Warum es so sein „muss“
Theologische Anmerkungen zu ekklesiologischen Auflösungsszenarien
Dass wir am Ende einer Epoche kirchlichen Lebens und eines damit zusammenhängenden kirchlichen Gefüges stehen, dazu braucht es nur die Einsicht in Entwicklungsprozesse, die seit 60 Jahren religionssoziologisch gut dokumentiert sind. Um so erstaunlicher ist es, dass seit genau derselben Zeit ein Reformprojekt das nächste ablöst: Es gab und gibt immer noch die Hoffnung, ein Bild-, Lebens- und Gestaltgefüge zu erhalten, das – mindestens in den Herzen der damit engagierten Menschen – erfolgreich gewesen ist. Wer hofft, dass mit einer besseren Kirchenstruktur, mehr Partizipation, reformierten Moralvorstellungen, mit mehr Spiritualität und Liturgie eine Kirche in die Zukunft geführt werden kann, die authentisch und glaubwürdig das Evangelium bezeugt und Menschen sammelt, verbleibt nach V. Dessoy in einer linearen „Kybernetik erster Ordnung“.
Diese Hoffnung ist verständlich, aber eine eher verzweifelte Utopie. Denn sie will doch ein Gestaltgefüge und einer Bilderwelt bewahren, die eben nicht von heute ist. Allen progressiven Fanfarenstößen zum Trotz ist sie viel verwandter mit ihren konservativen Gegnern, die auch in Untergangs- und Rettungsfanfaren stoßen. Es geht immer darum, „die Kirche“ zu bewahren und zu entwickeln. Aber auch hier findet eine folgenschwere Verwechslung statt: auch hier wird das Bild einer Kirchengestalt so eng verknüpft und verwechselt mit dem Glutkern der christlichen Botschaft.
Vielleicht ist das unvermeidbar, weil eben diese Botschaft sich immer wieder neu inkarniert, inkulturiert und Gestalt geben muss – aber das würde ja auch heißen, dass immer neue Auflösungsprozesse dann geschehen, wenn Gesellschaften sich verändern und verwandeln. Und genau so war es in der Kirchengeschichte – und genauso ist es heute.
Lässt sich, jenseits der verzweifelt-aggressiven Schuldzuweisungen, der Fehler und Skandale, und der offensichtlichen Dysfunktionalitäten vieler kirchlicher Situationen auch theologisch hier ein Deutungszugang finden?
Wie dramatisch dies gefühlt wird, zeigen die Ratlosigkeit, die Rastlosigkeit und die polarisierte Emotionalität, die apokalyptische Semantik, der Zorn und die Wut, die sich auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens zeigen. Diese tief gefühlte und gelebte Unruhe zeigt an, dass es wirklich wahr ist: eine Kirchenwirklichkeit zerbröselt und löst sich auf.
Lässt sich, jenseits der verzweifelt-aggressiven Schuldzuweisungen, der Fehler und Skandale, und der offensichtlichen Dysfunktionalitäten vieler kirchlicher Situationen auch theologisch hier ein Deutungszugang finden?
Eschatologische Notwendigkeit
Wer sich am II. Vatikanischen Konzil erfreut, der ist froh über die theologische Neuausrichtung des Kirchenverständnisses. Die starke strukturelle Fixierung einer hierarchischen Machtasymmetrie, die Idee und das Bild einer „societas perfecta“ und der ideologischen Fixierung einer Gemeinschaft der Ungleichen wird im Rückgriff auf die Schrift und die Theologie der Kirchenväter überwunden. Kirche ist das wandernde Volk Gottes – diese Theologie des Volkes Gottes inspiriert die Kirchenaufbrüche der Nachkonzilszeit. Die sich in der Folgezeit zeigenden Konflikte machen mehr als deutlich, wie die Rede von der Gleichwürdigkeit aller Christen, die Neujustierung des gemeinsamen Priestertums aller Getauften und die Rekalibrierung der Amtstheologie tatsächlich ein anderes Paradigma ekklesiologischen Nachdenkens im Blick haben.
Gleichzeitig hat die Rede vom wandernden Gottesvolkes für die Kirche eine provozierende Herausforderung. Kirche ist auf dem Weg und übersteigt sich ständig selbst. Weil es Gott ist, der sein Volk durch die Zeit führt, „bleibt“ die Kirche nur sie selbst, wenn sie sich in jeder Zeit neu sammeln lässt, neu formiert und neuen Gestaltwerdungen Raum gibt. Damit dreht sich die Perspektive um: es geht eben nicht darum, eine bestimmte Gestalt der Kirche durch die Geschichte zu tragen und zu bewahren, sondern sich immer wieder neu vom Geist Gottes durch die Geschichte tragen zu lassen – und zu entdecken, welche Gestalt der Kirche in welcher Zeit angemessen ist.
Die Rede vom wandernden Gottesvolkes hat für die Kirche eine provozierende Herausforderung. Kirche ist auf dem Weg und übersteigt sich ständig selbst.
Jede Kirchengestalt ist also grundsätzlich und notwendig immer wieder in einem Auflösungsprozess, weil sie grundsätzlich und notwendig in einem ständigen Werdeprozess ist. Und dieser Werdeprozess, der in sich immer neue Momente der Auflösung zugunsten des Werdens einer neuen Gestalt ist, hat einen radikalen eschatologischen Fluchtpunkt: die Kirche ist eben nicht der Zielpunkt des Weges Gottes mit dieser Welt, sondern sie ist ein Mittel, „Zeichen und Werkzeug“, dass sich am Ende der Zeiten auflöst. Das biblische Bild des himmlischen Jerusalems (Offb 21) macht drastisch deutlich, dass der Weg des Volkes Gottes durch die Geschichte, die verschiedenen Kirchengestalten nur dem einen Ziel der letztlichen Auflösung der Kirche im Reich Gottes dienen. Damit wird klar, dass jede Kirchengestalt immer wieder in der Logik der Auflösung und des Geborenwerdens steht – und dass diese Prozesse eben nicht zu steuern oder zu vermeiden sind, sondern der inhärenten Notwendigkeit und Dynamik des Evangeliums und des wirkenden Geistes entsprechen.
Das Muss des Sterbens
Zweifellos aber ist diese Logik des Werdens auch immer eine Logik des Sterbens. Es ist geradezu die unverwechselbare Identität des christlichen Glaubens, der sich in die Geschichte einschreibt, dass er die österliche Perspektive mitbringt: Tod und Auferstehung Christi geben auch den Rhythmus seiner Kirche vor – und das ist ja die eigentliche frohe Botschaft: jeder Tod spricht vom Leben, das neu wird und kommen wird, weil das wirkliche Leben, das Leben in Fülle, wächst aus dem Geheimnis des Sterbens. Was ein für alle Mal in Kreuz und Auferstehung geschehen ist, wird zum Lebensrhythmus des Christseins, wird zu Logik kirchlicher Existenz.
Damit aber wird das Ende einer Kirchengestalt zum Warten auf das Werden einer Kirche, die noch nicht bekannt ist. Das macht es herausfordernd: denn alle Rede einer Kirchenentwicklung muss ja noch einmal neu gelesen werden, wenn Entwicklung nicht einfach strategische Maßnahmen meint, sondern sich viel radikaler einschreibt in die Geschichte von Tod und Auferstehung Jesu – und Entwicklungsprozesse dem Handeln Gottes an seinem Volk nachspüren wollen.Damit wird klar, dass jede Kirchengestalt immer wieder in der Logik der Auflösung und des Geborenwerdens steht – und dass diese Prozesse eben nicht zu steuern oder zu vermeiden sind, sondern der inhärenten Notwendigkeit und Dynamik des Evangeliums und des wirkenden Geistes entsprechen.
Das heilsgeschichtliche „Muss“ des Leidens und Sterbens gehört also zur DNA der Kirche, vor allem ihrer Gestalt. Deswegen ist es auch riskant, aus der vergehenden (und sich auflösenden) kirchlichen Gegenwart Zukunftsprojektionen zu wagen – denn viel zu treffsicher würden sie nur Vergangenheit mit eigenen Wunschprojektionen verknüpfen.
Umgekehrt: gerade auch die Auflösung und das Ende einer Kirchenformation ist wirklich mit einer konstitutiven Ohnmacht verknüpft, mit Schmerzerfahrungen des Verlustes, mit Angst und Verlassenheit. Es ist unschwer zu erkennen, dass die derzeitigen Transformationsprozesse als Sterbeprozess gelesen werden können: die Nichtannahme der Wirklichkeit, die zu einem langem Weiter-so führten, die Ideen zu Verbesserung und Veränderung der Trends verzögern zwar das Sterben, verhindern es aber nicht. Die Erfahrung und das Gefühl der Gottverlassenheit und die Erfahrung der Ohnmacht gegenüber diesen Prozessen führen zu einer verzweifelt-depressiven Grundgestimmtheit. Sie ähnelt denen der Jüngerinnen und Jünger unter dem Kreuz.
Demütige Selbstrelativierung
Zweifellos wirkt auf mich die derzeitige Diskussion um die weitere Entwicklung der Kirche sehr selbstreferenziell und redundant. Kein Ausweg, nirgends, aus den schon bekannten Pfaden und Abhängigkeiten. Kein Ausweg erkennbar aus dem Wunsch, sich selbst zu erhalten. In diesem Kontext ist mir die theologische Reflexion Dietrich Bonhoeffers weiterhin zentral. Hier bündeln sich die beiden benannten Akzente von Eschatologie und Kreuzestheologie in ekklesiologischer Zuspitzung mit einer provozierenden Ergänzung. Dietrich Bonhoeffer vermag das Ende einer gewohnten Kirchen- und Glaubensgestalt zu verknüpfen mit einer ekklesiologisch zugespitzten Theologie der reinigenden Läuterung. Er verweist – in seinem bekannten Taufbrief an sein Taufkind – darauf, dass die Kirche (und er meint seine protestantische Kirche) sich um sich selbst und ihren Selbsterhalt gekümmert hat – und genau dies führt zur Unfähigkeit, die frohe Botschaft und den Kern des Glaubens relevant und existenziell für sich selbst und die Zeitgenossen zu sagen: Und deswegen formuliert er: „… unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neugeboren werden aus diesem Beten und diesem Tun. Bis du groß wird – so schreibt er an seine Taufpatenkind – wird sich die Gestalt der Kirche sehr verändert haben. Die Umschmelzung ist noch nicht zu Ende, und jeder Versuch, ihr vorzeitig zu neuer organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen, wird nur eine Verzögerung ihrer Umkehr und Läuterung sein“.1
Wir sind nicht die Kirchenentwickler, sondern wir sind hineingenommen in einem Prozess der Neugeburt, der nicht nur die Gestalt der Kirche verändert, sondern vor allem und in allem die Christen.
Hier wird die innere Dimension des Zerbrechens und Neuanfangens benannt und zugleich eine demütige Selbstrelativierung ins Wort gehoben: wir sind nicht die Kirchenentwickler, sondern wir sind hineingenommen in einem Prozess der Neugeburt, der nicht nur die Gestalt der Kirche verändert, sondern vor allem und in allem die Christen. Beten und Tun des Gerechten sind die Grundmerkmale christlicher Existenz und adventliches Warten auf das Neuwerden. Bonhoeffer warnt hier, Kirche neu zu organisieren, bevor sie nicht radikal in neuer Gestalt geboren wird.
Die Anerkenntnis der Selbstzentrierung auf die Kirche und ihren Erhalt ist dabei der erste Schritt, um in eine noch unerkannte Zukunft zu gehen, die hier nicht vorhersehbar ist. Ein Prozess der Umkehr und Läuterung führt in eine neue Demut.
Auszuhaltende Uneindeutigkeit – Vom Übermut des Totsagens
Wenn immer wieder von der „letzten Chance“ der Kirche die Rede ist, wenn immer wieder unterstrichen wird, dass wir kurz vor dem Ende der Kirche stehen, dann ist theologische Achtsamkeit gefragt. Wer genauer hinschaut, der erkennt nämlich recht schnell, dass die Prozesse der Auflösung und Verwandlung nicht organisierbar sind, sondern geschehen. Mir wird das immer wieder deutlich an den prophetischen Versuchen, bestimmte Formationen in der Kirche totzusagen: weder sind bislang Gemeinden gestorben, noch sind Ordensgemeinschaften von der Bildfläche verschwunden. So wahr es ist, dass es eine konstitutive Überalterung vieler kirchlicher Formate und Gottesdienste gibt, so überraschend ist doch, dass immer noch viele Formen existieren, viele Menschen sich leidenschaftlich engagieren und Formen und Formate tragen, die totgesagt wurden.
Offensichtlich ist die Theo-Logik der Auflösung nicht einfach die Logik eines konsekutiven Prozesses zwischen Sterben und Auferstehen, sondern sie ist gekennzeichnet von einer unübersichtlichen Uneindeutigkeit und Vielfalt. Nein, der Tod lässt sich nicht vorhersagen, das Sterben ist oft ein langer Prozess, die Versuche des Erhaltens sind mit viel Leidenschaft durchtränkt – und es wird nicht schnell und einsichtig deutlich, dass das Alte gegen das Neue ausgespielt wird.
Gerade immer dann, wenn – meist durch äußere Einflüsse – Sterben und Auflösung gesellschaftlicher und kirchlicher Sicherheiten radikale Zusammenbrüche hervorriefen, entstanden neue ungewohnte kirchliche Wirklichkeiten, die der jeweiligen Zeit entsprachen und zugleich die Kraft des Evangeliums in neuartiger Weise bezeugten.
Die Rede von einer „blende ecology of church“, einem „kirchlichen Mischwald“ und also einer zu hütenden Vielfalt von kirchlichen Werde- und Vergehensprozessen ist daher wichtig: Kriterium des Sterbens, sich Auflösens und Werdens ist immer die Kraft des Evangeliums, die göttliche und inspirierende Geistkraft – und die lässt sich natürlich in Menschen und ihren Initiativen erkennen.
Charismatischer Gegenwartsüberschuss – Von der Ohnmacht der Kirche und der Macht des Evangeliums
Genau an dieser Stelle wird deutlich, dass wir – selbst einbezogen mit unseren Bildern, Hoffnungen, Erwartungen, Theologien und Projektionen in diese schmerzhaften Auflösungs- und Werdeprozesse – eher mitwirkende Beobachter und Akteurinnen sind in einem Prozess, den wir nicht überschauen können. Die Fokussierung des Blickes richtet sich theologisch deswegen weniger auf das Absterben und Auflösungsprozesse als vielmehr auf das schüchterne und kleine Werden neuer Erfahrungen.
Wer einen Blick in die Kirchengeschichte wagt, wird dabei nämlich immer wieder mit unerwarteten Aufbrüchen konfrontiert, die aus der Geisteskraft, charismatischen Persönlichkeiten und ihren Sammlungsbewegungen hervorgehen. Gerade immer dann, wenn – meist durch äußere Einflüsse – Sterben und Auflösung gesellschaftlicher und kirchlicher Sicherheiten radikale Zusammenbrüche hervorriefen, entstanden neue ungewohnte kirchliche Wirklichkeiten, die der jeweiligen Zeit entsprachen und zugleich die Kraft des Evangeliums in neuartiger Weise bezeugten.
Das ist nicht planbar, das ist auch nicht wünschbar, sondern es geschieht aus dem charismatischen Überfluss des Evangeliums, das auch in zusammenbrechenden Kirchenkonstellationen verkündet wurde. Dass dies auch immer wieder Konflikte auslöste, lässt sich in der Ordensgeschichte wie der Geschichte charismatischer Verbands- und Gemeinschaftsgründerinnen gut verfolgen. Offensichtlich gehört dies konstitutiv zur Logik der kirchlichen Entwicklungen jeder Zeit.
Konziliare Transformationshinweise
Das zweite Vatikanische Konzil hat deswegen sehr exakt beschrieben, in welcher Weise diese Transformationsprozesse die Praxis der Theologie prägen können und müssen. Wenn es nämlich theologisch nicht denkbar ist, die Wandlungsprozesse der Kirche gewissermaßen von außen vorherzusagen und zu prägen, dann bleibt – im Konzil ähnlich wie bei Dietrich Bonhoeffer – ein Zugang, der zum einen existenziell die Lebensperspektive der Christinnen und Christen ins Spiel bringt: Christsein und Christwerden geschieht dann, wenn wir Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen unserer Zeit teilen (GS 1) – und so wird auch Kirche neu geboren, wenn sie die Zeichen der Zeit (GS 4) Ernst nimmt und sich auf die Transformationen, die ihre eigene Auflösung/Neugeburt implizieren, einlässt.
So wird Kirche neu geboren, wenn sie die Zeichen der Zeit (GS 4) Ernst nimmt und sich auf die Transformationen, die ihre eigene Auflösung/Neugeburt implizieren, einlässt.
Diese Dynamiken als Gemeinschaft zu entdecken und auf diesem Lernweg zu bleiben, darin liegt die synodale Herausforderung gerade in den Zeiten, in denen Kirche sich neu konfiguriert und damit ab- und auflöst aus alten Paradigmen. So formuliert das Konzil: „Im Glauben daran, daß es vom Geist des Herrn geführt wird, der den Erdkreis erfüllt, bemüht sich das Volk Gottes, in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, die es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind.“ (GS 11).
Diesem Entdeckungsprozess, der konstitutiv synodal ist, geht es um eine Umkehrung der bisher bestandswahrenden Ekklesiozentrik, die sich in den vielen Diskussionen, Polemiken, Restrukturierungsprozessen und schmerzhaften Depressionen erkennen lässt: es bleibt das sich-aussetzen und entdecken, welchen neuen Weg Gott heute mit den geliebten Menschen dieser geistvollen Welt geht, um Kirche neu werden zu lassen. Zweifellos heißt das aber zugleich: entdecken, wie Gott Menschen sammelt und wie Gott loslässt und Auflösung zulässt.