbstverständlichen, verbindlichen Ausgangspunkt geben als ihn; keine Begründung von Profil und Verbindlichkeit geben als die, die entsteht, wenn wir gemeinsam auf ihn blicken und das, was er von uns will und was er uns zeigt. Allein diese gemeinsame Ausrichtung auf Jesus Christus als die Mitte der Kirche bietet zwei Vorteile: Sie ist substantiell: Von hier aus gewinnen wir Kriterien und Profil; und sie bietet Raum: Auch sehr Unterschiedliche können sich auf diese Mitte verständigen.
Wir brauchen aber nicht eine bloß veränderte, sondern eine transformierte, sich von ihrem Ursprung und ihrer Mitte her erneuernde Kirche.
Keine Administration, keine Organisation, keine bürokratisch organisierten Verteilungsmechanismen können ersetzen, was Kirche ausmacht: die gemeinsame Loyalität zu Christus. Durch sie ergibt sich ein Raum für Unterschiede und Differenzen, die dann nicht nur geduldet und hingenommen, sondern geistlich bejaht werden können; Raum für eine Pluralität und Diversität, die nicht wirklich organisiert werden kann, wenn sie nicht ein bloßes Nebeneinander bedeuten soll. Das oft so schwache Toleranzgebot praktischer Vernunft erhält Kraft dadurch, dass ich entdecke: Der, der da so ganz andere, ja gegensätzliche Positionen vertritt, ist jemand, der genauso wie ich, nur von einer ganz anderen Position aus, ebenfalls auf Christus blickt, ihm nachzufolgen sucht, ihn erfährt, mit ihm unterwegs ist. Ich achte Christus, wenn ich ihn achte.
Diese Kirche ist keine statische, keine existentiale Größe. Sie lebt in der Erwartung des kommenden Herrn. Solange „das eschatologische Büro geschlossen“ bleibt (Ernst Troeltsch zugeschriebene Redeweise), hat die Kirche keine Zukunft. Denn die Kirche hat keine Zukunft als nur die eine: den wiederkommenden Herrn.
Konsequenz 1: Der unique selling point (USP)
Folgt die Kirche dieser theologischen Grundlage, ist klar: Jesus Christus ist ihr USP. Er allein ist ihr Alleinstellungsmerkmal. Allein dieser USP verhindert, dass sich Kirche in ihrem Reden, ihren Verlautbarungen, ihrem Handeln selbst banalisiert, indem sie tut, was ohnehin schon andere tun; verkündet und verlautbart, was doch auch andere schon lange sagen, oft besser und qualifizierter. Beim Thema Ökologie sind die Grünen die Profis, Diakonie und Wohlfahrt, Mitbestimmung können Sozialdemokraten ganz ausgezeichnet; Bildung ist bei Postmateriellen sehr gut aufgehoben.
Wenn Kirche auf diesen Feldern unterwegs ist, muss sie profilieren, warum auch sie als Kirche das tut, was das spezifisch Christliche ist, das sie mit diesem Auftrag verbindet, und was offenbar durch die anderen Organisationen und Professionen so nicht abgedeckt ist. Es muss das spezifisch Christliche erkennbar sein, das durch andere nicht abgedeckt wird und ihr Handeln notwendig macht.
Gemeinde mag vieles, alles tun. Aber wir brauchen aber nicht eine bloß veränderte, sondern eine transformierte, sich von ihrem Ursprung und ihrer Mitte her erneuernde Kirche.
Wenn Christus wieder zu ihrem USP wird, kann der Kirche das helfen, sich nicht zu verheddern und verzetteln in tausend Aufgaben und Tätigkeiten, die ihr verschiedene Partikularinteressen antragen. Wenn Christus ihr USP ist, wenn der Blick auf ihn ihr Handeln bestimmt, wenn er die Prioritäten vorgibt, dann darf sie fragen: Ist das wirklich unsere Kernaufgabe: etwa der Erhalt von Immobilien, deren Betrieb extrem aufwändig ist, die aber kaum genutzt werden; der Betrieb von KiTas, für die christlich überzeugtes Personal immer schwieriger zu finden ist; das Abhalten von Gottesdiensten in kalten, kaum noch besuchten Kirchen, das Erteilen von Religionsunterricht, für das sich kaum noch jemand interessiert, weil er bekenntnismäßig und positionell zahnlos ist (und sein muss). Warum sollte Kirche sich erschöpfen in der Erhaltung von Baudenkmälern, die eine staatliche kulturelle Aufgabe ist; warum sollte sie soziale Einrichtungen verwalten, für die ihr weithin das Personal fehlt, das christlich prägen könnte; warum – außer aus finanziellen Gründen – sollte sie die Zeit und Kraft ihrer theologischen Hauptamtlichen erschöpfen und RU erteilen, wenn das Werben und Profilieren des christlichen Glaubens gar nicht erwünscht ist?
im Es macht Sinn, Simon Sinek („Finde dein Warum!“) zu folgen und sein Profil wie auch die Motivation dadurch wiederzufinden, dass wir zuerst die Frage nach dem Why? stellen, bevor wir uns im How? und im What? verlieren. Kirche mag vieles, alles sein; Gemeinde mag vieles, alles tun. Wir brauchen aber nicht eine bloß veränderte, sondern eine transformierte, sich von ihrem Ursprung und ihrer Mitte her erneuernde Kirche. Eine auf ihren USP ausgerichtete Kirche tut nichts, was alle tun; wenn, dann tut sie es spezifisch – anders.
Konsequenz 2: Form follows funktion
Eine in Jesus Christus ihre Mitte fokussierende Kirche findet ihre Identität weder durch Abgrenzungen noch durch schrankenlose Pluralität. Sie definiert sich nicht dadurch, dass sie Grenzen setzt und ausschließt: Diese und dieser gehören nicht dazu; dies und jenes ist nicht christlich. Sie findet sie aber auch nicht – Konzept: Einheit durch Vielfalt! – durch die bloße Addition des Gegensätzlichen, die programmatisch alles umfassende Vielfalt, die in einer Kirche, die für alle da ist, angeblich gegeben sein muss. Die Kirche, die ihren USP kennt, muss nicht begrifflich-definitorische Abgrenzungen vornehmen, um ihre Identität zu bestimmen (AfD-Wähler können keine Christen sein! Ist das wirklich evangelisches Profil, dass wir Menschen, ganze Menschengruppen ausgrenzen?); sie muss nur erläutern, was christlicher Glaube von Christus, von seinem Ursprung her bedeutet (wie sieht ein verantwortlicher Umgang mit mental, kulturell und materiell armen Menschen aus, die im Mittelpunkt der Fürsorge und Zuwendung Jesu standen und stehen?). Wo die Kirche sich auf Christus ausrichtet, ist sie zwar für „alle (die mühselig und beladen sind)“, aber nicht mehr für alles da.
Konsequenz 3: Unterwegs-Kirche
Eine Kirche, die auf ihren Herrn wartet, zu ihm unterwegs ist, eine Unterwegs-Kirche hat notwendigerweise eine vorläufige Gestalt. Sie richtet sich nicht auf Dauer ein. Sie baut nicht in Beton oder Stein. Die nächste Kirche hat leichtes Gepäck; sie braucht keine eigenen Immobilien, damit sie sich flexibel einstellen kann. Sie setzt nicht auf Kontinuität, sondern auf Wandel. Sie sammelt kein Manna, das verfault. Sie setzt nicht auf Einrichtungen, die ihre Existenz und ihren Unterhalt sichern, weil diese sie binden und behindern. Sie denkt nicht: Wie kann ich diese Gestalt von Kirche dauerhaft sichern, über die eigene Generation hinaus? Sie existiert dann, wenn sie lebt. Lebt sie nicht mehr, muss es sie nicht mehr geben.
Konsequenz 4: Beziehungskirche
Weil die nächste Kirche nur minimal gebunden ist durch administrative, bürokratische und organisatorische Aufgaben, durch Vorsorge und Sicherungen einer Zukunft, die die Gegenwart verstellt, hat sie Kapazitäten für Menschen. Sie ist in erster Linie Beziehungskirche. Sie ist durch ihre Konzentration auf Christus fähig, Prioritäten zu setzen. Menschen sind ihr wichtiger als Steine; Beziehungen wichtiger als Ordnungen; Begegnungen wichtiger als begrenzende Regeln. Kirche ist nicht glaubwürdig, so lange auch nur ein Wohnsitzloser im Winter erfriert, weil er keine menschenwürdige Unterkunft findet, die Gliedkirchen der EKD dafür über die Jahre Milliarden Euro für den Erhalt und die Pflege von kirchlichen Immobilien ausgeben.
Konsequenz 5: Geistliche Kirche, die satt wird an Christus
Zur Kirche in ihren tausenderlei, milieudeklinierten Gestalten kommt man dann, weil man sich hier neues Leben abholen kann.
Die nächste Kirche versteckt ihre Spiritualität nicht verschämt. Sie weiß um ihre Brunnenstube; sie sucht sie auf und bekennt sich zu ihr. Sie besteht aus Gelegenheiten, an denen und bei denen man einzeln und gemeinsam auf Gott hört, seinen Willen nicht bloß proklamiert, sondern kritisch zu identifizieren sucht, durchaus in der Unterscheidung von Prophetie und Falschprophetie; sie bietet Orte, an denen Menschen sich vergewissern, dass Gott sie liebt und dass das Bedeutung hat für ihr Leben; sie öffnet Räume, in denen Menschen bekennen und aussprechen können, dass sie im Leben nicht zurechtkommen, auch als Christen nicht, warum sie verzweifeln und was ihnen Not macht. Sie stellt darum eine Gemeinschaft dar, in der immer wieder neu erfahrbar und deutlich wird, dass wir nur Menschen sind: fehlbar, begrenzt, oft auch sich verfehlend – gegen sich selbst und andere. Kirche ereignet sich dann dort, wo Menschen einander das zusprechen können, was sie von sich aus kaum glauben, oft sich selbst nicht glauben können; dass es Möglichkeiten gibt, neu anzufangen und sich zu verändern. Zur Kirche in ihren tausenderlei, milieudeklinierten Gestalten kommt man dann, weil man sich hier neues Leben abholen kann.
Konsequenz 6: Die nächste Kirche ist schon da
Wo Christen gemeinsam, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise den Blick auf Christus richten, wird dann auch deutlich: Die „nächste Kirche“ ist schon da. Sie existiert bereits. Christus ist doch schon am Werk und baut Neues, während wir noch über den Untergang der Volkskirche lamentieren. Das ist die eigentlich gute Nachricht, das Evangelium für die, die über Kirche und ihre Zukunft nachdenken. Die Kirche ist schon da, wir müssen sie nicht erst machen.
Die lebendige, die wahre Kirche ereignet sich längst, auch jenseits unserer Regeln und Förmchen.
In der ersten Zeit der Corona-Epidemie war da der dringende Wunsch der Basis: Abendmähler auch ohne Pfarrpersonen, außerhalb der verbotenen Gottesdienste, als Orte der Vergewisserung der Nähe Gottes. Kirchenamtlich geht das aber eigentlich überhaupt nicht. Wenn das – zur Not – passieren soll, dann nur unter strengen Auflagen. Was passiert da? – Da will tatsächlich eine Jugendgruppe ihre Wochenendfreizeit mit Abendmahl abschließen, weil ihr das wichtig ist: die Gemeinschaft mit dem erhöhten Herrn. Aber eigentlich geht das ja nicht, es müsste eigentlich die zuständige Pfarrerin eingeflogen werden oder mindestens eine in einem Kurs geschulte und zertifizierte Beauftragte dabei sein, auch wenn sie eigentlich gar nicht dazu gehört und die Intimität der Gruppe stört. Was passiert da? – Da ist eine ungeheuer engagierte junge Frau, die ehrenamtlich bereits eine fantastische Jugendarbeit macht. Es wäre naheliegend, sie als Jugendreferentin einzustellen. Nur, sie ist charismatisch geprägt und gehört einer Freikirche an. Sie kommt nicht in Frage. Was passiert da? – Da ist der Strickkreis, der sich auf „private“ Initiative hin regelmäßig am Samstag-Vormittag trifft. Man tauscht sich aus, liest die Losungen und schließt mit Fürbitte. Argwöhnisch beobachtet die zuständige Pfarrperson diese ungeregelte, nicht kontrollierte und organisierte Form von geistlichem Leben. Dieser Kreis ist ihr gar nicht recht. Reicht nicht der Gottesdienst? Was passiert da? – Da ist eine Jugendkirche, die alle vier Wochen 500 junge Menschen anzieht; die Kirchenleitung verweigert ihr die Unterstützung mit der Begründung, sie biete „keine Gewähr auf Dauer“. Was passiert da?
Die lebendige, die wahre Kirche ereignet sich längst, auch jenseits unserer Regeln und Förmchen. Sie muss nur entdeckt, gewürdigt und ggf. unterstützt werden.
b) Konturen einer schwachen Kirche unter den Verheißungen eines starken Gottes2
Ein Neustart der Kirche ist nicht in erster Linie ein Orga-Problem oder eine Frage der richtigen, effizienten Organisation. Entscheidend ist die Haltung einer Kirche, die neu starten will. Ihre angemessene Gestalt gewinnt die nächste Kirche nicht durch Regeln, Normen, neue Modelle. Sie realisiert sie, wenn sie der gelegten christologischen Spur folgt und sich durch Vorbild, Auftrag und Präsenz Christi bestimmen lässt. Das kann bedeuten:
Kontur 1: Die nächste Kirche ist schwache Kirche
Sie ist ganz bewusst schwache Kirche, die ihr Überleben, ihre Existenz, ihr Bestehen nicht selber schaffen, garantieren, formen will; die nicht mehr primär nach ihren Ressourcen fragt, nach ihrem Ansehen und ihrer Stellung in der Gesellschaft; die nicht mehr ihre rechtlichen Privilegien (Kirchensteuereinzug, Staatskirchenverträge für die Theologenausbildung, Religion als Pflichtfach, Staatsleistungen für die Enteignung von Kirchen im 19. Jh., Militärdekane etc.), ihren Besitz und ihren Einfluss zu erhalten sucht. Sie ist eine Kirche, die nach dem Ende des Konstantinischen Christentums und einer anderthalb tausend Jahre währenden – vielfach verhängnisvollen – Amalgamierung von staatlicher Macht und kirchlicher Legitimation auf ihre weltlichen (im doppelten Sinne) Stützen entschlossen verzichtet; die nicht mehr eine alles abdeckende Volkskirche sein will; die auf die Position als moralische und ethische Instanz der Gesellschaft verzichtet; die alle Dominanzgebärden ablegt, mit denen sie immer noch ihren Einfluss zu sichern sucht. Sie ist schwache Kirche, die sich auf ihre Ursprünge besinnt und ihre Legitimation nicht in gesellschaftlicher Anerkennung, sondern im Auftrag des lebendigen Gottes sucht; die ihr Überleben nicht durch Staatskirchenverträge abzusichern sucht, sondern ganz offen und neu fragt: Was ist die Gestalt, die Kirche nach Gottes Willen haben soll? Was ist ihr Auftrag? Wie kann der aussehen, nachdem sich das Volk von seiner Kirche verabschiedet und ihr wegläuft? Die nächste Kirche versteht ihre Schwäche als ausgesprochene Chance, sich neu auf die Verheißungen Gottes zu konzentrieren und sich auf sie und nicht auf die eigenen Kräfte, Pläne und Ressourcen zu verlassen.
Kontur 2: Die nächste Kirche bekennt sich schuldig, bittet um Vergebung und bemüht sich um Wiedergutmachung
Ein Neustart in eine andere Gestalt von Kirche beginnt nicht im luftleeren Raum. Auch die nächste Kirche steht in Kontinuität zu den vergangenen Gestalten von Kirche, von denen man sich nicht abstrakt distanzieren kann. Die nächste Kirche kehrt bewusst um. Sie tut das glaubwürdig, indem sie ihre Schuld bekennt, die v. a. durch ihre Ehen mit den staatlichen Gewalten, mit den jeweils Mächtigen entstanden ist. Im kulturellen Gedächtnis fest verankert ist das Wissen um die Kirche als Büttel des Staates; um die Kontrollfunktionen, die die Kirche für den Staat wahrgenommen hat (Taufe und Registrierung der Neugeborenen), die Instrumentalisierung als moralische Instanz, die der staatlichen Obrigkeit Ruhe und der Kirche eine garantierte Position in der gesellschaftlichen Ordnung verschaffte; das oftmals bigotte Selbstverständnis, mit dem die Kirche als geistliche Ordnungsmacht („geistliches Schwert“) gerne für die sittliche Erziehung und die moralische Prägung der Menschen besorgt war – und ist. Postmoderne Abkehr, oft Abwehr von Kirche, hat hier eine ihrer Ursprünge. Ein Neustart kann nicht gelingen ohne die bewusste Abkehr von der immer noch „hinkenden Trennung“ von Kirche und Staat, die die Kirche vom Staat abhängig macht und ihr in den Augen sehr vieler Menschen Glaubwürdigkeit als geistliche Institution raubt. Ist das Kirche oder nur eine Behörde, die – durch den Staat – Steuern einziehen lässt und damit ihre special relationship zur staatlichen Gewalt ausnützt?
Ein Neustart kann nicht gelingen ohne die bewusste Abkehr von der immer noch „hinkenden Trennung“ von Kirche und Staat, die die Kirche vom Staat abhängig macht und ihr in den Augen sehr vieler Menschen Glaubwürdigkeit als geistliche Institution raubt.
Ein Verzicht auf ererbte und überkommene exklusive Rechte und Privilegien macht erst die Umkehr einer Kirche glaubwürdig, die der Bevölkerung nicht weiter ihre christlichen Überzeugungen aufdrängen will; die Buße darüber tut, dass sie diese über Jahrhunderte mit Machtmitteln durchzusetzen versucht hat; dass sie, um ihre Macht zu festigen und durchzusetzen, auch vor der Verfolgung und sogar der Tötung von Menschen nicht zurückgeschreckt ist (vgl. für die protestantische Konfession nur den Befehl des Reformators Calvin, Michael Servet auf Grund seiner trinitarischen Überzeugungen zu verbrennen); die bis in die Gegenwart hinein durch eine ethische Ambiguität glänzt: heiliger, hochkirchlicher bzw. höchster ethisch-moralischer Anspruch und massenhafter Kindesmissbrauch, verbunden mit der bis dato gegebenen Unfähigkeit, diese Skandale „aufzuarbeiten“ (geht das überhaupt?) oder auch nur angemessene „Entschädigungen“ (kann es die geben?) zu leisten. Kann es eine nächste Kirche geben, die all das Unrecht einfach übergeht und meint, sich davon absentieren zu können?
Kontur 3: Kirche, die am besten endlich einmal schweigt?
Könnte es nicht sein, dass der lebendige Gott die westlichen Kirchen, nachdem sie über 1000 Jahre das große Wort geführt haben, einfach einmal still stellen will? Könnte es sein, dass die Kirche des Wortes einfach mal keine Worte mehr macht? Dass sie still ist und schweigt? Dass sie einsieht, dass man ihre normativen Vorgaben einfach nicht mehr hören will, ganz gleich, ob sie fundamentalistischer oder pietistischer Natur sind oder postmateriell und also sozial-ökologisch motiviert sind? Halten wir das als Kirche aus, zu schweigen, keine weiteren Worte mehr zu machen; dass wir nicht mehr meinen, alles und jedes kommentieren und bewerten zu müssen? Schaffen wir es, dass wir „nur“ Hinweiser sind zu Christus und Weg-Weiser, die von sich selbst und ihren wahren, richtigen, überlegenen Positionen weg-weisen hin zu der Wahrheit, die doch allein Jesus Christus ist?
Kontur 4: Kirche, die aus der Vergebung lebt und deren Markenzeichen Barmherzigkeit ist
Angesichts des alles dominierenden Richtgeistes in unserer Gesellschaft könnte die Kirche ein Raum sein, in dem Menschen zu ihren Fehlern und Vergehen stehen und Vergebung erfahren können; sie könnte eine Gemeinschaft sein, die sich nicht dadurch auszeichnet, dass in ihr alle perfekt, fehlerlos, politisch korrekt oder „heilig“ leben; die vielmehr fehlerfreundlich ist, in der man fallen kann und wieder aufstehen darf; in der ein Neuanfang möglich ist, einmal, zweimal, dreimal, siebenmal. Was für eine Anziehung wird eine Kirche entfalten, deren Markenzeichen Barmherzigkeit ist; in der man davor sicher ist, verurteilt oder auch nur beurteilt zu werden, wenn die Fassade bröckelt, wenn sich Risse im ethischen Outfit zeigen und sich nicht gleich alle darauf stürzen und den Mund zerreißen? Wie wird sie Gescheiterte, Fehlgeleitete, Verurteilte, Gemobbte, Ausgegrenzte anziehen, die merken: Hier sieht man mich als Person, als Mensch, der Annahme und Anerkennung vielleicht nicht verdient, aber doch so dringend braucht?
Möglich ist eine solche Kirche dort, wo Christen dem Menschensohn folgen, der aufdeckt: Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!, und der der ertappten Sünderin zuspricht, nachdem ihre Kläger sich davon gemacht haben: „So verurteile auch ich dich nicht!“ (Joh 8,7.11).
Was für eine Anziehung wird eine Kirche entfalten, deren Markenzeichen Barmherzigkeit ist; in der man davor sicher ist, verurteilt oder auch nur beurteilt zu werden, wenn die Fassade bröckelt.
Eine Gemeinschaft von Sündern wird Urteilsverzicht üben, weil sie aus Menschen besteht, die wissen, dass sie selber Sünder sind, die aber erfahren haben, dass es Vergebung gibt. Eine solche Gemeinschaft wird weder durch Toleranz und ethische Lässigkeit zusammengehalten noch durch einen besonderen Grad von Verbindlichkeit und moralischem Commitment, sondern allein durch den gemeinsamen Blick auf den Gekreuzigten. Einen solchen Ort der Befreiung kann es ohne eine Kreuzesspiritualität nicht geben. Es wird dann aber ein Ort sein, zu dem nicht nur die kommen, die besonders heilig und ohnehin schon rein sind, sondern auch die, die von Ferne stehen (Lk 12) und gar nicht zu hoffen wagen, dass es für sie eine Perspektive für neues Leben, einen Neuanfang geben kann.
Kontur 5: Die nächste Kirche – ein Ort zum Leben, mitten im Leben
Die nächste Gemeinde ist nicht Gemeindekirche, sondern Gemeinschaftskirche. Sie ist nicht eine Veranstaltung, die es auch noch gibt, neben dem Leben, an den Rändern der Woche und des Alltags, sondern in der Woche und im Alltag. Sie ist kein – im Prinzip überflüssiges – add on, das es auch noch gibt, weil und wenn man religiös ist und entsprechende Bedürfnisse hat. Sie steht mitten im Leben. Sie ist, lebt und agiert dort, wo Menschen zusammenkommen. Sie ist ein Ort oder besser: besteht aus Orten, an denen elementare Bedürfnisse gestillt werden. Diese Gemeinde passiert, wo Christen anderen Christen und Nicht-Christen begegnen, wo man Leben teilt: auf dem Schwätzbänkle, beim Verlassen des Supermarkts auf dem Parkplatz, wo man sich g’schwind Zeit nimmt, und auf dem Stuhl bei der Podologin, im Nagelstudio oder beim Friseur, speziell aber dort, wo gemeinsames Essen und Feiern eine besonders intensive Erfahrung von Gemeinschaft ermöglicht; wo Gastfreundschaft geübt wird; wo es kein Problem ist, wenn das eigene Kind zum Mittagstisch eine Mitschülerin mitbringt.
Diese sich bei tausend Gelegenheiten ereignende Gemeinde findet mitten im Leben statt, überall dort, wo sich Räume des Hinhörens öffnen: wo Menschen sich mitteilen dürfen; wo sie reden dürfen über das, was sie umtreibt und was ihnen Not macht; wo sie die Erfahrung der kleinen Hilfe machen dürfen. Wo ein Mensch einen anderen in den Horizont der Möglichkeiten Gottes stellt und ihm Mut macht; wo ein Gespräch abgeschlossen werden kann, aber nicht muss mit der Zusage: Ich bete für dich, und mit der konkreten Frage: Kann ich helfen? Die Gemeinschaftskirche wird zur Veranstaltung, die die Alltagsdiakonie zurückgewinnt und so die sicher weiter notwendige professionelle Diakonie ergänzt, die freilich nicht alles abdecken kann und an die die kleine Hilfe nicht wegdelegiert werden kann, wenn Gemeinde nicht zum religiösen Verein degenerieren soll, in dem nur schöne Worte gemacht werden. Ein diakonisches Netz – „Menschen helfen Menschen“ – spannt sich über diese Gemeinschaftskirche, das – gar nicht bis ins letzte organisiert – die Herausforderungen an alten, pflegebedürftigen, einsamen, aktuell kranken, kontaktbedürftigen Menschen erreicht. Die gute alte Gemeindeschwester, die von einem privaten Verein angestellt wird, ist für die Gemeinschaftskirche womöglich wichtiger als ein hauptamtlicher Geistlicher. Sie kommt regelmäßig in die Wohnungen, weiß, wo es brennt, kann weitere Begleitung und Hilfe organisieren. Es gibt Personen, die bekannt sind und die als Anlaufstelle dienen, wenn man ein Problem hat, und die so vernetzt sind, dass sie Hilfestellungen organisieren können.
Gemeinde kann sich dann verdichten in speziellen Gemeinschaftserfahrungen, die hilfreich sind und aufgesucht werden, weil „ich“ mit meinen Fragen, Anliegen, Problemen hier vorkomme. Zum Gottesdienst gehe ich dann nicht, weil es Sonntag-Morgen 10 Uhr ist, sondern weil ich ihn brauche; weil ich mit dem, was mein Leben ausmacht, dort vorkomme. Und für diesen Gottesdienst muss ich mich nicht schämen, ich kann und werde andere zu ihm einladen, weil klar ist, wie hilfreich sie ihn empfinden werden.
Gemeinde extra, außerhalb der Lebenszusammenhänge, ist für die nächste Kirche überflüssig wie ein Kropf. Man braucht nicht noch einen Termin, den man nur deshalb durch persönliche Anwesenheit bedient, weil es Erwartungen gibt, dass Stühle und Bänke gefüllt werden.
Die nächste Gemeinde besteht aus tausend Andockmöglichkeiten, reicht über ihre Mitglieder in die unterschiedlichsten Lebenswelten hinein.
Die nächste Gemeinde tut nicht, was andere auch schon – vielleicht sogar besser und professioneller – tun. Sie konzentriert sich nicht auf Aufgaben, sie nimmt Menschen wahr. Sie erkennt, wo der Staat ausfällt, wohin seine Einrichtungen nicht reichen; wo die Zivilgesellschaft bei aller Aufmerksamkeit versagt. Sie kümmert sich deshalb v. a. um die Menschen, die einsam sind, immer mehr vereinsamen und verkümmern. Sie finden sich sowohl in auffallend hoher Zahl in der jüngeren Generation als auch im Alter, in dem Freunde und Bekannte weniger werden und der eigene Lebens- wie Kommunikationsradius sich immer weiter eingrenzt. Sie sieht die, die durch Flucht, Leben in der Fremde und Isolation traumatisiert sind und dringend Menschen als Ansprechpartner brauchen, auch wenn sie äußerlich versorgt sind.
Die nächste Gemeinde besteht aus tausend Andockmöglichkeiten, reicht über ihre Mitglieder in die unterschiedlichsten Lebenswelten hinein. Sie ist soziokulturell vielfältig. Sie folgt für ihre Veranstaltungen nicht nur einem Gemeinschaftsformat, das sie für das normale, einzig sinnvolle und richtige hält, sondern orientiert sich an dem, wie Menschen ihre jeweilige Lebenswelt gestalten. Sie lässt sich in ihren soziokulturell divers geprägten Gliedern auf diese unterschiedlichen Milieus ein3. Sie verzichtet auf die traditionelle Komm-her-Erwartung, sie geht hin zu den Menschen, die sie erreichen will; sie ist ja schon ganz natürlich mit ihnen unterwegs. Sie bietet Kontaktmöglichkeiten, die sie in der Regel gar nicht organisieren muss, weil sie schon da sind und nur darauf warten, entdeckt und „theologisch qualifiziert“ zu werden.
Kontur 6: Die nächste Kirche – keine Zweiklassengesellschaft
Die nächste Kirche überwindet die faktische Zweiklassengesellschaft mit ihrer Trennung von Laien und Hauptamtlichen. Sie überwindet die protestantische Selbsttäuschung eines allgemeinen Priestertums der Gläubigen und nimmt endlich die „ganz normalen Christen“ in die Verantwortung. Sie hört auf, alleine auf Theologen zu setzen, und stellt interdisziplinäre Teams auf. V. a. aber schleift sie die elende Tradition der Unterscheidung von theologischen Hauptamtlichen und sonstigen Gemeindegliedern/„Laien“, – eine Unterscheidung, die ja schon begrifflich eine Diskriminierung bedeutet und Menschen sowohl überfordert wie in die Passivität schiebt. Sie überwindet damit das nahezu zwangsläufig sich ergebende boddle-nek, das bei Hauptamtlichen dadurch entsteht, dass im Zweifel sie – als die, die man doch bezahlt – verantwortlich sind; sie überwindet die nahezu zwangsläufig entstehende Entmündigung der Gemeindeglieder, die entsteht, wenn man einen Theologen zum Hauptverantwortlichen macht. Sie lässt die Ausrede „keine Zeit“ nicht gelten. Sie konzentriert sich auf die notwendigen Aufgaben. Und für die gibt es durch Priorisierung Zeit. Findet sich keine Zeit und kein Geld, ist die Wahrnehmung dieser Aufgabe ganz offenbar auch nicht notwendig, sondern nur eine wünschenswerte Kür. So konzentriert sich die nächste Kirche auf das Wesentliche und findet dafür auch die notwendigen Ressourcen.
Die Gemeindekirche wird nicht zu groß. Bevor die Übersicht verloren geht und Menschen aus dem Blickfeld geraten, teilt sie sich oder bildet Untergruppen
Sie integriert Glieder und lädt Gäste entsprechend ihren Gaben und Prägungen zur Mitarbeit ein. Die eine kann gut organisieren, der andere gut Stühle stellen und Kisten schleppen; die Dritte kann gut auftreten, der andere sucht Menschen auf und geht ihnen nach. Die eine hat juristische Expertise und kann beraten, der andere handwerkliche Kompetenzen. Die eine steht gerne in der ersten Reihe, der andere wirkt lieber im Hintergrund.
Die Gemeindekirche nimmt die, die sich in ihr oder auch nur an ihrem Rand bewegen, dadurch ernst, wertet sie auf, verschafft ihnen die Möglichkeit der Erfahrung der Selbstwirksamkeit und Anerkennung.
Die Gemeindekirche wird nicht zu groß. Bevor die Übersicht verloren geht und Menschen aus dem Blickfeld geraten, teilt sie sich oder bildet Untergruppen. Sie kommt nicht ohne die notwendige Organisation und Regeln aus. Diese werden aber regelmäßig überprüft, angepasst, gekürzt und nicht erweitert. Kriterium ist die Lebensdienlichkeit. Es gibt Verantwortliche, die darauf hinwirken, dass sich Orga und Admin, dass sich Regeln und Ordnungen nicht verselbständigen, ein Eigengewicht gewinnen und letztlich Beziehungen und Begegnungen einschränken oder behindern.
Die Glieder der Gemeinschaftskirche achten darauf, dass die Leitung ein interdisziplinäres Team darstellt, in dem verschiedene Kompetenzen, Ressourcen, Lebensalter, Milieus, Interessen vertreten sind.
Braucht man eine Person, die mit der Gründung oder Begleitung einer frisch gegründeten Gemeinde beauftragt wird, so ist das in der nächsten Kirche nicht automatisch ein Theologe. Es kann Begabungen und Befähigungen geben, die – z. B. bei Gemeindegründungen – wichtiger sind als altphilologische Kenntnisse, etwa Entrepreneurship.
Kontur 7: Die nächste Kirche ist ein Rhizom
Die nächste Kirche folgt nicht dem Bild eines in seinem Werden und seiner Orga vorbestimmten Baumes. Sie ist ein Rhizom, ein vielwurzeliges, in sich verflochtenes System, das sich nicht einfach in vereinfachenden, beschränkenden Strukturen und Dichotomien – wie Hauptamtlich und Ehrenamtlich, Laie und Theologe, Gottesdienst und Alltag – abbilden lässt: „Ein Rhizom kann an jeder beliebigen Stelle gebrochen und zerstört werden, es wuchert entlang seiner eigenen oder anderen Linien weiter.“ (Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin 1992, 16) Die Gestalt der nächsten Kirche ist nicht vorgegeben, sondern folgt den Bedürfnissen und Gegebenheiten. Sie ist maximal anpassungsfähig und effizient. Ihre Form folgt ihrer Funktion, in der Nachfolge des Gekreuzigten, Auferstandenen und Erhöhten eine Rettungsbootgemeinschaft zu sein. Sie ist mobil, flexibel und temporal. Konkret kann das bedeuten:
- Sie ist lokal orientiert, mit regionaler Ausstrahlung; sie kann sich im Quartier kontextualisieren oder aber auch eine überregionale, etwa expeditive Funktionsgemeinde auf Zeit sein;
- Sie darf ausprobieren und sie darf scheitern;
- Sie bietet verbindliche Mitgliedschaft an und Mitgliedschaft auf Probe;
- Sie bietet Heimat an, die verlässlich ist und organisiert dafür einen entsprechenden Rahmen, und sie ist Gemeinschaft auf Zeit, aus einem bestimmten Anlass und für einen bestimmten Zweck;
- Sie wird im Regelfall die Insellösung bevorzugen, die sie aus Systemzwängen herauslöst, die sie nicht kontrollieren kann; sie kann sich aber unter bestimmten Bedingungen auch übergeordneten Zusammenschlüssen, etwa Interessengemeinschaften, anschließen;
- Sie bietet denen Heimat, die ein verbindliches geistliches Zuhause wollen, incl. Konstanzen von Ort, Zeit und Personen, und sie schafft die Möglichkeit, sich individuell zu Glaube und Gemeinde zu verhalten; sie ermöglicht zwangloses, „ungefährliches“, weil unverbindliches Schnuppern, ohne dies zum Maß des Christlichen zu machen; sie ermöglicht Phasen der intensiven Partizipation ebenso wie Zeiten der Distanz und des Rückzugs; und sie ist so mit anderen Gemeinschaften vernetzt, dass sie Menschen, die in ihrer Prägung nicht das finden, was sie brauchen und leben wollen, an andere Gruppen von Christen weiterempfiehlt;
- Sie weiß und erfährt ihre Einheit in der gemeinsamen Loyalität der ja so Unterschiedlichen zu Jesus Christus4. Ihre Einheit ist nicht „gemacht“, sondern wird als geschenkt erfahren; sie ist nicht organisiert, sondern wird erlebt. Sie sucht die Einheit weder in der Uniformität von Kleidung, Habitus oder allein richtiger Theologie, mit der man ausscheiden kann, was nicht passt/richtig ist; noch in unreflektierter, gedankenloser Diversität, die nur Gegensätzliches addiert. Sie ist offen für das Andere, neugierig, wie das Wirken des Heiligen Geistes sich im Leben ganz unterschiedlicher Menschen manifestiert. Sie nimmt ihre instinktiven Aversionen gegen das und den Anderen wahr und bekämpft ihre Ekelschranken gegen das Andere, das mich in Frage stellt, als geistliche Herausforderung. Sie entdeckt, was Christus dem, der so ganz anders ist als ich und wir, geschenkt und anvertraut hat.
Kontur 8: Die nächste Kirche versteht sich als Teil des Reiches Gottes
Die nächste Kirche versteht sich als Teil des Weinbergs Gottes, der definitiv größer ist als sie5. Sie spricht nicht von sheap-stealing und Transferwachstum. Sie überwindet die letzten Reste einer manchmal immer noch vorhandenen Platzhirsch-Mentalität. Sie kann neidlos anerkennen und davon lernen, was der lebendige Gott in anderen Gemeinden und Kirchen wirkt. Sie freut sich, wenn Christen in anderen Gemeinden evtl. besser zurechtkommen. Sie sieht sich nicht als Selbstzweck, sondern als Teil eines größeren Ganzen, das der Ehre Gottes und dem Leben der Menschen dient.
Sie schaut nicht scheel auf Errungenschaften von Nachbargemeinden und widersteht der Versuchung, diese auch bei sich zu etablieren, um ihre Glieder (fest) zu halten. Sie fragt vielmehr nach der ihr speziell anvertrauten Aufgabe in der größeren, sie umfassenden Einheit des Reiches Gottes. Sie sucht, sich im Kontext der anderen Gemeinden zu spezialisieren und ihren besonderen Auftrag zu erkennen. Sie lebt mit anderen Gruppen von Christen in der Region eine gabenorientierte Delegation von Aufgaben. Sie fischt nicht auch noch wie schon 80 % der bestehenden Gemeinden im Karpfenteich der bürgerlichen Mitte, sondern fragt, welche Lebenswelten denn ihre spezielle Zielgruppe sein sollten; was sie durch ihre Lage, ihre Zusammensetzung und ihre Ressourcen speziell für welche Ausrichtung qualifiziert.
Sie sieht sich nicht als Selbstzweck, sondern als Teil eines größeren Ganzen, das der Ehre Gottes und dem Leben der Menschen dient.
Sie arbeitet mit den anderen Christen, Gruppen, Gemeinden und Gemeinschaften vor Ort zusammen; sie stärkt Arbeitsgemeinschaften wie ACK und Evangelische Allianz; sie sucht den Schulterschluss mit anderen Christen, aber nicht nur organisatorisch, sondern lebt ihn und gibt ihm konkrete Gestalt durch Zusammenarbeit und gemeinsame Auftritte. Sie organisiert eine gemeinsame Plattform der Christen und Gemeinden vor Ort und in der Region, die über eine gemeinsam betriebene Homepage und eine entsprechende Seite in der Lokalzeitung betrieben wird. Sie dokumentiert damit: So vielfältig ist Kirche und trotzdem eine. Sie organisiert dreimal im Jahr Feste des Glaubens, in denen die verschiedenen Gemeinden gemeinsam auftreten und ihren Glauben feiern. Sie respektiert konfessionelle Prägung, überwindet sie aber durch den konkret gelebten gemeinsamen Glauben.
c) Mission oder Mainstream: die nächste Kirche und ihre Rolle in der Öffentlichkeit
Provokation 1: Nicht die Pfarrperson macht die entscheidende Öffentlichkeit von Kirche aus
Im Gegensatz zu den Ergebnissen der v. a. letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen, die immer noch eine Pfarrerzentrierung nahelegen, sind nicht der Pfarrer und die Pfarrerin, im schrecklichen, aufgezwungenen Bürokratendeutsch: die Pfarrpersonen, die wichtigsten Kommunikationsmittel von Kirche, sondern die GanoChris, die ganz normalen Christen. Christen stehen in ihrem Alltag für das, was christlicher Glaube ist; 24/7 stehen sie faktisch unter Beobachtung, lesen die Mitmenschen an ihnen ab, was es denn wohl bedeutet, Christ oder Christin zu sein; wie man als Christ mit anderen Menschen, auch mit seine:r Partner:in umgeht; wofür man sein Geld ausgibt, wie man seine Kinder erzieht, wie man über andere redet, ob und wie man Verantwortung übernimmt, für andere einsteht, und: v. a., wichtiger als alles schon Genannte: Wie man mit den – nahezu unausweichlichen – Erfahrungen von Scheitern umgeht; woher man die Kraft nimmt, neu anzusetzen, auch um Vergebung zu bitten. Fehlt diese Dimension, wird Glaube zu einer moralischen, im Endeffekt bigotten Veranstaltung, und die Menschen um uns herum durchschauen ein Fassadenchristentum, das auf sie alles andere als anziehend wirkt. Nicht der Klerus, die ganz normalen Christen sind das Aushängeschild für das, was es heißt, als Christ, aus dem Evangelium zu leben. Noch nicht einmal die Bibel ist das Kommunikationsmedium Nummer 1; es sind die GanoChris, die – so Paulus – „ein Brief Christi“ sind.
An ihnen lesen die Mitmenschen ab, was es bedeutet, Christ oder Christin zu sein; wie man als Christ mit anderen Menschen, auch mit seine:r Partner:in umgeht; wofür man sein Geld ausgibt, wie man seine Kinder erzieht, wie man über andere redet, ob und wie man Verantwortung übernimmt, für andere einsteht.
Die nächste Kirche nimmt das ernst. Sie verlagert den Schwerpunkt ihrer Ausbildungs- und Schulungsaktivitäten weg vom Akademisch-intellektuellen – Stichwort: ist für die Hauptamtlichen Hebräisch-Lernen nötig oder nicht? – hin zur Schulung ihrer ganz normalen Gemeindeglieder. Das alte, etwas militaristische Wort dafür ist: Zurüstung. Die GanoChris der nächsten Kirche sind sprach- und argumentationsfähig, und sie delegieren diese Aufgabe nicht an den dafür zuständigen Pfarrer. Sie sind mündig im Glauben, weil sie ihr Christsein selbstverantwortet leben und erklären können: elementar, adressatenbezogen und argumentativ. Und sie wissen, dass das Leben mehr zählt als tausend Worte. Sie leben ihren Glauben profiliert, im besten Sinne „frag-würdig“. Sie müssen nicht viele Worte machen, und wenn andere sie (be-)fragen, können sie Auskunft geben.
Provokation 2: Die nächste Kirche tut Buße für ihre Verbotskultur und stellt die freimachende Wahrheit des Evangeliums in ihren Mittelpunkt
Die nächste Kirche zeichnet sich nicht mehr dadurch aus, dass sie in der Öffentlichkeit für eine Verbotskultur steht, die sie bezeichnenderweise sowohl konservativ-traditionell, im römischen Katholizismus, Fundamentalismus wie (Neu-)Pietismus, als auch linksprotestantisch und woke beeinflusst (vgl. nur die Verlautbarungen der EKD-Kultur) dominiert. Die nächste Kirche gewinnt Glaubwürdigkeit dadurch, dass sie nicht mehr für eine Verbotskultur steht, die besserwisserisch, mit moralischem Zeigefinder, mit blindem Fleck für die eigenen Versäumnisse, in seltsamer Unsensibilität dafür, dass man sie postmodern einfach nicht mehr hören mag, immer noch meint, den Menschen in unserer Gesellschaft vorschreiben zu können, wie sie zu reden und zu leben, wie sie zu denken und zu handeln haben. Sie verzichtet sowohl auf den Habitus eines autoritären Offenbarungsdenkens, das Menschen entmündigt, indem es sich die Wahrheit Gottes aneignet, mit den eigenen Auffassungen identifiziert und so Macht zu gewinnen sucht über andere. Sie verzichtet ebenso auf einen autoritären Aufklärungshabitus, der meint, es besser zu wissen und darum anderen Vorgaben machen zu können, sich dabei aber, statt Menschen zu befreien und zur Mündigkeit zu verhelfen, erneut zum Vormund macht.
Die nächste Kirche muss das Evangelium nicht mehr ethisieren, weil sie es verloren hat. Sie lebt aus dem Evangelium, und das reicht ihr.
Provokation 3: Die nächste Kirche ist nicht mehr Mainstream-Kirche, oder sie ist nicht mehr
Die nächste Kirche kennt ihren Markenkern. Sie steht nicht mehr in der Gefahr, sich in der Gegenwartskultur aufzulösen. Sie banalisiert sich nicht dadurch selbst, dass sie nachplappert, was ihr Meinungseliten vor-sagen, ganz gleich ob diese konservativ-gehoben oder postmateriell geprägt sind. Sie hat ihre eigene Stimme. Sie versucht nicht mehr Mainstream zu sein, sondern hat ihre Mission (wieder-)gefunden: Sie ist Teil der Mission Gottes, diese Welt zu retten.
Sie schätzt eine Kultur der Anerkennung, der Liebe und Hinwendung zum Nächsten. Aber wäre das ihr Markenkern und wären das die Kennzeichen von Kirche, hieße das, entweder zu bestreiten, dass es Nächstenliebe und gute Werke auch außerhalb der Kirche gibt; das wäre aber höchst unmoralisch und wenig überzeugend: Man muss nicht Christ sein und zur Kirche gehören, um gute Werke zu tun und ein anständiger Mensch zu sein; oder es hieße: den Begriff und den Bereich der Kirche so zu dehnen, dass er keinen Sinn mehr macht, weil er dann alle Menschen guten Willens umfasst. Kirche hätte sich dann am Ende selbst aufgegeben. Sie ginge dann auf in einer säkularen, auch außerhalb der Kirche existierenden Kultur, die sie beerbt.
Die nächste Kirche verzichtet darauf, einen sich vom Christentum angesichts seiner Missbrauchsgeschichte gerade distanzierenden postchristlichen Humanismus noch einmal christlich taufen, umgreifen und gegen seinen Willen vereinnahmen zu wollen. Sie profiliert sich, indem sie deutlich macht:
- Kirche ist da, wo Menschen sich, ihr Leben und ihr Handeln von Jesus Christus her verstehen.
- Kirche ist da, wo man die Geschichte Jesu weiterschreibt und Teil von ihr wird, indem man sich ihr anschließt (Röm 6).
- Sie lebt noch einmal aus anderen Kräften als eine praktische Vernunft, die sich zwar rational begründen kann, der aber die Kraft fehlt, „in profanen Gemütern ein Bewusstsein für die weltweit verletzte Solidarität, ein Bewusstsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wachzuhalten“, wie kein Geringerer als Jürgen Habermas feststellt (Ein Bewusstsein von dem, was fehlt).
Provokation 4: Die nächste Kirche ist nicht fromm, im Sinne von zurückgezogen; sie stellt sich den gesellschaftlichen Herausforderungen, aber sie tut es in einer spezifisch christlichen Weise
Die nächste Kirche gewinnt ihre Identität nicht dadurch, dass sie tut, was alle oder schon viele tun. Sie konzentriert sich zum einen auf das, was zu tun nötig wäre und was so wenige oder was niemand tut. Sie findet ihre Aufgabe darin, dass sie sich denen zuwendet, die verlassen, übersehen und missachtet sind; die nicht oder kaum gesprächsfähig sind oder die in den gesellschaftlichen Leitdiskursen auch gar nicht als gesprächswürdig gelten.
Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit wären die v. a. alten und dementen Menschen, die man in der Zeit der Pandemie aus gesundheitlichen Gründen über Monate einer Isolation unterzogen hat, die einem Entzug des Lebensnotwendigen gleichkommt; oder auch die Schulschließungen, die in weit überdurchschnittlichem Maße gerade die benachteiligt haben, die im Leben ohnehin kaum Chancen besitzen: die Kinder und Jugendlichen aus sozial schwachen Familien, die den Verlust von Schule als soziale Größe und kognitive Förderung anders als Kinder aus Akademikerhaushalten nicht auffangen konnten. Hier haben die Kirchen versagt. Sie hätten sich zur Stimme dieser Gruppen machen, Widerstand wagen und Defizite mit ihren erheblichen Ressourcen auffangen müssen. Dagegen ist man den Vorgaben des Staates und seiner einseitigen Fokussierung auf Gesundheit im Sinne einer rein naturwissenschaftlichen Medizin nahezu widerspruchslos gefolgt.
Wenn die nächste Kirche auf gesellschaftliche Herausforderungen zugeht, die schon andere angenommen haben, dann zeigt sie dadurch ihr Profil, dass sie diese noch einmal ganz anders angeht.
Aktuell ist es beispielsweise und v. a. die mentale Not, unter der sehr viele Menschen leiden: durch Einsamkeit im Jugendalter wie im hohen Alter, aufgrund von Traumatisierung durch Flucht und Vertreibung. Kirchen und Christen dürfen hier Schwerpunkte setzen. Es reicht ja nicht, wenn politisch Millionen von Menschen die Einreise nach Deutschland ermöglicht wird. Wer hilft ihnen, mit ihren schrecklichen Erfahrungen umzugehen und neu Heimat zu finden? Es reicht nicht, die Renten zu erhöhen und Menschen materiell zu versorgen, dabei aber ihre psychische Not zu übersehen.
Wenn die nächste Kirche auf gesellschaftliche Herausforderungen zugeht, die schon andere angenommen haben, dann zeigt sie dadurch ihr Profil, dass sie sie noch einmal ganz anders angeht. So ist z. B. die soziokulturelle Segmentierung und Fragmentierung unserer Gesellschaft lange erkannt und ausreichend beschrieben. Die nächste Kirche stimmt nicht ein in die unsere Gesellschaft nur noch weiter spaltenden wechselseitigen Verurteilungen und Opfer-Täter-Zuweisungen. Sie verwundet nicht, sondern verbindet. Sie verurteilt nicht, sondern wendet sich zu. Sie reißt nicht weitere Gräben auf, sondern sucht zu verstehen und Brücken zu bauen. Sie verweigert sich den üblichen Opfer-Täter-Zuschreibungen und sieht den Menschen.
Provokation 5: Die nächste Kirche ist Wegweiser, indem sie von sich weg weist auf Christus
Hier lauert die vielleicht größte Provokation, die vielleicht am schwierigsten zu bewältigen ist. Die nächste Kirche fällt dadurch auf, dass sie sich nicht selbst behauptet, im doppelten Sinne. Sie verzichtet darauf, um ihr Überleben als Institution zu kämpfen; sie betreibt keine konfessionelle Selbstbehauptung. Sie ist nicht primär mit sich und „ihrer“ Theologie beschäftigt; sie verbraucht ihre erheblichen Ressourcen nicht zu ihrem Fortbestand. Sie fragt bei jeder ihrer Entscheidungen: Dient das nur der Selbsterhaltung oder sind wir damit Teil der Mission des dreieinigen Gottes? Sie stellt nicht sich, sondern Christus ins Schaufenster. Das dient dann freilich auch ihrer Selbsterhaltung. Denn während sich breite Schichten der Bevölkerung von den großen Kirchen abwenden, findet Jesus Christus weit über den Bereich des Christlichen hinaus immer neu Beachtung. Die nächste Kirche achtet darauf, dass sie nicht sich selbst, sondern ihn behauptet. Sie wird zum Wegweiser auf Christus als die eigentliche Quelle des Lebens, indem sie von sich weg-weist auf ihn6. Und sie löst genau damit die Frage aus, was sie eigentlich ausmacht und was ihr die Kraft zu einem solchen, dem natürlichen Willen zum Überleben, zur Macht und zur Verdrängung der Konkurrenz widerstrebenden Verhalten gibt.
d) Ausbildung und Theologie
1. Der Iststand: Warum es so nicht weiter geht
V.a. beim Thema Ausbildung verabschiedet sich die nächste Kirche von alten Bildern, Idealen und Traditionen, die sie behindern, ja fesseln und die notwendige Transformation verhindern. Die Ausbildung muss sich grundsätzlich richten nach den Bedürfnissen der Gemeinden und deren Mitarbeiter. Was brauchen Christen in dieser Welt, in dieser hochspezialisierten, multikulturellen, mental fragmentierten Gesellschaft? Wie können sie sich – die Kirche – kommunizieren, wie können sie sie neu lozieren, wenn der Platz in der Mitte der Gesellschaft nicht mehr existiert; wie können sie Kirchen an den sich neu bildenden, völlig säkularen Arealen neu etablieren, also neue Kirchen gründen, aber auch: Wie können sie Kirchen geordnet schließen, Gemeinden theologisch verantwortet und seelsorgerlich begleitet „beerdigen“?
Der alte Weg ist obsolet, auch wenn viele Kirchenleitungen und Fakultäten verzweifelt versuchen, auf ihm weiterzugehen. Bis 2030 gehen EKD-weit ca. 7000 Pfarrer in den Ruhestand. Aktuell müsste der theologische Nachwuchs für das parochiale System ausgebildet werden. Es haben aber in ganz Deutschland an allen 19 evang.-theologischen Fakultäten im Wintersemester 2022/23 nur insgesamt 143 Studierende das Theologiestudium mit dem Ziel „Kirchlicher Abschluss“ aufgenommen. Realistisch eingeschätzt gehen von den 143, die begonnen haben, 100 ins Pfarramt. Im Ergebnis stehen dann 7000 frei gewordenen Stellen gerade einmal 700 neue Pfarrer und Pfarrerinnen gegenüber. Selbst wenn die Hälfte der Stellen gestrichen würde, was de facto eine Überdehnung und ein Zerreißen des parochialen Netzes nach sich ziehen würde, stünden die 700 Theologen und Theologinnen immer noch 3.500 zu besetzenden Stellen gegenüber. Eine nicht zu bewältigende Herausforderung!
2: Zeichen der Hoffnung: Warum es weitergehen kann
Während die theologischen Fakultäten um jeden einzelnen „Volltheologen“ kämpfen und der Fakultätentag mit Argusaugen darüber wacht, dass nur ja keine alternativen Zugänge zum geistlichen Amt geöffnet werden, laufen an privaten theologischen Hochschulen lebensweltbezogene, missionarisch offene und sozial relevante Studiengänge wie „Theologie und soziale Arbeit“ über. Der Hintergrund ist sehr ermutigend und überhaupt kein Anlass zur Klage: Junge Menschen wollen sich für ihren Glauben engagieren; wollen gesellschaftliche Relevanz von Gemeinden; wollen sich aus der spirituellen Kraft der erlebten Gegenwart Gottes der säkularen Herausforderung in ihren vielerlei Gestalten stellen; wollen eine Theologie, die ihrem Glauben dient, ihn befruchtet und hilfreich in Frage stellt. Da kommt also schon Neues. Da sind Menschen also schon bereit für die nächste Kirche. Da gibt es ein enormes Potential an jungen Menschen, die bereit sind, diese Kirche zu bauen. Was sie aber im Regelfall nicht wollen, ist: 5 Semester lang alte Sprachen lernen, als Vorbedingung dafür, ein Theologiestudium überhaupt aufnehmen zu können; was sie nicht schätzen, ist eine Theologie, die ihre Gemeindeferne als Ausweis ihrer Wissenschaftlichkeit begreift; was sie ablehnen, ist einen einem methodischen Atheismus verpflichteten Umgang mit den biblischen Texten, der in keiner Weise vermittelt ist mit der eigenen Erfahrung der Bibel als dem Buch, das spricht; was ihnen pervers erscheint, ist eine Bibelkritik, die nicht positiv bezogen ist auf die erfahrene Autorität der Bibel als Urkunde und normatives Fundament des Glaubens7.
3: Wie die nächste Kirche ausbildet8
Die nächste Kirche geht nicht von den vorhandenen Strukturen aus und versucht nicht, weiterhin für sie auszubilden. Sie fragt vielmehr: Wie sieht die Zukunft der Kirche aus und wie muss eine Ausbildung für diese Kirche aussehen? Sie bemüht sich nicht – ziemlich aussichtslos –, die Zahl der Theologiestudierenden zu erhöhen, die sich auf die vorhandenen Strukturen und die entsprechende, alles in allem ca. 10 Jahre in Anspruch nehmende Ausbildung zum Pfarrer einlassen. Sie realisiert vielmehr, dass das zusammengebrochene Interesse am Theologiestudium nicht zu trennen ist von dem Bild und der Wirklichkeit der Kirche, für die es ausbilden soll. Sie versucht nicht mehr, Menschen für die vorgefundenen, bestehenden Formen zu formen, sondern (1) von der zukünftigen Kirche her zu denken und (2) das vorhandene, real gegebene Potential von jungen Menschen, die sich immens für Kirche und Reich Gottes engagieren wollen, zu nutzen.
- Sie hat nicht v. a. die Hauptamtlichen im Blick, sondern die ganz normalen Christen. Nicht möglichst hohe Professionalität, sondern Zurüstung der GanoChris ist das Ziel. Diese müssen begleitet werden. Zudem sind duale Ausbildungen für die weiter notwendigen Hauptamtlichen interessant, die damit nicht nur innerkirchlich unterwegs sind, sondern in die säkulare Arbeitswelt integriert sind und die in der Lage sind, sollte das nötig werden, mindestens einen Teil ihres Lebensunterhaltes selbst zu bestreiten.
- Sie hat nicht Theologen im Fokus, sondern versteht diese als Teil eines multidisziplinären Teams aus Soziologen/ Sozialarbeitern, Pädagogen/ Erzieherinnen, Entrepreneuren und Volkswirtschaftlern.
- Sie achtet auf eine Ausbildung im Angesicht und im Horizont des späteren Arbeitsfeldes. Sie verschiebt den Praxisbezug nicht in eine zweite Phase, sondern integriert Praktika in das Studium und hilft schon so, Studieninhalte ganz anders anzugehen. Sie bietet duale Studiengänge an, die von vornherein eine breitere Perspektive bieten, aber ebenso auch Möglichkeiten der berufsbegleitenden Vertiefung und Weiterbildung.
- Sie bemüht sich um eine Integration von pietas und scientia. Sie weiß, dass wieder zusammenfinden muss, was aufs Engste zusammengehört, wenn die Wissenschaft nicht gottlos und die Frömmigkeit nicht unkritisch und verführbar werden soll9.
- Sie ergibt sich nicht einer postkantianischen Trennung von Glauben und Wissen; sie weiß, dass Glaube und Glaubenskommunikation Gründe braucht, und sie fördert eine (selbst-)kritische Apologetik.
- Sie verabschiedet nicht unkritisch den modernen Wissenschaftsbegriff, aber sie steigt in ein kritisches Gespräch mit ihm ein und fragt nach den Schwächen eines „methodischen Atheismus“ (Ausschluss bzw. Zurückstellen des Gottesgedankens; Imperativ: Die Welt allein aus der Welt erklären!), der im Bereich der Theologie notwendig in einem Gegensatz zu seinem Gegenstand steht. Sie lässt sich nicht ein auf die Ausschaltung des Gottesgedankens.
- Sie verabschiedet sich von den theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten. Deren Tage sind ohnehin gezählt, weil die bisherigen Vereinbarungen angesichts der drastisch zurückgegangenen Theologiestudierendenzahlen nicht zu halten sind. Sie verabschiedet sich damit auch von einem offenbar nicht reformierbaren Ausbildungskorsett, das unfähig macht zur Gründung und Begleitung der Kirche von morgen.
- Die Nächste Kirche geht alternative Wege: Sie sucht entweder den Weg einer Gründung von theologischen Instituten, etwa an einer philosophischen oder einer soziologischen Fakultät, und präfiguriert damit eine interdisziplinäre Ausbildung.
Wie sehr hat die Positionierung der evangelischen Theologie in der Gestalt Helmut Gollwitzers an der philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität und damit im Gegenüber zu Wilhelm Weischedel zur Sprachfähigkeit und zu universitätsweitem Interesse an Fragen des Glaubens und Denkens beigetragen! Wie sehr hätte es einer evangelischen Theologie Beine gemacht, wenn sie etwa in Mannheim im Fachbereich Sozialwissenschaften in stetem Gegenüber zum Christentumskritiker Hans Albert hätte geformt werden müssen? - Eine Alternative wäre der Wiederaufbau von eigenen Kirchlichen Hochschulen, solange sich die hier getriebene Theologie wirklich von der Praxisferne und weithin herrschenden Spiritualitätsaversion universitärer Theologie unterscheidet. Ganz bewusst öffnet sich die nächste Kirche für die Anerkennung der Abschlüsse der privaten theologischen Hochschulen, die Theologie im interdisziplinären Kontext ermöglichen; die um eine Integration von wissenschaftlicher Arbeit und persönlichem Glaubensleben bemüht sind; die die Anstrengung kritischen Denkens nicht scheuen und Anfechtungen im Denken und Leben des Glaubens theologisch zu verarbeiten suchen.
e) Immobilien und Finanzen: Wie geht die nächste Kirche mit ihren Schätzen um?
1. Der Ist-Stand
Der aktuelle EKD-Haushalt umfasst die unfassbare Summe von knapp 11 Milliarden Euro. Das geschätzte Vermögen der beiden Kirchen liegt bei etwa 110 Milliarden Euro, die Kirchensteuereinnahmen bei rund 11 Milliarden Euro – pro Jahr. Dazu kommen gegenwärtig ca. 600 Millionen staatliche Transferleistungen als Folge der Säkularisierung evangelischer Gebäude im 19. Jahrhundert.
Freikirchen und Kirchen in europäischen Nachbarländern können nur ungläubig staunen, wenn sie wahrnehmen, dass allein in der evangelischen Kirche z. Zt. 18.000 Pfarrerinnen und Pfarrer beschäftigt sind.
Die Kirche hat erkennbar kein Ressourcenproblem, sie verwendet diese Ressourcen nur falsch.
Die Kirchen verfügen über einen unfassbaren Immobilien- und Grundbesitz: „Nach EKD-Angaben sind es auf Seiten der evangelischen Kirche rund 21.000 Kirchengebäude, 17.000 Pfarrhäuser, 13.000 Gemeindezentren und Gemeindehäuser sowie weitere 14.000 Gebäude wie zum Beispiel Kindergärten.“ (https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/kirchen-immobilien-100.html).
Die Unterhaltung der Gebäude kostet die EKD jedes Jahr laut Haushaltsbericht ca. 1,2 Milliarden €. Dem stehen realistisch betrachtet 3 % der Kirchenmitglieder gegenüber, die die Hauptveranstaltung der Kirche goutieren.
Die beiden großen Kirchen sind buchstäblich Großgrundbesitzer. Sie besitzen 2,3 % der Fläche Deutschlands, das sind mehr als 380.000 Hektar Land (https://www.agrarheute.com/management/finanzen/kirchen-grossgrundbesitzer-viel-ackerland-gehoert-kirchen-627600#:~:text=In Deutschland besitzen Religionsgemeinschaften 2).
Die Kirche hat erkennbar kein Ressourcenproblem, sie verwendet diese Ressourcen nur falsch.
2. Die nächste Kirche ist mobile Kirche
Die nächste Kirche ist eine mobile Kirche, die sich flexibel auf die Verhältnisse einstellen will und kann. Sie braucht keine Immobilien, die sie immobil machen und enorme Gelder binden. Sie wird die 1.2 Milliarden €, die der Unterhalt kirchlicher Gebäude jedes Jahr verschluckt, für andere Zwecke ausgeben können. Sie sagt Nein! zu der Selbstverständlichkeit, mit der das Amt der EKD feststellt: „Zu den Kernaufgaben der Kirchen gehört zweifellos […] die Pflege und Erhaltung der zahlreichen großenteils denkmalgeschützten Kirchengebäude“ (www.kirchenfinanzen.de). Sie überlässt dem Staat gerne Kulturdenkmäler, die die Allgemeinheit für erhaltenswert erachtet, verwendet ihre Mittel aber lieber für „woamnötigsten“.
Sie gewinnt Flexibilität und Mobilität zurück, indem sie lieber mietet, als besitzt. Sie befreit sich von der immensen, sie langsam erdrückenden Last der Erhaltung von Gebäuden, von denen jetzt schon die meisten nicht oder kaum genutzt werden. Sie will nicht besitzen, was sie bindet. Sie mietet lieber. Ausnahmen sind kirchliche Gebäude, die jetzt schon Begegnungsstätten sind oder die als Vielzweckbauten die Möglichkeit bieten, Menschen und Gruppen zu beherbergen und Gastfreundschaft zu bieten.
Die nächste Kirche will nicht steinreich sein, sondern reich an Menschen, denen sie sich zuwendet.
Sie fördert eine Anschauung von Kirche, die nicht mehr bedeutet: Wenn wir dieses Kirchengebäude schließen oder verkaufen, ist Kirche damit gestorben. So sehr Emotionen und Erinnerungen zu achten sind, so sehr ist klar: Wo Kirche mit Immobilien identifiziert wird, ist sie schon lange tot, lange bevor sie dann auch geschlossen wird.
Die nächste Kirche weiß und praktiziert: Nicht der Raum macht die Kirche. Es gibt viele, höchst unterschiedliche kirchliche Räume, angefangen von den Wohnungen und Wohnzimmern gastfreier Christen.
Die nächste Kirche setzt ihren Reichtum ein, um den sozialen, mentalen und immer mehr steigenden materiellen Notlagen zu begegnen. Sie will nicht steinreich sein, sondern reich an Menschen, denen sie sich zuwendet.
f) Verheißung10
Wir können versuchen zu lernen; es schlauer zu machen, es besser zu machen; nicht so traditionsverhaftet und sicherheitsorientiert zu sein wie die Mütter und Väter der Kirche vor uns. Aber wir können die nächste Kirche nicht modellieren und nicht determinieren, weil sie nicht am Reißbrett entsteht. Wir können sie nicht planen, weil sie kein Objekt ist, das Gegenstand unseres lenkenden Handelns ist. Jede:r, der:die Prozesse verfolgt und begleitet hat, weiß das. Diese Lage ist unangenehm und für einen rationalistisch-reflektierenden, planenden, Zielvorstellungen und „Visionen“ verfolgenden und in Kategorien der Machbarkeit operierenden Habitus schwer einzusehen. Diese Hilflosigkeit und Offenheit der Lage kann aber Anlass und Anstoß sein, wahrzunehmen, dass wir die nächste Kirche nicht erst machen müssen. Die nächste Kirche ist schon da. Wir sind in unserem Bemühen, auch in unseren Sorgen und Befürchtungen, ob wir es schaffen werden, nicht allein. Es ist schon ein anderer – wahrnehmbar – am Werk.
Die entscheidende Tugend wird für die Kirchen- und Gemeindebauer der Zukunft darin bestehen, (a) sich nicht auf das Vergangene zu fixieren, sich nicht durch das Gegebene binden zu lassen, (b) offen zu sein für das, was Gott schon tut, und (c) genau das in seinem Wachstum nicht zu behindern, sondern zu fördern: „Siehe, ich schaffe neues! Erkennt ihr’s denn nicht?“
Fußnoten
- Die Kirche ist tot – es lebe die Kirche. Denkanstöße, wie die Kirche neue Zukunft gewinnen kann, Gießen 2023.
- Die Kirche ist tot – es lebe die Kirche. Denkanstöße, wie die Kirche neue Zukunft gewinnen kann, Gießen 2023, Kap. 2, 34ff.
- Die Kirche ist tot – es lebe die Kirche. Denkanstöße, wie die Kirche neue Zukunft gewinnen kann, Gießen 2023, Kap. 2, 63ff; dazu: die in der Reihe „Kirche und Milieu“ bei V&R herausgegebenen, inzwischen 4 Bände.
- „Stürzen wir nicht fortwährend?“ Diskurse über Wahrheit, Dialog und Toleranz, Witten 2015, Kap. 2, d) – e).
- Die Kraft des Con. Konkurrenz von Kirchen und in der Kirche als Herausforderung. Grundzüge einer alternativen Ekklesiologie, in: thbeitr 50. Jg. (2019), 151-168.
- „Stürzen wir nicht fortwährend?“ Diskurse über Wahrheit, Dialog und Toleranz, Witten 2015, Kap. 5 III, e.
- Der Weg ins Pfarramt. Was sind die Blockaden?, in: thbeitr 55. Jg. (2024), 322-326.
- Wie ich als Jünger Jesu die Bibel lese. Transzendentalpragmatische Reflexionen, in: thbeitr 51. Jg. (2020), 360-371.
- Pietas als Stachel und Herausforderung für Scientia, in: Frank Lüdke/ Norbert Schmidt (Hrsg.): Kopf und Herz vereint zusammen. Grundlinien pietistischer Hochschulausbildung, Darmstadt 2023 (2022), 109-133.
- Die Kirche ist tot – es lebe die Kirche. Denkanstöße, wie die Kirche neue Zukunft gewinnen kann, Gießen 2023, Kap. 4, 91ff.