022022

Foto: Alex Hockett/Unsplash

Konzept

Gerhard Wegner

Ekklesiogenese: Fülle, Kraft, Empowerment

Ein Plädoyer für das Anstößige des Glaubens

Auf den ersten Blick sieht man nur die Krise, den Niedergang, die Auflösung. Diese Gestalt der Kirche scheint an ihr Ende zu kommen. Es ist vor allem eine Krise ihrer Institutionalität: sie ist keine anerkannte Funktion der Gesellschaft mehr, repräsentiert nicht mehr deren Werte und deren immer noch scheinbar irgendwie christlichen Wertehimmel. Spätestens während der Corona Epidemie wurde das deutlich: es gab schlicht kaum noch Nachfrage nach einer religiösen Deutung der Seuche (und die Kirche fand das auch gut so). Und katholischerseits wird alles durch die problematische Aufarbeitung der verheerenden Missbräuche immens beschleunigt. Von den seit Albert O. Hirschmanns bekannten drei Verhaltensoptionen im Niedergang einer Organisation scheint EXIT alles zu dominieren, LOYALTY gibt es noch, wirkt aber ängstlich und entscheidungsschwach. Allein VOICE gehört die Zukunft, aber noch merkt man davon viel zu wenig. Und all dies vollzieht sich angesichts von „shifting base lines“ der Gesellschaft, die der Katastrophe kaum noch ausweichen können wird. Nichts ist gefragter als eine erneuernde, befreiende Kraft. Aber woher soll sie kommen?

Kirche ist keine anerkannte Funktion der Gesellschaft mehr, repräsentiert nicht mehr deren Werte und deren immer noch scheinbar irgendwie christlichen Wertehimmel.

Es ist die Zeit der Geburt neuer Formen der Kirche, in denen sich der Glaube neue Wirkwelten und wieder Resonanzräume verschafft. Und das ist es , was auf den zweiten Blick deutlich wird. Aber bisher sind die Konturen dieser wahrhaften Ekklesiogenese noch kaum erkennbar. Klar ist nur: der alte Stil, die Religion der Gesellschaft zu verwalten und dabei möglichst wenig Anstoß zu erregen, um niemanden zu vergraulen, greift nicht mehr. Es wächst der Kirche nichts mehr selbstverständlich zu – die Gesellschaft kleidet den Glauben nicht mehr ein. Wir Christen sind nackt und deswegen anstößig geworden. Für mich erklärt ein alter Satz von Niklas Luhmann immer noch am besten die Lage, demgemäß es keine außerreligiösen Gründe mehr geben würde, religiös zu sein. Nimmt man das ernst, dann heißt es, neu anzufangen: inhaltlich und organisatorisch.  Oder anders, theologisch, gesagt, neu zu fragen: Wie werden wir neu geboren? Denn das sind wir: eine gebürtlich -schöpferische Religion (Johannes Hoff).

Immer auf der Seite des Guten

Allerdings scheint die Krise der Kirche manchen etwas Äußerliches zu sein – und damit Unwichtiges. Christsein und lebendigen Glauben gebe es auch außerhalb von ihr und deswegen sei es letztlich gar nicht so wichtig, wenn sie schrumpfe. In anderen Ländern könne man doch sehen, dass sie selbst in der Verfolgung noch vital sein würde. Hauptsache man vertraue auf Gottes Geleit. Erstaunlich sei doch eigentlich wie viele Menschen trotz allem immer noch dabei seien. Manchmal klingt das fast schon zynisch. Ganz grundsätzlich mag ja an dem Argument etwas dran sein, aber aktuell verharmlost und beschönigt eine solche Argumentation die Situation. Denn der disruptive Wandel des im weltweiten Vergleich gewaltigen deutschen Kirchensystems hat immense kulturelle, politische und soziale Folgen. Alles muss unternommen werden den Wandel langfristig zu planen, solange es noch geht. Dafür braucht es aber Klarheit über das anzustrebende Ziel – und das ist nicht sichtbar. Bisher geht alles im Kern so weiter, wie bisher. Was tatsächlich passiert ist lediglich ein allgemeines Runterfahren der kirchlichen Präsenz als Anpassung an weniger werdende finanzielle Mittel. Das aber ist hilflos – wie auch allseits zugegeben wird.

Der disruptive Wandel des im weltweiten Vergleich gewaltigen deutschen Kirchensystems hat immense kulturelle, politische und soziale Folgen.

Das alles betrifft noch nicht die Treiber der Auflösung. Denn die Form der Kirche in Deutschland spiegelt auch den Glauben der Christen wider. Auch er empfand sich als gesellschaftlich eingebettet, gutbürgerlich anerkannt und das Gemeinwohl tragend. Jedenfalls immer auf der Seite des Guten. Auch wer mit dem Stigma des Gekreuzigten nicht mehr so recht etwas anfangen konnte, schätzte doch die wertestiftende, versöhnende Funktion der Kirche und ihre Mahnungen zur Nächstenliebe. Und hat sie nicht nachweislich positiv motivierende Effekte für das Ehrenamt oder beim Aufbringen von Spenden? Zur Aufrechterhaltung der Zivilgesellschaft ist sie nach wie vor äußerst nützlich. Auch deswegen hielt es nicht wenige in der Kirche. Was tritt an ihre integrierende Stelle? Was begrenzt die destruktiven Kräfte der Singularisierung?

Die Krise der Kirche ist zuallerst eine Krise des Glaubens. Sie wird – gesellschaftlich – nicht mehr gebraucht und ihr Glaube eben auch nicht.

Trotz der Zweifel gilt: Alles geht prinzipiell auch ohne sie. Corona hat es drastisch gezeigt. Deswegen ist die Krise der Kirche zuallerst eine Krise des Glaubens. Sie wird – gesellschaftlich – nicht mehr gebraucht und ihr Glaube eben auch nicht. Zu lange ist der Glaube zudem  immer weiter in „niedrigschwellige“ säkulare Optionen überführt worden, bis er nicht mehr erkennbar war. Eigentlich hätten die großen sozialwissenschaftlich erfassten gesellschaftlichen Trends, zuallererst Privatisierung, Individualisierung und schließlich Singularisierung theologisch kritisch gesichtet werden müssen, da in ihnen stets zumindest auch die Egomanie regiert, aber das geschah selten, wenn überhaupt. Individualisierung als moderne Form der Sünde? Wer das behauptete, war aus dem Diskurs schnell raus. Man ließ sich von soziokulturellen Trends das Denken und Handeln vorschreiben, als gebe es nichts Anderes. Und das entsprach der Logik einer Kirche, die sich selbst als Verwalterin gesellschaftlicher Werte zu reproduzieren können glaubte.

Gibt es noch genügend Pfarrer und Pfarrerinnen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die um die weitere Existenz ihrer Kirche zu kämpfen bereit sind auch dann, wenn Resonanz und Plausibilität nachlassen?

Diese Einsichten bedeuten nun aber noch lange nicht das Ende des Glaubens sondern fordern ganz einfach eine Perspektivenumkehr: Wenn man nicht mehr gebraucht wird, muss man sich nützlich machen, zeigen wer man eigentlich ist und was man kann. Man kann dann – ökonomisch gesprochen – nicht mehr auf Nachfrage warten, sondern muss sich aktiv um sie bemühen: Nachfrage wecken. Dafür muss man die eigenen Ressourcen mobilisieren und entschlossen toxische Abhängigkeiten beenden. Aber will man das überhaupt? Gibt es noch genügend Pfarrer und Pfarrerinnen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die um die weitere Existenz ihrer Kirche zu kämpfen bereit sind auch dann, wenn Resonanz und Plausibilität nachlassen?

Ergriffenheiten

Steigen wir etwas tiefer ein. Wenn der Kern der ganzen Problematik in der Krise des Glaubens liegt muss neu nach ihm gefragt werden. Was macht christlichen Glauben aus? Warum hat er es heute so schwer? Geht es um das Fürwahrhalten von mysteriösen, absurden Behauptungen? Solche Fragen verdichten sich zunächst einmal in einer zentralen Problematik: Wie entsteht Glaube überhaupt? Dazu gibt es soziologische und psychologische Forschungsergebnisse. Überzeugend sind insbesondere die Thesen von Hans Joas, der Glauben als eine Form der Selbsttranszendierung des Menschen, also zunächst als sein eigenes Tun, beschreibt. Menschen öffnen sich unter bestimmten Bedingungen neuen, den Rahmen ihres alltäglichen Erlebens, überschreitenden Erfahrungen – so auch Begegnungen, die als Begegnungen mit Gott, als Epiphanien, beschrieben werden können. Das kann auf völlig verschiedene Art geschehen: beim Lesen von Texten, dem Singen am Lagerfeuer der Pfadfinder, dem morgendlichen Gotteslob beim Sonnenaufgang im Montblanc Massiv oder der Teilnahme an einem Gottesdienst in einer orthodoxen Kirche in Armenien.

Überzeugend sind insbesondere die Thesen von Hans Joas, der Glauben als eine Form der Selbsttranszendierung des Menschen, also zunächst als sein eigenes Tun, beschreibt.

Es kommt jeweils darauf an, wie diese Erlebnisse von einem selbst oder von anderen gedeutet werden. Zentral ist ihre Struktur: Joas beschreibt sie immer wieder mit Ergriffenheit. Und damit kommt ein Moment von „außen“ in die Entstehung des Glaubens hinein. Zwar mache ich alles selbst, ich stimme mich selbst ein, aber ich fühle mich dazu genötigt, überwältigt, positiv gezwungen, ich kann mich letztlich der Anmutung – oder auch der Zumutung – der Situation nicht entziehen. Ich mache alles selbst, freiwillig – und doch kann ich nicht anders. Mich der Situation zu entziehen würde ein Verstoß gegen mich selbst, gegen das bedeuten, was mich selbst ausmacht. Ich wäre dann nicht mehr Ich, nicht mehr authentisch, wenn ich mich nicht öffnen würde.

Selbsttranszendierung ist folglich ein, vielleicht ja gerade heute, jedem und jeder möglicher Erfahrungshorizont. Ob es allerdings dabei um christlichen Glauben geht, ist noch nicht gesagt. Er bildet sich nur dann heraus, wenn die mich überwältigende Fülle mit Gott oder Christus in Verbindung gebracht werden kann.  Aber ein Resonanzraum ist auf jeden Fall eröffnet. Er kann allerdings auch schnell wieder geschlossen werden, wenn man sich von solchen Öffnungen des Selbst wieder distanziert und das andere nicht an sich rankommen lässt. Und das kann berechtigt sein, denn Erfahrungen des Ergriffenwerdens sind natürlich ambivalent. Goebbels Rede im Sportpalast vom totalen Krieg war als Inszenierung eines Resonanzgeschehens kaum zu übertreffen. Resonanz als solche ist folglich gar nichts: es geht stets um Resonanz, Ergriffenheit,  mit Unterbrechung, in denen ich mir zu vergegenwärtige versuche, was mit mir geschieht. In dieser Sichtweise ist christlicher Glaube elementare Bildung. Nötig sind folglich weitere Überlegungen zur Konstitution des Glaubens.

Transzendentes Empowerment

Aber bleiben wir noch einen Augenblick bei Erfahrungen des Ergriffenwerdens. Was in ihnen geschieht, lässt Menschen zunächst einmal emotionale Energie gewinnen: sie fühlen sich innerlich gestärkt, sie selbst zu sein – und zwar dadurch, dass sie Anteil an etwas Größerem, sie selbst weit Überschreitendem, gewonnen haben. Sie erleben sich selbst noch einmal besonders deutlich – aber sie erfahren sich selbst auch als jemand anderen, als verwandelt, transformiert. Es tun sich Perspektiven auf eine größere „Ordnung“ auf, die das, was man bisher erlebt hat, überschreitet und neu rahmt. Da kann dann etwas tatsächlich heute Skandalöses geschehen: Man gehört dann nicht mehr sich selbst – so sehr man natürlich weiterhin für sich selbst Verantwortung trägt. Man ist zu einem Teil des Kraftfeldes Gottes oder Christus‘ geworden.  Und das kann dann richtig anstößig werden – für meine alten Freunde nur noch schwer erträglich.

Gottesdienste sind dann, wie auch immer im Einzelnen gestaltet, Orte und Zeiten, in denen solches Empowerment angestrebt wird.

Wahrscheinlich wird solch eine Teilhabe zunächst in Form von Narrativen wahrnehmbar werden: in Erzählungen, die transzendente Inklusion ermöglichen. Klassisch stehen dafür die Gleichnisse Jesu, mittels derer das Reich Gottes auf die Erde projiziert wird. Kurzgefasst: es kommt zu einer Art „transzendentem Empowerment“, einer Art Kraftübertragung vom Himmel auf die Erde – ein Prozess, der in religiösen Ritualen symbolisch wiederholt werden kann. Gottesdienste sind dann, wie auch immer im Einzelnen gestaltet, Orte und Zeiten, in denen solches Empowerment angestrebt wird: „Wege in das Leben“ wie es Manfred Josuttis seinerzeit genial auf den Punkt gebracht hat oder Margot Käßmann mit ihrem Satz, dass Gottesdienste so gestaltet sein müssten, dass man nicht durch die Woche käme, wenn man nicht dabei gewesen sei. Der Konjunktiv macht hier allerdings sofort deutlich, dass die Realität dem heute selten entspricht.

Von außen gesehen geht es bei solchen Prozessen stets um Fiktionen: die Fülle des Lebens in Christus, die ich im „Mich – Öffnen“ oder „Geöffnet – Werden“ für die Narrationen des Evangeliums erfahren kann, ist eine Fiktion – etwas Ideelles, Utopisches, jedenfalls nicht auf der Hand Reales, was näher hin theologisch als Inkarnation begriffen werden kann. Aber die gesamte gesellschaftliche Konstruktion lebt von solchen Fiktionen als eine letztlich „imaginäre Institution“ (Cornelius Castoriadis). Auch die gegenwärtige Konjunkturen des Selbst, die Feste der Singularisierung und der Selbstdurchsetzung in den sozialen Netzwerken fokussieren auf Fiktionen der Fülle und des guten Lebens, die von ihren christlichen Schwestern durchaus herausgefordert werden sollten. Das gesellschaftliche Leben besteht in einem dauernden Gerangel solcher Imaginationen.  Da gehört Kirche mitten hinein – und nicht platziert oberhalb davon. Gesagt werden muss zudem, dass es hierbei nicht einfach um Glück oder gar ein geistliches SPA geht. Die Fülle des Glaubens umfasst gute und aber auch schlechte, tiefgehende Leidenserfahrungen. Jede solche Erfahrung kann auf den größeren Zusammenhang, auf sie aufhebende Transtendenz hin überstiegen und aufgefangen werden – und sei es unter allergrößtem Seufzen und Klagen. Glück und Gegenglück kommen im Glauben zusammen.

Die Fülle des Lebens in Christus, die ich im „Mich – Öffnen“ oder „Geöffnet – Werden“ für die Narrationen des Evangeliums erfahren kann, ist eine Fiktion – etwas Ideelles, Utopisches, jedenfalls nicht auf der Hand Reales, was näher hin theologisch als Inkarnation begriffen werden kann.

Eines allerdings ist bisher entscheidend: der Glaube, diese Fiktion, stellt zumindest in unserer westlich-modernen Sicht eine zutiefst innere Bestimmtheit dar. Seine Kraft liegt in der Verwandlung des Innenlebens, der Seelen, der Menschen, auch wenn natürlich vorausgesetzt wird, dass er sich im äußerlichen Verhalten umsetzt, z.B. in prosozialen Gesten oder einer entsprechenden sichtbaren Grundhaltung. Allerdings ist er daran ausdrücklich nicht ablesbar. Ein wahrer Glaube, den niemand bestreiten kann, kann deswegen im Grunde stets nur in der Intention als solcher bestehen – ein Gedanke, der ganze Philosophien nicht nur zum Guten bestimmt hat. Biblisch funktioniert diese Vorstellung nicht, was schon darauf hindeutet, dass diese Glaubensgestalt kaum universell gültig sein kann.

So aber übersetzt er sich in Überzeugungen bis zum Für-Wahrhalten von Dogmen, was bisweilen zum Unguten mit dem Glauben als solchen verwechselt wird. In diesem Kontext kann denn auch der Verdacht entstehen, dass sich der Glaube im Sicht-Abfinden mit den schlechten Verhältnissen zugunsten eines inneren Seelenfriedens begnügt, wie schon J.W. Goethe am Ende seiner grandiosen „Wahlverwandtschaften“ feststellte: „Jedes Bedürfnis, dessen wirkliche Befriedigung versagt ist, nötigt zum Glauben.“ Weswegen die modernen explodierenden Möglichkeiten zur Befriedigung aller möglichen Wünsche mit der Abkehr vom Glauben einhergehen. Psychologisch wäre er dann eine Form des „Deferred Gratification Pattern“: des Aufschubs der Befriedigung von Bedürfnissen, dem Kennzeichen moderner westlicher Mittelschichten, das sich in der Transformation befindet. Es kann gut sein, dass diese „bürgerliche“ Form des Glaubens als stabilisierendes Verdrängungshandeln zuendegeht, denn das alles klappt in den sozialen Netzwerken besser.  Und das wäre gut so!

Der nächste Glaube

Mit der In – Beziehungssetzung von Glaube und Ergriffenheit scheint etwas Problematisches, ja Skandalöses benannt zu werden. Religiöse Kommunikation rückt in die Nähe charismatischer Aktivierung, des klassisch Heiligen als eines Faszinosum und Tremendum, ja der Efferveszenz -Wallungen eines Emilie Durkheim. Sie wird dann schnell als Quelle irrationaler Bildungsprozesse diffamiert. Das hat auch schon mit dem typisch deutschen „Überwältigungsverbot“ in der Bildung zu tun. Bloß keine Ergriffenheiten! Solche Rede ignoriert allerdings die enorme Bedeutung, die die Vermittlung starker Gefühlsbindungen gerade für die Aufrechterhaltung aktueller gesellschaftlicher Ordnungen hat. Der Bezug auf transzendentale Ordnungen – auf grundlegende Orientierungen, die sich nicht im Hier und Jetzt erschöpfen und durch den Bezug zu ihnen immer wieder Kraft und Motivation zum Handeln über sich selbst hinaus vermitteln – bleibt wesentlich. Und er wird zur Bewältigung der Transformation erst recht benötigt.

Wie sähe eine christliche Prägung des Selbst in der aktuellen Transformation aus?

Man könnte z.B. die Verkörperung des westlichen Habitus  im Gestalt der „Big Five“ der Psychologie als Indikatoren solch einer Ordnung reklamieren: Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Extraversion oder Introversion, Verträglichkeit und emotionale Labilität. In einer näheren Analyse würden man wahrscheinlich entdecken, dass es bei ihnen enge Verbindungen mit christlich – religiöser Grundbildung gibt: Ergriffenheit schlägt sich faktisch in ihrer Ausbildung nieder – ist also gar nicht so abwegig, wie gedacht. In ihrer herkömmlichen Konstruktion sichern sie den Zusammenhang der starken Ausbildung des Selbst mit einer gewissen sozialen Ausrichtung in der Kooperation mit anderen: eine fiktive Idealvorstellung. Bis heute lässt sich auch ein christliches Innenleben kaum anders vorstellen. In der Singularisierung hat sie nun allerdings ihren tendenziell asozialen Kulminationspunkt erreicht.

Wie sähe eine christliche Prägung des Selbst in der aktuellen Transformation aus? Natürlich lassen sich unendlich viele Möglichkeiten denken. Aber wie wäre es einmal versuchsweise mit einer Orientierung an einem der sicherlich spektakulärsten Texte des Neuen Testaments: Römer 8? Was Paulus hier in einer genialen kosmischen Schau entwickelt, sprengt allen alten, auf Beständigkeit und Bedürfnisaufschub zielenden Glauben auf. Ihm geht es um die körperlich – seelische Teilhabe an der Transformation der Welt durch Gott selbst, um ihre Erlösung von der Vergänglichkeit. Nicht das memento mori treibt zum Glauben sondern die Geburt des Neuen: „Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt.“ (Rö 8, 22) Denn sie „wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.“ (Rö 8,21). Das entsprechende, sich eröffnende „Kraftfeld des Geistes“ ist eines der Ergriffenheit, aber einer besonderen, ganz und gar nicht modern-westlich-rationalen Feldes. Nicht der Knechtschaft, sondern verblüffender Weise der Natalität: „ihr habt einer Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!“ (Rö 8,15).

Inklusive ihres eigenen Sterbens wären die Christen mithin Akteure der Transformation, weil in ihr Gott selbst wirkt und den letzten Feind, den Tod besiegen wird.

Inklusive ihres eigenen Sterbens wären die Christen mithin Akteure der Transformation, weil in ihr Gott selbst wirkt und den letzten Feind, den Tod besiegen wird. Alles in allem eine echte Wahnsinnsvision, die mit der Verherrlichung der Christen rechnet. Emotionale Energie bis zum Exzess: verkörpert vielleicht in dem berühmten Song aus Südafrika: Jerusalema! Ein Kraftfeld, das auch die Körper mobilisiert. Der Gottesdienst wird getanzt. „You have to move your body, white man!“ sagte Thabo Makgoba bei einer entsprechenden Gelegenheit in Kapstadt zu mir. Und genau darum geht es: In der Bewegung der Körper steckt der nächste Glaube! Er kommt von außen und transformiert das Innen.

Die Transformation bewusst anstreben!

Es geht gewiss nicht darum, unsre Kirche, wie sie ist, schlecht zu reden. Nach wie vor leistet sie ungeheuer viel und vor allem hat sie noch genügend Potential, um einen achtsamen Transformationsprozess in die Wege leiten zu können. Er beginnt dann, wenn inhaltlich und organisatorisch davon Abschied davon genommen wird, den Baldachin einer immer noch irgendwie christlichen Gesellschaft aufspannen zu müssen und die eigene Rolle inmitten anderer Organisationen bewusst angegangen wird. Wer akzeptiert, dass die Kirche in dieser Gestalt an ihr Ende kommt, kann neben viel notwendigen Abschieden mögliche Spielräume entdecken, in denen Neues erwächst. Und der- oder diejenige kann entschlossen Illusionen über das seelsorgerliche pastorale Wirken oder die missionarische Kraft der Diakonie zur Seite legen. Zum Glück ist bisher keine Panik angebracht. Je länger allerdings mit Umstrukturierungen gewartet wird, desto wahrscheinlicher wird sie.

Wer akzeptiert, dass die Kirche in dieser Gestalt an ihr Ende kommt, kann neben viel notwendigen Abschieden mögliche Spielräume entdecken, in denen Neues erwächst.

Aber eben: die organisatorischen Wandlungen sind nicht der Kern des Ganzen. Das Neue wächst aus den Erfahrungen der Teilhabe an der Kraft Gottes: aus der leibhaftigen Partizipation an Kraftfeldern des Geistes. Dazu zählen auch das Leiden, der Tod, die Auferstehung, der Übergang vom Alten zum Neuen: der Abschied von der letztendlichen Mortalitätsorientierung des deutschen Kirchenmitglieds (Ich bin in der Kirche wegen der Beerdigung!) zugunsten dem Natalitätsgeschehen der Taufe, der Adoption durch Gott.

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