022020
Praxis
Eine verpasste Chance? Einige Thesen zur Kirche aus der Sicht des Community Organizing
Als Studierende der Stadtplanung vor einigen Jahren die soziale Infrastruktur in Berlin-Gropiusstadt rund um den U-Bahnhof Lipschitzallee kartierten, nahmen sie mit Fleiß den Kindergarten, das Gemeinschaftshaus, die Stadtbibliothek und viele andere Einrichtungen auf. Hieraus entstand ein beeindruckendes Kartenwerk der sozialen Angebote in einem der ärmeren Teile Berlins. Nur eine Einrichtung tauchte dabei nicht auf: die lokale Kirche, die deutlich sichtbar am U-Bahnhof zu sehen ist. Dies erzählt der Pfarrer mit einiger Verwunderung auf einer Konferenz im Jahr 2013 und schließt damit die Frage an, wo Kirche eigentlich heute noch wahrnehmbar ist.
Die Verschiebung der Wahrnehmung ist natürlich nicht nur auf die Stadtplanung anzuwenden, sondern umfasst eine gesellschaftliche Entwicklung, die vor allem in den letzten 20 Jahren an Relevanz hinzugewonnen hat. Vorbei sind die Zeiten, in denen Kirche als Volkskirche in vielen bedeutenden Bereichen Einfluss oder zumindest Mitspracherecht hatte. Nach Jahrzehnten der ecclesia semper augetur steht nun wieder eine ecclesia semper reformanda im Mittelpunkt, die sich gut überlegen muss, wo sie ihre Ressourcen einsetzt und mit welchen Schwerpunkten sie die Zukunft gestaltet.
Diaspora ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel
Am deutlichsten wird dies durch die großen Umstrukturierungen in den deutschen Bistümern. Dabei wird jetzt schon klar, dass es ein Weiter-so nicht geben wird und auch nicht geben kann. Kirche gesteht sich ein, dass sie eben doch nur einer unter vielen anderen Akteuren ist und dies aber auch für eine missionarische Kirche nicht nachteilig sein muss.
Mit Blick auf die Weltkirche ist die Institution Kirche in vielen Ländern in der Minderheit. Diaspora ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel, und kann deshalb auch für die deutsche Kirche eher Chance denn Rückzugsgefecht bedeuten. Gerade die gelebte Diaspora, das Zurücktreten hinter anderen Strömungen und das Einfädeln in einen größeren Akteursverbund der jeweiligen Gesellschaft, kann Kraftquelle dafür sein, sich selbst wieder neu zu verorten und Kraft zu sammeln für anstehende Zukunftsaufgaben.
Gelebte Diaspora, das Zurücktreten hinter anderen Strömungen und das Einfädeln in einen größeren Akteursverbund der jeweiligen Gesellschaft, kann Kraftquelle dafür sein, sich selbst wieder neu zu verorten
Schaut man auf die Zahlen, stellt die deutsche Kirche immer noch zahlenmäßig die Mehrheit der Bevölkerung dar; immerhin sind weiterhin 60% der Deutschen Teil der beiden großen christlichen Kirchen. Die Diaspora zeigt sich aber an anderer Stelle. Es ist die Beziehung der Menschen zur Kirche und ihre Rolle in der Gesellschaft, die sich verändert hat und die seit der Nachkriegszeit weiter im Zerfall ist. So rangieren die Kirchen in Bezug auf das Vertrauen im forsa „Institutionen-Ranking“ im Vergleich mit anderen Institutionen weit abgeschlagen hinter Universitäten, Meinungsforschungsinstituten und Radio. Immerhin vertrauen der Evangelischen Kirche noch 39 Prozent, bei der Katholischen Kirche sind es nur noch 14 Prozent. (https://www.kirche-und-leben.de/artikel/umfrage-nur-14-prozent-vertrauen-katholischer-kirche, abgerufen am 30.10.2020)
Bereits seit über 80 Jahren arbeiten Community Organizer*innen daran, die Interessen derjenigen Menschen zu Gehör zu bringen, die in der Minderheit sind oder aus anderen Gründen nicht gehört werden. In diesem Kontext haben die Autoren selbst erlebt, wie Kirche in einem starken zivilgesellschaftlichen Bündnis über sich hinauswachsen kann – gerade wenn sie in der Minderheit ist. Aus dieser Erfahrung möchten wir einige Thesen zur Zukunft der Kirche ableiten:
1.
Eine Diaspora-Kirche (im obigen Sinne) muss entschieden in die Offensive spielen, nicht Verteidigung.
Offensive spielen, nicht Verteidigung
Der einzige Weg für die deutsche Kirche ist, nach vorne zu schauen, nicht, indem sie alles hinter sich lässt, sondern indem sie ihre Potenziale neu ins Zusammenspiel bringt. „All organizing is re-organizing“ – wie eine alte Faustregel lautet. Rückzugsgefechte verspielen Potenziale und zehren aus; das Spiel nach vorne gibt Energie.
2.
„Nach vorne spielen“ heißt allerdings nicht Kirche einfach als Konkurrentin auf dem Markt der längst überfüllten „Unterhaltungs- und Freizeitmöglichkeiten“ feil zu bieten. Sie wird sich dort nicht behaupten können. Marktzentrierte Lösungen – egal wie sie verpackt werden – sind weder theologisch noch pragmatisch akzeptabel.
Keine marktorientierten Lösungen
Als Antwort auf den Bedeutungsverlust wird teilweise die Vermarktung der Kirche versucht, das Großevent gesucht, die Anknüpfung an den Mainstream. Dieses Vorgehen wird scheitern, wenn damit nicht nachhaltige Beziehungen verbunden sind – im Alltag und in der Glaubenspraxis.
3.
Stattdessen: Kirche (vor Ort) wird nur noch relevant für breitere Teile der Bevölkerung (ob offizielle Mitglieder oder nicht), wenn sie sich auf ihr eigenes Wesen als Beziehungen stiftend (zu den Menschen und zu Gott) besinnt und dies auch praktisch umsetzt.
Beziehungen stiften
Der „Ort“ der Kirche muss sich dafür verschieben: weg von Gebäuden, Strukturen und Gremien, hin zu einer gelebten Beziehungsarbeit mit und unter Menschen. Kirche muss verort- und sichtbar sein, anders gesagt: die Funktionen der Kirche müssen Vorrang vor den herkömmlichen Formen erhalten.
Dies bedeutet ein Umdenken sowohl bei den „Betreuern“ als auch bei den „Betreuten“. Mit Kirche ist hier nicht nur die Leitung gemeint, sondern die gesamte Gemeinschaft der Christen (ob aktives Kirchenmitglied oder nicht). Daran sind sowohl die Beschäftigten als auch die Freiwilligen zu messen. Wie viel ihrer Zeit richten sie auf den Nächsten, auf ein Wiedererkennen Gottes im Anderen und das wirkliche Verstehen der anderen Interessen? Auch bei denen, die nur noch “mit einem Bein” in der Kirche sind.
4.
Deshalb: Die Bedeutung des „Verortet-Sein“ und der Sichtbarkeit im lokalen Kontext nimmt nicht ab, sondern wächst. Kirchliche Gemeinschaft muss sich in der Öffentlichkeit politischer (im ursprünglichen und nicht nur im verfassten Sinn) vorstellen und planvoll dementsprechend handeln
Bei den Menschen, sichtbar und politisch sein
Kirche als lokale Gemeinschaft ist dann noch relevant für breitere Teile der Bevölkerung, wenn sie sich auf ihr eigenes Wesen als Beziehungen stiftend nicht nur besinnt, sondern auch praktisch umsetzt. Martyria/Zeugnis stiftet Beziehungen, baut Vertrauen wieder auf – oft im Mikrokontext von Angesicht zu Angesicht. Diakonia bedeutet mehr als objektivierendes Helfen, sondern fördert Subjektwerdung durch gemeinsames Handeln. Beides wird dann zu einer „politische Nächstenliebe“ ganz im Sinne von „Fratelli tutti“.
Spätestens seit der CoVid-Pandemie wurde klar, dass die globalisierte Welt äußerst fragil ist. Von heute auf morgen haben sich Rituale geändert und wurden den traditionellen Orten entrissen. Das ist das prägende Zeichen einer Kirche in der Diaspora und ein Ansatzpunkt einer Kirche mit einer Geh- statt einer Komm-Struktur. Dies muss weiter eingeübt und, gleichsam wie der Glaube, internalisiert werden. Und es braucht Zeit und Vertrauen in die Menschen, die Kirche ausmachen.
5.
Angst vor Beziehungen und vor dem gemeinsamen Handeln prägt allzu oft das Gesicht der Gemeinde – man multipliziert Dienstleistungen und Angebote statt Gelegenheitsstrukturen für Begegnung (ob mit Nahen oder Fernen) zu schaffen
Gelegenheiten für Beziehung schaffen, statt mehr desselben
Veränderung als Begegnung ist immer spannungsreich und zu leicht weicht man wieder in die klassischen Strukturen aus. Meist drückt der Alltag der Kircheninstandhaltung, der Gremienarbeit und der Kasualien schon jetzt auf diejenigen, die „den Laden am Laufen halten“. Die Schaffung von neuen Angeboten und Dienstleistungen ist meist sehr eingeübt. Zu irritierend sind im Gegensatz dazu teilweise die Wünsche und Ideen von „außen“. Dafür müssen vor allem die Leitenden ein Ohr haben und die Außenstehenden die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme mitbringen.
6.
Überwindung der Beschränkung des diakonischen Auftrages auf Dienstleistungen, ob religiöser oder sozialer Art
Den diakonischen Auftrag nicht outsourcen
Biblisch ist nicht das Angebot, sondern das Zugehen und Zuhören. Jesus und seine Nachfolgenden haben nicht Gremien geschaffen, sondern sind unter die Menschen gegangen. Ihr Weg zu den Menschen und das Herausrufen aus dem Alltag hin zum Glauben muss Leitlinie kirchlichen Handelns sein. In der Konsequenz bedeutet dies die Überwindung der Kluft zwischen lokalen Kirchengemeinden und der Institutionen Caritas und Diakonie.
7.
Umgekehrt heißt dies: Beziehungen können auch zum gemeinsamen, gestaltenden Handeln führen – gemeindeintern und -extern
Gesellschaft gestalten, politisch Handeln
Aus dem Herausgerufen sein entstehen dann auch neue Formen der Verkündigung. In der Geschichte der Kirche gibt es viele Beispiele dafür, wie Menschen gewohnt Wege verlassen und dadurch Form und Weg nachhaltig verändern. In allen Ländern der Welt sehen wir noch solche Aufbrüche für und mit dem Glauben, man fragt sich aber manchmal, ob dieser Ruf nicht in den Gängen kirchlicher Bürokratie verhallt. Es müssen sich alle Glieder von Kirche fragen: Wo findet Gemeinde praktisch statt und wo werden Grenzen überbrückt? Wenn die Gemeinden innerkirchlich verbunden und im größeren Verbund Zivilgesellschaft mitgestalten, können sie in einer Zeit der Zerrissenheit einen entscheidenden Beitrag für eine „demokratische Politik“ leisten.
8.
Überwindung der Kluft zwischen ausdrücklich „religiös“ und (scheinbar) säkularen Vollzügen
Grenzen durchlässig machen, Inklusion ermöglichen
Das, was um die Gemeinde herum passiert, ist nicht weniger „heil- oder unheilvoll“, als das, was im Binnenbereich geschieht. Es ist ausdrücklich Arbeit an Gemeinschaft – und deshalb mühevoll wie auch beflügelnd. Beispiele für Ansatzpunkte gibt es genug: jeder Wendepunkt im Leben eines Menschen (Umzüge, Einschulungen, Krisen), im Leben der Kirche (Kirchenentwidmung, Zusammenlegungen) sowie im Leben des Gemeinwesens (Krisen, Aufbrüche, Veränderungen) bietet genug Möglichkeiten, Beziehungen neu zu denken und zu handeln.
9.
Fusionsprozesse in verschiedensten Formen als Chance, vielleicht die letzte Chance, um eine Wende zu vollziehen
Differenz und Vielfalt zulassen
Es ist eine Zeit des Aufbruchs: Die Fusionsprozesse sind kein Rückzug, sondern bieten die Chance – vielleicht die letzte Chance – eine Wende zu vollziehen. Sie werden die Kirche aber nicht ex cathedra verändern, sondern können nur das aufgreifen, was bereits als Potenzial vor Ort vorhanden ist. Hierauf kann es keine allgemeingültige Antwort geben, nicht den einen Ansatz, der alle (wieder)vereint oder durch charismatische Performanz Sinn stiftet. Es ist die Kirche der Vielen, die „verbeulte Kirche“ des Papstes, die sich auf den Weg macht, um Menschen neu kennenzulernen.
10.
Ein radikaler Vorschlag: alles suspendieren, um neue Gemeinschaft beziehungsorientiert, entgrenzt aufzubauen
Sich unterbrechen und loslassen
Vielleicht ist es zu radikal als Vorschlag, doch soll es einmal hier genannt werden: Wie wäre es einmal, alles zu suspendieren, um eine neue Gemeinschaft beziehungsorientiert und entgrenzt aufzubauen. Sich auf das Wesentliche der Diaspora begrenzen und dann von dort aus neu Kirche sein. Einen Versuch ist es zumindest wert.