022020
Statements
Im Frühbeet neuer Normalität – Ein Gespräch über Transformationserfahrungen in einer katholischen Pfarrei
… ehrlich gesagt erlebe ich gerade bei Priestern wenig Fantasie zum Experiment in und mit der Liturgie.
Jan-Christoph Horn: Ute, wenn du deine Grunderfahrung der vergangenen Monate rückblickend auf den Punkt formulieren müsstest: Was würdest du sagen?
Ute Gertz: Was haben wir getan, was haben wir vermisst, was haben wir erfahren? Und dann unterscheide.
Die Corona-Krise hat gesamtgesellschaftlich, aber eben auch in der Kirche, also auch in den Pfarreien, viele vereinbarte Standards und Regeln über den Haufen geworfen. Ob beim Restaurant- oder Gottesdienstbesuch, im Homeoffice oder der Online-Gruppenstunde. Was ist dabei aus deiner Sicht als Seelsorgerin mit den Menschen passiert?
Was haben wir getan, was haben wir vermisst, was haben wir erfahren? Und dann unterscheide.
Die Menschen waren herausgefordert, auf ihre Sehnsucht zu hören und ihr zu trauen, ihre Bedürfnisse als Kompass zu nutzen. Es waren viele erwachsene Entscheidungen zu treffen – und sie wurden getroffen. Vieles war nicht im erlernten Raum möglich, sondern musste verantwortet verändert werden. Und das ist passiert.
Du sprachst mir gegenüber davon, dass es im ersten Lockdown richtige Stilblüten in eurer Pfarrei gegeben hat. Erzähl doch mal.
Ein Familienvater erzählte mir, wie sie Ostern gefeiert haben: „Wir haben den Livestream eurer Gottesdienste geschaut. Brot und Wein auf den Tisch gestellt. Haben das Brot gesegnet, wo auch der Priester während des Gottesdienstes den Geist Gottes herabruft. Das war unsere Gemeinschaft untereinander und mit Gott. So tief hatte ich es schon lange nicht mehr erlebt.“ – Eine Form geistlichen Lebens, die zwar aus der Not geboren, aber echt ist. Während eines ‚normalen‘ Osterfestes hätten das vielleicht auch Leute gemacht, aber wir hätten es vermutlich gar nicht mitbekommen.
Was bedeutet dir das Zeugnis dieses Vaters?
Mit Blick auf die Liturgie ist es offensichtlich nicht wesentlich, ob das jetzt Eucharistie heißt oder kanonisch eine gültige Feier ist, sondern ob sich eine religiöse Verbundenheit ausdrücken kann…
Dass sie sich als mit Christus verbundene Menschen verstehen, ohne dass ihnen das jemand sagen müsste. Da sind Menschen, die sagen: „Wenn wir dies oder das tun, ist das Christus für uns.“ Mit Blick auf die Liturgie ist es offensichtlich nicht wesentlich, ob das jetzt Eucharistie heißt oder kanonisch eine gültige Feier ist, sondern ob sich eine religiöse Verbundenheit ausdrücken kann, die wir doch geistlich meinen, wenn wir von Eucharistie und Liturgie und Kult sprechen.
Was erwartest du jetzt im zweiten Lockdown, der mit Weihnachten zusammenfällt?
Ganz klar: Wenn etwas in den letzten Monaten als sinnvoll erlebt wurde, wird das wiederholt. Die Menschen warten nicht darauf, ob sich eine Institution oder Organisation dazu verhält. Es werden Formen und Weisen gestaltet, auch an Weihnachten, die die Verbundenheit miteinander und mit Gott zum Ausdruck bringen. Unterstützung durch uns als Pfarrei ist dabei willkommen, aber alles andere liegt bei den Leuten.
Beschreibst du damit Merkmale einer veränderten, „jenseitigen“ Kirche? Und was denken und wie handeln Seelsorgerinnen und Seelsorger dabei?
Zur ersten Frage: Ja. Aber: „Jenseits“ heißt ja nicht „Abwegig“. Und ehrlich gesagt erlebe ich gerade bei Priestern wenig Fantasie zum Experiment in und mit der Liturgie.
Wir dürfen nicht schon vorsortieren, sondern müssen einen Unterscheidungs- und Entscheidungsprozess der Menschen miteinander moderieren.
Worauf kommt es an?
Fragen, nicht wissen, mitsuchen, die Fläche öffnen, nicht den Weg vorgeben, mittragen, was den Menschen in die Gottverbundenheit hilft, nicht auf Formalien verweisen. Weniger die Antworten zu haben, sondern das Angebot zu sein, die Fragen nach Jesus und Gott miteinander zu gehen. Und zu schauen, was trägt und was nicht trägt und was hält und was nicht hält. Sich zu trauen, Unterschiedliches ins Gespräch zu bringen, ist nicht gut ausgebildet bei Seelsorger*innen.
Hast du ein Beispiel?
Nehmen wir den Bibelkreis in unserer Pfarrei: Uns als Hauptamtlichen und überhaupt irgendwem steht es nicht zu, die Leute dafür vorzusortieren, zu meinen, man wüsste schon, wen was interessiert und für wen was gut wäre. Fragen, anbieten, Erfahrungen machen lassen, kommen lassen und eben auch guten Gewissens gehen lassen. Wir dürfen nicht schon vorsortieren, sondern müssen einen Unterscheidungs- und Entscheidungsprozess der Menschen miteinander moderieren. Ich habe schon Leute aus den Nischen kommen sehen, von denen ich nicht gedacht hätte, dass die das interessiert.
Verändert sich dadurch die Klientel einer Pfarrei?
Mir ist es nicht egal, wenn die Leute wegbleiben. Ich rufe auch mal an und frage nach. Wenn es gelingt, in Beziehung zu bleiben, gleicht meine Erfahrung der beim Steine flitschen: Gerade die, die bisher auf die klassische Sonntagsliturgie konzentriert waren, finden in den letzten Monaten weitere Formen und gestalten wiederum verschiedene neue Formen mit, die wieder andere Menschen anspricht. Das sind natürlich keine Massen, das sind kleinste Pflänzchen, die man allzu schnell übersehen kann.
Wenn man sich das vorstellt: So wächst die Gemeinde?
Ja, so kann man das sehen. Sie weitet sich auf jeden Fall. Natürlich gehen auch Sachen nicht weiter, aber dann war da auch keine Energie mehr drin.
Unsere Aufgabe als Pfarrei ist es, Gesprächsanlässe zu schaffen. Das bildet dann Communio in einem ganz basiskirchlichen Sinn…
Was für Anregungen schafft ihr konkret, was ist die Bedingung der Möglichkeit dafür?
Halt die Leute zu unterstützen. Wir haben Menschen eine „Ostertüte“ mit Impulsen und Anregungen zur Verfügung gestellt, in diesen Tagen entsprechend eine „Weihnachtstüte“: Tägliche Impulse, die zu Beginn der Pandemie fast ausschließlich aus dem Seelsorgeteam kamen und an dem sich über die Monate auch immer mehr Menschen aus der Pfarrei und darüber hinaus mit ihren Geschichten einbringen. Manchmal, indem sie uns was erzählen, aber auch immer wieder, indem sie eigene Impulse senden. Unsere Aufgabe als Pfarrei ist es, Gesprächsanlässe zu schaffen. Das bildet dann Communio in einem ganz basiskirchlichen Sinn: Die Gemeinschaft, die die Menschen untereinander erleben, in eine Communio mit Christus überführen. Das ist etwas jenseits klassischer Gemeindezugehörigkeit und der strahlenden Präsenz von Hauptamtlichen.
Eine jenseitige Kirche ist eine Kirche der Fokusverschiebung?
Soweit würde ich nicht gehen. Das ist ja alles im Frühbeet hier. Was ich von der Familie und ihrer Gottesdiensterfahrung erzählt habe, hat der Vater ja nicht theologisch oder ekklesiologisch formuliert, sondern er hat es mir einfach erzählt: Wir haben den Tisch gedeckt, haben den Stream angeschaut und anschließend gab es Abendessen. Aber er hat mit Erstaunen gesagt, dass sie sich noch nie so intensiv über das unterhalten haben, was in der Predigt gesprochen wurde. Da horche ich doch auf.
Und vor allem: Nicht für, sondern mit den Menschen.
So wie du sprichst, müsste es für dich Auswirkungen auf die institutionalisierte Kirche geben. Was rätst du?
Das Image der Kirche ist so schlecht, da ist ganz viel verbrannte Erde. Auch wir Hauptamtliche vor Ort können und sollten nicht über unsere Energie alles retten. Für mich ist entscheidend, mein Engagement anders zu verstehen: Kleinteiliger, für eine Stunde mit ein paar Leuten, nicht gleich rastlos für die ganze Pfarrei. Und vor allem: Nicht für, sondern mit den Menschen. Ihre Ideen und Formen aufnehmen, das ihrige unterstützen und Mut machen, ihrer Sehnsucht zu trauen.
Ein Tag als Bischöfin – was würdest du tun, was würdest du lassen?
Ich würde Experimentieren und Experimente fördern. Einfordern, nicht nur zulassen – in vorgefertigten Leitplanken, die ggf. auch erst im Nachhinein bekannt gemacht werden. Ich würde mich für eine fluide Form von Kirche aussprechen – Kirche, die Einheit in Vielfalt und Vielfalt in der Einheit lebt, auch normativ. Meine wichtigste Aufgabe wäre es, die Menschen auf den Geist zu einen, der uns trägt, dabei die Ausdrucksformen zuzulassen, die für sie jeweils die richtigen sind. Das ist das, was sich in der Corona-Zeit zeigt: Menschen suchen sich unter den begrenzten Möglichkeiten das, was sie brauchen. Dabei nehmen sie Begleitung gerne an.
Es wird verschiedene Kultformen nebeneinander geben müssen. Dafür müssen wir unsere Kirche entsprechend gestalten…
Kirchenentwicklung wird oft über die Liturgie diskutiert. Was ist aus deiner Erfahrung in eurer Pfarrei dein Impuls dazu?
Es wird verschiedene Kultformen nebeneinander geben müssen. Dafür müssen wir unsere Kirche entsprechend gestalten, Ressourcen bereithalten und so weiter. Als Beispiel nehme ich die Tauffeiern: Bei uns gibt es seit Corona Einzelfeiern. Das sind dann am Wochenende auch mal sechs Feiern. Um die Ressourcen zu kompensieren, haben wir Werktagsmessen gestrichen. Das war kein Problem, dafür erreichen wir die Leute jetzt besser.
So wie ich dich kenne, hast du über diesen pragmatischen Ansatz noch hinausgehende Reformgedanken …
In der Taufe wollen Menschen sich der Nähe Gottes vergewissern, nicht in die Kirche eintreten.
In der Tat. Warum taufen im Falle der bei uns üblichen Säuglingstaufe die Eltern nicht in Begleitung eines Priesters oder Hauptamtlichen ihre Kinder? Die ganze Liturgie der Taufe hebt in einer Weise auf die Eingliederung in die Kirche ab, die den Menschen nichts bedeutet. Für sie ist die Taufe ein Beziehungssakrament, ein göttlicher Segen über eine fragile Beziehung, denn so ist das Leben. Das aber ist doch Kirche im besten Wortsinn – „die zum Herrn gehören“. In der Taufe wollen Menschen sich der Nähe Gottes vergewissern, nicht in die Kirche eintreten. Aber indem sie sich der Nähe Gottes vergewissern, sind sie Kirche, indem sie spüren und vertrauen in die Grundzusage der Taufe: „Du, bist mein geliebter Sohn, meine geliebte Tochter, an dir habe ich gefallen.“
Wie sehr ist in eurer Pfarrei schon eine „jenseitige“ Kirche erkennbar – auf einer Skala von 0 bis 10?
0,7. Es ist wenig erkennbar, aber es ist etwas erkennbar.
Wann ist es eine zwei?
Wenn die Leute das, was sie in ihrer geistlichen Selbstermächtigung erleben, nicht nur uns Hauptamtlichen, sondern sich untereinander erzählen.
Danke, Ute. Was ist dir noch wichtig, in unser Gespräch hineinzulegen?
Dass wir uns trauen mitzufragen, mitzusuchen, mitzutragen. Und das zu begrüßen, was dann entsteht.