022022

Foto: Michal Matlon/Unsplash

Bonustrack

Valentin Dessoy und Ursula Hahmann

Zeit des Übergangs – Befragung von Diözesen und Landeskirchen

Zum Verständnis von Veränderung und zum Vorgehen in aktuellen Transformationsprozessen

In der aktuellen Ausgabe der  futur 2 geht es im Vorfeld des 7. Strategiekongresses unter dem Stichwort Auflösung um die Frage, wie der Übergang zur nächsten Kirche aussehen und wie er gestaltet werden kann.

Fragestellungen

Um zu erfahren, ob und wieweit sich Landeskirchen bzw. Diözesen dabei auch mit einem disruptiven Szenario kirchlicher Entwicklung befassen bzw. ein solches Szenario in ihrem Risikomanagement berücksichtigen, wurden im August 2022 alle Landeskirchen und Diözesen in Deutschland von der futur2-Redaktion angeschrieben mit der Bitte, folgende Fragen zu beantworten:

  1. Beschäftigen Sie sich in Ihrer Landeskirche/Diözese mit dem Szenario einer disruptiven Entwicklung bzw. eines Zusammenbruchs der bisherigen Gestalt?
  2. Wo bzw. mit wem wird das Thema systematisch diskutiert und bearbeitet?
  3. Wie bereiten Sie Ihre Landeskirche/Diözese kommunikativ auf dieses Szenario vor?
  4. Wie wollen Sie die Handlungs- und Steuerungsmöglichkeit Ihrer Landeskirche/Diözese erhalten?
  5. Welche Überlegungen gibt es, in diesem Szenario den Übergang zu gestalten?
  6. Wie kann in diesem Szenario Ihre Landeskirche/Diözese der Verantwortung für die Mitarbeitenden gerecht werden?
  7. Wie können Sie als Landeskirche/Diözese in dieser Situation der Verantwortung für die Gesellschaft gerecht werden?

Adressiert war die Befragung an Landesbischöf:innen und Generalvikare, also jene Verantwortungsträger:innen, die in ihrem jeweiligen Kontext in besonderer Weise Verantwortung für Gestaltung und Weiterentwicklung der Organisationsgestalt von Kirche tragen.

Rückmeldungen

Insgesamt haben sich 9 von 27 Diözesen (33,3 %) und 6 von 20 Landeskirchen (30 %) zurückgemeldet. Qualifizierte Rückmeldungen mit differenzierten Antwort auf die skizzierten Fragen gab es seitens folgender Landeskirchen und Diözesen (mit Angabe der Verfasser:innen):

  • der Evangelischen Landeskirche in Baden EKiBa (Landesbischöfin Prof. Dr. Heike Springhart)
  • der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern ELKB (Landesbischof Prof. Dr. Heinrich Bed­ford-Strohm)
  • der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau EKHN (Oberkirchenrätin Dr. Melanie Beiner, Leiterin Dezernat 1 – Kirchliche Dienste)
  • der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck EKKW (Landesbischöfin Prof. Dr. Beate Hofmann)
  • der Evangelischen Kirche im Rheinland EKiR (Präses Dr. Thorsten Latzel)
  • der Diözese Aachen (Generalvikar Dr. Andreas Frick)
  • der Erzdiözese Freiburg (Ordinariatsrat Wolfgang Müller, Leiter Hauptabteilung 6 – Grundsatzfragen und Strategie)
  • der Erzdiözese Hamburg (Generalvikar P. Sascha-Philipp Geißler SAC)
  • der Diözese Hildesheim (Generalvikariatsrat Christian Hennecke, Leiter der Hauptabteilung Pastoral)
  • der Erzdiözese Paderborn (Team Prozessleitung 2030+ mit Markus Freckmann, Leiter Abteilung Entwicklung, Dr. Annegret Meyer, Leiterin Abteilung Glauben im Dialog, und Stephan Lange, Leiter Abteilung Leben im Pastoralen Raum) sowie
  • der Diözese Trier (Generalvikar Dr. Ulrich von Plettenberg).

Beobachtungen

Wir empfehlen sehr,  die in der vorliegenden Ausgabe der futur 2 dokumentierten Antworten einzeln zu studieren. Im Gesamtzusammenhang kommen spezifische Sichtweisen und Ansätze der Entwicklung bzw. Transformation in profilierter Weise zum Ausdruck.

Spannend ist auch ein Querschnitt der Texte, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Diözesen und Landeskirchen zutage treten lässt.

1)  Tod und Auferstehung gehören zum Wesen der Kirche

In 3 von 11 Texten wird betont, dass radikale Veränderung bzw. disruptive Entwicklungen zum menschlichen Leben und zum Wesen der Kirche gehören. Aus diesem Grund sei das, was wir gegenwärtig erleben, völlig normal. Die Erfahrung von Tod und Auferstehung Jesu Christi sei der entscheidende Frame, disruptive Veränderungen im Leben, auch im Leben der Kirche, zu verstehen.

„Es ist für mich auch eine Frage der Spiritualität: Es gibt kein wirkliches Leben, es sei denn durch den Tod hindurch. Das ist die Frohe Botschaft der Auferstehung, aber auch menschliche Erfahrung (z.B. Abnabelung des Kindes von der Mutter nach der Geburt) und das Erleben der Natur (z.B. neues Erwachen im Frühling und Sommer nach dem Sterben in Herbst und Winter).“
(Ulrich v. Plettenberg, Generalvikar Diözese Trier)

„Wir beschäftigen uns als Kirche aufgrund der biblischen Traditionen immer schon mit disruptiven Entwicklungen und auch Zusammenbrüchen des Bisherigen, wenn Sie an die Auferstehung Jesu Christi, an die Taufe, an die Hoffnung auf Neuschöpfung denken. Christen erwarten Veränderungen, gestalten Veränderungen im Geiste Christi mit und reflektieren disruptive Veränderungen. Besonders markant ist dies an der Auferstehung Christi zu sehen.“
(Heike Springhart, Landesbischöfin Evangelische Landeskirche in Baden)

2) Unterschiedlich starke Auseinandersetzung mit disruptiven Szenarien

Diözesen und Landeskirchen setzen sich unterschiedlich stark mit möglichen disruptiven Entwicklungsszenarien auseinander. Tendenziell rechnet man in den evangelischen Kirchen mit solchen sprunghaften Entwicklungen eher als in der katholischen Kirche. 2 von 6 Diözesen und 4 von 5 Landeskirchen rechnen mit umfassenden sprunghaften Veränderungen:

„Der radikale Wandel der Sozialgestalt der Kirche, so wie wir sie kennen, war und ist zentraler Gegenstand des Synodalen Gesprächs- und Veränderungsprozesses “Heute bei dir” im Bistum Aachen.“
(Andreas Frick, Generalvikar im Bistum Aachen)

„In unserem seit 2019 laufenden Kirchenentwicklungsprozess haben die o. g. Themen [disruptive Prozesse, Anm. d. Verf.] immer mehr Raum eingenommen. Wir sind mit Veränderungen des Bestehenden gestartet und befinden uns mittlerweile in einem umfassenden Transformationsprozess, der keinen Bereich kirchlichen Handelns außen vorlässt. Dabei gibt es — wie vermutlich in jeder „basisdemokratisch“ aufgestellten Großorganisation — zum jetzigen Zeitpunkt unterschiedliche Einschätzungen dazu, wie radikal die Entwicklung ist und ob ein Übergang gestaltet werden kann oder von einem Zusammenbruch der bisherigen Gestalt gesprochen werden muss.“
(Melanie Beiner, Leiterin Dezernat 1 – Kirchliche Dienste der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau)

Die Diözese Trier ging im Anschluss an die dortige Synode am mutigsten und am weitesten in Richtung einer geplanten disruptiven Entwicklung. Sie ist an inneren Widerständen und der Intervention von Rom gescheitert.

„Die ‚Pfarrei der Zukunft‘ wäre ein großer Schritt auf eine Neubetrachtung von Pfarrei (als Organisations- und Verwaltungsraum) mit vielen „Orten von Kirche“ (als Räume kirchlichen Lebens und seelsorgerischen Handelns) gewesen. Sie hätte meiner Ansicht nach selbst disruptiv gewirkt. Wir hätten eine Entwicklung vorweggenommen, die nun schleichend kommt. Und wir hätten dabei selbst steuernd wirken können, statt einer Entwicklung ausgeliefert zu sein. Leider ist die ‚Pfarrei der Zukunft‘ am Widerstand einiger Verwaltungsräte und an Rom gescheitert. Die Entwicklung findet nun trotzdem statt – auf einen längeren Zeitraum hin und mit wesentlich mehr Aufwand.“
(Ulrich v. Plettenberg, Generalvikar Diözese Trier)

Ansonsten werden in den Diözesen tendenziell einzelne Prozesse disruptiv wahrgenommen bzw. beschrieben oder aber eine disruptive Entwicklung für unwahrscheinlich gehalten:

„Ein weiteres Projekt „missionarisch weiter gehen – Personalstrategie 2030“ versucht, Reaktionen auf eine disruptive Entwicklung unserer Personalstruktur zu antizipieren. Denn die Personaldecke wird sich mit der Verrentung der geburtenstarken Jahrgänge massiv verkleinern. Parallel dazu gibt es kaum Studierende für die Berufsgruppen und die Anzahl der Katholik_innen nimmt ab.“
(P. Sascha-Philipp Geißler SAC, Generalvikar Erzbistum Hamburg)

„Neu beauftragt ist im Erzbistum Paderborn das Projekt „Zukunft territorialer Seelsorge“ mit dem Ziel, ein realistisches Bild zu entwickeln für zukünftige Pastoral. Dieses enthält in neuer Klarheit die anstehende zwangsläufige Disruption zwischen territorialem und kategorialem Verständnis von Pastoral.“
(Team der Prozessleitung 2030+ im Erzbistum Paderborn)

„In den vergangenen 10 Jahren haben wir in unzähligen Veranstaltungen den systemischen Wandel unserer Kirchengestalt und der Rollenarchitektur in Gemeinden mit den Hauptberuflichen und in der Bistumsleitung diskutiert. Allerdings geht es offensichtlich nicht – von nicht beeinflussbaren Faktoren abgesehen (Krieg, Finanzkrisen, Arbeitslosigkeit) – um eine disruptive Entwicklung oder einen Zusammenbruch, sondern um einen deutlich länger dauernden und schon seit Jahren sich immer mehr zeigenden schleichenden Prozess.

„Da wir nicht mit einem flächendeckenden  disruptiven Zusammenbruch rechnen, sondern mit einem gleichwohl oft schmerzhaften ungleichzeitigen und lokal sehr differenzierten Umbruchsprozess, …“
(Christian Hennecke, Leiter der Hauptabteilung Pastoral im Bischöflichen Generalvikariat Hildesheim)

Insgesamt wird im katholischen Kontext der Begriff der „Disruption“ oder auch die Vorstellung, Prozesse könnten auch disruptiv verlaufen, viel negativer bewertet als im evangelischen Kontext, was vermutlich historische Gründe und viel mit der jeweils herrschenden Kirchenkultur zu tun hat.

„Dass die Kirche ihre Gestalt immer wieder ändert und ändern muss, hat uns Martin Luther ins Stammbuch geschrieben.“
(Heike Springhart, Landesbischöfin Evangelische Landeskirche in Baden)

„Als evangelische Landeskirche verdankt sich die ELKB letztlich einer Art von Disruption – nämlich der Reformation. Dass Kirche Veränderungsprozesse vollzieht – auch radikale – gehört nach evangelischer Überzeugung zu ihrem Wesen (ecclesia semper reformanda).“
(Heinrich Bedford-Strohm, Landesbischof der Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern)

„Ich selbst spreche weniger von ‚Disruption‘, sondern eher von ‚Transformation‘ und ‚Gestaltwandel‘ der Kirche. Denn diese Begriffe weisen darauf hin, dass sich im ‚Wandel‘ Chancen verbergen. Der Wandel hilft uns und unserem Handeln wesentlicher zu werden: Die Botschaft vom Reich Gottes bleibt, auch wenn unsere Gestalt sich ändert.
(P. Sascha-Philipp Geißler SAC, Generalvikar Erzbistum Hamburg)

„Grundsätzlich verläuft der Diözesane Weg des Erzbistums Paderborn seit 2004 in der Spur von „ehrlich“ und „attraktiv“, das heißt nicht in der Abwärtsspirale der Destruktion, sondern –  motiviert aus der Grundhaltung: Gott vertrauen – Glauben leben – Zukunft gestalten – im Sinne der Effectuation immer mit Blick auf das, was wächst.“
(Team der Prozessleitung 2030+ im Erzbistum Paderborn)

Aber es gibt umgekehrt auch die Gegenposition:

„Disruptive Haltungen machen mir persönlich erstmal keine Angst. Ich halte Veränderungen in der Kirche für not-wendig. Zu Vieles ist verkrustet und erstarrt, aber eben nicht aus eigener, allein menschlicher Kraft zu lösen.“
(Ulrich v. Plettenberg, Generalvikar Diözese Trier)

3) Bedeutung von Kommunikation

Alle Verantwortlichen betonen die Relevanz einer ausgeprägten Kommunikation in der Veränderung. Diese hat eine starke informative Seite, bei der sich etwa Projektträger um Transparenz sorgen, aber dabei unidirektional bleiben. Andere betonen auch das Dialogische der Kommunikation.

„Ziele, Inhalte und Verlauf des Projektes werden laufend kommuniziert. Eine eigene Internetseite, regelmäßige Beiträge auf den Social-Media-Kanälen des Erzb. Ordinariates sowie ausführliche Berichte in der Bistumszeitung KONRADSBLATT ergänzt durch Pressemeldungen sind wichtige Instrumente.“
(Wolfgang Müller, Leiter Hauptabteilung 6 – Grundsatzfragen und Strategie im Erzbischöflichen Ordinariat Freiburg)

“Veränderungsprozesse erfordern ein Höchstmaß an Transparenz, Information und Orientierung. Deshalb weiten wir die interne Kommunikation stark aus, informieren in einem regelmäßigen Newsletter und zweimal jährlich auch in einem gedruckten Magazin.”
(Andreas Frick, Generalvikar im Bistum Aachen)

“Wir kommunizieren zum einen intensiv die Zukunftsorientierungen des Bistums und eröffnen zum anderen die Möglichkeit begleiteter Zukunftsprozesse am Ort, um mit den Mitarbeitenden und Engagierten vor Ort intensiv zu diskutieren.”
(Christian Hennecke, Leiter der Hauptabteilung Pastoral im Bischöflichen Generalvikariat Hildesheim)

“Die Synode, die gewählten Delegierten der Kirche, haben den Veränderungsprozess in unserer Landeskirche diskutiert und angestoßen, die Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen der Kirche wurden mehrfach informiert, es gibt Austausch und Abstimmungsgespräche über Ziel und Weg – sowohl über das, was man aufgeben muss, als auch über die Menschen, die man gewinnen möchte.”
(Heike Springhart, Landesbischöfin Evangelische Landeskirche in Baden)

“Wir haben einen breit angelegten und auf Beteiligung ausgerichteten „Verständigungsprozess zum Auftrag der Kirche“ durchgeführt, in dem wir ein gemeinsames Verständnis vom Auftrag und den Grundaufgaben von Kirche in sich wandelnden Verhältnissen und sich verändernden Ressourcen diskutiert haben. [… Jetzt liegt der Ball in den Gemeinden unsrer Kirche: Auch sie sollen beteiligt werden und diskutieren, wie sie den Auftrag der Kirche umsetzen können und dabei über einen angemessenen Ressourceneinsatz entscheiden.”
(Beate Hofmann, Bischöfin Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck)

4) Langfristige Orientierung i.S. von Kulturveränderung

Die Verantwortlichen der katholischen Kirche und der evangelischen Kirchen halten den notwendigen Rückbau und die damit verbundene Transformation für mehr oder weniger steuerbar. Sämtliche Bistümer und Landeskirchen arbeiten an langfristig strategischen Orientierungen. Hierbei sind weiterhin Strukturen und Ressourcen im Blick, allerdings hat sich gegenüber früheren Reformprozessen der Fokus inzwischen deutlich erweitert. Es geht um das Kirche-Sein und das kirchliche Leben insgesamt.

„Wie sich Kirche verändern soll, um relevant zu bleiben, wird systematisch im Rahmen unseres Zukunftsprozesses ‚Profil und Konzentration‘ (PuK) diskutiert. Seit 2016 findet dieser als breit angelegter Beteiligungsprozess auf allen Ebenen der Landeskirche statt. Kirchenentwicklung und Ressourcensteuerung werden dabei zusammengedacht. Rahmendaten für die Diskussion bieten uns die Prognosen zur Mitglieder- und Finanzentwicklung genauso wie unsere Personalprognose. Diese Daten werden regelmäßig aktualisiert. Gleichzeitig werden von der Kirchenleitung inhaltliche Strategien und Schwerpunktsetzungen entwickelt, mit denen diesen Veränderungen mittel- und langfristig begegnet werden soll.“
(Heinrich Bedford-Strohm, Landesbischof der Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern)

„Durch fünf landeskirchliche Prozesse (Verfassung, Haushalt, Verwaltung, Gebäude, Berufsbilder) arbeiten wir bis 2026 an zukunftsfähigen Strukturen und Strategien im Umgang mit Ressourcen. Kooperationen zwischen Gemeinden, mit der EKHN und der katholischen Kirche sowie auf EKD-Ebene sollen hier Synergien fördern. Bisher versuchen wir diesen Prozess als evolutionäre Transformation zu gestalten, nicht als disruptive Erneuerung.“
(Beate Hofmann, Bischöfin Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck)

„Es geht um den Abschied vom Modell einer vorwiegend von Hauptberuflichen getragenen und verantworteten Kirche, das einer Versorgungs- und Mitmachlogik folgt, und um die Entwicklung einer ‚Pastoral der Ermöglichung‘, die auf die Selbstführung und Selbstorganisation derer, die sich engagieren, ausgerichtet ist‘ (Arbeitsinstrument zu Pastoral 2030). Damit wird die bisherige Fokussierung auf Strukturen verlassen und es drängen sich andere Fragen in den Vordergrund: die Förderung kleiner Gemeinden/Gemeinschaften als Orte kirchlichen Lebens, ein neues Verständnis ehrenamtlichen Dienstes in der Kirche sowie die Zurüstung und Begleitung von Ehrenamtlichen, eine neue Form der Wahrnehmung von Leitung, eine neue Präsenz der Kirche in der Gesellschaft.“
(Wolfgang Müller, Leiter Hauptabteilung 6 – Grundsatzfragen und Strategie im Erzbischöflichen Ordinariat Freiburg)

„Zum notwendigen Wandel gibt es keine Alternative. ‚Alle‘ sind gefragt, einen nachhaltigen Kulturwandel in der Kirche als Beitrag in dieser Gesellschaft gemeinsam zu wollen und gestalten … Die Formulierung einer Pastoralstrategie für das Bistum Aachen wird die vorliegenden Beschlüsse [des Heute-bei-dir-Prozesses, Anm. d. Verf.] ausfalten und sie in eine vollständige Programmatik überführen, welche neben inhaltlichen Anforderungen auch Managementanforderungen erfüllt.
(Andreas Frick, Generalvikar im Bistum Aachen)

Die notwendige strategische Orientierung wird allerdings zunehmend dynamisch verstanden. Es geht dabei um eine wiederkehrende Vergewisserung über die langfristige Perspektive für die Diözese/Landeskirche, die notwendig ist, um valide Entscheidungen zu treffen. Dazu exemplarisch:

„Ausdruck dieser grundlegenden Veränderung, die bisherige Organisationsformen infrage stellen, ist es, dass die … Veränderungen in deutlich kürzeren Fristen und mit höherer Verbindlichkeit für alle Ebenen erfolgen müssen als dies bei vorherigen Veränderungsprozessen der Fall war.“
(Melanie Beiner, Leiterin Dezernat 1 – Kirchliche Dienste der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau)

5) Ansätze zur Gestaltung des Übergangs

Die Zukunft kann angesichts der sich dynamisch verändernden Rahmenbedingungen nicht linear hergestellt werden. Die Gestaltung des Übergangs (Transformation) erfordert aus Sicht der Verantwortlichen ein iteratives Vorgehen, das strategische Orientierung, zeitlich befristetes Entscheidungen und experimentelles Erproben flexibel miteinander verknüpft.

„Aus meiner Sicht ist es auch ein Kennzeichen einer Disruption, dass kein einfacher Fahrplan vorliegt und ein neues Ziel nicht einfach angesteuert werden kann, sondern deutlich werden muss, dass noch nicht klar ist, was wofür eine Lösung sein kann. Aus meiner Sicht ist es eher ein Schritt-für-Schritt-Denken und -Handeln, das dann beim Ausprobieren zeigt, was sinnvoll zu tun und anzustreben sein kann. … Gleichzeitig müssen wir aushalten, dass wir — insbesondere in den Leitungsebenen – nicht schon die Antwort haben, sondern die Entwicklung gut beobachten und wahrnehmen, riskieren, loslassen, wie es auf allen Ebenen geschieht.“
(Melanie Beiner, Leiterin Dezernat 1 – Kirchliche Dienste der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau)

„Kleinschrittiges Ausprobieren, Fehlerfreundlichkeit, Prototypen, … sind Elemente dieses Weges.“
(Team der Prozessleitung 2030+ im Erzbistum Paderborn)

„Die Beteiligung der betroffenen Akteure, die gemeinsame Suche und Beschreibung von vielfältigen Lösungswegen, sowie eine Würdigung des Gelungenen wie auch das nüchterne Sehen des Misslungenen sind wichtige Aspekte in der Gestaltung des Übergangs. Ebenso werden neue Dinge projektweise ausprobiert und damit Erfahrungen gesammelt. Über Erkundungen (Reisen in die Weltkirche und in andere Kirchen) werden Ideen mitgebracht, an die Gegebenheiten vor Ort angepasst und umgesetzt.“
(P. Sascha-Philipp Geißler SAC, Generalvikar Erzbistum Hamburg)

6) Verändertes Verhältnis von Zentralität und Dezentralität

Einig sind sich die Verantwortlichen in Diözesen und Landeskirchen, dass die zukünftige Gestalt von Kirche dezentral sein wird. 5 von 6 Bistümern und 3 von 5 Landeskirchen folgen explizit einem solchen Zielbild.

„Durch gemeinsame Vergewisserung der inhaltlichen und pastoralen Ziele auf den Leitungsebenen und in den Partizipationsgremien können abgestimmte Schritte und Entscheidungen getroffen werden. Dabei werden durch Entscheidungen Räume und Möglichkeiten für eine lokale Entwicklung ermöglicht, die jeweils vor Ort begleitet werden.“
(Christian Hennecke, Leiter der Hauptabteilung Pastoral im Bischöflichen Generalvikariat Hildesheim)

„Entscheidend im Prozess der anstehenden Strukturveränderungen in unserer Landeskirche ist die Befähigung der Gemeinden und Kirchenkreise bei diesen Veränderungen handlungsfähig zu bleiben. Hier brauchen die Gemeinden auch neue Spiel- und Freiräume, die Innovation und Erprobung von Neuem zulassen. Dazu muss von Seiten der Landeskirche auch die kirchliche Gesetzgebung überdacht werden, um den Gemeinden einen Rahmen für höhere Flexibilität zu schaffen – beispielsweise im Umgang mit Kasualien und der veränderten Lebenssituationen unserer Mitglieder.“
(Thorsten Latzel, Präses der Evangelische Kirche im Rheinland)

“Dazu „gehört, dass den Kirchengemeinden und Dekanaten Spielräume ermöglicht werden, Kirche vor Ort entsprechend der Situation und den dortigen Erfordernissen zu gestalten. Der Abbau von Genehmigungen, das Eröffnen von Freiräumen und die Ermöglichung regionaler Unterschiede sind aus meiner Sicht Möglichkeiten, Handlungsmöglichkeiten zu erhalten. Das bedeutet, dass die Steuerung auf gesamtkirchlicher Ebene im Blick auf das, was vor Ort geschieht oder geschehen soll, verringert wird; gleichzeitig bleibt die Steuerung im Blick auf die Rahmenbedingungen bzw. Ressourcen wichtig.“
(Melanie Beiner, Leiterin Dezernat 1 – Kirchliche Dienste der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau)

7) Unterschiedliche Bedeutung von Innovation

Unterschiede zwischen Diözesen und Landeskirchen zeigen sich im Verständnis und der Bedeutung von Innovation. Während in katholischer Perspektive eher inkrementelle Innovation i.S. der kontinuierlichen Weiterentwicklung bestehender Formate und Organisationsformen gemeint ist, induzieren die Landeskirchen (in Teilen) gezielt radikale oder disruptive Innovation (Mixed Economy, Ambidextrie). Zudem werden in wesentlich größerem Umfang dafür Ressourcen vorgesehen und das zu gestaltende Zusammenspiel traditioneller und neuer Formen von Kirche kommt in den Fokus.

„Mit dem Projekt Mixed Economy stellen wir uns nun auch der Herausforderung, den neuen Formen des Kirche- und Gemeinde-Seins einen Platz neben traditionellen Formen einzuräumen. So wollen wir den Übergang zu einer Kirche gestalten, die für unterschiedliche Lebensstile und Lebenssituationen vielfältigere Anknüpfungspunkte als bisher eröffnet.“
(Thorsten Latzel, Präses der Evangelische Kirche im Rheinland)

“Ganz neu fokussieren wir als Landeskirche außerdem die Aufgabe Strategischer Innovation im Bereich der Kirchenentwicklung – auch personell. Zur Förderung von Innovation und Exnovation wird dieser Arbeitsbereich Tools und Methoden entwickeln, um Leitungsgremien verschiedener Ebenen zu befähigen, solide Entscheidungen zu treffen.”
(Thorsten Latzel, Präses der Evangelische Kirche im Rheinland)

„In allen nötigen Um- und Rückbauprozessen (im Rahmen der Ressourcensteuerung) halte ich es für ganz entscheidend, dass wir zugleich auf Erprobungen setzen. Durch Förderung von auftrags- und sozialraumbezogenen Innovationen in verschiedenen Bereichen (z.B. frische Formen von Kirche, Kasualien und Digitalisierung) erhoffen wir uns die bewusste Initiierung von Disruptionen im Sinne der Entstehung neuer, dezentraler, noch nicht etablierter Formen von Kirche. Wir reden in diesem Zusammenhang von emergenter Kirchenentwicklung.“
(Heinrich Bedford-Strohm, Landesbischof Evangelisch-lutherische Kirche in Bayern)

„In unserem MUT-Projekt werden Pioniere jedoch systematisch beraten und gecoacht, wenn sie neue Formen von Kirche ausprobieren wollen. Die Projekte werden untereinander vernetzt und ausgewertet. Mit den Schlussfolgerungen daraus befasst sich dann wiederum die Kirchenleitung, um die Frage zu klären, wie sie erfolgreiche Projektlogiken mehr und mehr in die bestehende Betriebslogik unserer Landeskirche überführen kann und diese sich dadurch verändert.“
(Heinrich Bedford-Strohm, Landesbischof Evangelisch-lutherische Kirche in Bayern)

Zusammenfassung

„Disruption“ war im Jahr 2015 das Wirtschaftswort des Jahres – im Kampf um Risikokapital und Aufmerksamkeit scheint es längst ein Buzzword geworden zu sein, das die Bedeutsamkeit einer Neuerung unterstreichen soll. Dennoch: im wirtschaftlichen Diskurs wird unter Disruption eine einschneidende (meist zerstörerische) Veränderung verstanden, die durch eine Innovation ausgelöst wird. In einem systemischen Verständnis gehört Disruption, also Unterbrechung und die damit verknüpfte Irritation und Verunsicherung, wesentlich zu Veränderungsprozessen dazu. Disruption wird positiv bewertet. Sie ist für eine tiefgreifende Transformation unabdingbar.

Die Umfrage unter den Bistümern und Landeskirchen zeigt, dass dort das Verständnis von Disruption sehr unterschiedlich ist. Anders als im wirtschaftlichen oder organisa­tionsentwicklerischen Kontext wird Disruption im kirchlichen Kontext, gerade auch im katholischen, eher negativ bewertet oder vermieden. Dies hat sicher historische Gründe und mag auch daran liegen, dass Kirchen ihre Entwicklung derzeit stark unter dem Abbruchschema wahrnehmen, ohne den zukünftigen Zustand schon beschreiben zu können.

In den Texten zeigt sich eine größere Selbstverständlichkeit und dadurch auch eine höhere Akzeptanz disruptiver Veränderung bei einzelnen Autor:innen der evangelischen Landeskirchen. Eindrücklich verweist etwa Heinrich Bedford-Strohm darauf, dass die Reformation auch als Disruption einzuordnen sei und Disruption nach evangelischer Überzeugung zum Wesen der Kirche gehöre. Dementsprechend ist die Stärke der Beschäftigung, die Konnotation des Begriffs und die Konsequenzen daraus in beiden großen Kirchen unterschiedlich ausgeprägt: Ist die nächste Kirche durch stetige (Weiter-)Entwicklung des Bestehenden zu erreichen, die alle gleichermaßen vollziehen (müssen) oder entsteht sie emergent, sprunghaft, wenn hierfür durch Unterbrechung Räume geöffnet werden, und ersetzt sie dann schrittweise die alte Formation (die parallel weiterexistieren kann, solange es Menschen gibt, die ihr Kirche-sein auf diese Weise leben wollen)?

Die Reaktion auf die aufgezwungene Veränderung (Relevanzverlust, Mitgliederschwund, Ressourcenverknappung) ist in nahezu allen Fällen das Starten von Prozessen, die sowohl starke partizipative als auch steuernde Elemente aufweisen. Die Veränderungen – insbesondere den Rück- bzw. Umbau betreffend – erscheinen mehr oder weniger steuerbar. Die Ansätze gehen jedoch – anders als frühere Prozesse – ans Ganze, an die Substanz. Als zweites Element kommt in den evangelischen Kirchen zunehmend die Schaffung von Experimentier- und Innovationsfeldern dazu mit der Zielsetzung, Alternativen zum Bestehenden zu entwickeln, um dieses perspektivisch zu ersetzen.

Recht hohe Einigkeit besteht auch darin, dass Kommunikation eine große Rolle spielt – mal stärker die Transparenz, mal stärker den Dialog betonend.

Alles in allem gestalten  die Kirchen Transformationsprozesse in großer Ernsthaftigkeit und Professionalität, wobei sie sich in Teilen auch positiv mit Disruption beschäftigen. Offen bleibt jedoch die Grundsatzfrage, wie es nun wirklich steht um radikale oder disruptive Innovation. Ist sie überhaupt gewollt? Wie kann im Inneren (Bestehenden) Offenheit für Neues erreicht werden, um in dispersen Märkten oder Arenen wesentliche Neuerungen frühzeitig zu erkennen? Wie muss in einer nächsten Kirche das eigene „Betriebssystem“, „Geschäftsmodell“ bzw. die Form von Kirche gestaltet sein, um dauerhaft die Entstehung disruptiver, radikaler, adressatenorientierter Neuerungen zu fördern, die angesichts des Tempos gesellschaftlicher Veränderung und des fortschreitenden Relevanzverlusts dauerhaft unabdingbar erscheinen? Hier darf man auf die weitere Entwicklung gespannt sein.

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