Kirche als Caring Community – ein Modell mit Zukunftspotenzial
1. Hier wird füreinander gesorgt!
Das Café Bohne in Kirchheim bei Heidelberg ist offen für alle Menschen, unabhängig von ihrem Lebensalter und ihrem sozialen Hintergrund.1 Unter dem Dach des kirchlichen Begegnungszentrums kommen viele zusammen, die unterschiedliche Interessen haben und in angenehmer Atmosphäre einfach nur einen guten, fair gehandelten Kaffee trinken möchten oder an einer der zahlreichen sozialen Aktivitäten teilnehmen möchten. Workshops und Vorträge zu unterschiedlichen Themen, die keineswegs nur religiös sind, bilden das Rahmenprogramm. Menschen werden in ihrer Fähigkeit zur Selbsthilfe gemessen an ihren Bedürfnissen und der aktuellen Lebenssituation unterstützt und können sich bei einem Cafébesuch niederschwellig über soziale Unterstützungsmöglichkeiten informieren. Auch seelsorgliche Begleitung in Lebenskrisen oder lebensgeschichtlichen Umbrüchen, aber auch Seelsorge im normalen Alltag bei Gelegenheitsbegegnungen gehören als fester Bestandteil zum Angebot. Das Café lebt davon, dass sich Menschen abhängig von ihren Gaben und Interessen einbringen, vom intergenerationellen Austausch und Lernen voneinander sowie davon, dass alle eine Haltung des gegenseitigen Interesses und einen wertschätzenden Blick aufeinander teilen. Die Räumlichkeiten werden in diesem Fall von der Kirchengemeinde zur Verfügung gestellt, die andere Sozialraumakteur*innen nutzen können. Die offene und inklusive Atmosphäre des Cafés ist ein wichtiger Faktor für die soziale Integration und die Inklusion, die durch soziale Aktivitäten, wie Workshops und Spieleabende gestärkt wird und soziale Interaktion und die Teilhabe aller ermöglicht. Es ist ein Ort, an dem Menschen sich treffen, kennenlernen, sich austauschen und sich gegenseitig unterstützen können.
Zentral für die Entstehung solcher Projekte ist eine Gruppe von Menschen, die sich für die Förderung von sozialer Integration und Inklusion einsetzt und nicht nur im Raum von Kerngemeinde engagiert ist.
Im Projekt wird der Gedanke von einer Gemeinschaft, in der alle miteinander füreinander sorgen, konsequent umgesetzt. Mit dem offenen Charakter ist das Café eine besondere Form, Kirche zu leben, die niederschwellig und einladend ist für Menschen verschiedener Hintergründe und nicht zwangsläufig einen explizit religiösen oder christlichen Charakter hat. Zentral für die Entstehung solcher Projekte isteine Gruppe von Menschen, die sich für die Förderung von sozialer Integration und Inklusion einsetzt und nicht nur im Raum von Kerngemeinde engagiert ist. Spezifikum solcher Projekte ist, dass sie jeweils sowohl von der Kirchengemeinde als auch von einer kooperativen Struktur aus ehrenamtlichen Mitarbeitenden und Hauptamtlichen seitens der Kirche(n), weiteren sozialräumlichen Akteur*innen (z. B. Sozialdienste) sowie Verantwortlichen aus Ortsgemeinde oder Stadt getragen werden. Sorgende Gemeinden leben von einer Gegenseitigkeit und einer an gemeinsamen Zielen orientierten Kooperation, die häufig auch an einer geteilten finanziellen Trägerschaft erkennbar ist. Durch Prozesse gemeinsamer Entscheidungsfindung soll sichergestellt werden, dass plurale Interessen berücksichtigt und Entscheidungen im besten Interesse aller getroffen werden können.
Herausforderungen durch Säkularisierung und Pluralisierung und die Idee Sorgender Gemeinschaften
Die fortschreitende Säkularisierung und Pluralisierung in westlichen Gesellschaften stellen die traditionelle Rolle der Kirche als Organisation und Institution sowie ihre damit verbundenen Interaktionsprozesse auf eine harte Probe. Gleichzeitig entwickeln sich innovative Modelle des Zusammenlebens, die sich auf Prozesse der Pflege und Sorge mit dem Blick auf die Bedürfnisse der alternden Gesellschaften und der sich verändernden Demografie einstellen. Ein möglicher Ansatz, um diese Herausforderungen aktiv anzugehen, ist das Konzept der „caring community“, das Sorge weder als individuelle Aufgabe noch als kirchliche Zuständigkeit, sondern als kollektive Verantwortung versteht, welche die Gesellschaft als Ganze umfasst.2
Das Konzept der „caring community“ versteht Sorge weder als individuelle Aufgabe noch als kirchliche Zuständigkeit, sondern als kollektive Verantwortung, welche die Gesellschaft als Ganze umfasst.
Die Idee der „Sorgenden Gemeinschaft“ zielt darauf ab, ein Miteinander und Füreinander innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft zu fördern, die auf lokaler Ebene durch Nachbarn, das sich gegenseitig in ihrem Alltag unterstützen, oder auf einer größeren Ebene durch Projekte, die sich an die Bedürfnisse der Gemeinschaft anpassen, realisiert werden kann. Solche Gemeinschaften sind als Teil der Gesellschaft konzipiert und verstehen sich als Gemeinschaften im Plural, die sich durch geteilte Werte, gemeinsame Aufgaben und Ziele, die Teilhabemöglichkeit aller und die kommunikativen Selbstorganisation unter Mitwirkung verschiedener Akteur*innen tragen. Sechs Merkmale sind nach Peter Zängl für sorgende Gemeinschaften konstitutiv: Sie leben von einer verbindlichen Gemeinschaft, die auf geteilten Werten basiert und in gegenseitiger Verantwortung und Sorge füreinander besteht, ermöglichen Beteiligung durch strukturelle Organisation der Teilhabenden und Tausch von Ressourcen. 3
Im Folgenden soll die Idee sorgender Gemeinschaften nicht einfach auf Kirche übertragen bzw. damit identifiziert werden, sondern es wird danach gefragt, wie Kirche in und mit Gesellschaft interagiert und im Sozialraum zur verantwortlichen gegenseitigen Sorge als tragendem Element des Miteinanders beiträgt.
Sorge überzeugt: Kirche als sorgende Gemeinschaft hat hohes Ansehen
Die Kirchen haben sich in den letzten Jahren verstärkt mit der Bildung von sorgenden Gemeinschaften auseinandergesetzt. Diese Gemeinschaften sollen nicht etwa als Ersatz für traditionelle Sorgestrukturen dienen, sondern als eine neue Form der Sorge, die sich auf die Bedürfnisse der Gemeinschaft einstellt. Kirchen sehen in der Bildung von sorgenden Gemeinschaften eine Möglichkeit, die Krise und den Bedeutungsverlust der Kirche konstruktiv zu bearbeiten. Denn eine Kirche, die für andere da ist, überzeugt Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche(n). Nicht zuletzt ist dies ablesbar an den Daten der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Als wichtigster Mitgliedschaftsgrund wird nicht etwa ein eigenes Interesse an Religion, Werten oder Ritualen genannt, sondern die Eigenschaft von Kirche, etwas für andere Menschen, z. B. Arme und Bedürftige, zu tun. Dem stimmen 50 % der evangelischen und 42 % der katholischen Befragten zu.4
Kirche im Sozialraum: Elemente einer sorgenden Kirche
Pointe eines Kirchenverständnisses, das Sorge ins Zentrum rückt, ist dabei eine Umkehr der kirchlichen Eigenlogiken. Es wird also nicht danach gefragt, wie Kirche im Kern organisiert werden kann und wie Verkündigung gelingt, sondern im Miteinander verschiedener Akteur*innen in der Gesellschaft, von denen Kirche als Teil verstanden wird, realisiert sich Kirche in einer diakonischen, zugewandten und seelsorglichen Gestalt.
Eine Kirche, die für andere da ist, überzeugt Menschen innerhalb und außerhalb der Kirche(n).
Theologisch hat dieses Kirchenverständnis darin, dass das Evangelium sich in Haltung und Handeln am anderen Menschen realisiert und damit Kirche nicht bei sich selbst bleibt, sondern über die institutionellen und organisatorischen Grenzen hinaus in die Kommunikation drängt. Dietrich Bonhoeffer spitzte dies so zu, dass Kirche nur Kirche sei, wo sie für andere da sei. Ihr konstitutives Element liegt also in der Zuwendung zum Anderen, was bis in die biblische Überlieferung hineinreicht (z.B. pointiert Lk 10). Prägnant lässt sich dieses Kirchenverständnis besonders etwa seit den 1960er Jahren beobachten: Es geht mit einer verstärkten Individualisierung und Säkularisierung einher, durch die Forderungen nach einer Zuwendung zur „Welt“ und zur Gesellschaft laut werden.5
Welche Elemente eine sorgende Kirche kennzeichnen, wird in den folgenden Punkten präzisiert.
Partizipation
Sorgende Gemeinschaften leben von Teilhabe und Inklusion, die über die lose Zusammensetzung von einzelnen Mitgliedern hinausreicht. Sie sind prinzipiell einladend und grenztranszendierend gedacht.6 Nur weil viele mitwirken und sich beteiligen, kann sich eine Gemeinschaft entwickeln, die nicht den Interessen einzelner folgt und eher bottum up statt top down organisiert ist. Dazu braucht es viele, die bereit sind, ihre Kompetenzen und Ressourcen einzubringen. Konstitutiv sind daher nicht nur professionelle Akteur*innen, sondern auch freiwillig bzw. ehrenamtlich Beteiligte, die mitwirken und ihre Gaben einbringen können. Eine flexible und an die Bedürfnisse der Gemeinschaft angepasste Organisationsstruktur kann dazu beitragen, dass Freiwillige längerfristig engagiert bleiben. Im kirchlichen Leben sind freiwillig Engagierte mittlerweile für deren Fortbestehen in vielerlei Hinsicht sehr wichtig geworden. Im Rahmen von sorgenden Gemeinschaften können sich Engagierte partizipativ im Rahmen ihrer Möglichkeiten einbringen.
Bedürfnisorientierung statt kirchlicher Angebotslogik
Eine sonst übliche kirchliche Logik kehrt sich im Zusammenhang mit sorgenden Gemeinschaften um. Kirche wird nicht, wie sonst weitgehend üblich, von Angeboten her gedacht, die von kirchlichen Mitarbeitenden für andere entwickelt und bereitgestellt werden.7 Vielmehr basieren sie auf einer präzisen Wahrnehmung dessen, was vor Ort gebraucht und gewünscht wird und welche Themen und Sorgen dort vorherrschen. Sorgende Gemeinschaften gehen demnach nicht von einer normativen Vorgabe des „guten Zusammenlebens“ aus, sondern rekonstruieren dieses aus der empirischen Wirklichkeit der Partizipierenden. Kirche wird zur bedürfnisorientierten Gemeinschaft, die danach fragt, was andere brauchen („Was willst du, dass ich dir tun soll?“ Lk 18,41). Leitvorstellung ist Altruismus statt Selbstzweck oder kirchliches Eigeninteresse.
Diakonie und Seelsorge
Konstitutiv sind Diakonie und Seelsorge für die gegenseitige Sorge, sowohl in inhaltlicher als auch professioneller Hinsicht. Während traditionell beide Felder eher dazu tendieren, aus der Kirche auszuwandern und sich in Spezialfelder und Institutionen zu organisieren, wird die Verschränkung beider Aufgabengebiete von Kirche zentral. Zugleich formieren sich diakonische und seelsorgliche Aufgaben fluide und losgelöst von fest umrissenen Organisationen und Angeboten, wie Diakonie oder Beratungszentren, oder entstehen im Miteinander und in Kooperation von Institutionen und Einrichtungen.
Kirche wird zur bedürfnisorientierten Gemeinschaft, die danach fragt, was andere brauchen. Leitvorstellung ist Altruismus statt Selbstzweck oder kirchliches Eigeninteresse.
So wachsen Gemeindestrukturen, lokale Gemeinden und Institutionen und Organisationen wie Diakonie oder Beratungszentren wieder mehr zusammen und widmen sich gemeinsam den vor Ort virulenten Themen.8 Diakonie und Seelsorge werden dementsprechend als konstitutiv für Kirche gedacht, nicht nur als deren randständige Sonderfelder, die in eigenen Institutionen oder Einrichtungen wie Beratungsstellen angesiedelt sind.9 Eine seelsorgliche und diakonische Kirche basiert zunächst auf der sensiblen Wahrnehmung dessen, was gebraucht wird (Bedürfnisorientierung), und lebt davon, dass Menschen einander im Blick haben und aneinander und an dem, was lebensgeschichtlich beschäftigt, Interesse zeigen. Kirche wird glaubwürdig durch ihr diakonisches und seelsorgliches Engagement und überzeugt so auch jene, die der Kirche sonst eher fernstehen und ihre Angebote und Dienstleistungen vielleicht selbst gar nicht in Anspruch nehmen.10
Öffnung in den Sozialraum
Kirchliche Räume bilden nicht mehr zwangsläufig das Zentrum kirchlicher Interaktion. Vielmehr sind sie manchmal zwar Ausgangspunkt oder wertvolle Ressource als Treffpunkt, werden aber häufig ergänzt durch andere räumliche Angebote und Strukturen. Kirche öffnet sich in den Sozialraum hinein. Grenzen zwischen Innen und Außen, Kerngemeinde und lose Verbundenen fließen ineinander und trennende Dichotomien werden aufgelöst. Angestoßen durch die Orientierung zum Sozialraum werden dessen vielfältige Ressourcen entdeckt und so etwa neue Kooperationen angestoßen, etwa wenn Kirchengemeinden mit Diakonie und kommunalen Trägern zusammenarbeiten. Gerade für strukturell schwache Gebiete oder den ländlichen Raum, die vom Abbau von Sozialstrukturen bedroht sind, schaffen Initiativen im Sinne sorgender Gemeinschaften neue Möglichkeiten.
Gemeinschaft vs. Gemeinde
Wird Kirche als sorgende Gemeinschaft gedacht, steht eine Gemeinschaft im Fokus, die prinzipiell offen und fluide gedacht ist und nicht einer geschlossenen Gruppe ähnelt. Damit wendet sich das Modell gezielt gegen eine binnenkirchliche Perspektive, die eine feste Zugehörigkeit über Mitgliedschaft, Religiosität oder Teilnahme an bestimmten Aktivitäten generiert. Gemeinschaft ist gleichwohl als offen und einladend gedacht und kann sich auch punktuell herstellen.
Gemeinschaft und Verbindlichkeit stehen immer in konstruktiver Spannung zu Offenheit und Vielfalt.
Das gemeinsame Ziel einer Sorge mit- und füreinander impliziert aber keinesfalls eine Beliebigkeit, sondern braucht eine gewisse Verlässlichkeit in der Gestaltung, um Sorgebeziehungen überhaupt realisierbar zu machen. Insofern stehen Gemeinschaft und Verbindlichkeit immer in konstruktiver Spannung zu Offenheit und Vielfalt. Notwendig sind eine Verständigung über gemeinsame tragende Werte und die Orientierung an Zielen.11
Beteiligung Freiwilliger: Auflösung traditioneller Hierarchiestrukturen
Eine sorgende Kirche lebt von freiwillig Engagierten und transzendiert dadurch vorherrschende Machstrukturen, wie sie in traditionellem kirchenleitendem Handeln häufig perpetuiert werden. Engagement kann Selbstwirksamkeit und positives Selbsterleben fördern. Machtstrukturen und Hierarchieverhältnisse werden durch die Betonung von Gemeinschaft und Freiwilligkeit gezielt gebrochen. Es geht nicht nur um diejenigen, die professionell sorgen oder als Theolog*innen die Gemeinde mitleiten und ihre Ideen vorgeben. Es geht um diejenigen, die die Gemeinschaft selbst bilden. Dennoch können nicht alle gleich beteiligt, gleich engagiert sein. Es braucht diejenigen, die hauptamtlich organisatorisch mitsteuern und materiell und personell unterstützen. Und es braucht diejenigen, die ehrenamtlich mitgestalten, die vielen, die ansprechbar sind für materielle, spirituelle, seelsorgliche oder diakonische Anliegen.
Eine gute Koordination und Kooperation aller Beteiligten ist für eine Voraussetzung. Menschen in Leitungsfunktionen müssen sich darum ihrer Rolle des Ermöglichens und Ermächtigens bewusst machen. Es braucht Empowerment, das ehrenamtliches Engagement ernstnimmt und gleichberechtigt behandelt und damit überzeugt ist davon, dass die Umgestaltung und Gestaltung von Zusammenleben nicht allein durch Professionelle getragen werden kann.12 Vielmehr wird dies gerade aus der Perspektive der sorgenden Gemeinschaften als Hybris und Selbstüberschätzung einer hauptamtlich geprägten Kirche entlarvt: Nicht von oben herab kann Kirche gesteuert und verwaltet werden, sondern gelebt wird sie dort, wo sie sich vor Ort in Auseinandersetzung mit Menschen, in den Beziehungen von Menschen miteinander und zueinander realisiert.
Bedeutung für kirchenferne Kontexte
Sorgende Gemeinschaften im Sozialraum sind nicht zwangsläufig kirchlich. Sie sind niederschwellig und laden auch Menschen ein, die den expliziten christlichen Inhalten skeptisch oder fern gegenüberstehen. Dennoch spielt das Christliche in der Begründung des sorgenden Miteinanders für die einzelnen Akteur*innen eine Rolle und kann aus theologischer Sicht als eine Form gelebter Religion angesehen werden.13 Es bleibt dennoch eine Zweckfreiheit insofern bestehen, dass es nicht um die Gewinnung neuer Kirchenmitglieder geht, sondern kirchliches Engagement im Gemeinwesen als gewissermaßen zweckfrei und ohne Eigeninteressen verfolgt werden sollte. Dennoch ist Sorge nicht beliebig, sondern orientiert sich in Haltung und Grundintention an der christlichen Botschaft, die voraussetzt, dass alle Menschen grundlegend bedürftig und vulnerabel sind.14 Damit werden auch Räume und Gelegenheiten geschaffen, die Spiritualität jenseits geprägter gemeindlicher Strukturen erfahrbar machen.
Nicht von oben herab kann Kirche gesteuert und verwaltet werden, sondern gelebt wird sie dort, wo sie sich vor Ort in Auseinandersetzung mit Menschen, in den Beziehungen von Menschen miteinander und zueinander realisiert.
Versteht sich Kirche als eine Akteurin im Sozialraum und in Kooperation mit anderen Akteuren der Gesellschaft, dann werden Ressourcen miteinander geteilt und neue möglicherweise geschöpft. Zahlreiche Projekte, die als Kooperation im Blick auf gemeinsame Sorgeprozesse und Gestaltung des Sozialraums hin bezogen sind, können durch Fundraising und Drittmittel jenseits kirchlicher und staatlicher Eigenmittel erst nachhaltig bestehen.15 Diese neuen Möglichkeiten könnten auch in Zeiten sinkender kirchlicher Ressourcen eine Chance sein.
Zukunftspotenziale und Herausforderungen sorgender Kirche
Zahlreiche Praxisbeispiele zeigen mittlerweile, auf welche Weise Kirche sich erfolgreich in den Sozialraum hinein engagiert und davon auch das Selbstverständnis kirchlicher Akteur*innen entscheidend geprägt wird.16 Vom Engagement für pflegende Angehörige in der Nachbarschaft17 über die Organisation von Vesperkirchen18 bis zum Aufbau gemeinsamen Wohnraums im Quartier19 können die Realisierungsformen von sorgenden Gemeinschaften sehr vielfältig sein. Die Evangelische Landeskirche in Baden fördert beispielsweise gezielt Projekte, die auf eine Ausweitung des Gemeindeverständnisses hinein in soziale Nahraumstrukturen hinwirken wollen. Sind zu Beginn noch viele Projekte im Rahmen von Pflege und der Sorge um und für ältere Menschen entstanden, so zeichnet sich mittlerweile ein Trend hin zur Intergenerationalität ab.15 Gegenseitige Sorge in diakonischer und seelsorglicher Prägung ist für alle Generationen und ungeachtet anderer menschlicher Eigenschaften wie Geschlecht, kulturelle Herkunft oder persönliche Fähigkeiten für ein gutes Zusammenleben bedeutsam. Auch andere Beispielprojekte zeigen, wie Kirche sich durch das Modell der sorgenden Gemeinschaften transformieren kann und dabei einladend und inkludierend wirkt.20 Stark am Modell einer sorgeorientierten Kirche ist zweifelsohne die leicht überzeugende Plausibilisierung von Kirche in der Gegenwart.21
Neben zahlreichen Zukunftspotenzialen, die bereits angerissen wurden, wie nachhaltige Gestaltung von Gemeinschaft, Glaubwürdigkeit und Einladungscharakter von Kirche und verantwortlicher Mitwirkung im Gemeinwesen, sind auch kritische Rückfragen an das Modell zu stellen.
Beispielprojekte zeigen, wie Kirche sich durch das Modell der sorgenden Gemeinschaften transformieren kann und dabei einladend und inkludierend wirkt.
Sorgende Gemeinschaften basieren auf Partizipation und freiwilliger Beteiligung. Sie sind nicht einfach herzustellen, sondern können nur ermutigt werden und in ihren Rahmenbedingungen mit den besten Entwicklungschancen ausgestattet werden. Eine sorgende Beziehung zwischen Menschen entfaltet sich dann, wenn eine gute Kultur der Gemeinschaftlichkeit von den Beteiligten gelebt und erfahren wird.22 Exemplarisch zeigen empirische Befragungen, wie Mitglieder von sorgenden Gemeinschaften immer wieder um die tragenden Grundwerte ihrer Gemeinschaft und Sorge diskutieren und ringen und damit ein Fundament dafür schaffen, was dann gemeinsam getan und organisiert werden soll.
Wenn sorgende Gemeinschaften auf geteilten Werten basieren23, dann müssen solche Werte auch ausgehandelt und kommuniziert werden. Zugleich werden Gemeinschaften immer zwischen Kohäsion und geteilten Überzeugungen als ihrer Grundlage, aber auch aus Spannungen und Vielfalt leben. Wertekonsens und -pluralität zu leben, Offenheit und zugleich Orientierung zu geben, ist nicht immer leicht zu vereinbaren. Kirchen können mit ihrer Expertise im Dialog der Gegensätze und wertorientierten Perspektiven auf Gesellschaft einen wertvollen Beitrag zur Gestaltung dieser Spannungsverhältnisse und Ambivalenzen liefern.
Die Frage, wer Sorge am Ende wirklich übernimmt und nicht nur organisiert oder koordiniert, ist in diesem Modell von Kirche wesentlich. Während der Partizipations- und Teilhabeorientierung klare Vorteile abzugewinnen sind, wird an manchen Stellen in der Umsetzung doch deutlich, dass es doch häufig daran hängt, wer genügend Ressourcen aufbringen kann, um anderen Sorge zuteilwerden zu lassen. Diejenigen, die über weniger Ressourcen und Kapazitäten verfügen, sich aktiv einzubringen, brauchen eher Angebote, die niederschwellig und gut verfügbar sind. Hier sind aber Cafés Beispiele, die beides miteinander verbinden. Sie sind ein bekanntes, niederschwelliges Angebot, bei dem ohne Voraussetzungen, Kenntnisse oder sonstiges erreichbar und zugänglich sind. Schieflagen hinsichtlich von Genderaspekten (Frauen sind weitaus häufiger in tätiger diakonischer oder pflegerischer Sorge aktiv) oder Ressourcenverteilung (freiwilliges Engagement können sich v. a. diejenigen leisten, die finanziell und zeitlich gut gestellt sind) sind keine Seltenheit und sollten seitens der Kirchen kritisch proaktiv reflektiert werden. Zudem muss der Gefahr eines Abbaus von sozialstaatlichen Leistungen durch sorgende Gemeinschaften präventiv begegnet werden, sonst droht eine Ausbeutung.24 Die Problematik einer aktiven Mitgestaltung und Partizipation liegt auch darin, dass viele kirchendistanziert sind und sich erst diejenigen zu einer aktiven Partizipation und Mitarbeit bewegen lassen, die den Angeboten und der Kirche selbst näher stehen. Eine Chance liegt darum in sorgenden Gemeinden, die nicht von vorherein kirchlich „etikettiert“ sind.
Sorge ist nie abstrakt, sondern vollzieht sich konkret. Und dafür lohnt es sich, kirchliche Ressourcen einzusetzen.
Sorgende Gemeinschaften benötigen in ihrer lebendigen Ausgestaltung immer auch Ressourcen und Konkretion: Zum Erfolg tragen konkrete Personen, die in Beziehung gehen und bereits sind, verantwortliche Sorgeprozesse mitzugestalten, konkrete Räume, in denen sich Menschen begegnen und sich austauschen können, sowie konkrete Zeiten bei, die der Gemeinschaft zur Verfügung stehen. Sorge ist nie abstrakt, sondern vollzieht sich konkret. Und dafür lohnt es sich, kirchliche Ressourcen einzusetzen.
Am Ende liegt die Pointe darin, dass Kirche nicht um ihrer selbst Willen da ist. Sie als unsichtbare Kirche jenseits von Organisation und Institution mit dem Sozialraum verschränkt, und verfolgt durch ihr sorgendes Handeln Ziele, die weit über eine Mitgliederorientierung und -gewinnung hinausreichen. Dabei werden sorgende Gemeinschaft und Kirche nicht miteinander identifiziert. Andererseits wird Kirche auch nicht nahtlos mit Gesellschaft gleichgesetzt, vielmehr geht es um eine Kooperation im Interesse eines guten Miteinanders, das offen ist für Pluralität und Vielfalt. Kirche kann so ein Ort sein und andere Orte schaffen, an denen Menschen mit verschiedenen Interessen, Lebensgeschichten, Traditionen und kulturellen Verwurzelungen zusammenkommen.
Es geht um eine Kirche, die theologisch gesprochen, in die Welt hineinwirkt, sie verändern will und dabei weder identisch mit Welt ist, auch wenn es eine weltliche Seite der Kirche selbstverständlich gibt. Sie ist andererseits aber auch nicht getrennt von der Welt als eine Sozialsphäre für sich zu verstehen. Hier wird ein positives Bild von Kirche geschaffen: Kirche cares, nicht nur um und für sich selbst, sondern für alle Menschen, die (in) ihr begegnen. Kirche ist damit der abstrakten Instanz von Organisation und Institution enthoben und verwirklicht sich in Begegnungen und lebendigen Beziehungen.
In den aktuellen kirchlichen Transformationsprozessen kann die Orientierung am Modell der sorgenden Gemeinschaften einen heilsamen, korrigierenden Effekt einbringen. Während diese Transformationsdiskurse dazu neigen, sich immer um kirchliche Binnenwelten zu drehen, wird beim Konzept der Sorgenden Gemeinschaft aus einer anderen Perspektive auf Kirche geschaut. Es geht darum, was Kirche in Verbindung mit anderen zu einer Gestaltung von Beziehungen und dem Miteinander von Menschen beitragen kann, die gemeinsam an einem Ort leben und ein lebenswertes Miteinander gestalten, in dem unterschiedliche Bedürfnisse und Voraussetzungen Platz haben.
Für Interessierte:
- Miteinander füreinander sorgen. Digital(e) Sorgende Gemeinschaften – Impulse einer Fachtagung – YouTube
- Sorgende Gemeinschaften: Unterstützung für pflegende Angehörige – ein Heidelberger Forschungsprojekt – YouTube
- https://xn--caf-bohne-d4a.de/ (Abruf am 20.09.2024).
- Hofstetter, Simon (Hrsg.): Gemeinsam Sorge tragen. Das Potenzial der Diakonie für Sorgende Gemeinschaften, Zürich 2021; Coenen-Marx, Cornelia: Keiner stirbt für sich allein – Sorgende Gemeinde im Quartier, in: JDS 3 (2019), 23-44; Sempach, Robert, Steinebach, Christoph u. Peter Zängl (Hrsg.): Care schafft Community – Community braucht Care, Wiesbaden 2023.
- Zängl, Peter: Was ist eine Caring Community?, in: Robert Sempach/Christoph Steinebach/Peter Zängl (Hrsg.), Care schafft Community – Community braucht Care, Wiesbaden 2023, 3-24; Steinebach, Christoph, Sempach, Robert u. Volker Schulte: Erfolgsfaktoren. Was ist wichtig an Caring Communties?, in: Robert Sempach/Christoph Steinebach/Peter Zängl (Hrsg.), Care schafft Community – Community braucht Care, Wiesbaden 2023, 25-48.
- https://kmu.ekd.de/ (Zugriff am 20.9.2024).
- Pohl-Patalong, Uta: Kirche gestalten. Wie die Zukunft gelingen kann, Gütersloh 2021, 142-145.
- Albert, Anika Christina: „Inklusiv sorgen“?! Raumsoziologische und theologische Erkundungen zu einer inlusiven Diakonie und Kirche in sozialen und digitalen Räumen, in: Annette Haußmann/Christine Wenona Hoffmann (Hrsg.), Miteinander füreinander sorgen. Sorgende Gemeinschaften als Aufgabe von Seelsorge und Diakonie (Praktische Theologie heute), Stuttgart 2024, 35-54.
- Lämmlin, Georg u. Gerhard Wegner (Hrsg.): Kirche im Quartier. Die Praxis. Ein Handbuch, Leipzig 2020.
- Haußmann, Annette u. Christine Wenona Hoffmann (Hrsg.): Miteinander füreinander sorgen. Sorgende Gemeinschaften als Aufgabe von Seelsorge und Diakonie, Stuttgart (Praktische Theologie heute) 2024.
- Hofstetter, Simon (Hrsg.): Gemeinsam Sorge tragen. Das Potenzial der Diakonie für Sorgende Gemeinschaften, Zürich 2021.
- Hoffmann, Christine Wenona: Gemeinsam (seel)sorgen. Zum inklusiven und transformativen Impetus von Caring Communities als seelsorglichem Handlungsfeld, in: Annette Haußmann/Christine Wenona Hoffmann (Hrsg.), Miteinander füreinander sorgen. Sorgende Gemeinschaften als Aufgabe von Seelsorge und Diakonie (Praktische Theologie heute), Stuttgart 2024, 93-121; vgl. auch die Ergebnisse der 6. KMU, s. o.
- Odrasil u. a.: Die Pluralität der Sorge in kirchlichen Sorgegemeinschaften. Begründungen, Qualifizierungen und Differenzierungen, in: Annette Haußmann/Christine Wenona Hoffmann (Hrsg.), Miteinander füreinander sorgen. Sorgende Gemeinschaften als Aufgabe von Seelsorge und Diakonie (Praktische Theologie heute), Stuttgart 2024, 55-91.
- Müller, Sabrina: Theologisches Empowerment bei ehrenamtlichen Kirchenvorsteher*innen: Ein Citizen Science Projekt in der Schweiz und Österreich, in: Praktische Theologie 57 (2022) 2, 110-118.
- Haussmann, Annette Daniela u. a.: Tradition and Transformation: Spirituality in Church-Related Caring Communities in a Pluralistic Society, in: Religions 15 (2024) 3, 363.
- Keul, Hildegund (Hrsg.): Theologische Vulnerabilitätsforschung. Gesellschaftsrelevant und interdisziplinär, Stuttgart 2021.
- Schendel, Gunther, Labohm, Niko u. Georg Lämmlin: Sorgende Gemeinde werden. Abschlussevaluation Januar 2024, Hannover 2024.
- Vgl. zu neuen Formen von Kirche, etwa als Erprobungsräume: Aufbruch in die Zukunft: Uta Pohl-Patalong und Sabrina Müller: Von der Tradition zur Transformation der Kirche, Themenheft Praktische Theologie, Bd. 59 Heft 3, 2024.
- Odrasil, Olivia u. a., Die Pluralität der Sorge.
- Hoffmann, Gemeinsam (seel)sorgen.
- Pohl-Patalong, Kirche gestalten, 143.
- Beispielhaft Hofstetter, Gemeinsam Sorge tragen; Albert, Inklusiv sorgen?.
- Pohl-Patalong, Kirche gestalten, 144.
- Odrasil u. a., Die Pluralität der Sorge; Haussmann, Annette Daniela u. a.: Tradition and Transformation: Spirituality in Church-Related Caring Communities in a Pluralistic Society, in: Religions 15 (2024) 3, 363.
- Zängl, Was ist eine caring community?
- Haubner, Tine: Die Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft. Laienpflege in Deutschland, Frankfurt am Main, New York 2017.