022022

Foto: Davide Cantelli/Unsplash

Konzept

Frank Meier

Die unentschiedene Kirche

Die römisch-katholische Kirche will keine Organisation sein. Das heißt zunächst: Sie will nicht nur Organisation sein. Ihrem Selbstverständnis nach ist die Kirche natürlich viel mehr als ein Finanzamt, ein Handyhersteller, eine Partei oder ein Fußballverein. Von diesen unterscheidet sie sich nicht nur durch den erhabeneren Zweck, immerhin geht es um nicht weniger als um die Mitwirkung am Erlösungswerk. Denn sie ist kein reiner Zweckverband, sie ist sakramental bestimmte Gemeinschaft der Heiligen, mystischer Körper Christi.

Natürlich bestreitet niemand, dass auch die Kirche ganz profan verwalten oder, wie man heute wohl eher sagen würde, managen muss. Sie stellt Personal ein, bezahlt es, entlässt es, investiert, erteilt Bauaufträge. Sie ernennt Beauftragte, erstellt Richtlinien, führt – mal mehr mal, mal weniger geordnet – Akten. All das mag, wenn es denn eklatant schiefläuft, zu Skandalen führen, aber es bleibt doch nachrangig gegenüber dem hehren Anspruch der Ekklesiologie. Wer die Kirche als Organisation anspricht, so scheint es, verkennt das Eigentliche, das Wesentliche.

Wer die Kirche als Organisation anspricht, so scheint es, verkennt das Eigentliche, das Wesentliche.

Aus einer soziologischen Perspektive, wie ich sie hier einnehme, ist eine solche Selbstbeschreibung aufschlussreich. Man denkt unwillkürlich daran, wie Universitäten – zweifellos deutlich profanere Einrichtungen als Kirchen – noch vor wenigen Jahrzehnten in heute kaum noch nachvollziehbarer Weise metaphysisch aufgeladen wurden.1 Inzwischen sind aus ihnen ziemlich normale Organisationen geworden. Ist Ähnliches auch für die römisch-katholische Kirche denkbar?

Doch es geht mir hier nicht darum, eine auf- und abgeklärte wissenschaftlichen Deutung als Organisation einer vermeintlich defizitären Selbstbeschreibung gegenüber als überlegen darzustellen. Tatsächlich stellt sich auch aus wissenschaftlicher Sicht, die Deutung der Kirche als (eine?) Organisation als durchaus knifflig dar.2 Schon gar nicht will ich suggerieren, dass Kirchen letztlich genauso ticken wie Unternehmen und Verwaltungen, genauso zu gestalten und zu managen wären. Vielmehr geht es darum, nach Funktionen und Folgen der Selbstbeschreibung nachzudenken und sichtbar zu machen, was mit der Abwehr der Organisationsidee ausgeschlossen wird oder jedenfalls aus dem Blick gerät. Und ich vermute gerade hier wesentliche Konfliktlagen der katholischen Kirche, wie sie gerade in den aktuellen Debatten um den Synodalen Weg in Deutschland immer wieder zum Vorschein treten.

Vielmehr geht es darum, nach Funktionen und Folgen der Selbstbeschreibung nachzudenken und sichtbar zu machen, was mit der Abwehr der Organisationsidee ausgeschlossen wird oder jedenfalls aus dem Blick gerät. Und ich vermute gerade hier wesentliche Konfliktlagen der katholischen Kirche.

Den für mich zentralen Punkt kann ein kurzes und, wie ich denke, typisches Zitat aus einem Interview beleuchten, in dem der Augsburger Bischof Bertram Meier unlängst sein Bild von der Struktur der Kirche andeutete. Ist diese, so fragt der Oberhirte rhetorisch, nicht „doch geordnete communio hierarchica? Also mit einer Hierarchie, mit einer Ordnung auch der Autoritäten, der Leitung, die nicht wir uns als Organisationskonzept ausgedacht haben, sondern die Jesus uns geschenkt hat.“3

Was hier vorsichtig formuliert ist, legt doch klar offen, was Meier – und mit ihm ein viele andere katholische Gläubige – ein Organisationsverständnis der Kirche zurückweisen lässt. Die Idee von Hierarchie und Autorität sollte es eigentlich nicht sein. Viele Organisationen sind überaus hierarchisch, für manche soziologische Autoren ist Hierarchie sogar ein konstitutives Merkmal der Organisation.4 Eher scheint es, dass Autorität und Hierarchie im Organisationskontext plötzlich als profane Macht erscheinen. Und für viele exponierte Vertreter der katholischen Kirche scheint es bemerkenswerter Weise wenig Schlimmeres zu geben, als Hierarchie mit Macht in Verbindung zu bringen und so „das Geheimnis der Kirche auf eine bloße Machtinstitution zu reduzieren“.5

Und für viele exponierte Vertreter der katholischen Kirche scheint es bemerkenswerter Weise wenig Schlimmeres zu geben, als Hierarchie mit Macht in Verbindung zu bringen und so „das Geheimnis der Kirche auf eine bloße Machtinstitution zu reduzieren“.

Doch es geht noch um etwas anderes. Die Organisation, das ist das Ausgedachte und damit auch das mit Fehlbarkeit behaftete Menschenwerk. Organisationskonzepte, das lehrt die Erfahrung, klingen verheißungsvoll und scheitern grandios. Man kann sich vorstellen, dass hier unliebsame Erfahrungen mit der einen oder anderen betriebswirtschaftlich inspirierten Managementidee mitschwingen. Mit solchen Organisationen nun kontrastiert der Bischof die Ordnung der Kirche. Sie ist für Meier nicht ausgedacht, sie ist durch Jesus geschenkt. Und damit gerade nicht Organisation. Denn zumindest aus soziologischer Sicht sind Organisationen entschiedene Ordnungen. Sie sind also Ordnungen, die auf menschliche (!) Entscheidungen zurückgehen, die, und erst das macht Entscheidungen zu Entscheidungen, kontingent waren, also auch anders hätten ausfallen können. Wir haben uns etwas ausgedacht, aber wir hätten uns auch etwas anderes ausdenken können. Die Kirche ist dagegen die unentschiedene Kirche, weil sie die durch Christus gestiftete Kirche ist. Als solche ist sie den Entscheidungen irrender Menschen entzogen.

Wohl gemerkt: Hier geht sich nicht nur die Frage, wer etwas entscheiden kann, wie sie in der aktuellen Debatte um den Synodalen Weg in Deutschland immer wieder gestellt wird. Was kann die Synodalversammlung entscheiden? Was bleibt in der Kompetenz der einzelnen Bischöfe? Was kann durch die Kirche in Deutschland entscheiden werden, was nur durch die Weltkirche? Was bleibt der individuellen Letztentscheidung durch den Papst vorbehalten? Nein, hier geht es um die Entscheidbarkeit als solche. Die Kirche mag alle möglichen Entscheidungen treffen können und tatsächlich auch treffen, aber sie kann nicht über ihre fundamentale „Ordnung“ befinden. Diese ist, ebenso wie die als offenbarte Wahrheit verstandene katholische Heilslehre, der Entscheidbarkeit entzogen. Genauer: Gerade weil die Kirche selbst als Heilsanstalt gedeutet wird, wird die Frage nach der „Ordnung“ selbst zur Heilsfrage. Eine solche Aufladung dient funktional gesprochen der Legitimation bestehender kirchlicher Strukturen, und das heißt auch der klerikalen Macht, mindestens ebenso jedoch der Immunisierung – und das unabhängig davon, ob sie vom Bischof in strategischer Absicht vorgetragen oder einfach nur geglaubt wird.

Aus soziologischer Sicht sind Organisationen entschiedene Ordnungen. Sie sind also Ordnungen, die auf menschliche (!) Entscheidungen zurückgehen, … Die Kirche ist dagegen die unentschiedene Kirche, weil sie die durch Christus gestiftete Kirche ist. Als solche ist sie den Entscheidungen irrender Menschen entzogen.

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Freilich ist offen, inwieweit die kirchlichen Selbstdeutungen die Gläubigen jetzt und in Zukunft zu überzeugen vermögen. Noch spannender ist aber vielleicht, wo genau die Grenzen zwischen dem Entscheidbaren und dem Unentscheidbaren gezogen werden. Was genau gehört zur gestifteten Ordnung, was ist Menschenwerk? Wenn der Kirchenhistoriker Hubert Wolf die Vielfalt auch dezentraler und kollegialer Strukturen herausarbeitet, in denen die katholische Kirche in der der Weltkirche wie in den Diözesen in der Vergangenheit Entscheidungen getroffen hat,6 so zeigt er damit faktische Spielräume auf. Und er tritt in die Debatte über die Frage ein: Worüber können wir eigentlich entscheiden?

Absehbar bleibt die Kontroverse um die Reform der römisch-katholischen Kirche, in der es natürlich keineswegs nur, aber eben auch um Organisationsgestaltung geht, in dieser Lage gefangen. Wer die bestehenden Organisationsstrukturen verteidigen möchte, wird immer argumentieren können, dass Reformerinnen die Ekklesiologie oder die Lehre vom sakramentalen Priestertum nicht richtig verstanden haben. Reformdebatten können so in theologische Scharmützel transformiert werden. So lässt es sich verharren. Doch wer weiß, wie lange sie diese Strategie noch trägt.

Absehbar bleibt die Kontroverse um die Reform der römisch-katholischen Kirche, in der es natürlich keineswegs nur, aber eben auch um Organisationsgestaltung geht, in dieser Lage gefangen.

 

  1. Vgl. insbesondere Ernst Anrich (1960): Die Idee der deutschen Universität und die Reform der deutschen Universitäten. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
  2. Vgl. etwa Martin Petzke und Hartmann Tyrell (2012): Religiöse Organisationen. In: Handbuch Organsisationstypen, Hrsg. von Maja Apelt und Veronika Tacke. Wiesbaden: Springer VS, 275-306.
  3. https://www.credo-online.de/thema/kirche-in-deutschland-und-weltkirche/
  4. So etwa Stefan Kühl (2011): Organisationen. Eine sehr kurze Einführung. Wiesbaden: VS.
  5. So formulierte jüngst Kardinal Luis Ladaria, Präfekt des Dikasteriums für die Glaubenslehre in einer Stellungnahme zum Synodalen Weg
  6. Hubert Wolf (2015): Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte. 2. Auflage. München: C.H. Beck.

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