022022

Foto: Christopher Windus/Unsplash

Konzept

Barbara Schmitz

Das Neue denken

Von Systemen unter Druck

Systeme, die unter Druck geraten, werden oftmals nicht weiter, sondern enger. Dies ist eine soziologisch-systemische Beobachtung, die in dieser Ausgabe von futur II ausführlich beschrieben und diskutiert wird. Krisen – insbesondere existentielle – produzieren eine geradezu paradoxe Reaktion: Statt nach kreativen, offenen, ungewöhnlichen Lösungen zu suchen, die dazu angetan wären, um einen Weg aus der Krise zu suchen, wird der Blick verengt, man wird ängstlich und hält am vermeintlich ‚Bisherigen‘, das eigentlich genau in die Krise geführt hat, lieber fest als nach produktiven Lösungen zu suchen. Systeme unter Druck bevorzugen es, den Druck zu erhöhen, anstatt nach Entlastung und Gestaltungsräumen zu suchen. Erstarrung ist das Resultat – eine Situation eingefrorener Handlungsoptionen.

Befände man sich in einer Supervision oder einem Coaching, würde man die Klienten oder das Team fragen, welche Krisen bisher schon erlebt und wie diese produktiv gelöst werden konnten. Ressourcenorientierung, ob persönlich-biographisch, in der Geschichte des Teams oder der Institution, ist das Stichwort, das als hilfreich erlebt wird, um sich aus dem Klammergriff der Krise zu befreien. Es geht darum, Abstand zu gewinnen, Reflexionsräume zu schaffen und so die Perspektive zu erweitern, um eingefrorene Handlungsoptionen aufzutauen und wieder aktiv in die Gestaltung zu kommen.

Bietet die Bibel Perspektiven, Ideen, Ansätze des ‚Neuen‘, mit denen man kreativ auf Krisen und Systeme unter Druck blicken könnte?

Bei der Frage nach den Ressourcen von Kirche als Institution und von Theologie als Reflexionsraum ist gemäß dem Selbstverständnis kirchlicher Lehre die Heilige Schrift als normative Größe eingeschrieben. In der Tat bieten die biblischen Schriften einen Orientierungsrahmen, der gerade deswegen als Ressourcenreservoir gehoben werden kann, weil die Texte selbst in historischen Situationen entstanden sind, auf deren Herausforderungen sie versuchen zu reagieren. Um biblische Texte mit ihren spezifischen Sinnspitzen zu verstehen, reicht es daher nicht aus, diese isoliert zu betrachten, vielmehr sind sie historisch zu kontextualisieren und aus den zeitgenössischen Diskursen zu verstehen.

Die Frage also ist: Bietet die Bibel Perspektiven, Ideen, Ansätze des ‚Neuen‘, mit denen man kreativ auf Krisen und Systeme unter Druck blicken könnte?

Dass das ‚Neue‘ gefährlich ist, weil es unerprobt ist und man etwas wagen müsste, das war in der Antike allgemeine Überzeugung. Besser war immer das Alte, weil es systemstabilisierend als das Erprobte und Bekannte galt. Nichtsdestotrotz findet sich in der biblischen Tradition die Rede vom ‚Neuen‘ ausführlich bei dem Propheten, der mit den Kunstnamen ‚Deuterojesaja‘ oder ‚Jesaja II‘ bezeichnet wird. Unter diesen Begriffen subsumiert man die Kapitel 40-55 des Jesajabuchs, die sich deutlich von den vorhergehenden Kapiteln 1-39 unterscheiden und daher nicht dem Propheten Jesaja zugeschrieben werden können, sondern in der Tradition Jesajas einer späteren prophetischen Stimme zuzuordnen sind. Die historischen Eckdaten, die in den Kapiteln 40-55 enthalten sind, ermöglichen es, diese recht genau, und zwar in die Mitte des 6. Jh. v. Chr. unter persische Herrschaft, zu datieren.

Das Alte war an ein Ende gekommen und es sah nicht so aus, als könne daraus etwas Neues entstehen.

Damit fallen die Texte in eine politisch turbulente und für Israel höchst krisenhafte Zeit, in der sich zwei Krisen überlagern: Zum einen war die politische Großwetterlage von einem imperialen Wechsel geprägt; die Herrschaft der Babylonier wurde von den Persern abgelöst und brachte – wie jeder Systemwechsel – massive Verunsicherungen mit sich. Zum anderen traf diese politische Verschiebung Israel selbst in einer tiefgehenden internen Krise: Wenige Jahrzehnte war der eigene Staat von den Babyloniern mehrfach erobert worden. Damit ging die Deportation weiter Bevölkerungskreise einher, die viele hundert Kilometer weit weg transportiert und in der unbekannten Fremde angesiedelt wurden. Höhepunkt der Erschütterung war, dass auch der Jerusalemer Tempel in einer gezielten Aktion zerstört worden war. Diese Erschütterung war so existentiell und nachhaltig, weil in der Antike Tempel eigentlich nicht zerstört wurden, vielmehr engagierten sich Neueroberer als Förderer der lokalen Kulte. Jedoch genau das Gegenteil war geschehen. Es war eine Niederlage, die alle Bereiche des Lebens umfasste. Das Alte war an ein Ende gekommen und es sah nicht so aus, als könne daraus etwas Neues entstehen. Damit waren gerade die Deportierten intern einem gewissen Druck, hatten sie doch als die alte Mittel- und Oberschicht genau die Verhältnisse mitzuverantworten, die zu den Ereignissen geführt hatten. Die alte (Macht)Elite musste sich buchstäblich mit den Trümmern auseinandersetzen.

In dieser Situation gab es verschiedene Stimmen, die versucht haben, Perspektiven zu entwickeln. Eine davon ist ‚Deuterojesaja‘. Mit ‚Deuterojesaja‘ ist ein neuer Ton zu hören. Ob dieser in der Situation selbst bei der alten Elite mehrheitsfähig war, ist schwer zu beurteilen – aber nicht die ‚alten‘ Stimmen, sondern ‚Deuterojesaja‘ ist bewahrt und erhalten geblieben. Diese Texte sind in die normative Überlieferung eingegangen und haben sich damit als leitend und relevant für die Zeitgenossen ‚Deuterojesajas‘ und die folgende Überlieferung erwiesen.

Diese neuen Dinge sind qualitativ so anders, dass man nicht mehr den früheren Dingen gedenken, sondern sich dem Neuen zuwenden soll.

In der Situation der Krise stimmt ‚Deuterojesaja‘ die ungewohnte Rede vom „neuen Lied“ an: „Singt dem Herrn ein neues Lied“ (Jes 42,10). Kontrafaktisch zum Eingeübten und Gewohnten steht das „Neue“ hier nicht für das, was man ablehnen muss, sondern positiv für genau das, was ansteht und als das, zu dem als neue Handlungsoption aufgerufen wird. Was ‚Deuterojesaja‘ unter „neu“ versteht, ist dem Vers zuvor zu entnehmen: In Jes 42,9 handelt es sich um Gottesrede, der zur Folge das „Neue“ sich von den „früheren Dingen“ als den Dingen, die bisher geschehen sind, abhebt. Dieses „Neue“ lässt Gott – so die Ankündigung – „sprießen“. Mit der aus der Pflanzenwelt entlehnten Metapher wir das „Neue“ nicht nur angekündigt, sondern es soll zugleich immer größer werden, es soll wachsen und gedeihen. Diese neuen Dinge heben sich somit von den Bisherigen nicht nur ab, sondern sind qualitativ so anders, dass man nicht mehr den früheren Dingen gedenken, sondern sich dem Neuen zuwenden soll. Ganz ähnlich wird dieser Gedanke wenige Kapitel später wiederholt (Jes 48,3-6): Hier werden erneut die vergangenen Dinge als zurückliegend und für Gegenwart und Zukunft nicht mehr prägend verstanden. Stattdessen wird das „Neue“ als das von Gott Erwünschte präsentiert: „Von jetzt an lasse ich dich etwas Neues hören, / etwas Verborgenes, von dem du nichts weißt“ (Jes 48,6).

In der Situation der Krise und des gesellschaftlichen wie politischen Umbruchs ist die Rede von dem „Neuen“ zu einer Chiffre des Aufbruchs geworden, mit dem die zeitgenössische Situation reflektiert wurde und so die in ihr liegenden Möglichkeiten und Handlungsoptionen erkannt wurden. Als wenige Jahrzehnte nach der Eroberung Jerusalems, der Zerstörung des Tempels und der Deportation die Herrschaft der Babylonier von den Persern als der neuen, den Alten Orient bis nach Griechenland hin bestimmenden Macht abgelöst worden waren, war die Zeit für neue Perspektiven reif: Anders als für andere Völker der Vorderen Orients sind die Perser als die neuen Herren nicht als Gefahr und neue Krise, sondern auch als Chance verstanden worden. Wie steht es bei ‚Deuterojesaja‘? …man soll ein neues Lied singen!

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