Paradox einer schwachen Pastoral. Nutzloses Dasein als Handlungsmodell einer zukünftigen Kirche
Lange versuchte ich die Kirche zu retten. Meine Biografie ist davon geprägt, an unterschiedlichen Orten und auf verschiedene Weisen exemplarische Impulse für die Kirche gesetzt zu haben. Durch den Aufbau einer Jugendkirche gab es einen Ort für junge Menschen, an dem sie ernst genommen wurden und der auch zur guten Erfahrung für viele werden konnte. Dennoch traten inzwischen viele von ihnen aus der Kirche aus. Andere Erfahrungen mit der Institution waren prägender oder wogen schwerer. In der Zeit als Studierendenseelsorger hatte ich viele seelsorgliche Gespräche und organisierte mit Teams beeindruckende kulturelle Veranstaltungen, auch berührende Gottesdienste. Die Dienstleistung der Katholischen Hochschulgemeinde war sehr professionell und Glaube war auf vielfältige Weise erfahrbar. Der Beziehungsansatz in der Begleitung von Studierenden und in der Ermöglichung von Begabungen wurde ein zentraler. Dennoch garantiert dieser Ansatz nichts und schon gar nicht eine zukünftige Kirche.
Inzwischen finde ich es entlastend, dass ich nicht mehr den Druck empfinde, die Kirche retten zu müssen, obwohl ich sie vor allem aufgrund ihrer Botschaft als rettenswert empfinde. Vielmehr lasse ich mich immer wieder überraschen, was passiert, wenn ich einfach da bin, einen Gottesdienst feiere, mit jungen Menschen bei Trauungen dabei sein darf oder einfach Zeit habe. Gerade dann entsteht eine Idee von Kirche, ein guter Moment oder ein Gedanke, wie eine neue Initiative entstehen oder ein altes Ritual wiederbelebt werden könnte. Ich bin nicht gegen Struktur oder Organisation, aber sie retten nichts, sondern können einen Begegnungsraum ermöglichen. Seit ich an der Uni als Professor bin, schreibe ich Bücher und Artikel, aber ob sie jemand liest oder ob sie tatsächlich einen produktiven Impuls hervorrufen, weiß ich nicht und habe ich erst recht nicht in der Hand. Vielleicht ist es ein Beitrag für eine zukünftige Kirche, gelebt jedoch wird sie dort, wo ich Studierenden begegne, mit Menschen ins Gespräch komme oder wir etwas gemeinsam initiieren und erleben.
Der Ansatz geht von einer Grundhaltung aus, die nutzlos ist, von einem nutzlosen Dasein, in dem sich aber eine Paradoxie findet, die Ermutigung, Heilung und Lebensperspektive beinhaltet.
Diese eigenen Erfahrungen möchte ich im Folgenden systematisch reflektieren, Zusammenhänge aufzeigen und vielleicht ein provokatives und sich selbst relativierendes Handlungsmodell einer zukünftigen Kirche darstellen. Es nimmt Abschied von einer starken Kirche oder dem Versuch, Kirche, in welcher Form auch immer, retten zu wollen. Der Ansatz geht von einer Grundhaltung aus, die nutzlos ist, von einem nutzlosen Dasein, in dem sich aber eine Paradoxie findet, die Ermutigung, Heilung und Lebensperspektive beinhaltet. Auf der Spur dieses Ansatzes geht es zunächst um kirchliche Rettungsversuche, die nicht erfolgreich waren. In einem zweiten Schritt lassen sich strukturelle und theologische Altlasten beschreiben, die womöglich die Ursachen für das Scheitern der Rettungsversuche waren. Im Anschluss an diese Beobachtungen geht es in einem nächsten Schritt um eine theologische Tiefenbohrung, die aus dekonstruktiven Überlegungen des christlichen Gottesbildes den christlichen Auftrag von Kirche neu zu entdecken versucht. Daraus ergeben sich erstaunliche Erkenntnisse, wie gerade Gottesbilder Handlungsmodelle von Kirche prägen. Dieser Zusammenhang führt in die demütige Erkenntnis, dass wir am Ende der Eindeutigkeit angekommen sind und dass Konzepte und Modelle in einer paradoxalen Schwebe gehalten werden müssen. Ausgehend von der gesellschaftlichen Sozialstruktur jedoch ergibt sich in einem weiteren Schritt das Bild von einem sozialen Raum, in dem Kirche ein Teil des sozialen Netzwerks ist, in dem sie einen Auftrag für das Gemeinwohl der Menschen hat und hier ihre konkrete Verortung findet. Alle diese Überlegungen münden in den Vorschlag einer geistdurchwirkten und gastlichen Kirche.
Kirchliche Rettungsversuche
Zwei Phänomene fallen bei der Analyse unterschiedlicher Kirchenentwicklungsprozesse immer wieder auf. Ein erstes Phänomen lässt sich daran beobachten, dass primär die binnenkirchlichen Defizite als Themen im Vordergrund stehen, die durch methodische und strukturelle Transformationen gelöst werden sollen (vgl. Versorgung der Gemeinden mit Sakramenten oder Professionalisierung von kirchlichen Diensten). Diese Optimierungsversuche stehen in der Gefahr, den alten Einfluss, die öffentliche Wahrnehmung oder die ehemalige Vormachtstellung von Kirche reproduzieren und nach den vielen Verlusterfahrungen wieder eine starke Kirche werden zu wollen. Ganz unabhängig von der Illusion, Kirche wieder stark machen zu können, findet in einer so verstandenen Kirchenentwicklung ein Kreisen um die eigenen Themen statt, die Menschen nicht mehr verstehen (z.B. Diskriminierung von Frauen) und die keine Antworten auf gesellschaftliche Fragen und Herausforderungen geben. Dadurch entsteht eine zusätzliche Entfremdung von nicht-religiös und nicht-kirchlich sozialisierten Menschen.
Es stellt sich also die Frage, wieso sich Handlungsmodelle von Kirche seit 40 Jahren im Kreis drehen und nicht vorankommen.
Ein zweites Phänomen zeigt sich in der Wahrnehmung, dass sogenannte innovative Ideen und gehypte Praxisorte bereits in den 1970er und 1980er Jahren zu finden waren. Vor zwanzig Jahren wurde bereits von Leitung im Umbruch gesprochen, Prayer-Nights waren liturgische Nächte und Taizégebete, Präsenzpastoral fand in der Jugendarbeit bereits vor 20 Jahren an Bushaltestellen statt, Nachbarschaftshilfe wurde im Sozialraum konfessionsübergreifend in Kooperation mit der Kommune initiiert und Interzelebration in der Eucharistie war in den 1990er Jahren durchaus üblich. Vieles war also schon da, wurde bereits erprobt und findet in der Innovationswerkstatt der Ordinariate und beispielsweise Fresh X eine Neuauflage. Es stellt sich also die Frage, wieso sich Handlungsmodelle von Kirche seit 40 Jahren im Kreis drehen und nicht vorankommen.
Theologische und strukturelle Altlasten
Die Vermutung liegt nahe, dass es innere und äußere Blockaden gibt, die subtil mitgeschleppt werden und offensichtlich nicht wahrnehmbar sind. Auffällig in deutschsprachigen Kirchenentwicklungsprozessen ist, dass die aktuellen theologischen Impulse und Debatten kaum eine Berücksichtigung finden, sondern Lösungen überwiegend pragmatisch vollzogen werden. Der pastorale Auftrag findet selten eine kritische und selbstrelativierende Reflexion, die aus einer dekonstruktiven Gottessuche theologisch das Evangelium als Irritation zugrunde legt. Vielmehr bleibt die Theologie des 19. Jahrhunderts die unhinterfragte Bedingung der Möglichkeit. Was ist damit gemeint?
Auffällig in deutschsprachigen Kirchenentwicklungsprozessen ist, dass die aktuellen theologischen Impulse und Debatten kaum eine Berücksichtigung finden.
Die Theologie des 19. Jahrhunderts reagiert auf die Religionskritik des Marxismus, den immer bestimmender werdenden Kapitalismus und den entstehenden Nationalismus nach der Nationalstaatenbildung. Mit dem Selbstverständnis als societas perfecta sichert sich die katholische Kirche die wechselseitige Unabhängigkeit von Kirche und Staat und befreit sich dadurch vor den wachsenden Ansprüchen des Staates auf Einmischung in kirchliche Angelegenheiten. Papst Pius IX. und vor allem Leo XIII. übernehmen diese Vorstellung für das kirchliche Lehramt. Mit dieser Idee wird die Kirche selbst zu einem absolutistischen Staat und kommt von diesem patriarchalen und hierarchischen Denken bis heute nicht los. Diese absolutistische Konstitution drückt sich vor allem in drei Bereichen aus. Theologische und kirchliche Traditionen stehen unter dem Primat der Ewigkeit und tun sich auch heute schwer mit Wandel und Veränderung, vgl. dazu Zugangsbedingungen zum Amt oder Einstellungen im Bereich der Sexualethik. Ein zweiter Aspekt zeigt sich im Erhalt und der Fortführung der hierarchischen Monarchie, die in der Weihe grundgelegt ist und den Klerikalismus ungefragt aufrechterhält. Schließlich zeigt sich diese Konstitution in der Vorstellung des Wahrheitsmonopols über Religion und Spiritualität, die sich vor allem in der Sakramentenpastoral widerspiegelt. Diese absolutistische Konstitution wird in der traditionellen Optimierung von neuen geistlichen Gemeinschaften und strukturellen Neubildungen von Pfarreien subtil übernommen und somit selbst in der neuen Form optimiert.
Strukturelle und theologische Gegebenheiten des 19. Jahrhunderts werden in Kirchenentwicklungsprozessen selten infrage gestellt, weil sie von Amtsträgern als unverrückbar gesehen werden und die Organisationsentwickler:innen von ihren Auftraggeber:innen abhängig sind.
Ähnlich stellt sich das Problem in organisationstheoretischen und in organisationalen Logiken dar, in denen nicht eine Neuentwicklung des theologischen Auftrags aus dem Evangelium, sondern vorrangig Wachstum, Entwicklung und Bindung eine zentrale Rolle spielen. Auch hier wird die Theologie des 19. Jahrhunderts ungefragt übernommen. Daher wird die vorgegebene patriarchale und scholastische Theologie von Kirche nicht hinterfragt, sondern gleichsam einem „Facelifting“ unterzogen.
Offensichtlich werden strukturelle und theologische Gegebenheiten des 19. Jahrhunderts in Kirchenentwicklungsprozessen selten infrage gestellt, weil sie von Amtsträgern als unverrückbar gesehen werden und die Organisationsentwickler:innen von ihren Auftraggeber:innen abhängig sind.
Neuentdeckungen einer schwachen Kirche des Evangeliums
Aufgrund des wahrgenommenen unreflektierten Übernehmens von Theologien des 19. Jahrhunderts im praktizierten kirchlichen Handeln bedarf es zunächst einer theologischen Auseinandersetzung, die sich mit der christlichen Gottesvorstellung und dem Gottesbild Jesu befasst. Ich meine, dass die Radikalität der Entäußerung Gottes im Selbstbild von Kirche meist zu wenig Berücksichtigung und Eingang findet.
Es bleibt jedoch ein Risiko, sich der Schwäche und Ungewissheit im Einsatz für Menschen und das Gemeinwohl auszusetzen.
An dieser Stelle kann zunächst ein Blick in die Philosophie Klärung bringen: Der Philosoph Gianni Vattimo bringt christliche Präsenz und christlichen Lebensvollzug, also christliches Handeln, mit Schwäche in Verbindung. Sein Konzept des „schwachen Denkens“ überträgt Vattimo auf die christliche Religion. Er interpretiert das Christentum in erster Linie als Offenbarwerden der Kenosis Gottes. Die Kenosis, d.h. die Selbsteinschränkung oder Selbstentäußerung Gottes, sei der Hauptzug des Christentums. Diese Selbstentäußerung wird zu einer schwachen Position, die sich für Vattimo in einer Ungewissheit zeigt, die durchzuhalten ist, um offen für die Möglichkeiten zu sein, die es dann zu ergreifen oder zu verwerfen gilt. Gerade darin sieht Vattimo eine Stärke der Christ:innen und ihrer Kirche, die sie in die Lage versetzt, die Schwäche und Ungewissheit durchzuhalten und mit der Möglichkeit der Auferstehung als Stärke zu hoffen. Es bleibt jedoch ein Risiko, sich der Schwäche und Ungewissheit im Einsatz für Menschen und das Gemeinwohl auszusetzen.
Mit dieser Beschreibung bestimmt Vattimo jedoch noch nicht, wodurch die Bereitschaft zur Schwäche motiviert ist, was das Motiv für und in diese Position hinein ist. Anders Jean-Luc Marion. Er versteht die Kenose von der Trinität her und qualifiziert sie inhaltlich aus seinem Gabe-Hingabe-Verständnis. Marion betont deutlicher als Vattimo die selbstlose Liebe in der Kenose, als deren Konsequenz die Selbstschwächung in der Kenose folgt. Die Entäußerung beschreibt Marion als Hingabe, als Nicht-Festhalten und als Aufgeben. Zusammenfassend zeigt sich in dem Verständnis der Kenose bei Marion zum einen eine bedingungslose Anerkennung des/der anderen im Kontext von Gabe und Hingabe als schwache Pastoral und Kirche, die riskiert, leer auszugehen, die gibt, ohne eine Garantie des Empfangens zu haben. Zum anderen deutet sich bereits eine Paradoxie in diesem Verständnis einer schwachen Pastoral an: Die Gabe überlebt möglicherweise nur durch Hingabe, worin also eine Stärke liegt, aber die Hingabe garantiert den Empfang der Gabe nicht, sondern ist gleichsam unverfügbar.
In der Inkarnation Jesu liegt also eine Lebenskraft, die sich aus der riskierten Schwäche heraus entwickelt. Gott begibt sich selbst in die Schwäche und wird zum schwachen Gott. John Caputo beschreibt dieses Handeln Gottes als eine Torheit Gottes, die eine Schwachheit bis ganz unten meint. Ein schwacher Gott hat auch eine schwache Theologie zur Folge, weil Gott nicht mehr eindeutig ist und weil dann Theologie eine „Theologie des Vielleichts“1 wird. Wenn Gott ein schwacher Gott ist und die Theologie sich selbst als schwache relativieren muss, wird die Pastoral in ihrem reziproken Verhältnis zum Dogma selbst zur schwachen. Hier gilt es die Verzahnung von Dogma und Pastoral, vgl. die bekannte Fußnote in GS, wieder neu zu verstehen und neu miteinander in eine Verbindung zu bringen.
In der Inkarnation Jesu liegt also eine Lebenskraft, die sich aus der riskierten Schwäche heraus entwickelt.
Eine so gedachte Pastoral, die sich aus dem Gottesbild eines schwachen Gottes formt, dekonstruiert übliche Hegemonien einer starken Kirche, eines starken Klerus und einer funktionalen Botschaft. Die pastorale Präsenz einer schwachen Kirche ist absichtsarm und bedingungslos, ihr Dasein zunächst nicht funktional und nutzenorientiert ausgerichtet. Ihre starke Schwäche ist die bedingungslose Liebe in der Begegnung und der Beziehung mit dem/der anderen. Sie zeigt sich im pastoralen Freigeben, aber in der gleichzeitigen Fürsorge, in der Selbstentmächtigung, aber der gleichzeitigen Sorge für die Selbstachtung.
Das Gottesbild prägt das Kirchenbild
Hinter jedem Konzept und hinter jedem Kirchenbild steckt explizit oder implizit ein Gottesbild, das Haltungen, Grenzen und Möglichkeiten prägt. Veränderungsprozesse scheitern nicht nur an systemischen Blockaden oder inneren Haltungen, die schwer zu verändern sind, sondern an tieferliegenden Überzeugungen des Glaubens, die sich im Wesentlichen in der Gottesvorstellung widerspiegeln. Ein nachhaltiges Handlungsmodell von Kirche bedarf also zunächst eines spirituellen Prozesses, der sich mit dem Gottesbild auseinandersetzt, das zum Maßstab für die kirchliche Struktur und kirchliche Konzepte wird. Aus der biblischen und spirituellen Auseinandersetzung ergeben sich gleichsam inspirativ und kreativ die notwendigen Handlungsschritte, die dann in eine professionell wirksame Form gebracht werden können. Um diesen Zusammenhang noch vertiefter darzustellen, werden nun drei soziale Systeme, die sich in pastoralsoziologischen Bildern wiederfinden, mit entsprechenden Gottesbildern in Verbindung gebracht.
Ein nachhaltiges Handlungsmodell von Kirche bedarf also zunächst eines spirituellen Prozesses, der sich mit dem Gottesbild auseinandersetzt, das zum Maßstab für die kirchliche Struktur und kirchliche Konzepte wird.
Das erste System ist Kirche als Institution. Hinter diesem System steckt das pastoralsoziologische Bild der volkskirchlichen Betreuung, in dem das Volk hört und die Kirche lehrt. Sie ist hierarchisch und patriarchal organisiert. Das Kirchenbild dieses Systems ist der „Leib Christi“.2 Im Bild des „Leibes Christi“ ist Christus das Haupt, das durch den Priester vertreten wird. Dahinter steckt eine verengte Christologie, die beispielsweise die Freundschaft zu Christus nicht in Verbindung mit der Wirksamkeit des Heiligen Geistes, also im trinitarischen Zusammenspiel, versteht. Oder sie zeigt sich auch in einer exklusiven Vorstellung der Leib-Christi-Zugehörigkeit, die sich nicht schöpfungstheologisch auf das Volk Gottes bezieht, zu dem alle gehören, sondern eben nur auf die Getauften.
Das zweite System ist Kirche als Organisation. Pastoralsoziologisch finden sich darin verändernde Formen von Gemeindekirche bis zur Netzwerkkirche. In der organisationalen Logik geht es um eine Optimierung und Professionalisierung von internen pastoralen Handlungsmodellen in der Organisation. Das Kirchenbild der Organisation hat sich von der Communio zum Volk Gottes und zur partizipativen Kirche entwickelt. Dieses System hat kein spezifisches Gottesbild, sondern übernimmt gleichsam das Gottesbild der Institution, die den Fokus auf eine personale Christologie richtet.
Dieses Kirchenbild ist von einer pastoralen Nähe im und für den Sozialraum geprägt und von einem Selbstverständnis dezentraler Selbstorganisation.
Schließlich bildet sich ein drittes System von Kirche, nämlich ein fluides Netzwerk. Es ist ein pastoralsoziologisches Kirchenbild, das aus fluiden und pluralen Formen besteht und wesentlich im situativen Ereignis entsteht. Dieses Kirchenbild ist von einer pastoralen Nähe im und für den Sozialraum geprägt und von einem Selbstverständnis dezentraler Selbstorganisation. Das zugehörige Gottesbild findet sich in einem freigebenden Gottesgeist, der trinitarisch durchdrungen ist. Christus und Gottvater werden erst durch den Geist wirksam. Diese trinitarische Verbundenheit ist in sich eine Dynamik, die Räume für Verwandlung und für neue Schritte öffnet, die gnadentheologisch nicht kontrollierbar, sondern unverfügbar sind. Dieses Gottesbild schließt an das Gesagte von Marion und Caputo an – einen schwachen Gott und eine schwache Pastoral. Genau an dieses Gottesbild und an das fluide Netzwerk wird das Handlungsmodell der schwachen Pastoral als nutzloses Dasein anschließen.
Ende der Eindeutigkeit
Davor soll noch ein kurzer Hinweis auf die soziologische Uneindeutigkeit erfolgen, die der Soziologe Zygmunt Bauman in seinem Buch zur Moderne und ihrer Ambivalenz beschreibt, in dem er die Hypothese des Endes der Eindeutigkeit vertritt.3 Diese Uneindeutigkeit relativiert jede Eindeutigkeit von pastoralen Plänen, Konzepten und Handlungsmodellen und legt einen optionalen und fluiden Ansatz nahe. Gleichzeitig öffnet sie für eine Haltung, die das wirklich Letzte Gott überlässt. Die Uneindeutigkeit fordert Kirchenmodelle heraus, den zuvor angesprochenen Heiligen Geist neu zu entdecken und der mit ihm einhergehenden Nicht-Machbarkeit als Gnade Raum zu geben.
Das Christentum ist eine Beziehungsreligion, die sich durch ein Beziehungsgeschehen ereignet.
Daraus folgt, dass ein Handlungs- und Kirchenmodell allein die Erfüllung des Auftrags, aus dem Evangelium für das Heil des Menschen zu sorgen, nicht garantieren kann. Vielmehr geschieht der Auftrag für das Heil des Menschen aus dem Glauben immer in Begegnung. Das Christentum ist eine Beziehungsreligion, die sich durch ein Beziehungsgeschehen ereignet. In dieser Logik werden Begegnungs- und Beziehungskonstellationen zu Kirchorten, aus denen sich Konzept und Struktur ergeben.
Netz im sozialen Raum
Es stellt sich nun die Frage, wie Handlungsmodelle und im Speziellen der Ansatz der schwachen Pastoral als Daseins- und Beziehungspastoral gesellschaftlich und kommunikativ anschlussfähig sind. Nun ist es kurz gesagt so, dass in einer Gesellschaft, die sich auf der Grundlage von Verflüssigungsprinzipien bildet,4 die Kommunikation in der Logik des Netzes stattfindet. Ohne an dieser Stelle näher auf die Netzwerktheorie eingehen zu können, ist festzustellen, dass die Kommunikation im Netz über Beziehung und Beteiligung funktioniert. Der Raum der Netzverbindungen bildet sich sozial und wird gleichzeitig sozial produziert. Daher wird der Raum zur Ressource und zum existentiellen Ort pastoralen Handelns. Dabei meint Raum hier den Lebensraum, den Sozialraum und auch den Kirchenraum, die alle pastorale Räume sind, so wie auch die Menschen in all diesen Räumen Adressat:innen der Pastoral sind.
Handlungsmodell einer gastlichen Kirche
Ein Begegnungs- und Beziehungsgeschehen, das sich relational in der Welt und bei den Menschen verortet, kann nicht ortlos stattfinden. Dafür braucht es zuverlässige und stabile (Kirch-)Orte. Gleichzeitig lassen sich diese Begegnungen und Beziehungen nicht auf die stabilen Orte reduzieren, sondern sie müssen ereignisbasiert offengehalten werden. Doch sowohl für stabile als auch für ereignisbasierte Orte gilt, dass jene zu Begegnungsräumen werden, die ein Beziehungsverhältnis zwischen Paschamysterium und Erfahrung ermöglichen und so zum Hoffnungsraum werden.
Das Handlungsmodell einer schwachen Pastoral stellt sich ganz in den Dienst der Menschen und riskiert dabei, ausgenutzt zu werden und für das eigene Handeln keine Rendite zu erhalten.
Das Handlungsmodell einer schwachen Pastoral als nutzloses Dasein qualifiziert sich zunächst über ein bedingungsarmes Dasein, das sich nicht über eine Absicht oder einen Nutzen definiert. Es stellt sich ganz in den Dienst der Menschen und riskiert dabei, ausgenutzt zu werden und für das eigene Handeln keine Rendite zu erhalten. Diese Haltung zeigt und äußert sich im Stil der Gastlichkeit, die Derrida gerade im und als Risiko beschreibt. In der Gastlichkeit findet er jedoch eine Antinomie von Gastlichkeit und Herrschaft.5 Erst in der bedingungslosen Gastlichkeit löst sich die ursprüngliche Herrschaft des Gastgebers auf und kann der Gastgeber zum Gast und umgekehrt werden. Diese Logik geschieht bereits in der Emmausgeschichte im Lukasevangelium. Folgende Kriterien könnten für den Ansatz des nutzlosen Daseins als Gastlichkeit leitend sein.
Feste Räume sind nicht notwendig
Ein Begegnungs- und Beziehungsgeschehen kann innerhalb von kirchlichen Räumen geschehen, die zur Verfügung gestellt werden oder die Initiationsraum von Begegnung sind. Allerdings sind sie nicht notwendig, sondern im präsentischen Dasein beispielsweise auf dem Marktplatz oder beim Ausschenken von Kaffee mit einem sogenannten Ape-Fahrzeug entstehen situative Formen von Kirche, die auch zum regelmäßigen Begegnungsort werden können. Außerdem müssten öffentliche Räume auch viel mehr für Begegnungen genutzt werden.
Raumorientierte Pastoral als schwache Präsenz
Diese Präsenz setzt Beziehung und relationalen Kontakt voraus und realisiert sich daher nicht regional, sondern lokal.
Eine gastliche Pastoral lädt nicht nur ein, sondern begibt sich selbst in den fremden Raum und wird selbst zum Gast. Diese entgrenzende Raumperspektive hat nicht das Ziel, verlorengegangenen oder fremden Raum zurückzugewinnen, sondern begibt sich in den Gemeinwohlauftrag für alle Menschen. Dabei zeigt sie sich in einer schwachen Präsenz, die nicht über anderen steht oder anderen voraus ist, und bringt sich mit den eigenen Ressourcen kontributiv ein. Diese Präsenz setzt Beziehung und relationalen Kontakt voraus und realisiert sich daher nicht regional, sondern lokal. Kirchliche Mitarbeiter:innen bewegen sich in diesem Handlungsmodell weg von der eigenen Zentrumsorientierung in den Sozialraum und zur Existenz der Menschen. Dies bedeutet dann auch, eigene Ressourcen und Räume für andere Nicht-Mitglieder im Sozialraum zur Verfügung zu stellen. Insofern hat dieser Ansatz einer nutzlosen und bedingungsarmen Präsenz einen vorrangigen sozial-diakonischen Auftrag für das Gemeinwohl.
Schwache Pastoral des Kontakts und der Präsenz – stabil und mobil
Eine schwache Pastoral der Gastlichkeit setzt nicht nur eine bedingungsarme Präsenz voraus, sondern bedarf auch eines interessierten und empathischen Kontakts.6 Diese Form der Gastlichkeit kann, wie oben beschrieben, situativ an unterschiedlichen Orten geschehen. Daher braucht es eine mobile Pastoral, die sich an unterschiedlichen und fremden Orten zeigt und sich aussetzt. Dennoch sind feste und stabile Orte einer gastlichen Kirche notwendig, wo sie zuverlässig erreichbar und präsent ist. Es sind sichere Orte bedingungsloser Präsenz des Daseins, wo Evangelium erinnert wird und erfahrbar ist. Daher bedarf es auch fester Orte der Liturgie, wo Glaube gefeiert wird.
Letztlich müssen diese Bezugspersonen auch Leitungs- und Feierbefugnis haben, wenn kirchliche Gastlichkeit ein Beziehungsgeschehen ist und Sakramentalität nichts anderes als Beziehung ist.
Um dies zu ermöglichen, sind in diesem Handlungsmodell der relationalen und schwachen Präsenz im kommunal-gemeindlichen Nahraum kirchliche Ansprechpersonen erforderlich, die haupt- oder ehrenamtlich sein können, die aber präsent, erreichbar und ansprechbar sind. Letztlich müssen diese Bezugspersonen auch Leitungs- und Feierbefugnis haben, wenn kirchliche Gastlichkeit ein Beziehungsgeschehen ist und Sakramentalität nichts anderes als Beziehung ist.
Beziehungsstarke pastorale Mitarbeiter:innen
Die Voraussetzung für dieses Handlungsmodell sind beziehungsstarke Mitarbeiter:innen. Von ihnen und ihrer Fähigkeit zu bedingungsarmem und zweckfreiem Dasein hängt es ab, ob der Ansatz einer gastlichen Kirche, der von der personalen Beziehungs- und Kontaktfähigkeit abhängt, gelingen kann oder nicht. Die personale Kompetenz ist bei diesem Handlungsmodell also entscheidender als das Dienstleistungskonzept und die Leitbilder. Diese ergeben sich auf der Grundlage einer absichtsarmen und schwachen Präsenz.
Paradoxale Schwebe als Handlungsprinzip
Dieses Handlungsmodell setzt auf eine risikooffene und freigebende Beziehungspräsenz, die in ihrer Wirkung nicht kontrollierbar oder optimierbar ist. Insofern ist es ein schwacher Ansatz, in dem aber gerade angesichts einer großen Offenheit, gnadentheologisch und handlungspraktisch, eine Stärke liegt. Konzeptionelle und strategische Ausrichtungen ergeben sich erst folgerichtig aus dem ermöglichten Begegnungs- und Beziehungsgeschehen.
Letztlich steckt dahinter meine eigene pastorale Erfahrung, dass Projekte, wie Jugendkirche oder kulturelle Ansätze von Hochschulpastoral, nicht strategisch initiiert entstanden sind, sondern aus dem Risiko der Begegnung, die zu Projekten und professionellen Umsetzungen geführt hat. Auch hier bleibt eine Schwebe zwischen Nutzlosigkeit als Strategie und Dasein als Professionalität.
- Caputo, John D., Die Torheit Gottes. Eine radikale Theologie des Unbedingten, Ostfildern 2022, 99ff.
- Vgl. die Diskussion der „Leib-Christi“-Problematik bei: Wendel, Saskia, Die »Leib-Christi«-Metapher. Kritik und Rekonstruktion aus gendertheoretischer Perspektive (Religionswissenschaft (Transcript (Firm)); Band 32), Bielefeld 2023.
- Bauman, Zygmunt, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, 5. Auflage, Hamburg 2022.
- ders., Liquid Modernity, Cambridge 2000.
- Jacques Derrida, Von der Gastfreundschaft, 5. Auflage (Passagen forum), hrsg. v. Peter Engelmann, Wien 2018.
- Vgl. Hillebrand, Bernd, Kontakt und Präsenz. Grundhaltungen für pastorale Networker (Glaubenskommunikation Reihe Zeitzeichen), Ostfildern 2020.