022022

Konzept

Dorothea Sattler

Die “nächste Kirche” ist die “letzte”

Theologisch motivierte Erinnerung an die Zukunft

Vorbemerkungen

Es gibt von Erich Fried1 eine dichterisch verdichtete Sinnbestimmung des prophetischen Handelns, die – in Abgrenzung von einem verbreiteten Vorverständnis – diesen Dienst nicht als eine Vorhersage, sondern als eine Erinnerung versteht:

Ein Prophet

Dieser Narr
erinnert sich
an die Zukunft

Mit seinem Auge
das verfinstert ist
vor der Nacht

Mit seinem Ohr
das nicht mehr hört
vor dem Schweigen

Mit seinem Hirn
das verbrennt
vor dem Feuer

Mit seinem Schrei

Immer ist die „letzte“ Form anzustreben, die bleibende, die bewährte, die sinngestiftete … Die Kirche soll in jeder Zeit Gottes ewigen Ansprüchen an sie genügen.

Narren sind in einer Gemeinschaft fremd erscheinende Gestalten, die auf sich aufmerksam machen möchten, weil sie Anliegen haben, die sonst übersehen werden könnten. In diesem Sinne möchte ich hier einen prophetischen Narrendienst tun und mit einem Schrei beginnen: Die „nächste“ Kirche ist die „letzte“! Ich verstehe diese Aussage – bewusst mehrdeutig – so: Aus theologischer Perspektive gibt es nicht die Möglichkeit, eine nummerisch bestimmte Reihung von aufeinander folgenden Kirchen vorzunehmen; es gibt keine „nächste“ Kirche, die die bestehende(n) ablösen könnte; immer trägt die „nächste“ Kirche die Spuren der „letzten“ an sich. Darüber hinaus steht jede Kirchenzeit unter präsentisch-eschatologischem Vorzeichen: Immer ist die „letzte“ Form anzustreben, die bleibende, die bewährte, die sinngestiftete; die Rede vom „Letzten“ meint niemals eine Zeitangabe, sie intendiert vielmehr immer einen qualitativen Anspruch, der sich aus dem Wesen einer religiös begründeten Institution ergibt: die Kirche soll in jeder Zeit Gottes ewigen Ansprüchen an sie genügen. Da dies offenkundig im Blick auf die heute real existierende Römisch-katholische Kirche angesichts der Formen ihrer systemisch begründeten Schuldverstrickung in erschreckender Weise nicht zutrifft, ist für viele Menschen ihre Kirche „die letzte“, in der sie bis zu ihrem Austritt noch verblieben waren.

Da dies offenkundig im Blick auf die heute real existierende Römisch-katholische Kirche angesichts der Formen ihrer systemisch begründeten Schuldverstrickung in erschreckender Weise nicht zutrifft, ist für viele Menschen ihre Kirche „die letzte“, in der sie bis zu ihrem Austritt noch verblieben waren.

Ich greife im Fortgang Aspekte auf, die zu bedenken, das Redaktionsteam mich gebeten hat. Sie sind gedanklich nur lose miteinander verbunden, lassen sich jedoch im Grundduktus mit einem Weg von der Erinnerung in die Erwartung in Verbindung bringen.

Heilsame Desillusionierungen auf den Wegen mit Gott

Die Geschichte der Menschheit mit Gott ist von Beginn an ernüchternd: Gott schenkt selbstlos paradiesisches Leben und bald schon geht es verloren: Adam und Eva achten Gottes Verbot nicht und überschreiten die gesetzten Grenzen; Kain ermordet den Bruder Abel, weil Gott dessen Opfergabe bevorzugt; das Böse wird immer mächtiger, die Türme sollen bis in den Himmel reichen. Die Erzählungen von den Sünden in der „Urzeit“ (vgl. Gen 3-11) sind keine historischen Berichte: Niemand der genannten Personen hat je gelebt. Die Urgeschichten erzählen davon, was niemals war und immer ist, Allmaliges als Erstmaliges: Misstrauen, Neid, Gewaltbereitschaft, Angst und Hochmut sind Phänomene, die ihren Grund im Menschen haben und im Generationenzusammenhang systemisch immer komplexer werden. Und so geht es weiter – in allen Epochen in der Geschichte von Israel: Patriarchen schicken ihre Frauen in die Wüste, Brüder verkaufen sich wechselseitig, Kriege werden geführt, Feinde getötet, falsches Zeugnis gegeben und Ehebruch begangen.

Jesus erleidet das Geschick eines gottesfürchtigen Gerechten: Er wird getötet.

Zwei Wahrnehmungen schmerzen Menschen in biblischer Zeit besonders: Es gibt unschuldig leidende Menschen wie Ijob, und die gottesfürchtigen Gerechten werden zu Tode gequält. Es gibt keinen einsichtigen Zusammenhang zwischen Tun und Ergehen. Es gibt kein verlässliches Glück in irdischer Zeit. Zudem ist die Natur unbeherrschbar, kein Mensch kann alle Tiere ernähren und den Wolken die Wege weisen. In seinen Reden nimmt Jesus Bezug auf diese Wahrnehmungen und wendet sie ins Positive: Gott sorgt für Pflanzen, Tiere und Menschen. Jesus teilt das Geschick der unerhört gebliebenen Gotteskünder: Seine Mahnreden und Rufe zur Umkehr verhallen; sein Leben mit großer Freude an den Gütern des Daseins weckt Argwohn; seine gelebte Feindesliebe wirkt überfordernd. Jesus erleidet das Geschick eines gottesfürchtigen Gerechten: Er wird getötet.

Einschnitte und Reformen

Aus christlicher Sicht beginnt jede Reform mit dem Geschehen an Pfingsten: Die aus Angst vor der Gefährdung des eigenen Lebens sich verbergenden Jüngerinnen und Jünger erfahren eine Wende durch das unvorhersehbare Wehen des Geistes Gottes: Sie werden mutig, fürchten nicht mehr das Martyrium, verstehen jede menschliche Sprache. Petrus, der verheiratete Fischer, geht auf die Straße und bekennt sich zu Jesus Christus, dem Lebendigen, dem Auferstandenen. Diesem Einschnitt, dieser Zäsur geht auf der erzählerischen Ebene die Himmelfahrt Jesu Christi voraus: Bis heute ist der auferstandene Christus nicht mehr erschienen. Sein Geist wirkt – und Menschen sind darauf angewiesen, zwischen Gottes Geist und dem eigenen Geist zu unterscheiden.

Aus christlicher Sicht beginnt jede Reform mit dem Geschehen an Pfingsten.

Paulus ist als Missionar und als Theologe für den Beginn des Christentums von unermesslicher Bedeutung. Er hat den Einschnitt – den Eigenstand dem Judentum gegenüber – theologisch begründet: Entscheidend bei seiner Wende zum christlichen Bekenntnis ist die Einsicht, dass kein Mensch das gesamte Gesetz, das in sich eine gute Weisung Gottes ist und bleibt, vollständig immer halten kann: Alle Menschen sündigen und sind auf Gottes Barmherzigkeit angewiesen. Alle Menschen leben, weil Gott barmherzig ist. Niemand darf sich über Andere erheben; alle sind gleich in der Verlorenheit der Schuldverstrickung, die in den Tod führte, wäre Gott nicht langmütig, gütig und reich an Huld und Treue.

Paulus hat seine theologische Überzeugung von der barmherzigen Liebe Gottes, nicht nur in seinen Briefen immer wieder aus konkretem Anlass begründet, er hat auch gelebt, was er verkündigt hat. Er ermutigte zu Entgrenzungen: „Denn alle seid ihr durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich, denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“ (Gal 3,26-28). Jesus hat die Reform des jüdischen Gottesvolks im Sinn gehabt; nur wenige haben sich ihm angeschlossen. Paulus hat den Schnitt vollzogen – mit dankbarer Erinnerung an seine jüdische Herkunft.

Paulus … ermutigte zu Entgrenzungen: „Denn alle seid ihr durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus … Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich, denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“ (Gal 3,26-28)

Hoffnungsbilder

Das große Hoffnungsbild der biblisch orientierten Glaubenden ist Gott in seinem Handeln, das nur in Ausschnitten geschaut werden kann. Von dem barmherzigen Handeln Gottes ist Vieles in den biblischen Schriften erzählt: Gott bekleidet die nackten ersten Menschen mit Fellen; er schützt den Mörder Kain; er lässt je zwei Tiere in die Arche; Haga und Ishmael überleben in der Wüste; der ehebrüchige David und Batseba sind die Eltern von Salomo; Israel darf heimkehren aus Babylon; wer die gottesfürchtigen Gerechten tötet, kommt vor Gericht; Jesus Christus ist auferstanden. Immer ist es Gott, der das geschenkte Leben nicht verloren gibt.

Die Bibel erzählt in Bildern, die der gegenwärtigen Wirklichkeit entnommen sind, von den „letzten“ Ereignissen, die in der Gegenwart bereits beginnen (vgl. Jes 60-66). Metaphern sind dazu da, sie in ein Gespräch zu bringen: Erhofft wird eine gelingende Gemeinschaft in Verbindung mit einem Mahl in guter, aufrichtender, tröstlicher Kommunikation. Geschaut wird eine Stadt, die vor den Feinden geschützt ist und Lebensmöglichkeiten eröffnet. Das Paradies – der umzäunte, geschützte Garten – wird von den Liebenden neu erobert (vgl. Hld). Bäume blühen mehrfach im Jahr (vgl. Offb 22,2).

Die biblischen Hoffnungsbilder sind nicht ohne Zusammenhang: Sie lassen Situationen vor Augen erscheinen, in denen Menschen bis heute zumindest anfanghaft in unbedrohter und froher Gemeinschaft miteinander leben und Freude am Dasein haben. Dies zu leben, ist Aufgabe der nächsten und der letzten Kirche.

Die biblischen Hoffnungsbilder sind nicht ohne Zusammenhang: Sie lassen Situationen vor Augen erscheinen, in denen Menschen bis heute zumindest anfanghaft in unbedrohter und froher Gemeinschaft miteinander leben und Freude am Dasein haben. Dies zu leben, ist Aufgabe der nächsten und der letzten Kirche.

Diagnosen und Therapien

Die Kirchen in dieser irdischen Zeit bereiten keinem Menschen ein Paradies. Dies geht vom Grundansatz aus auch nicht. Immer wird es eine auch systemisch bedingte Schuldverstrickung geben – nicht nur in den Kirchen – in jeder Gesellschaft. Die Kirchen stehen dabei unter besonderer Beobachtung – aus guten Gründen. Sie erheben einen hohen ethischen Anspruch und sollten ihn einlösen in der gelebten Wirklichkeit. Die Hoffnungsbilder bleiben Bilder der Hoffnung – und erhoffen lässt sich redlich nur das, was selbst aus eigenen Kräften nicht erreicht werden kann.

In welche Welt sind die Kirchen derzeit gestellt: Kriege sind ausgebrochen; getaufte Menschen sterben durch die Hand von Getauften. Lange schon bedroht der Hunger das Leben vieler Menschen. Kinder werden in den Medien und in Briefen gezeigt – die Erinnerung an sie möge zur Spende motivieren – ja, bitte, bitte! Die Bildungswege sind für Männer und Frauen weltweit sehr unterschiedlich. Die Lebensmöglichkeiten der künftigen Generationen sind weltweit aufgrund der Klimakrise gefährdet. Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Frage nach Diensten und Ämtern von Frauen in der Kirche? Haben wir nicht andere Sorgen weltweit?

Angesichts der Komplexität der Lebenswirklichkeiten hat die Kirche weltweit nur die Möglichkeit, auf synodalen Wegen möglichst mit vielen im Gespräch zu sein – und den Worten Taten folgen zu lassen, auch wenn es schmerzt im Blick auf den eigenen Wohlstand.

Wer könnte je beanspruchen, heute die Lösung auf alle Fragen der Menschen weltweit zu haben? Niemand wird dies beanspruchen können! Es darf jedoch von der Kirche erwartet werden, dass sie sich mehr anstrengt, damit für einzelne Menschen in der Nähe rasch Hilfe zum Überleben organisiert wird. Die Fragen nach den politischen Zusammenhängen und den systemischen Verstrickungen verbleiben dabei dennoch. Sie sollten nicht der Anlass sein, konkrete Hilfe zu verweigern. Ist es nicht so: Angesichts der Komplexität der Lebenswirklichkeiten hat die Kirche weltweit nur die Möglichkeit, auf synodalen Wegen möglichst mit vielen im Gespräch zu sein – und den Worten Taten folgen zu lassen, auch wenn es schmerzt im Blick auf den eigenen Wohlstand.

Besinnung auf das Wesentliche

Das Christentum hat seinen Ursprung in der befreienden Botschaft, die Gott in Jesus von Nazareth verkündigt hat, und die in Gottes Geist in Zeit und Geschichte gegenwärtig bleibt. Ich fasse inhaltlich das Kriterium für diese Treue zum apostolischen Ursprung in der Rede vom menschlichen Zeugnis für Gottes Versöhnungsbereitschaft trotz aller Sünde zusammen. Gott bewahrt der sündigen Schöpfung seine barmherzige Beziehungswilligkeit. Sünde und Tod können ihre zerstörerische Macht dort nicht entfalten, wo Gott als Quelle der Versöhnung und des unverlierbaren Lebens erfahren wird. Menschen, die in den apostolischen Dienst berufen werden, haben dies mit Wort und Tat zu verkündigen.

Das Christentum hat seinen Ursprung in der befreienden Botschaft, die Gott in Jesus von Nazareth verkündigt hat, und die in Gottes Geist in Zeit und Geschichte gegenwärtig bleibt.

Spirituelle Erfahrungen sind mit Bewusstsein erfasste Geschehnisse, in denen Menschen in der Kraft der Gegenwart des Geistes Gottes an die Tiefen ihrer Daseinsfragen herangeführt werden und eine vertrauenswürdige, gläubige Antwort erkennen und ergreifen können. Spiritualität ist der in Gottes Begleitung geschehende Weg zum Grund des je ganz eigenen Lebenslaufes, der sich in der Gemeinschaft der Mitgeschöpfe vollzieht. Dieser geistliche Weg kann eine unterschiedliche äußere Gestalt haben: stilles Hören, drängendes Flehen, ausdauerndes Singen, mutiges Handeln, zeichenhafte Gebärden, offene Gespräche. Wer jemals erfahren hat, dass andere Menschen jener Antwort, die sie selbst auf die gemeinsamen Lebensfragen gefunden haben, in glaubwürdiger und ansprechender Weise Ausdruck verleihen können, der wird sich dem Reiz des geistlichen Miteinanders nicht mehr entziehen wollen. Das Leben lässt viel zu wünschen übrig. Gemeinsam fällt es leichter, sich in die Dunkelheiten des Daseins zu begeben, den unausweichlichen Tod und die belastende Sünde zu bedenken. Nur in Gemeinschaft lässt sich das Licht des Vertrauens auf den Gott des Lebens hüten.

Rolle der Theologie

Jeder Mensch ist angenommen und bejaht von Gott trotz aller Sünde und vor jeder Leistung. Niemand ist aufgrund einer Tat je verloren. Es gibt immer Perspektiven. Niemand ist je allein. Alle Charismen sind willkommen. Die Versöhnung aller mit allen ist möglich. Jeder Dienst und jedes Amt sind diesem Ziel zugeordnet. Autorität hat allein die Liebe.

Wir leben angesichts der weltweiten Reformprozesse in den Kirchen erneut in einem spannenden Zeitalter. Viele erkennen die Dringlichkeit, manche wollen eher abwarten, nicht wenige denken mit und bringen ihre Erfahrungen ein. Drei Aufgabe sind in diesem Gesamtgeschehen der Theologie eigen: Sie hat Zusammenhänge zu erschließen, Orientierung zu geben und die Qualität der Argumentation anzumahnen.

Von Herzen wünsche ich, dass die „letzte“ Kirche die „nächste“ sei: Bald schon ersichtlich wird in der Zeit – präsentisch-eschatologisch – welche Hoffnung wir leben: Jeder Mensch ist angenommen und bejaht von Gott trotz aller Sünde und vor jeder Leistung. Niemand ist aufgrund einer Tat je verloren. Es gibt immer Perspektiven. Niemand ist je allein. Alle Charismen sind willkommen. Die Versöhnung aller mit allen ist möglich. Jeder Dienst und jedes Amt sind diesem Ziel zugeordnet. Autorität hat allein die Liebe.

  1. Erich Fried, Warngedichte, Frankfurt 1985, 34.

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