Die Kirche der Zukunft gibt es bereits – pastoraltheologische Reflexionen zur Kirchenentwicklung
Gegenwärtig ist kulturell sehr viel im Umbruch. Die Klimakrise beschäftigt Medien und Menschen, ebenso der Rechtspopulismus, die neuen Medien und soziale Netzwerke, die Digitalisierung generell, die Migrantenströme und die Kriege weltweit und jetzt auch inmitten Europas, um nur Weniges zu nennen. Dahinter stehen kulturelle Entwicklungen und Umbrüche, die zumindest seit einem halben Jahrhundert laufen. Die Kirchen und die Gemeinden bleiben davon keineswegs unberührt, im Gegenteil. Von Jahr zu Jahr werden die Kirchen sichtbar leerer, und Corona hat hier als Brandbeschleuniger gewirkt. Die alten, treuen Kirchgänger sterben weg, die engagierte Konzilsgeneration will im Ruhestand oft Neues erkunden und zieht sich aus dem Gemeindeleben zurück, Junge kommen kaum nach. Das Ende der Volkskirche scheint schon lange festzustehen. Jetzt trifft es deutlich auch die Gemeindekirche. Die einen haben schon lang prognostiziert, dass sich Kirchlichkeit mit der Moderne schrittweise erübrigt, und sind eher erstaunt, dass dieser Prozess so lang dauert. Die anderen rechnen damit, dass es das Christentum auch in unseren Breiten wohl weiter geben wird, wenn auch wahrscheinlich in neuen und schlankeren Formen. Aber wie können diese aussehen? Sollten, ja, müssten wir nicht heute planen, was morgen vielleicht zum Erfolgsrezept werden könnte?
Das Ende der Volkskirche scheint schon lang festzustehen. Jetzt trifft es deutlich auch die Gemeindekirche.
Nun ist die Kirche ein Großkonzern mit mehreren weit verzweigten Netzen von Institutionen, mit viel Geld und vielen hauptamtlich Tätigen. Dazu ist sie jene Institution, die mit Abstand am meisten Menschen regelmäßig erreicht, mit dem größten Kontingent an Ehrenamtlichen, noch vor den Sportvereinen und der Freiwilligen Feuerwehr. Es gibt die Diözesen und Landeskirchen, die Caritas und Diakonie, die Verbände und Orden, die Erwachsenenbildung und das Schulwesen, die Wissenschaft und die Kirchenmusik, und Vieles mehr. Die Gemeinden sind darin ein Kernbereich, der immer von zentraler Bedeutung war. Katholisch war und ist es bis heute der Kirchenbesuch, zumindest sonntäglich, der als Messlatte für kirchlichen Erfolg angelegt wird. Die Frage nach zukunftsfähigen Formen von Kirche ist also mehr als komplex.
Müssten wir nicht heute planen, was morgen vielleicht zum Erfolgsrezept werden könnte?
Es lohnt, etwas genauer hinzusehen, wenn man über Formen von Kirche und ihre zukünftigen Chancen nachdenkt. Dabei zeigt sich, dass Überkommenes keineswegs obsolet ist, zugleich aber Neues in vielfältigen Formen bereits da ist. Dazu sind kulturelle Veränderungen und Entwicklungen in den Blick zu nehmen, die kirchliche Gestaltungsformen geprägt haben oder schwierig werden lassen. Und schließlich ist zu fragen, was denn der bleibende und aktuelle theologische Auftrag von Kirche ist, der sich in bestimmte Formen gießen muss. Kirche ist ja kein Verein, der seine Ziele und Inhalte einfach an dem ausrichtet, was gerade angesagt ist.
Das (vermeintliche) Ende der Volkskirche
Menschen in Sonntagstracht pilgern familienweise zur Kirche, wo die Sitzplätze längst belegt sind. Mehrstimmiger Gesang dringt aus dem übervollen Gotteshaus nach draußen. Beim anschließenden Frühschoppen treffen sich die Männer des Dorfes, in ihrer Mitte der Pfarrer, um zu besprechen, was ansteht. Die Frauen bereiten derweil, umringt von einer frohen Kinderschar, den Sonntagsbraten. Das Dorf feiert viele Feste, alle sind durch die Laien ausgerichtet und gestaltet, und immer ist Kirche mittendrin. Dieses alte Klischeebild aus bäuerlich-alpenländischer Kultur findet man so heute nirgends mehr. Was für das volkskirchliche Leben bestimmend war, könnte man in folgende Punkte fassen:
- Quer durch die Woche und den Jahreskreis, sowie entlang der gesamten Biografie („von der Wiege bis zur Bahre“) reihen sich Feste, Brauchtum und Alltagsgestaltungen aneinander, die vom Glauben durchdrungen und in ihm gedeutet sind. Dadurch bleiben die Heilsgeschichte und das christliche Erlösungsgeschehen alltäglich präsent und sind in die eigenen Lebenserfahrungen hinein verwoben. Der Glaube tradiert sich im Lebensvollzug. Dazu kommen mahnende und tröstliche Worte durch die kirchlichen Amtsträger. Diese stehen aber keineswegs im Mittelpunkt, sondern bringen stellvertretend zum Ausdruck, wovon alle überzeugt sind.
- Die Laienfrömmigkeit fern jeder theologischen Bildung oder Reflexion ermöglicht es, sich gegenseitig inmitten der Alltäglichkeiten und der Wechselfälle des Lebens in der gemeinsamen Gottesfurcht zu bestätigen. Zugleich entwickelt sie eine Fülle an Brauchtum und Lebensregeln, in denen sich Christliches und Heidnisches, Glaube und Aberglaube auf unkomplizierte Weise verbinden. Das ist Segen und Fluch zugleich, weswegen dieser Umstand von den schmalen kulturellen und wissenschaftlichen Eliten auch heftig kritisiert wird. Zugleich ergibt sich darin die Lebensnähe, Lebendigkeit und Prägekraft des Volksglaubens.
Solche traditionellen Lebensräume gibt es bis heute weltweit.
- Basis dieser Volksfrömmigkeit ist die tagtägliche Erfahrung von Werden und Vergehen, von Geburt und Tod, von Freud und Leid, von hellen und dunklen Stunden, von glücklichen Umständen und schwerem Schicksal. Das Leben ist sehr wenig vom eigenen Wollen und Geschick, jedoch weitgehend von dem geprägt, was die Konvention vorgibt und was gemeinsam erreicht werden kann. Es gibt kaum individuellen Erfolg oder persönliche Freiheit. Das Glück liegt im gemeinsam Erreichten, und die Freiheit in der Weite der Landschaft, der unbeschwerten Kindheit, und einem mühsamen Tagwerk, das aber nicht durch Uhr, digitale Medien oder Bürokratie getaktet ist.
Solche traditionellen Lebensräume gibt es bis heute weltweit. Zugleich werden sie durch Modernisierung, Bildung und Individualisierung zurückgedrängt. In unseren Breiten existieren sie so nicht mehr. Jedoch haben sie menschliche Grundbedürfnisse bedient, die immer noch vorhanden sind, wenngleich sie durch andere, oft weltanschaulich dem Christlichen diametrale Vollzüge abgedeckt werden – nicht nur zum Wohlsein der Menschen.
- Die geschlossene weltanschauliche Lebenswelt, in der alles seine passende Deutung findet, und die daher Sicherheit und Geborgenheit vermittelt, existiert weiter in medialen Echokammern, in denen es nur homogene Ansichten geben kann. Sie schützen vor den Unsicherheiten einer heterogenen Welt und ihrer unüberblickbaren Vielfalt an Perspektiven. Zugleich fühlt sich der Einzelne sowohl bestätigt als auch alleingelassen in der Anonymität der Posts und Likes. Influencer profitieren vom menschlichen Zug und einer quasi-freundschaftlichen Nähe, die sie vermitteln. Und Populisten aller Richtungen setzen in Demos und verschworenen Zirkeln zumindest körperliche Präsenz und Nähe dazu, welche durch Redner, Parolen und Songs emotional stimmig und alltagstauglich begleitend gestaltet werden.
Die selbstverständliche Einbindung in die Rhythmen des Lebens und der Schöpfung geht in der modernen Stadtkultur weitgehend verloren.
- Der Wunsch nach Requisiten und Gewohnheiten, die dem Alltag Gestalt und dem Leben Farbe geben, wird durch eine unübersehbare und ständig wechselnde Flut an Konsumgütern beworben und bedient. Die Kombination dieser meist wenig wertigen Massenprodukte wird zur individuellen und freien Wahl und Nutzung eingesetzt und gibt dem eigenen Leben Glanz, Stil und Profil. Diese müssen herangeschafft und bezahlt werden und nötigen zu Erwerbsarbeit und der Einpassung in standardisierte Abläufe und die Vorgaben einer maschinell-digitalen Umwelt. Dies kostet so viel Zeit und Lebenskraft, dass trotz immer kürzerer Regelarbeitszeiten die Menschen kaum Zeit für sich selbst finden. Das Gefühl von Entfremdung und damit einher gehende Depressionen wachsen gesellschaftlich an, obwohl die individuellen Freiheiten noch nie so groß waren wie in unseren bequemen Wohlstandsgesellschaften. Fluchtmobilität wird zu einem zentralen Kennzeichen.
- Die selbstverständliche Einbindung in die Rhythmen des Lebens und der Schöpfung geht in der modernen Stadtkultur weitgehend verloren. Der Mensch schafft sich seine Rhythmen selbst und gesellschaftliche Standards, die sie bestätigen. Ein Beispiel ist der Schlaf-Wach-Rhythmus: Wenn der Mensch im Schnitt 8 Std. Schlaf benötigt und diese bestenfalls in der Nacht konsumiert, dann wären das vier Stunden vor und vier Stunden nach Mitternacht, der Mitte der Nacht. Der Abend beginnt mit Sonnenuntergang und endet mit dem Eintritt der Dunkelheit. Pauschal ist das etwa von 18 bis 20 Uhr, dann beginnt die Nacht. Das Abendbrot – die „Vesper“ – liegt nach dem mönchischen Gebet um 17 Uhr, ist also um etwa 18 Uhr anzusetzen. Kulturell ist das jedoch völlig verschoben: Der Abend beginnt mit der Tagesschau um 20 Uhr, oft folgt dann erst das Nachtmahl. Das Abendprogramm im Fernsehen geht erst um etwa 22 oder 23 Uhr ins Nachtprogramm über. Daher kann das Tagwerk nicht, wie traditionell, um 6 beginnen, sondern startet mit viel morgendlicher unausgeschlafener Hektik erst um 8 oder 9. – Die Rhythmen der Natur finden nicht nur im Tageslauf, sondern auch im eigenen Organismus wenig Beachtung, von dem Respekt vor ökologischen Abläufen ganz zu schweigen. Damit geht die Erfahrung verloren, in Gottes Welt eingebunden und vom Leben getragen zu sein. An ihre Stelle tritt der „freie“ Mensch, der alles nach eigenem Belieben gestalten kann und dafür ganz allein verantwortlich ist. Wenn dieses Konzept und sein Versagen offensichtlich werden, bleibt dann oft nur das stolz-trotzige „I did it my way“. Dass es in unseren bequemen Wohlstandsgesellschaften so wenig glückliche und zufriedene Menschen gibt, und sogar die Jugend bereits der Lebensmut verlässt, ist eine mögliche Konsequenz davon.
Die obige Skizze, zugegeben sehr holzschnittartig – aber wie kann man sonst auf schmalem Raum große Bögen zeichnen? – hat auf menschliche Grundbedürfnisse aufmerksam gemacht, welche die traditionelle Volkskirche auf ihre Weise gelungen abdecken konnte: nach Geborgenheit und Sicherheit in einem weltanschaulich geschlossenen Rahmen; nach Rhythmisierung, Gestaltung und vielfältiger Fassung eines geglückten Alltags trotz der Wechselfälle des Lebens; nach Einbindung in die Logiken der Natur um und in uns, gegen die dauerhaft nicht angegangen werden kann.
Elemente des Volkskirchlichen bleiben auch heute erhalten oder werden neu belebt
Angesichts dessen bleiben Elemente des Volkskirchlichen auch heute erhalten oder werden neu belebt: Pilgern, um den eigenen Rhythmus im Einklang mit der Natur wiederzufinden; in einer Kirche eine Kerze anzünden in der Hoffnung, ihre Flamme steigt als Gebet zu Gott und nimmt all die eigene Not und das eigene Sehnen mit zu Ihm, auch wenn man es selbst nicht formulieren kann; Segnungen und Sakramente an den Lebenswenden auf der Suche nach dem guten Geist, der das Leben begleiten und tragen möge; Engel als Wohnaccessoires, die den Schutz durch höhere Mächte ins eigene Zuhause bringen; Kirchen als touristische Ziele, um in geistlichen Führungen über die Ikonografie dem Glauben näherzukommen; klassische Kirchenmusik, welche die Seele zum Himmel trägt; und Vieles mehr.
Die verblichene Erfolgsgeschichte der Gemeindekirche
Die moderne Welt löst durch allgemeine Bildung Menschen aus homogenen Meinungszwängen, befreit sie von sozialer Kontrolle und zwingenden Konventionen und schafft somit individuelle Freiheit; und sie reduziert durch wissenschaftlichen und technischen Fortschritt die Abhängigkeiten von der Natur. Die Stadtkultur, die weitgehend auch die ländlichen Räume erfasst hat, verfestigt das zur kulturellen Normalität. Es war die große Errungenschaft der katholischen Kirche nach dem Konzil, im vordem nur evangelischen Gemeindekonzept eine angemessene Sozialform des Kirchlichen auch im katholischen Raum zu begründen. Sie erwies sich über Jahrzehnte als Erfolgsgeschichte. Betrachten wir skizzenhaft ihre Spielregeln:
- Im Mittelpunkt des kirchlichen Lebens steht nicht mehr Gottes Welt, sondern der Mensch: „Der Mensch ist der Weg der Kirche.“ (RH) Dies ist angemessen, denn „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen.“ Die entsprechende Sozialform ist die „Pfarrfamilie“ als Art Großfamilie; sie überträgt die Logik des Dorfes, der die Volkskirche entsprach, in neuer Form in die Stadt. Auch in ihr gilt, was das Dorf prägt: Dazu gehört nur, wer immer da war und immer da ist – alle anderen gelten bestenfalls als „nur Sonntagschristen“. Konventionen und Sozialkontrolle sind allgegenwärtig: Man weiß, was man zu denken, zu sagen und wie man sich zu verhalten hat. Die sozialen Beziehungen sind durch das Gerede geprägt, das alles weiterträgt und kommentiert und so die Einpassung regelt, ja erzwingt. Die Hauptamtlichen sind davon nicht ausgenommen; so wird auch von ihnen erwartet, dass sie ihre Freizeit in der Gemeinde verbringen, wie alle anderen, die dazu gehören, auch – eine große Belastung, gerade für die hauptamtlichen Laien. Zugleich aber trägt die Gemeinde mit ihrer Sorge alle; auch viele Alleinstehende, die hier problemlos Anschluss finden.
- Das Miteinander ist durch eine umfassende Diskurskultur bestimmt: „Hauptsache, dass wir darüber geredet haben.“ Die Folge davon ist, dass die Gemeinde von Lehrern und Beamten geprägt ist, die gelernt haben, sich zu artikulieren. Man ist auf Augenhöhe beisammen und erwartet von den Hauptamtlichen, dass sie alles mittragen, was gemeinsam beschlossen wird. Eine hierarchische oder autoritative Leitungsrolle wird dezidiert abgelehnt. Jede*r soll machen können, wozu sie/er sich berufen fühlen. Da dies nicht immer von Kompetenz begleitet und für die Gemeinde förderlich ist, gibt es reichlich Stoff für Konflikte und Diskurse. Was als gemeinschaftsfördernd angesehen wird, hat aber die Kehrseite, dass professionelles Vorgehen mit Zielsetzungen und Zeitplänen daran scheitert. Das betrifft auch die Pfarrgemeinderäte, an denen schnell jene verzweifeln, die Sitzungen mit Tagesordnung, konsequenter Leitung und Protokoll gewöhnt sind.
- Gläubigkeit ist ein der Gemeindlichkeit nachgeordnetes Kriterium. Theologische Fragen werden selten verhandelt und bleiben häufig ergebnisoffen. Eine fachliche Vorgabe wird ungern akzeptiert. Jede*r soll schließlich glauben dürfen, was er/sie gut persönlich nachvollziehen kann. Das ist unter modernen Voraussetzungen mehr als schwierig. In scharf konturierter Logik gesprochen: Der Mensch ist von Grund auf gutwillig; alles, was falsch läuft, ist entweder dumm gelaufen oder folgte den legitim frei gewählten Prioritäten des Handelnden. Sünde ist damit ortlos, Erlösung erübrigt sich. Gott ist guter Vater oder Mutter; wo das in Schicksal und Leid nicht erfahren wird, ist es für Ihn besser, wenn Er nicht existiert. Letztlich ist der Mensch der Herr der Geschichte. Ob es Gott gibt, bleibt ungewiss. Damit ist das liturgische Leben ein Ritual, das auch so verändert werden soll, wie es zur Gemeinde passt.
Es ist aber typisch für moderne Menschen, dass sie nicht mit Fortschreiten der Biografie in das Vorgegebene hineinwachsen, sondern ihre im Jugendalter geprägte Kultur modifiziert im Älterwerden weiterleben.
Die Gemeinde wird über Jahrzehnte zur kirchlichen Erfolgsgeschichte, weil sie jene Menschen trägt und zugleich befreit, die unter volkskirchlichen Bedingungen sozialisiert sind und die neuen Freiheiten zu schätzen wissen, zugleich aber von der volkskirchlichen Gläubigkeit weitgehend getragen bleiben. Wo diese Erfahrung verblasst oder erschüttert wird, wenden sich Menschen auch konsequent und oft sehr offensiv kommunizierend ab und treten aus der Kirche aus. Damit verbinden sie massive Kirchenkritik, insbesondere daran, das Amt sei in seiner Führung nicht ausreichend liberal und transparent, oder überhaupt nicht authentisch. Junge Menschen finden kaum Zugang zur Gemeinde, weil diese dauerhaft nach den Spielregeln ihrer Gründer funktioniert. Es ist aber typisch für moderne Menschen, dass sie nicht mit Fortschreiten der Biografie in das Vorgegebene hineinwachsen, sondern ihre im Jugendalter geprägte Kultur modifiziert im Älterwerden weiterleben. Damit können nur immer neue Gemeinden gegründet, aber keine bestehenden tradiert werden. Praktisch heißt das zum Beispiel: Studentenseelsorger kämpfen damit, dass ihre Gemeinde aus Exstudenten besteht, die hier ihre kirchliche Heimat gefunden haben. Die Jungstudenten dagegen finden unter diesen „alten Leuten“ keinen Ort für sich. Oder, wie eine engagierte Altenseelsorgerin einmal vermerkte: „Ich mache das wirklich gern mit den alten Leuten, mit Kaffee und Diavortrag und dem Adventsingen des Kindergartens. Aber ich selbst werde nie so alt sein, dass das für mich interessant würde.“
Und was kommt danach? – Vieles ist schon da
Betrachtet man aktuelle Kirchenentwicklungen, wird deutlich, dass es eine sichtbare Verschiebung gibt, weg von den klassischen Ortsgemeinden und hin zu dem, was in der kirchlichen Logik „kategoriale Seelsorge“ heißt. Allerdings mit zwei deutlichen Unterschieden: Es handelt sich nicht um die klassischen institutionellen Handlungsfelder wie Krankenhaus-, Gefängnis- oder Tourismuspastoral. Und es sind nicht vornehmlich institutionell geplante und durch kirchlich-hauptamtlichen Personaleinsatz gestaltete Initiativen. Schauen wir genauer hin:
Angebote werden nur angenommen, wenn sie aus Geist, Herz, Hirn und Gottes-/Lebendigkeitsbezug einer Person erwachsen, die darin ihr Charisma gestaltet.
- Ein erster Bereich sind Initiativen, die man dem Bewegungssektor zuordnen kann: die Nightfever-Bewegung, die Mehr-Konferenzen im Gebetshaus Augsburg, die Kisi-Kids, die Alpha-Kurse – um nur beispielhaft einige Wenige zu nennen. Es ist hier nicht der Raum, sie zu beschreiben, jedoch kann Prägendes charakterisiert werden. Häufig sind junge Menschen angesprochen, denen sich jedoch oft auch Ältere anschließen, weil der Stil gefällt. Das Eventhafte steht im Vordergrund, mit viel Musik, teils aufwändiger Gestaltung, viel Gebet und gemeinhin „Spiritualität“, d. h. viel explizit persönlichem Gottesbezug und inhaltlich oft auch theologisch gut gefüllter Verkündigung mit traditional-postmoderner Kontur. Meist sind kirchlich Hauptamtliche die Initiatoren, welche die kirchliche Infrastruktur nützen können und zugleich mit einer Schar an Ehrenamtlichen für weitere Verbreitung und umfassende Gestaltung sorgen. Um diesen harten Kern scharen sich viele, die zeitweilig sehr aktiv sind, sich aber auch wieder verabschieden, wenn für sie etwas Anderes angesagt ist. Und das gilt auch für den harten Kern. Die Gemeindebildung ist also fluide, mit dem Vorteil, dass es für neu Interessierte keinerlei Probleme gibt, dazu zu kommen. Das bedingt auch, dass sich der Stil der Treffen und der Vermittlung des Glaubens jeweils den sich wandelnden Teilnehmer*innen gemäß geschmeidig anpassen kann. Es gibt – nicht wie in Ortsgemeinden – keine Platzhirsche, die das verhindern würden.
- Eine zweite Gruppe von Gemeinden ist unter dem Stichwort FreshX (Fresh Expressions of Church) bekannt. Das ist keine Institutionenbezeichnung, sondern ein Sammelbegriff für Gemeinden, die aus Eigeninitiative von Laien entstehen, jedenfalls ökumenisch sind, sich ihre eigenen Formen und Inhalte finden und auch frei gestaltete liturgische Formen entwickeln. Sie nutzen keine kirchliche Infrastruktur, arbeiten aber vielleicht mit eine*m Seelsorger*in fallweise zusammen. Sie tauchen auf und verschwinden wieder, wenn die Dynamik der Gruppe erlischt. Sie verstehen sich als christlich, sind aber in Gestaltung und Inhalten darin nicht kontrollierbar. Sie folgen wie die erste Gruppe dem Charisma einer Person, sind aber an diese auch untrennbar gebunden.
- Eine dritte Gruppe sind kirchliche oder freie Initiativen im medialen Bereich, speziell im Internet, die in den Bereich der Individualseelsorge fallen, also nur für die Akteure, aber nicht für ihre Zielgruppe gemeindebildend wirken. Klassisch zu nennen sind die Telefonseelsorge sowie neuere Initiativen speziell für junge Menschen, die von den Kirchen getragen sind. Dazu zählen auch weitere Projekte der Internet-Seelsorge als persönliche Lebens- und Glaubensberatung und -begleitung. Weiterhin sind Ordensgemeinschaften hier mit Gebetsinitiativen tätig, als Hilfe beim Betenlernen oder mit dem Angebot, für jemanden zu beten, der das wünscht. In Corona kamen dazu noch vielfältige Angebote, die das Vakuum der Gemeindearbeit auszugleichen suchten und teils weiterbestehen. Das reicht bis in klassische Gemeindearbeit hinein, wenn Gottesdienste gestreamt werden und es im Anschluss die Möglichkeit zu digitalem Gespräch gibt. Auch die von ARD/ZDF nach wieder vor wöchentlich angebotenen Sonntagsgottesdienste im Fernsehen sind hier zu nennen, sowie freikirchliche Angebote in den Privatsendern.
- Eine vierte Gruppe schließlich sind Einzelinitiativen von Menschen, die sich ihr eigenes Projekt Glauben gestalten und dazu oft an kirchlichen Angeboten andocken, aber umstandslos auch Freikirchliches und Spirituelles aus den Bereichen Ökologie, Psychologie, Gesundheit und Lebenskunde wählen. Zu nennen sind hier zuerst der Pilgerboom und allgemein alle Angebote im Bereich Tourismus, von spirituellen Kirchenführungen, über Spiritualität am Kurort bis Geistliches am Weihnachtsmarkt. Dazu kommen die vielfältigen Angebote der kirchlichen Erwachsenenbildung und der Kirchenmusik. Generell geht es den Menschen dabei darum, Impulse zu erhalten, die im Alltag nicht vorkommen, diesen relativieren und sie ein Stück zu sich selbst führen. Entsprechend dürfen sie nicht als kirchlich überfremdend wahrgenommen werden, was bei einigen Pilgerangeboten inzwischen der Fall ist.
Was Kirche davon für die Zukunft lernen kann
- Angebote werden nur angenommen, wenn sie aus Geist, Herz, Hirn und Gottes-/Lebendigkeitsbezug einer Person erwachsen, die darin ihr Charisma gestaltet. Wollte die Kirche in diese Richtung arbeiten, würde sie jede*r Hauptamtlichen das Angebot machen, einen Teil der eigenen Arbeitszeit mit gut strukturiertem und begleitetem Projekt zu nutzen. Die Ortsgemeinden müssten dafür ihre Personalansprüche zurückschrauben und selbständiger werden.
Der Mensch ist der Weg Gottes.
- Mit wachem Blick den gesamten Bewegungssektor sowie die medialen und digitalen Bereiche beobachten und initiativ Vernetzungen suchen und gestalten. Ansätze dazu gibt es bereits. Für die Teilnehmenden entsteht dadurch eine Qualitätsgarantie, für die Initiatoren oft eine Möglichkeit, kirchliche Infrastruktur zu nutzen, und für die Ortskirchen ein Anreiz, Neues zu sehen und vielleicht eigene Leute, die der Gemeinde überdrüssig geworden sind, in diese Bereiche zu empfehlen.
- Und schließlich: sich auf das Wesen von Kirche besinnen. Dieses liegt in der Gottesbeziehung, dem Glaubensvollzug, der Gestaltung des Alltags aus der Verankerung in die Geheimnisse des Glaubens heraus. Soziale und administrative Strukturen sind dafür notwendig, aber nicht prägend. Solange man meint, dass immer neue Strukturdebatten die Probleme lösen werden, wird man nicht vorankommen. Kirchen sind Orte, die dem Himmel näher sind, und bestehen aus Gläubigen, die darin ihr Leben zu gestalten und diesen Stil zu erklären verstehen. In den Sakramenten und Liturgien kommt uns Gott so menschlich nahe, dass er zum Teil meiner Existenz wird. Der Mensch ist der Weg Gottes.