022022

Foto: Rey Proenza/Unsplash

Konzept

Valentin Dessoy

Auf dem Weg zur nächsten Kirche

Wenn sich komplexe, dynamische Systeme verändern

Komplexe dynamische Systeme verändern sich sprunghaft. Das Neue kann nicht linear vom Bestehenden abgeleitet oder daraus entwickelt werden. Es entsteht in einem emergenten Prozess, wenn die Rahmenbedingungen gegeben sind. Solche Prozesse haben stets etwas Disruptives oder Chaotisches. Sie können allerdings gestaltet werden in dem Sinne, dass man ihnen einen Ort und einen Rahmen gibt, um die Grundlagen des Systems, den kommunikativen Bezug der Akteure i.S. Luhmanns, zu erhalten und dem Tradierten durch disruptive Innovation eine neue, kontextualisierte Gestalt zu geben. Die Tiefe und Dimension des notwendigen Gestaltwandels (und damit den Grad der erforderlichen Disruption) auszublenden kann leicht dazu führen, dass ein Kipppunkt erreicht wird, an dem das System in einen Zustand irreversibler Auflösung gerät, wie es die Kirche am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit in Form der Kirchenspaltung erlebt hat.


Wir stehen an der Schwelle zur “nächsten Kirche”.1 Tiefgreifende Umwälzungen deuten sich an. Was lässt sich aus systemischer Perspektive über den Prozess sagen und wie lässt sich das theologisch übersetzen?

Wovon wir ausgehen können

Unsere Gesellschaft befindet sich in einem epochalen Umbruch und mit ihr die Kirchen. Wenn sie als Ordnungsfigur überleben wollen, müssen sie in der „nächsten Gesellschaft“ (Dirk Baecker) anschlussfähig sein und hierfür ihre internen und externen Prozesse neu formatieren. Die Herausforderung ist gewaltig, zumal Religion seit Jahrzehnten unter einem grassierenden Relevanzverlust leidet, der auf einer veränderten „Nachfragestruktur“ (Detlev Pollack; KMU 5) beruht. Das Bedürfnis nach Religion ist abhandengekommen. Man braucht die Kirchen nicht mehr, weil sämtliche Funktionen der Daseinsbewältigung, -vorsorge und -absicherung anderweitig und besser realisiert werden. Heilung und Befreiung finden andernorts statt, so dass der Kern der christlicher Botschaft, das Heilsversprechen in Jesus Christus, in unserer modernen Gesellschaft kaum noch damit verknüpft werden kann.

Für die katholische Kirche kommt hinzu, dass sie Entwicklungen nachholen muss, gegen die sie sich seit der Aufklärung mit aller Macht gewehrt hat: Gewaltenteilung, Gleichberechtigung, differenzierter Umgang mit Sexualität etc. Ein Blick aus der Zufriedenheitsforschung zeigt, wie bedeutsam gerade diese Aspekte sind. Man würde sie dort als sog. Basismerkmal bezeichnen. Solche Merkmale sind in einer aufgeklärten Gesellschaft Selbstverständlichkeiten, die – ähnlich der Sauberkeit im Hotel – bei Nicht-Vorliegen zu starker Unzufriedenheit führt, bei Vorliegen jedoch keinerlei positiven Effekt auf die Zufriedenheit haben. Beim Synodale Weg gibt es zumindest in Teilen die Intention, hier aus der Defensive zu kommen. Aber selbst wenn es gelänge, würde die Kirche dadurch noch lange nicht attraktiv – eben nur weniger schlimm.

Es geht – ähnlich wie am Übergang zur Neuzeit – um eine systemische Transformation, die bis in die DNA der Institution hinein reicht und deren Ergebnis ungewiss ist.

Das Menetekel der Kirchenspaltung, das den Synodalen Weg begleitet, knüpft an die Erfahrung des letzten großen gesellschaftlichen Umbruchs an, den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Damals entstand über einen längeren Zeitraum hinweg unsere modere Gesellschaft. Im Zuge der damit einhergehenden gesellschaftlichen Verwerfungen zerbrach die Einheit der Kirche. In der Folge wurde allerdings ihr institutioneller Charakter in Abgrenzung zu den anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen immer weiter gestärkt. Die Kirchen sind seit dieser Zeit – ungeachtet zahlreicher operativer Anpassungsprozesse – als Institutionen in ihrem Kern auf möglichst hohe Stabilität und Funktionalität programmiert.

Reformen bleiben bis heute in der bestehenden Organisationslogik verhaftet, die ihr in den letzten 250 Jahren das Überleben gesichert hat (Kybernetik 1. Ordnung). Der fortschreitende gesellschaftliche Wandel stellt die Kirchen vor die Herausforderung, in kürzester Zeit zu lernen, sich dauerhaft in dynamischen und volatilen Kontexten zu bewegen. Es geht – ähnlich wie am Übergang zur Neuzeit – um eine systemische Transformation, die bis in die DNA der Institution hinein reicht und deren Ergebnis ungewiss ist (Kybernetik 2. Ordnung).

Reformen bleiben bis heute in der bestehenden Organisationslogik verhaftet, die ihr in den letzten 250 Jahren das Überleben gesichert hat (Kybernetik 1. Ordnung).

Das Szenario einer Spaltung liegt da auf der Hand. Allerdings ist es diesmal mit einer „einfachen“ Spaltung sicher nicht getan. Sie wird heute absehbar die Form einer Zersplitterung haben, vergleichbar einer berstenden Windschutzscheibe. Daher sind die Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Synodalen Weg durchaus berechtigt. Man könnte auch sagen, das ist ein mögliches Szenario in diesem Prozess, womöglich sogar das Trendszenario. Aber ist dieser Prozess unausweichlich? Was kann Kirche von den Sozialwissenschaften lernen?

Wie Systeme lernen

Wir kennen es aus der Psychologie: Es gibt unterschiedliche Formen des Lernens und der Weiterentwicklung. Beim Lernen einfacher Dinge (z.B. Vokabeln) zählt allein die Häufigkeit, mit der man etwas wiederholt und sich einprägt: Je mehr, desto besser. Bei komplexeren Vorgängen, z.B. beim Gehen- oder Sprechen-Lernen, sieht das anders aus: Lernen geschieht am Modell, experimentell und sprunghaft. Lange bleibt es beim Versuch und plötzlich, mit einem Schlag, ist das Gelernte da, ein qualitativer Sprung.

Der Psychologe Jean Piaget nennt die beiden Lern- bzw. Entwicklungsparadigmen Assimilation bzw. Akkomodation. Bei der Assimilation werden neue Erfahrungen in bestehende kognitive Schemata integriert. Gelingt dies aufgrund von Fremdheit nicht (mehr), sind also stärker abweichende oder inkompatible Erfahrungen zu verarbeiten, muss das Schema verändert, die „kognitiv-emotionale Struktur“ (Luc Ciompi) neu konfiguriert werden.

Organisationen haben in besonderer Weise die Tendenz, Muster, Routinen und Strukturen auszubilden, die sie von Personen lösen und auf Dauer stellen, d.h. vor allem Stabilität und Funktionalität gewährleisten.

Die beschriebenen Phänomene lassen sich auch in sozialen Systemen beobachten, gerade auch in Organisationen. Sie haben in besonderer Weise die Tendenz, Muster, Routinen und Strukturen auszubilden, die sie von Personen lösen und auf Dauer stellen, d.h. vor allem Stabilität und Funktionalität gewährleisten. Solche Muster sind hochgradig sinnvoll: Das System „funktioniert“ und muss sich nicht ständig neu erfinden. Allerdings ändern sich laufend die Umweltanforderungen. Systeme versuchen dann zunächst und oftmals über eine lange Strecke, im Rahmen ihrer bisherigen Logik zu bleiben. Mehr desselben und erhöhte Anstrengungen innerhalb der bestehenden Muster und Routinen sind die Folge. Kommt Ressourcenmangel hinzu, führt dies i.S. der Kybernetik 1. Ordnung zu fortschreitender Konzentration, Verdichtung und Zentralisierung. Gelingt die Anpassung an die Umweltanforderungen auf diese Weise nicht mehr, ist das „Betriebssystem“ bzw. „Geschäftsmodell“ betroffen. Das schließt die Basisprämissen der Organisation, ihre innere Logik, ihre DNA mit ein.

Die Entwicklung von Kultur und Gesellschaft verläuft ähnlich, nur in ganz anderen zeitlichen Dimensionen. So beschreibt Peter F. Drucker der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit als Übergang in eine neue „Medienepoche“, die das Zusammenspiel gesellschaftlicher Kräfte grundsätzlich veränderte: Aus der Ständegesellschaft wurde die moderne funktionale Gesellschaft, wie wir sie kennen. Entscheidend für diese Entwicklung war nach Drucker die revolutionären Erfindung des Buchdrucks, die sämtliche Steuerungs- und Kontrollsysteme des Mittelalters zu Fall brachte. Heute stehen wir aufgrund der revolutionären Entwicklung der Informationstechnologie in einem ähnlich tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch, der in keinem kirchlichen Reformprozess bislang eingepreist ist.

Wenn es chaotisch wird

Was passiert genau, wenn lineare Anpassungsprozesse nicht zum Erfolg führen, wenn der Austausch einzelner Komponenten nicht mehr hilft, sondern das Betriebssystem erneuert werden muss? Diese Frage reflektiert die Chaostheorie. Forschungsergebnisse zeigen, dass Übergänge dieser Art zunächst scheinbar chaotisch verlaufen. Die bestehende Ordnung zerfällt, Altes funktioniert nicht mehr und neue Routinen stehen noch nicht zur Verfügung. Das Ergebnis ist weder deduktiv ableitbar noch vorhersagbar. Es gibt keine Kontrolle. Weiter geht es allenfalls experimentell, ohne Garantie auf Erfolg.

Im kirchlichen Kontext nehmen diese im Vorfeld chaotischer Veränderungen typischen Erlebens- und Verhaltensweisen seit einiger Zeit auf dramatische Weise zu.

Die Ergebnisse der Chaosforschung (Henri Poincaré, Benoît Mandelbrot, Mitchell Feigenbaum u.a.) zeigen zudem einen engen Zusammenhang zwischen der Komplexität der geforderten Anpassung und der Art des zugehörigen Lernprozesses. Innerhalb gewisser Toleranzgrenzen lernen Systeme stetig. Die innere Organisation bleibt erhalten (Clayton Christensen nennt das auch „inkrementelle Innovation“). Wenn allerdings die Umweltanforderungen stärker abweichen, muss es zu einer Anpassung der inneren Organisation kommen ( „disruptive Innovation“ nach Christensen).

Solche Übergänge sind „emergent“, sie sind nicht machbar, sondern ereignen sich. Für Beobachtende verlaufen sie zumeist sprunghaft. Zunächst wird das System instabil, womöglich über eine längere Zeit. Der damit einhergehende Kontrollverlust erzeugt Stress im System. Er löst bei allen Beteiligten Irritation und vielfach ambivalente Gefühle wie Ohnmacht, Wut oder Trauer aus. Im Verhalten kann die Verunsicherung Unterschiedliches bewirken. Typische Stressreaktionen sind: Man schaut weg, man verleugnet oder bagatellisiert, man verstärkt seine Anstrengungen, verteidigt seine Claims, polarisiert und geht in den Angriffsmodus über oder verlässt das Feld und geht einfach. Diese Phänomene sind umso intensiver und dauern umso länger, je mehr gelernt werden muss, d.h. je umfassender und tiefgreifender die notwendige Dekonstruktion ist.

Im kirchlichen Kontext nehmen diese im Vorfeld chaotischer Veränderungen typischen Erlebens- und Verhaltensweisen seit einiger Zeit auf dramatische Weise zu.

Je tiefgreifender und damit auch chaotischer ein Übergangsprozess verlaufen kann, desto wichtiger ist es, einen Rahmen zu setzen, der das, was dann passiert, halten kann und ihm Sinn gibt

Am Kipppunkt

Der Einschätzung, dass die jetzige Form von Kirche – in welcher konfessionellen Prägung auch immer – unwiderruflich zu Ende geht, wird heute selbst in Kirchenkreisen kaum jemand ernsthaft widersprechen. Die „nächste Kirche“ (die Kirche in der nächsten Gesellschaft) wird anders sein und es ist zu vermuten, dass die Veränderung sprunghaft verläuft. Solche Veränderungen lassen sich nicht steuern und sind grundsätzlich ergebnisoffen. Für viele scheint dieses Szenario zu schmerzhaft, um es an sich heranzulassen. Andere überhöhen sie spirituell. Wieder andere sehen darin die Erlaubnis, einfach das zu tun, was man halt für richtig hält oder gerne tut. Sie verbindet, dass man darauf verzichtet, den Transformationsprozess systematisch anzugehen und gemeinsam darum zu ringen. Hier zeigen sich schon Ansätze zur Zersplitterung.

Der Rahmen chaotischer Übergangsprozesse lässt sich bewusst gestalten (etwa die inneren Frames, mit denen die Beteiligten auf den Prozess schauen). Der gewählte Rahmen hat deutliche Effekte auf den Verlauf und u.U. auch das Ergebnis (selbst, wenn es nicht vorhersagbar ist). Aus therapeutischen Prozessen, z.B. in einer Familientherapie, wissen wir: Je tiefgreifender und damit auch chaotischer ein Übergangsprozess verlaufen kann, desto wichtiger ist es, einen Rahmen zu setzen, der das, was dann passiert, halten kann und ihm Sinn gibt. Ein solcher Rahmen ist im Kern das Commitment, im Vertrauen (aufeinander, auf Gott) den Weg des Loslassens auf diese offene Weise in gemeinsamer Verantwortung füreinander und  miteinander zu gehen.

Vieles deutet darauf hin, dass dieser Kipppunkt zumindest für die katholische Kirche in Deutschland näher rückt, vielleicht auch schon überschritten ist.

Aufgrund der nicht-linearen Eigendynamik von Systemen gibt es für die Möglichkeit der Gestaltung solcher Prozesse allerdings nur ein begrenztes Zeitfenster. Auf dem Weg zu Veränderungen, die in die Tiefenstruktur des Systems reichen und daher absehbar disruptiv verlaufen, gibt es einen Kipppunkt, an bzw. nach dem es keine oder nur noch sehr begrenzte Möglichkeiten gibt, sich zu vereinbaren, um den Rahmen für den Übergang zu gestalten. Die Gefahr ist groß, dass sich dann nicht nur die Gestalt (hier die konkrete Kirchengestalt), sondern darüber hinaus der kommunikative Bezug aufeinander und damit das System in seiner Substanz (Kirche als systemische Wirklichkeit jenseits organisatorischer  Ausprägungen) Schaden nimmt oder sich sogar auflöst. Aus einem „kontrollierten“ wird ein „unkontrolliertes“ Chaos mit einem hohen destruktiven Potenzial. Deutlich beschleunigte Trends, verschärfte Diskussionen über den „richtigen“ Weg in die Zukunft, das wechselseitige Absprechen von Kirchlichkeit, Drohungen und Schuldzuweisungen, die Frequenz kritischer Ereignisse, die größer werdende Zahl derer, die aufgeben etc. deuten darauf hin, dass dieser Kipppunkt zumindest für die katholische Kirche in Deutschland näher rückt, vielleicht auch schon überschritten ist.

Unterschiedliches Handling in den Kirchen

Die Kirchen unterscheiden sich im Umgang mit dieser Situation erheblich.2 In der katholischen Kirche ist die Kirchenbindung traditionell stärker ausgeprägt, als in den evangelischen Kirchen. Dennoch erreicht hier die Absetzbewegung inzwischen den Kern treuer und aktiver Katholiken in den Gemeinden. Die Austrittswelle nimmt Fahrt auf und ist inzwischen stärker als in der evangelischen Kirche. 60% der Verantwortungsträger in der katholischen Kirche halten die bisherige Gestalt von Kirche tendenziell für nicht zukunftsfähig, deutlich mehr als dies bei Verantwortungsträger:innen in den evangelischen Kirchen der Fall ist.3 Für sie scheint die Situation noch eher gestaltbar. Zudem sind in der katholischen Kirche Trennung und Kirchengründung keine Optionen, im Notfall bestehende Spannungen zu lösen. Man kann also dort das Feld nicht so einfach verlassen bzw. wechseln. In der Folge sind in der katholischen Kirche aktuell Polarisierungstendenzen deutlich virulenter. Das führt vielfach zu Lähmungserscheinungen, zu Aktionismus und zu weiterem Vertrauensverlust.

In der katholischen Kirche ist die Kirchenbindung traditionell stärker ausgeprägt, als in den evangelischen Kirchen.

Die Idee, dass Kirche über eine längere Zeit mit zwei (oder mehr) Betriebssystemen unterwegs sein  könnte ist in den Evangelischen Kirchen zumindest im Fachdiskurs angekommen (Philipp Elhaus spricht von „Ambidextrie“).4 Die breite Aufstellung von „Erprobungsräumen“5 ist – losgelöst von der Frage, was dort faktisch passiert – ein erster Versuch, dies systemisch zu verankern. Davon ist die katholische Kirche noch entfernt. Dort laufen Ansätze, vom Pfad abzuweichen und zu experimentieren, eher im Windschatten oder so planvoll und risikoavers,  dass systemrelevante Änderungsimpulse kaum zu erwarten sind und letztlich nicht gewollt werden, sofern sie denn systemrelevante Erschütterungen auslösen könnten, um die es ja im Kern dabei geht.

Mit einem Kipppunkt in näherer Zukunft scheint kaum jemand zu rechnen. Weder Entwicklungsprozesse noch Risikomanagement der Diözesen und Landeskirchen sind darauf ausgerichtet. Man geht in der Praxis trotz vielfältiger Hinweise und Signale zumeist von nahezu linearen Prozessen und einer langfristig gesicherten Handlungsfähigkeit aus. Man glaubt oder suggeriert, die Prozesse kontrollieren zu können.

Mit einem Kipppunkt in näherer Zukunft scheint kaum jemand zu rechnen. Weder Entwicklungsprozesse noch Risikomanagement der Diözesen und Landeskirchen sind darauf ausgerichtet.

In den evangelischen Kirchen ist das Wissen um die grundlegende Andersartigkeit der „nächsten Kirche“ durchaus vorhanden. Nur stellt sich angesichts des verbreiteten Pragmatismus und der dominanten Kultur der Machbarkeit die Frage, ob faktisch das Tempo und die Tiefe der Reformen reichen, um den unkontrollierten Zusammenbruch zu verhindern und den qualitativen Sprung in die nächste Kirche zu schaffen. In der Katholischen Kirche ist es angesichts der in den letzten 200 Jahren vollzogenen Zentralisierung von Macht und deren pyramidaler Zuspitzung und Immunisierung in der Hand des Papstes und der römischen Kurie mehr als fraglich, ob es bei den Verantwortungsträgern überhaupt die Bereitschaft gibt, lokal unterschiedliche Betriebssysteme geschweige denn eine Vielfalt unterschiedlicher Kirchenkulturen zuzulassen.

Sterben und Auferstehen – die DNA von Kirche

Wenn von Kirche gesprochen wird, ist der damit bezeichnete Sachverhalt mehrdeutig, weil der Begriff in unterschiedlichen Kontexten bzw. Sprachspielen gebraucht wird. Abgesehen davon, dass es in einem engen katholischen Verständnis überhaupt keine evangelischen Kirchen geben kann, bedeutet Kirche Unterschiedliches, je nachdem ob man mit einer kirchenrechtlichen, theologisch-dogmatischen, praktisch-theologisches, organisatorischen, betriebswirtschaftlichen, soziologischen … Brille auf die (gleiche) Wirklichkeit schaut.

Problematisch wird es, wenn systematisch logische Kategorienfehler gemacht und normativ gesetzt werden.

Dies ist zunächst unproblematisch, sofern man den Interpretationskontext jeweils mitliefert bzw. markiert. Geschieht dies nicht, entsteht Verwirrung, die man zumeist – bei gutem Willen – kommunikativ aufklären kann. Problematisch wird es, wenn systematisch logische Kategorienfehler gemacht und normativ gesetzt werden. Dies ist dann der Fall, wenn eine bestimmte Organisationsform, die in einem bestimmten historischen Kontext entstanden ist, mit der dahinterliegenden systemischen (Erfahrungs-)Wirklichkeit (die sich organisatorisch in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich konkretisiert hat) oder gar einer noch dahinterliegenden geistlichen Wirklichkeit gleich und absolut gesetzt wird. Dieses Manöver ist leicht durchschaubar: Es geht darum, bestehende Machtverhältnisse (die jede Organisation in der einen oder anderen Form mit sich bringt) zu immunisieren. Christian Hennecke zeigt in seinem Beitrag “Warum es so sein muss” in dieser Ausgabe, dass diese Position auch theologisch nicht haltbar ist.6

Differenziert man allerdings zwischen der Institution bzw. Organisation Kirche, also der Kirche in ihrer aktuellen rechtlichen und organisatorischen Verfasstheit, und der dahinterliegenden und umfassenderen, 2000 Jahre währenden Kommunikations- und Erfahrungswirklichkeit Kirche, i.S. Luhmanns der systemischen Wirklichkeit Kirche, eröffnen sich ganz neue Entwicklungsperspektiven.

Ganz offensichtlich geht die aktuelle Gestalt von Kirche in Deutschland als Institution und Organisation ihrem Ende entgegen.

Ganz offensichtlich geht die aktuelle Gestalt von Kirche in Deutschland als Institution und Organisation ihrem Ende entgegen. Die anstehende Kulturveränderung ist organisatorisch so fundamental, dass deren DNA (ihre innere Logik, die Grundprinzipien ihrer Reproduktion als Organisation) betroffen sind. Das sorgt natürlich für Unruhe, v.a. bei denen, die Macht haben und Verantwortung tragen.

Damit geht jedoch die systemische Wirklichkeit hinter allen historisch bedingten organisatorischen Erscheinungsformen von Kirche nicht unter, im Gegenteil, sie zeigt, dass sie lebt. Die Wirklichkeit, der Kommunikations- und Erfahrungszusammenhang derer, die mit der Botschaft in Berührung gekommen sind und sich als Glaubensgemeinschaft verstehen, theologisch das Volk Gottes, beruht auf der Begegnung mit der unbedingten Liebe Gottes in Jesus Christus. Das ist der Kern christlicher Hoffnung: die Heilszusage Gottes, die in Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi erfahren wurde. Sterben und Auferstehen sind Kern der DNA von Kirche als System und Bewegung. Genau hier liegt der Masterplan ihrer über 2000-jährigen Geschichte. Sie verfügt über das Know-how, ihre konkrete Gestalt immer wieder grundlegend, bis in deren DNA hinein, zu verändern. Und genau das ist ihr Kernauftrag: Die Heilserfahrung und -zusage in jeder Zeit jeweils neu zu formulieren und zu formatieren.

Sterben und Auferstehen sind Kern der DNA von Kirche als System und Bewegung

Christian Hennecke schreibt: „Zweifellos aber ist diese Logik des Werdens auch immer eine Logik des Sterbens. Es ist geradezu die unverwechselbare Identität des christlichen Glaubens, der sich in die Geschichte einschreibt, dass er die österliche Perspektive mitbringt: Tod und Auferstehung Christi geben auch den Rhythmus seiner Kirche vor – und das ist ja die eigentliche frohe Botschaft: jeder Tod spricht vom Leben, das neu wird und kommen wird, weil das wirkliche Leben, das Leben in Fülle, wächst aus dem Geheimnis des Sterbens. Was ein für alle Mal in Kreuz und Auferstehung geschehen ist, wird zum Lebensrhythmus des Christseins, wird zu Logik kirchlicher Existenz.“7

Relevant vom Ursprung her

Am Anfang der christlichen Bewegung stand also eine Erfahrung und deren Deutung, die in ihrer Verbindung für die Menschen damals, Juden und Nicht-Juden, offensichtlich sehr überzeugend war, unabhängig davon, in welchem kulturellen Kontext sie sich bewegten. Die Evangelien beschreiben die Person Jesu und ihren Umgang mit den Menschen, in einer Vielzahl von Bildern und Geschichten. Stets ging von ihm eine Wirkung von Heilung und Befreiung aus. Jesus begründete sein Handeln mit einer besonderen Beziehung zu Gott. Seine Jünger verstanden Handeln Jesu als Hinweis auf etwas Größeres, auf Heil und Erlösung. Sie verknüpften sein Auftreten mit dem Anbrechen des endzeitlichen Reiches Gottes (hebräisch מלכות malchut, griechisch Βασιλεία τοῦ Θεοῦ). In ihm sahen sie den Gesandten Gottes und drückten das Besondere an ihm – abhängig von der jeweiligen Kultur – in unterschiedlichen Bildern und Begriffen aus.

Umkehr, Sinnesänderung (griech. μετάνοια metánoia) steht am Anfang des Evangeliums und ist ein Kernbegriff im Neuen Testament (Mk 1,9-15). Es geht um nachhaltige Veränderung: Durch das Wirken Jesu entstand (in der Wahrnehmung der Zeugen) ein Raum, der neue Erfahrungen ermöglichte, die einen tiefgründigen Unterschied machten, die den kognitive Bezugsrahmen grundlegend veränderten und in diesem Sinne Umkehr, Wandlung und Entwicklung auf eine verheißene gute Zukunft hin in Gang setzten (vgl. Lk 24,13-35). 

Die Christen sind Spezialisten für Wandlung und Entwicklung. Sie machen durch die Art ihres Beziehungsangebotes einen Unterschied. Sie sind ihrer Zeit voraus, sie verweisen auf eine Wirklichkeit, einen Fluchtpunkt in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit.

Taufe und Mahlgemeinschaft sind rituelle Zeichen und Vergegenwärtigung dieser Erfahrungswirklichkeit. Sie war allem Augenschein nach so stark und fundamental, dass sie die Botschaft der frühen Christen auch über den Tod Jesu hinaus lebendig und wirksam halten konnte. Sie steht in direktem Zusammenhang mit dem Sendungsauftrag Jesu „Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung!“ (Mk 16,15). Das Ende (der Auftrag) ist nur vom Anfang (der Umkehrerfahrung) her zu verstehen.

Systemisch betrachtet, wird hier – ausgehend von Jesus selbst – für die Jünger und die frühen Christen eine Rolle skizziert, die Hinweise geben kann, wie Kirche für eine Gesellschaft, die sich im Umbruch befindet, relevant werden könnte. Die Christen sind Spezialisten für Wandlung und Entwicklung. Sie machen durch die Art ihres Beziehungsangebotes einen Unterschied. Sie sind ihrer Zeit voraus, sie verweisen auf eine Wirklichkeit, einen Fluchtpunkt in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit. Eine Kirche, die dieser Logik folgt, übernimmt horizontale Führung in der Gesellschaft.

Voraussetzung hierfür ist, dass die Kirchen selbst den Erneuerungsprozess in seiner ganzen Breite und Tiefe annehmen und angehen.

Systemtherapie: Selbstreferenz und Umweltreferenz gewinnen

Systeme sind immer selbstreferenziell. Sie können nur das sein, was in ihrem Systemcode angelegt ist. Systeme sind lebendig, wenn sie Umweltreferenz herstellen, sich auf veränderte Umweltbedingungen immer wieder neu einstellen. Systeme werden dysfunktional, wenn der Zugang zu den eigenen Potenzialen oder die Kommunikation mit der Umwelt nicht (mehr) gelingt.

Aus systemtherapeutischer Perspektive ist bei den Kirchen (bei der katholischen Kirche stärker als bei den evangelischen Kirchen) sowohl die Fähigkeit, Umweltreferenz herzustellen, als auch die Fähigkeit, Selbstreferenz herzustellen, über weite Strecken blockiert oder gestört.

Wie kann ein gestalteter Weg aus dieser Engführung und Blockade aussehen?

Am Anfang jeden therapeutischen Heilungsprozesses steht die existentielle Erkenntnis und Vergewisserung der Beteiligten, dass die bisherigen Lösungsversuche gescheitert sind und man als System keine Zukunft hat, wenn man sein Agieren nicht unterbricht und vom bisherigen Pfad abweicht.

Diese Erkenntnis führt nicht automatisch zum Handeln. Sie kann zu schmerzhaft sein, dass die Beteiligten in alte Muster zurückfallen oder sich mit kleineren Reparaturen an der Fassade begnügen, um ein besseres Gefühl zu haben. Erst wenn die Motivation, den qualitativen Sprung zu machen groß genug ist, wenn Neugier und Lust auf das Neue groß genug sind, entsteht Bewegung. Hilfreich ist es dabei, Frames zur Verfügung zu stellen, die den Übergang und die damit verknüpften Emotionen verstehbar und handhabbar machen. Für die Bereitstellung einer solchen Rahmung ist der Bezug auf die biblische Botschaft von zentraler Bedeutung.

Am Anfang jeden therapeutischen Heilungsprozesses steht die existentielle Erkenntnis und Vergewisserung der Beteiligten, dass die bisherigen Lösungsversuche gescheitert sind und man als System keine Zukunft hat, wenn man sein Agieren nicht unterbricht und vom bisherigen Pfad abweicht.

Den Fokus vom Funktionieren (wollen) auf Lernen (wollen) zu legen und dafür Raum zu schaffen, sich zu unterbrechen und loszulassen, ohne zu wissen, was kommt, zu experimentieren und Fehler zu machen, ist unabdingbar für nachhaltige Veränderung. Wenn der Weg ins Ungewisse gelingen soll, braucht es einen verlässlichen Beziehungsrahmen, das Commitment, das Kommende mit all seinen Turbulenzen im Vertrauen aufeinander und auf die gemeinsame Erfahrung der Liebe Gottes, in Verantwortung füreinander gemeinsam zu gehen. Hier ist es sicher so, dass die sich zeigende Zersplitterung ein Commitment umso schwieriger (und unverbindlicher) macht, je größer das System ist.

Wenn es dann losgeht, die Ressourcen für den laufenden Betrieb des Bisherigen systematisch und substanziell zu reduzieren (das beginnt angesichts der verbleibenden Zeit bei 50%), vorhandene Muster und Routinen zu unterbrechen, Bestehendes loszulassen, um überhaupt Räume für Lernen und Entwicklung zu schaffen, gerät das System zwangsläufig in Stress (das Fehlen von Stress ist ein Indikator, dass man nur an der Oberfläche kratzt). Wenn nichts mehr so funktioniert, wie bisher, und das Neue noch längst nicht erkennbar ist, entsteht Ungewissheit und Leere. Die Akteure sind irritiert, Emotionen kommen hoch, Interessensunterschiede werden sichtbar, Konflikte entstehen. Das gilt es miteinander auszuhalten und auszutragen. Hier hat Führung eine wichtige Rolle: das System zusammen und auf dem Weg zu halten und den Beteiligten bei allen Verwerfungen, die auftreten können, die Sicherheit zu geben, dass es eine gute Zukunft gibt. Hier ist die größte Gefahr, in Aktionismus zu verfallen und damit letztlich in die alten Muster.

Den Fokus vom Funktionieren (wollen) auf Lernen (wollen) zu legen und dafür Raum zu schaffen, sich zu unterbrechen und loszulassen, ohne zu wissen, was kommt, zu experimentieren und Fehler zu machen, ist unabdingbar für nachhaltige Veränderung.

Theologisch gesprochen führt der Weg der Erneuerung über das Kreuz (Joh 12,24). Nur wenn die Leere und Verlassenheit des Kreuzes ausgehalten wird, ist man bereit und in der Lage, auf das zu hören und zu erkennen, was wichtig ist, was der Kern der Hoffnung ist, das „Why“ (Simon Sinek), das antreibt und begründet, die Identität, die alles, was an Neuem kommt, verknüpft und energetisiert. Gerhard Wegner nennt das den „nächsten Glauben“. Er schreibt: „Das Neue wächst aus den Erfahrungen der Teilhabe an der Kraft Gottes: aus der leibhaftigen Partizipation an Kraftfeldern des Geistes.“8 Das Risiko eines solchen Weges ist allerdings, zu merken, dass es dieses gemeinsame „Why“ gar nicht (mehr) gibt oder die Schnittmenge der individuellen „Whys“ nicht mehr ausreicht, um etwas Gemeinsames daraus zu machen. Dennoch: Wenn es so ist, wird die Auflösung so oder so kommen.

Wenn das Mindset stimmt und der Raum vorhanden ist, wird Energie freigesetzt, dass Neues aus sich heraus entstehen kann. Dennoch ist auch hier Führung gefordert. Was gebraucht wird, ist abhängig von der Situation und den Kontextbedingungen. Es geht dabei stets um eine gute Balance zwischen strategischer Orientierung, Förderung und Unterstützung von Innovation und geschickter, sukzessiver Transformation, bei der v.a. Entscheidungen im Vordergrund stehen.

Das Risiko eines solchen Weges ist allerdings, zu merken, dass es dieses gemeinsame „Why“ gar nicht (mehr) gibt oder die Schnittmenge der individuellen „Whys“ nicht mehr ausreicht, um etwas Gemeinsames daraus zu machen.

Der beschriebene Prozess wird sich emergent von unten ereignen, wenn die Akteure es einfach tun. Er kann von der Führung behindert oder aber i.S. horizontaler Führung unterstützt werden. Letzteres braucht viel Fingerspitzengefühl, um das rechte Maß an notwendiger Sicherheit und hinreichendem Tempo zu finden. Mehr Tempo scheint angesagt und mehr Mut, Bisheriges sein zu lassen.

  1. Dessoy, V., Zukunft der Kirche im Prozess des gesellschaftlichen Wandels, in: Drumm, J., Oeben, S. (Hrsg.) CSR und Kirche. Die unternehmerische Verantwortung der Kirchen für die sozial-ökologische Zukunftsgestaltung, Berlin 2022; Dessoy, V., Hahmann, U., Führen an der Schwelle zur nächsten Kirche, in: Dessoy, V., Klasvogt, P., Knop, J. (Hrsg.), Riskierte Berufung – ambitionierter Beruf, Priester sein in einer Kirche des Übergangs, Freiburg i.Br. 2022.
  2. Vgl. Dessoy, V., Hahmann, U., Zeit des Übergangs. Befragung von Diözesen und Landeskirchen zum Verständnis von Veränderung und zum Vorgehen in aktuellen Transformationsprozessen
  3. Vgl. Hahmann, U., Dessoy, V., Reintgen, F., Hat die aktuelle Sozialgestalt von Kirche eine Zukunft. Befragung kirchlicher Führungskräfte im Vorfeld des 7. Strategiekongresses, in: futur 2 – 2/2022
  4. Vgl. dazu auch Etscheid-Stams, M. Kirchenentwicklung in Zeiten des Klimawandels. Es gilt, radikale und rasante Lösungen zu finden.
  5. Vgl. exemplarisch die strategische Bedeutung der Erprobungsräume in der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern und in der Evangelischen Kirche im Rheinland
  6. vgl. Hennecke, C., Warum es so sein muss. Theologische Anmerkungen zu ekklesiologischen Auflösungsszenarien
  7. Hennecke, C., Warum es so sein muss. Theologische Anmerkungen zu ekklesiologischen Auflösungsszenarien
  8. Wegner G., Ekklesiogenese: Fülle, Kraft, Empowerment. Ein Plädoyer für das Anstößige des Glaubens

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