022022

Konzept

Peter Burkowski

Transformation der Kirche – einige notwendige Paradigmenwechsel

Die evangelische Kirche vollzieht aktuell grundlegende Veränderungen, weil sich diese Welt grundlegend wandelt. Die Gründe liegen auf der Hand: Nahezu überall schwindet die Beteiligung am kirchlichen Leben: „Die absolute Zahl der Kirchenmitglieder sinkt kontinuierlich, die Kasualien werden seltener begehrt, mit jeder nachrückenden Generation wird die Relevanz von Glaube und Kirche in der Gesellschaft undeutlicher.“1 Zusätzlich stellen die Folgen des demografischen Wandels2 unweigerlich die Frage nach einer angemessenen Sozialgestalt einer zukünftigen Kirche.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat es – bei aller Ungleichheit und Ungleichzeitigkeit – bereits viele Veränderungs-Impulse gegeben. Dabei wurden insbesondere Mittel wie Reformpapiere3 und besondere Kommunikationsorte4 genutzt, die von Projekt- oder Steuerungsgruppen in Projektstrukturen vorbereitet und koordiniert wurden.

Nach und nach traten und treten neben die Grundstruktur der parochial geordneten Ebene der Kirchengemeinde und ausdifferenzierten mittleren und gesamtkirchlichen Ebene nun Projekte oder Gemeinden auf Zeit, andere Kommunikationsorte des Evangeliums, andere Formen der analogen und digitalen Kommunikation (Erprobungsräume, freshX usw. ).

Die Aufgabe der Leitungsverantwortlichen hat sich in dieser Zeit deutlich verändert. Nachdem lange die Frage knapper Ressourcen bestimmend war und in der Regel zu Optimierungen, Konzentrationen, Fusionen und Verbesserungen in der bestehenden und bewährten Logik geführt haben, geht es heute um die Frage der Transformation, also einer wirklichen Erneuerung5 der Kirche in einer Welt, die an eine Kirche der Zukunft andere und neue Anforderungen stellt.

Heute geht es um die Frage der Transformation, also einer wirklichen Erneuerung der Kirche in einer Welt, die an eine Kirche der Zukunft andere und neue Anforderungen stellt.

Die bisher dominante Sozialform der Ortsgemeinde „erfordert sehr viele Gemeinden mit Gebäuden und Hauptamtlichen, die finanziert werden und auch zur Verfügung gestellt werden müssen“; dies ist eine „der finanziell und personell aufwendigsten Formen christlicher Sozialität, die man sich hätte ausdenken können.“6 Heute sind somit die Grenzen der Optimierung der bisherigen Organisationslogik erreicht und zum Teil bereits überschritten. Es braucht also grundlegend neue Formen. Es braucht eine Transformation dieser prägenden Sozialgestalt, um in vielfältiger Weise die Kommunikation des Evangeliums im Kontakt mit sehr verschiedenen Lebensvollzügen zu ermöglichen.

Diese Transformation geschieht in einer komplexen Umgebung mit anhaltend hoher Unsicherheit der Akteur*innen7. Die Unterscheidung von einfachen, komplizierten, komplexen oder chaotischen Umgebungen8 und die daraus resultierenden Folgen für das Führungshandeln sind in Kirche nur selten bekannt oder bewusst. Dies führt dazu, dass aktuell auf komplexe Herausforderungen noch immer mit Mustern aus einfachen oder komplizierten Umgebungen reagiert wird.

Aktuell wird auf komplexe Herausforderungen noch immer mit Mustern aus einfachen oder komplizierten Umgebungen reagiert.

Eine grundlegende Transformation der Kirche benötigt einige grundlegende Paradigmenwechsel, damit die Strukturen der Kirche zukünftig so beschaffen sind, „dass möglichst viele Menschen in ihnen dem Evangelium begegnen können.“9

In der kirchlichen Führungspraxis hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten vorsichtig die Einsicht breit gemacht, Führung als Funktion einer komplexen sozialen Organisation zu verstehen. Dies versetzt die Verantwortlichen in die Lage, mit Komplexität und großer Unsicherheit angemessen umzugehen und geklärt und abgestimmt zu handeln.

Die folgenden Überlegungen nehmen diese Entwicklung auf. Sie sind aber keine methodische Handreichung für die Durchführung von Transformationsprozessen, sondern eine Art abstrakte Seh-Hilfe für diejenigen, die in der Verantwortung für diesen grundlegenden Umbau der Kirche stehen.

1. Von der Zukunft her denken und handeln

Ein grundlegender Unterschied zwischen Institution und Organisation besteht in der jeweiligen zeitlichen Ausrichtung der Entscheidungen. Eine lebendige und lernende Organisation fragt von der Zukunft her. Sie begründet von den zu erwartenden Herausforderungen her die jeweilige Ausrichtung, ihre Aktivitäten und den Einsatz der Ressourcen. Zugleich wendet sie sich damit gegen die Neigung der Institution, sich primär aus den Aktivitäten, Einsichten und Erfolgen der Vergangenheit zu versorgen. Die Institutionen-Logik unserer kirchlichen Körperschaften wird besonders in der ausführlichen Darstellung der je eigenen Geschichte deutlich. Dies bestimmt nicht selten die Frage nach der eigenen Identität, des eigenen Profils und hat starke Bewahrungskraft für die zukünftige Ausrichtung. Nicht selten geschieht dies unbewusst und unreflektiert. Die Frage jedoch, was wir in der Zukunft sein wollen, damit der Auftrag der Kommunikation des Evangeliums in einer grundlegend veränderten Welt möglichst gut ausgeführt werden kann, wird (noch immer) selten gestellt.

Die Institution neigt dazu, sich primär aus den Aktivitäten, Einsichten und Erfolgen der Vergangenheit zu versorgen.

Die theologische Einsicht, dass die Gestalt, die Ordnung und der Einsatz von Ressourcen in der Kirche dem Auftrag und dem Zeugnis der Kirche folgen, ist unbestritten (Confessio Augustana VII mit einem funktionalen Kirchenbegriff, Barmen III). In der Praxis haben es jedoch neue Einsichten, Projekte und Initiativen deutlich schwerer als bereits etablierte Arbeitsfelder. Das Bewährte ist in der Regel auch personell und wirtschaftlich besser ausgestattet als das „Neue“ und „Zukünftige“ (Pilotprojekte, befristete Finanzierungen usw.). Aber für die lange geübte Praxis der Addition des Neuen zum Alten sind die Ressourcen zu knapp geworden; waren es in den vergangenen Jahrzehnten die finanziellen Möglichkeiten so sind es heute die personellen.

Für die lange geübte Praxis der Addition des Neuen zum Alten sind die Ressourcen zu knapp geworden.

Wenn von der Zukunft her gedacht, gehandelt und entschieden wird, benötigt eine kirchliche Organisation (Kirchengemeinde, Dekanat, Landeskirche, Akademie …) in regelmäßigen Abständen eine vergemeinschaftete Vergewisserung über den eigenen Existenzgrund (Warum gibt es uns?)10 und über ein attraktives Zukunftsbild, das den Mitarbeitenden gerade in komplexen Umgebungen und in Unsicherheit eine grundlegende Orientierung und Motivation ermöglicht. Hierzu dienen Strategieprozesse, Zukunfts-/Visionsprozesse, Leitbildentwicklungen, Kirchenkreis- und Gemeindekonzeptionen11 usw.

Mit Hilfe solcher Instrumente entscheiden die Leitungsorgane einer Organisation auch über die Art und Tiefe der als notwendig angesehenen Veränderung. Und selbstverständlich sind solche Entscheidungen auch Konzentrationen auf Schwerpunkte und deren Ausstattung mit Finanzen und Personal. Zugespitzt: es zählt nicht mehr die bisherige Dauer der Wahrnehmung einer Aufgabe, sondern die zukünftige Relevanz für die Kommunikation des Evangeliums.

Die Unterscheidung von Verbesserung/Optimierung auf der einen und Erneuerung/Transformation auf der anderen Seite12 ist hier wesentlich und hilfreich. In der Kirche wurde lange der Modus von Verbesserung/Optimierung als notwendig und ausreichend angesehen. Mehr oder weniger langsam wurden die Strukturen (z.B. von Kirchengemeinden oder Kirchenkreisen/Dekanaten) an die Bevölkerungsentwicklungen angepasst: Zusammenlegung von Gemeinden, Reduktion von Pfarrstellen, Fusionen von Dekanaten usw. Das grundlegende parochiale Paradigma wurde beibehalten und auf einen größeren Raum „gedehnt“.  Diese dauerhaften – und oft nachlaufenden (!) – Strukturanpassungen sind ermüdend, erzeugen Widerstände und binden Kraft und Zeit.

Es zählt nicht mehr die bisherige Dauer der Wahrnehmung einer Aufgabe, sondern die zukünftige Relevanz für die Kommunikation des Evangeliums.

Aus der Zukunft gedacht stellen sich heute neue und andere Fragen: Ist die Sozialgestalt einer Kirche, in der überall alle Angebote für alle Generationen gemacht werden – noch angemessen? Wie erhält die Kommunikation des Evangeliums in unserer Region neue Kraft und spürbaren Ausdruck? Was ist Gottes Weg mit uns? Auf welche Frage in unserem Sozialraum antwortet das Evangelium heute?

Auf diese Weise wird ein Paradigmenwechsel möglich: Personalgemeinden und digitale Angebote ergänzen das Wohnsitzprinzip; die enge rechtliche Verknüpfung von Pfarrstelle und Kirchengemeinde wird gelockert; nicht mehr überall wird das kirchliche Vollprogramm vorgehalten; Profile und Schwerpunkte werden erkennbar; im Sozialraum entstehen neue Netzwerke (insbesondere mit diakonischen Orten und ökumenischen Partner*innen); kirchliche Orte kommen neu in den Blick.13

2. Zyklisch statt linear

Eine weiterer Paradigmenwechsel vollzieht sich im Verständnis von Leitung und Steuerung sowie deren praktischer Ausprägung. Die staatsanaloge Prägung des deutschen Protestantismus hat dazu beigetragen, dass ein Grundverständnis linearer Steuerung zur mentalen Grundlage in nahezu allen Leitungsorganen geworden ist. Daraus folgt, dass – zugespitzt formuliert – nahezu alle Energie auf dem Weg zur Beschlussfassung in den Leitungsorganen gebunden wird. Ist dann ein Beschluss, eine Verordnung oder ein Kirchengesetz zustande gekommen, bedarf es „nur noch“ der Umsetzung. Der cantus firmus in den Reformbemühungen der vergangenen Jahrzehnte lautete deshalb nicht selten: Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern „nur“ ein Umsetzungsproblem. In der Tat sind grundlegende Beschlüsse gefasst worden, deren Umsetzung oder Wirkung nicht regelmäßig überprüft oder in die jeweilige Organisation implantiert worden ist z.B. durch Fortbildungen, Prozesse der Implementierung oder aufsichtliches Handeln.

Grundlegend für eine lebendige und lernende Organisation ist eine regelmäßige Selbstbeobachtung in verabredeten klaren Zyklen.

Grundlegend für eine lebendige und lernende Organisation ist eine regelmäßige Selbstbeobachtung in verabredeten klaren Zyklen. Damit, dass alle zehn Jahre eine Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung14 durchgeführt wird, ist schon längst ein Controlling-Instrument der regelmäßigen Selbstbeobachtung eingeführt, um auf diese Weise über den Zustand der eigenen Organisation besser Bescheid zu wissen.

Im zyklischen Denken und Handeln wird in regelmäßigen Abständen überprüft, ob die Annahmen und Rahmenbedingungen noch stimmen, ob die Zukunftsbilder noch im Blick sind, ob die eigenen Ziele erreicht werden können oder ob die beschlossenen Maßnahmen und Instrumente dazu nützlich sind, den gewollten Weg erfolgreich zu beschreiten15.

Während ein jährlicher Blick auf die Jahresabschlüsse etabliert ist, werden zunehmend auch weitere Kennzahlen und Indikatoren beschrieben, die dabei helfen, dass jedes Jahr oder alle zwei, drei oder fünf Jahre eine Soll-Ist-Differenz zwischen dem Zukunftsbild, dem Leitbild, der Konzeption mit Zielen und der jeweils wahrgenommenen Wirklichkeit erhoben wird. Damit sind die Grundlagen des Controllings beschrieben und etabliert, die eine lebendige und lernende Organisation benötigt.

Zunehmend werden auch weitere Kennzahlen und Indikatoren beschrieben, die dabei helfen, dass eine Soll-Ist-Differenz zwischen dem Zukunftsbild, dem Leitbild, der Konzeption mit Zielen und der jeweils wahrgenommenen Wirklichkeit erhoben wird.

Es ist unumstritten, dass die finanziellen und personellen Ressourcen der Kirche zurückgehen werden16. Der unveränderliche und überzeitliche Auftrag der Kirche wird also in Zukunft in anderen Formen und auf anderen Wegen in die Welt getragen werden als dies heute der Fall ist. Dies erfordert mutige Entscheidungen über Schwerpunktsetzungen und neue Formen der Kommunikation des Evangeliums. Solche Entscheidungen werden sich nicht an der Vergangenheit, sondern an der Zukunft ausrichten und durch die Leitungsorgane – insbesondere in Klausurtagungen – einer regelmäßigen Selbstbeobachtung unterzogen.

3. Partizipation ergänzt Zuständigkeit – Ambidextrie

Dies geschieht in Zukunft nicht mehr allein durch Entscheidungen von Leitungsgremien und –organen bzw. Zuständigkeitslogiken, sondern in und mit Prozessen, in die in unterschiedlicher Intensität Mitarbeitende, Betroffene oder Interessierte eingebunden werden. Solche Prozesse brauchen einen klaren Auftrag, ein zeitliches Ziel, geklärte Rollen, angemessene Partizipation und prozessorientierte Transparenz. Da jede Veränderung und erst recht eine grundlegende Transformation Verunsicherung und Ängste hervorruft, bedarf es der Partizipation derer, die von den Veränderungen und ihren Folgen betroffen sind. Hierin spiegeln sich ein Menschenbild und Verständnis von Gemeinschaft, das darauf vertraut, dass Gemeindemitglieder, Mitarbeiter*innen und andere Betroffene viele Gaben einbringen und ihre Kompetenzen zur Verfügung stellen, um einen guten Weg in die Zukunft zu finden. Der Heilige Geist fühlt sich im Plural durchaus wohl.

Die Gestaltung und Verantwortung von Organisationen durch Beteiligungsprozesse braucht Zeit und ein gutes methodisches Handwerkszeug wie Großgruppenmethoden, World Cafe, Art of hosting17, Circle18 usw., in denen deutlich ist, dass der Gastgeber/die Gastgeberin insbesondere für den Diskursraum in den Prozessen verantwortlich ist, auf die Kreativität und auf die Kompetenz der Teilnehmenden vertraut.

Partizipative Praktiken, agile Praktiken und gut strukturierte Prozesse ergänzen in der Praxis von kirchlichen Organisationen die traditionellen Abläufe, Zuständigkeiten, Hierarchien und Arbeitsweisen; sie ersetzen sie nicht.

„Partizipative Verfahren sind nicht nur aufwendig. Sie bedeuten auch einen grundlegenden Kulturwandel… Partizipationsprozesse erzielen passgenauere, effizientere Lösungen. Der Widerstand gegen die Umsetzung wird vermindert. Die Bereitschaft wächst, konstruktiv mit Umsetzungsschwierigkeiten umzugehen. … Menschen, die beteiligt wurden, sagen: Das ist unser Gemeindehaus, unsere neue Struktur, unser Leitbild.“19

Partizipative Praktiken, agile Praktiken und gut strukturierte Prozesse ergänzen in der Praxis von kirchlichen Organisationen die traditionellen Abläufe, Zuständigkeiten, Hierarchien und Arbeitsweisen; sie ersetzen sie nicht. Gerade Phasen von Transformation benötigen eine gute Stabilität im Kern einer Organisation. Die Herausforderung besteht darin, beides für die jeweiligen Aufgaben und Anforderungen zu beherrschen und die Kunst der Ambidextrie/Beidhändigkeit zu erlernen. „Eine zukunftsfähige Kirche braucht sowohl die Pflege der Tradition als auch die Entwicklung neuer Konzepte. Um beides zu können, ist es nötig, widersprüchliche Logiken und Haltungen gleichzeitig zu bedienen.“20 So können wir in zwei Betriebssystemen21 gleichzeitig handeln und die Transformation in unruhiger Zeit gestalten.

4. Rolle(n) statt Position oder Amt

Eine weitere grundlegende Veränderung auf dem Weg zu einer Organisation, die sich in komplexen Herausforderungen weiter entwickeln kann, betrifft die leitenden Personen und Führungskräfte, die in diesen unübersichtlichen Herausforderungen handeln und handeln müssen. Ebenso wie in vielen Organisationen außerhalb von Kirche vollzieht sich ein Paradigmenwechsel im Führungsverständnis. Führungskräfte von der Pfarrerin bis zum Bischof, der Einrichtungsleitung bis zum Vorstand diakonischer Unternehmen, die einem zurückliegenden „heroischen“ Führungsverständnis nahestanden, machten das Gelingen organisationaler Prozesse einzig und allein von ihrem individuellen Handeln, ihrer Persönlichkeit und ihren besonderen Fähigkeiten abhängig22.  Inzwischen ist zum einen die hierin angelegte individuelle Überforderung für die Akteurinnen und Akteure in Leitungsaufgaben deutlich geworden, aber ebenso ist eine veränderte theologisch-geistliche Grundhaltung gewachsen, die eine Leitungsaufgabe als eine kommunikative, dienende und gemeinschaftliche Aufgabe wahrnimmt und gestalten will. Wir erleben einen Paradigmenwechsel von der „Position“ oder vom „Amt“ hin zu einer angemessenen Wahrnehmung von unterschiedlichen, geklärten und bewusst wahrgenommenen Rollen in komplexen Bezügen23.

Wir erleben einen Paradigmenwechsel von der „Position“ oder vom „Amt“ hin zu einer angemessenen Wahrnehmung von unterschiedlichen, geklärten und bewusst wahrgenommenen Rollen in komplexen Bezügen.

Soziale Systeme und lebendige Organisationen sind wesentlich durch Interaktion und Kommunikation gestaltet. Eine Kernaufgabe von Führungskräften in Kirche liegt aktuell darin, Kommunikationsprozesse so zu strukturieren, dass die breit verteilte Expertise (Gaben und Kompetenzen) der Organisation hinreichend mobilisiert und gleichzeitig ein erarbeitetes Entscheidungsergebnis durch den Prozess gute Akzeptanz erfährt.24

Es ist deutlich, dass für die disponierende Seite25 des kirchlichen Leitungshandelns viel stärker als in der Vergangenheit moderierende, fokussierende und coachende Fähigkeiten gefragt sind. In besonderer Weise ist dies bereits auf der mittleren kirchlichen Leitungsebene (Dekanin, Superintendent, Pröpstin) sichtbar. Die vielfältigen und komplexen Anforderungen an die Führungskräfte auf dieser Ebene sind dadurch gesteigert, dass in der „Mitte“ die aktuellen und zukünftigen strukturellen Veränderungen angeregt, eingeleitet, umgesetzt und begleitet werden müssen. Sowohl aus aktuellen Untersuchungen26 als auch durch einen Blick in die Kirchenverfassungen ist abzulesen, dass sich die Grundaufgaben dieser ephoralen Ämter deutlich ergänzt haben: um Aufgaben der Personalführung und Personalentwicklung, Gestaltung von Veränderungen, Begleitung und Deutung von Prozessen, Kommunikation und Moderation in Konflikten usw.

Das neue Profil („die Organisation in die Zukunft führen und das Personal gut begleiten“) hat das Leitungsamt der mittleren kirchlichen Ebene in seinem Selbstverständnis deutlich erweitert und die Anforderungen an die Personen, die diese Aufgaben wahrnehmen, ebenso. In nahezu allen Landeskirchen finden sich aktuell ähnliche Leitvorstellungen wie Einbeziehung der Beteiligten, Gestaltung gelingender Prozesse, empathische Kommunikation, Förderung der ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitenden, kompetente Bearbeitung von Konflikten, theologische Orientierung in Veränderungsprozessen.27 Eine kommunikative, Prozesse gestaltende und coachende Rolle verändert so das „alte“ Amt.

5. Gemeinsam statt einsam: Führung ist Mannschaftssport

Aus diesen Einsichten – insbesondere aus der Einsicht, dass die Aufgabe der Zukunftsgestaltung eine Kommunikationsaufgabe möglichst vieler Akteurinnen und Akteure ist – folgt unmittelbar die Einsicht, dass Führungsaufgaben von mehreren Personen wahrgenommen werden sollen und können.

“Führung in der Kirche ist keine Einzeldisziplin, sondern ein Mannschaftssport.”

Hierzu führen auch die zunehmende Komplexität sowie die steigenden Anforderungen an Führungskräfte in ökonomischer, rechtlicher, fachlicher und kommunikativer Hinsicht. Die Vielfalt der Anforderungen und Rationalitäten, die das Handeln in Unsicherheit und Komplexität erfordert, führt zum Gedanken der Arbeits- und Aufgabenteilung in Führungskoalitionen. Führung in der Kirche ist keine Einzeldisziplin, sondern ein Mannschaftssport. Diese Einsicht hat in der evangelischen Kirche eine lange Geschichte. Und trotzdem ist es relativ neu, im (multiprofessionellen) Team abgestimmt zu arbeiten, zu leiten, einander zu entlasten, gaben- und kompetenzorientiert zu agieren und gemeinsam die aktuelle Transformation zu verantworten.

6. Bleibende Konzentration auf den Auftrag: Warum gibt es uns?

In der aktuellen Transformation geht es nicht um das Bewahren oder Verändern von Aufgaben oder Grenzen, es geht auch nicht in erster Linie um Befugnisse kirchlicher Ebenen oder um die Frage nach dem Verhältnis und dem Einfluss von Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen.

In dieser grundlegenden Transformation geht es im Kern um den Kern des Auftrags der Kirche! Wie kann dieser Auftrag in einer sich verändernden Welt so wahrgenommen werden, dass die befreiende und tröstende Kraft des Glaubens die Menschen erreichen kann.

Die Kirche ist in keinem Fall und nirgendwo Selbstzweck und nur für sich selbst da.

Es geht um die Mitte, um den Grund, um das Warum. Die Kirche ist in keinem Fall und nirgendwo Selbstzweck und nur für sich selbst da. Sie ist immer bestimmt durch ihren Auftrag: Gottes Wort von der Liebe und von der Befreiung kommt zu den Menschen in Wort und Tat, damit Menschen gut leben und getröstet sterben können.

Es ist die zentrale Führungsaufgabe in der Kirche in all ihren Gliederungen und auf allen Ebenen, dafür zu sorgen, dass dies durch die angemessene Sozialgestalt der Organisation mit den vorhandenen Ressourcen durch die handelnden Personen auch geschehen kann.

Der Auftrag bleibt – die Gestalt wandelt sich. Diese Mitte, dieser unveränderliche Auftrag der Kirche entspringt dem Glauben an den Auferstandenen, der seine Wirklichkeit in dieser Welt lebendig macht. An erster Stelle ist es das Wirken Gottes durch den Heiligen Geist, der Menschen verändert und zum Glauben ruft und so die Kirche hervorbringt. Sie kann nicht von Menschen durch noch so viel Kraft, Mühe und Organisation „gemacht“ werden. Das ist grundlegend für das evangelische Kirchenverständnis. Darüber, dass dieses Bemühen Glauben findet, verfügt die Kirche nicht selbst.

Aber ebenso und zugleich gehört es zur Führungsverantwortung in der Kirche, dass die Botschaft des Glaubens glaubwürdig geschieht und dass die Botschaft des Glaubens in einer Form geschieht, die der Botschaft entspricht und nach Möglichkeit auch „alles Volk“28 äußerlich erreicht.

„Zu den wichtigsten und schwierigsten Differenzierungen der Theologie gehört eben die Unterscheidung von dem, was Sache Gottes ist (opus dei), und dem, was Sache des Menschen ist (opus hominum). Entscheidend ist dabei, dass beides nicht ‚komplementär‘, also auf einer Ebene gedacht wird, sodass Gottes Wirken das menschliche Wirken begrenzt. Vielmehr ist das Verhältnis ‚kategorial‘ zu verstehen: Gottes Wirken macht menschliches Wirken erst möglich – und gewinnt zugleich in ihm Gestalt.“29

Kirche ist eben auch lebendige Organisation, damit Gottes Geist die Menschen berührt.

Die Kirche ist Gabe, bevor sie Aufgabe wird. Aber sie ist eben zugleich Aufgabe des menschlichen Handelns, das nach Gott und seinen Weisungen fragt: im Hören auf sein Wort, im Austausch der Gemeinschaft, im Hören auf die Menschen, im Vertrauen auf Gottes Gegenwart in dieser Welt.

So ist die Kirche eben auch lebendige Organisation, damit Gottes Geist die Menschen berührt. So bleiben Handeln aus einer Zukunftsperspektive, Partizipation und zielorientiertes Management zur Gestaltung der evangelischen Kirche notwendig. Aber dies ist grundsätzlich „nur eine Angelegenheit von begrenzter Reichweite“30, weil alles menschliche Tun in Gottes Wirken eingebunden ist und dadurch ermöglicht wird. Der Halt des Gottvertrauens prägt die Haltung und das Verhalten.

Wandelnde Pfade, Schatten und Licht. Alles ist Gnade. Fürchte Dich nicht.
(baltischer Hausspruch)

  1. Engagement und Indifferenz, Kirchenmitgliedschaft und soziale Praxis, V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014, 128
  2. Kirche im Umbruch, 2019
  3. u.a. Kirche der Freiheit, 2006 (EKD); Salz der Erde, 2007 (EKBO); Kirche mit Zukunft, 2000 (EKvW)
  4. z.B. Zukunftskongresse, Werkstatt-Tage usw.
  5. vgl. die grundlegende Unterscheidung von Verbesserung/Optimierung und Erneuerung in Rüegg-Stürm, St.-Galler Management-Modell, 80-87 „Wenn Menschen im Anschluss an eine Veränderung das eigene Aufgabenfeld leicht wiedererkennen können, liegt Optimierung vor. Wenn es dagegen vergleichsweise schwer fällt, die gewachsene und vertraute Wirklichkeit wiederzuerkennen, dann liegt gewissermaßen eine Bruchstelle vor, ab der die herkömmlichen Denk- und Prozessmuster eine grundlegend neue Form, eine neue Qualität angenommen haben.“ (S. 84)
  6. Pohl-Patalong, Kirche gestalten, 35
  7. vgl. Beschreibung als VUCA-Welt: volatility, uncertainty, complexity, ambiguity
  8. „Das Wesen von Komplexität besteht gerade darin, dass Ordnung jeglicher Art verloren geht und Unübersichtlichkeit dominiert.“ s.o. Höver S. 5; vgl. auch Hartmann, Knieling, Gemeinde, S. 31 („Aus der Komplexitätsforschung“)
  9. Pohl-Patalong, Kirche gestalten, 27
  10. vgl. Sinek, Frag immer erst: Warum
  11. vgl. u.a. Gut beraten, Handbuch zur Erstellung von Gemeindekonzeptionen, Dortmund, o.J.
  12. Rüegg-Stürm, St. Galler Management-Modell, S. 80-87
  13. Vgl. Pohl-Patalong, Ortsgemeinde; Herbst/Pompe, Regiolokale Kirchenentwicklung
  14. Von „Wie stabil ist die Kirche“ 1974 bis „Engagement und Indifferenz“ 2014
  15. Als Modell dargestellt in der „osb-Strategieschleife“: https://www.osb-i.com/de/leistungen/strategie-organisation/stories/strategie/; Nagel, Lust auf Strategie, 22
  16. Kirche im Umbruch; Kirche der Freiheit, 21 ff
  17. vgl. www.artofhosting.org
  18. Baldwin, Linea, Circle: Die Kraft des Kreises, 2014
  19. Martin Schwarz, Neue Formen der Partizipation, 27
  20. Christopher Scholtz, Ambidextrie: Mit „beiden Händen“ in die Veränderung der Kirche, 7. Kongress für Personalentwicklung in der Kirche, Workshop 2, Juni 2021
  21. John Kotter, Die Kraft der zwei Systeme
  22. vgl. hierzu Hendrik Höver, Wirksam entscheiden
  23. vgl. Hermelink, Kirche leiten in Person
  24. vgl. Höver, Wirksam Entscheiden
  25. Preul, Kirchentheorie, S. 6
  26. Erfahrung – Entscheidung – Verantwortung, Auswertungen der Befragung der mittleren Leitungsebene der Evangelischen Kirche Deutschlands, 2017; Kirche in Vielfalt führen. Eine Kulturanalyse der mittleren Leitungsebene der evangelischen Kirche mit Kommentierungen, Hannover, 2017; vgl. auch Weymann/Hahn, Die Superintendentur ist anders, 2006
  27. Erfahrung – Entscheidung –Verantwortung S. 21
  28. Barmer Theologische Erklärung IV
  29. Thorsten Latzel, „Geistliche Leiten“ – Versuch einer Begriffsschärfung, in: epd-Dokumentationen 6/2012 (Geistlich Leiten – ein Impuls), 10.
  30. Michael Nüchtern, Kirche evangelisch gestalten, 11; auch: Herbert Lindner, Roland Herpich, Kirche am Ort und in der Region. Grundlagen, Instrumente und Beispiele einer Kirchenkreisentwicklung, Stuttgart 2010, 13ff.

Literatur:

  • Baldwin, Christina; Linea, Ann, Circle: Die Kraft des Kreises, Gespräche und Meetings inspirierend, schöpferisch und effektiv gestalten, Weinheim/Basel, 2014
  • Engagement und Indifferenz, Kirchenmitgliedschaft in sozialer Praxis, V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover, 2014
  • Erfahrung – Entscheidung – Verantwortung, Auswertungen der Befragung der mittleren Leitungsebene der Evangelischen Kirche Deutschlands, 2017
  • Gut beraten, Handbuch zur Erstellung von Gemeindekonzeptionen, Dortmund, o.J.
  • Hartmann, Isabel; Knieling, Reiner, Gemeinde neu denken, Geistliche Orientierung in wachsender Komplexität, Gütersloh, 2014
  • Herbst, Michael; Pompe, Hans-Hermann, Regiolokale Kirchenentwicklung. Wie Gemeinden vom nebeneinander zum Miteinander kommen können, ZMiR Klartext, Dortmund, 2017
  • Hermelink, Jan, Kirche leiten in Person, Beiträge zu einer evangelischen Pastoraltheologie, Arbeiten zur Praktischen Theologie Band 54, Leipzig, 2014
  • Hild, Helmut (Hrsg.), Wie stabil ist die Kirche? Bestand und Erneuerung, Gelnhausen, Berlin, 1974
  • Höver, Hendrik, Wirksam entscheiden, Handbuch für Führungskräfte in der Sozialwirtschaft, Stuttgart, 2018
  • Kirche der Freiheit, Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert, Ein Impulspapier des Rates der EKD, Hannover, 2006
  • Kirche im Umbruch, Zwischen demographischem Wandel und nachlassender Kirchenverbundenheit. Eine langfristige Projektion der Kirchenmitglieder und es Kirchensteueraufkommens der Universität Freiburg in Verbindung mit der EKD, Hannover, 2019
  • Kotter, John P., Die Kraft der zwei Systeme, in: Harvard Business Manager, Dezember 2012, S. 2-15
  • Latzel, Thorsten, „Geistliche Leiten“ – Versuch einer Begriffsschärfung, in: epd-Dokumentationen 6/2012 (Geistlich Leiten – ein Impuls)
  • Lindner, Herbert; Herpich, Roland, Kirche am Ort und in der Region. Grundlagen, Instrumente und Beispiele einer Kirchenkreisentwicklung, Stuttgart 2010
  • Nagel, Reinhard; Lust auf Strategie, Workbook zur systemischen Strategieentwicklung, Stuttgart, 2014
  • Nierop, Jantine; Mantei, Simone; Schrudner, Martina (Hrsg.), Kirche in Vielfalt führen. Eine Kulturanalyse der mittleren Leitungsebene der evangelischen Kirche mit Kommentierungen, Hannover, 2017
  • Nüchtern, Michael, Kirche evangelisch gestalten, Münster, 2008
  • Pohl-Patalong, Uta, Kriche gestalten, Wie die Zukunft gelingen kann, Gütersloh, 2021
  • Pohl-Patalong, Uta, Ortsgemeinde und übergemeindliche Arbeit im Konflikt. Eine Analyse der Argumentation und ein alternatives Modell, Göttingen, 2003
  • Preul, Reiner, Kirchentheorie, Wesen, Gestalt und Funktionen der evangelischen Kirche, Berlin, 1997
  • Rüegg-Stürm, Johannes, Das neue St. Galler Management-Modell, Grundkategorien einer integrierten Managementlehre, 2003
  • Schramm, Steffen, Kirche als Organisation gestalten, Kybernetische Analysen und Konzepte zu Struktur und Leitung evangelischer Landeskirchen, Berlin, 2015
  • Schwarz, Martin, Neue Formen der Partizipation für die Kirche – Veränderungsprozesse als Beteiligung gestalten, in: Zeitschrift für Organisationsentwicklung und Gemeindeberatung 22, Juni 2022, S. 24-27
  • Simon Sinek, Frag immer erst: Warum, Wie Führungskräfte zum Erfolg inspirieren, München, 2019
  • Weymann, Volker; Hahn, Udo (Hrsg.), Die Superintendentur ist anders, Strukturwandel und Profil des ephoralen Amtes, Hannover, 2006

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