022021

Bonustrack

Philipp Elhaus

Kirche im Erprobungsmodus

1. Zwischen Rückbau, Umbau und Aufbruch

Zurzeit laufen in zahlreichen evangelischen Landeskirchen unterschiedliche Zukunftsprozesse, die jeweils die Balance zwischen dem Rückbau aufgrund schwindender Finanzen, dem entsprechenden Umbau von Strukturen sowie innovativen Aufbrüchen finden müssen. Eine Zusammenstellung und Analyse der aktuellen Prozesse weist auf das kritische Verhältnis von Finanzen und Kirchenentwicklung als Sollbruchstelle hin.1

Neben dem Umbau der kirchlichen Gesamtorganisationen benennen die Zukunftsthesen der EKD aus dem Jahr 2020 noch einen weiteren Weg für die Kirchenentwicklung… ‘mehr Raum für innovative Projekte zu schaffen, neue und ungewöhnliche Wege zuzulassen und kreative Aufbrüche zu ermöglichen’

Neben dem Umbau der kirchlichen Gesamtorganisationen benennen die Zukunftsthesen der EKD aus dem Jahr 2020 noch einen weiteren Weg für die Kirchenentwicklung, der bewusst auf eine zentrale Steuerung verzichtet.2 Es geht darum, „mehr Raum für innovative Projekte zu schaffen, neue und ungewöhnliche Wege zuzulassen und kreative Aufbrüche zu ermöglichen.“ Für befristete Projekte, Erprobungsräume und kreative Experimente sollen Sach- und Personalressourcen bereitgestellt werden. „Geistliches Risikokapital“ in Höhe von ca. 10 Prozent der kirchlichen Haushalte sollen nicht in strukturbildende Maßnahmen einfließen, sondern in entsprechende Projekte, deren Erfahrungen dann über die Verstetigung von erfolgreichen Initiativen zu einem nachhaltigen Strukturwandel beitragen. Punktuelle Experimente, Protopyping und Diffusion in das kirchlichen Regelsystem treten hier neben die strukturellen Zukunftsprozesse der Gesamtorganisation.

Zu beobachten sind die innovativen und experimentellen Dynamiken bereits jetzt u.a. in der wachsenden Pluralität von gemeindlichen Sozialformen innerhalb und jenseits etablierter kirchlicher Strukturen.3 Dazu gehören z.B. auch die pluralen Initiativen der Fresh-X-Bewegung. Gemeinsame Kennzeichen der sehr vielfältigen neuen Formen kirchlichen Lebens sind der konsequente Ausgangspunkt bei Personen und ihren Ressourcen, eine bewusste Musterunterbrechung gegenüber dem kirchlichen Regelsystem wie der Territorialbezug der Parochie, die Orientierung an den jeweiligen Kontexten sowie das Interesse an einer Reichweitenvergrößerung der Kommunikation des Evangeliums. Doch wie lässt sich Unsicherheit als Innovationsfaktor und der fluide Zwischenraum zwischen den unterschiedlichen Formen kirchlichen Lebens als experimenteller Inkubator im Rahmen einer Organisation strukturell und kulturell verankern? Wie kann einerseits der Freiraum zum Experiment vor dem Legitimationsdruck gegenüber dem Regelsystem geschützt und andererseits die Ausstrahlung und Wirkung von innovativen Haltungen und Faktoren aus den explorativen Räumen in die etablierten Strukturen gefördert werden?

Gemeinsame Kennzeichen der sehr vielfältigen neuen Formen kirchlichen Lebens sind der konsequente Ausgangspunkt bei Personen und ihren Ressourcen, eine bewusste Musterunterbrechung gegenüber dem kirchlichen Regelsystem …, die Orientierung an den jeweiligen Kontexten sowie das Interesse an einer Reichweitenvergrößerung der Kommunikation des Evangeliums

2. Im Osten was Neues – Erprobungsräume

An einer Antwort auf diese Frage versuchen sich seit 2015 die Erprobungsräume (EPR) in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM).4 Eine forcierte Säkularität sowie zunehmend dysfunktional werdende volkskirchliche Strukturen für eine Minoritätskirche bilden den Hintergrund des ambitionierten landeskirchlichen Programms, das nicht ohne Grund in einer östlichen Gliedkirche entstanden ist. Das Erproben steht nicht nur im Namen des Gesamtprogramms im Vordergrund, sondern soll auch die Dynamik der zu fördernden Initiativen kennzeichnen: Ausdrückliches Ziel ist es, „neue Gemeindeformen im säkularen Kontext zu erproben.“ Darunter werden auch „ergänzende Gemeindeformen an besonderen Orten, in besonderen Räumen und um besondere Personen verstanden“5. Die Bedeutung der exemplarischen Initiativen für die Entwicklung der Landeskirche wird eigens hervorgehoben. Es sollen keine isolierten Innovationsinseln entstehen; am Entwicklungshorizont erhofft man sich die Veränderung der Gesamtorganisation.

Kennzeichnend für den programmatischen Ansatz sind sieben Kriterien, die Aufschluss über das Gemeindebild und das Innovationsverständnis geben. Sie verdanken sich unterschiedlichen ökumenischen Lernfolien.6 Neben der Fresh Expressions of Church – Bewegung in England ist die Variante der „Pionierplätze“ (Pioniersplekken) in der Protestantischen Kirche in den Niederlanden zu nennen. Die Erfahrungen der französischen Diözese Poitiers mit dem „Equipe-Konzept“ bilden den Hintergrund für die Auseinandersetzung mit den Grenzen der Parochie in Flächenregionen. Außerdem flossen Ergebnisse aus empirischen Untersuchungen von Kirche in peripheren ländlichen Regionen ein, die mit dem Konzept der sozialen Innovation arbeiteten.

Die bewusste Unterbrechung der klassischen volkskirchlichen Logik mit ihrer Trias Parochie, Kirchengebäude und Pfarramt führt zu Freiräumen

Die innere Logik der Kriterien lässt sich wie folgt rekonstruieren: Die bewusste Unterbrechung der klassischen volkskirchlichen Logik mit ihrer Trias Parochie, Kirchengebäude und Pfarramt führt zu Freiräumen. Die Muster[unter]brechung bildet damit die Voraussetzung für die Dynamik des Prozesses. Der starke Kontextbezug mit seinem diakonischen Charakter im Blick auf Sozialräume und Gemeinwesenorientierung sowie der missionarische Duktus schlagen sich in vielfältigen Engagement-Stilen, Interaktionsmustern und Gemeinschaftsformen nieder. Wer in missionaler Logik lebensweltlich basierte Formen der Kommunikation des Evangeliums in säkularen Kontexten riskiert, um hier Kirche mit den Menschen zu entdecken, entwickelt mit ihnen nicht nur authentische Formen von Spiritualität. Zugleich entstehen neue christliche Sozialformen mit einem starken partizipatorischen Charakter, der sich in ehrenamtlicher Mitarbeit und selbst akquirierten Finanzen zeigt. Die Kriterien wurden 2020 durch Haltungen ergänzt, die den Prozesscharakter und die geistliche Dimension unterstreichen. Was bei den Kriterien am Anfang steht – die Entstehung von neuen gemeindlichen Formen – bildet bei den Haltungen den Abschluss.

Abbildung: 7 Kriterien und Haltungen der Erprobungsräume,  https://www.erprobungsraeume-ekm.de/allgemein/die-haltungen/

Nicht Integration in das Bestehende einer zunehmend erodierenden generationalen Nachwuchskirche, sondern die Wiederentdeckung der eigenen Sendung in der Begegnung mit dem Fremden beschreibt die innovative Grundausrichtung der Initiativen

Subjekte der Erprobungspraxis sind die einzelnen Akteurinnen und Akteure in den jeweiligen Initiativen. Die landeskirchliche Programmebene schafft die ermöglichenden Rahmenbedingungen für die Praxis vor Ort im Blick auf finanzielle Ressourcen sowie Beratung, Begleitung und Vernetzung. Darüber hinaus steht das Programm für den ausdrücklichen landeskirchlichen Willen zur Erprobung und die kirchliche Anerkennung und Würdigung der jeweiligen Initiativen. Es geht nicht um eine paternalistische Erlaubnis, sondern um Ermöglichung und strukturell verankerte Rahmenbedingungen für eine vielfältige Erprobungspraxis. Im Bild gesprochen: Die Programmebene schafft ein Gewächshaus für neue Gemeindesprösslinge und sorgt für ein wachstumsförderndes Klima. Über 54 Initiativen wurden mittlerweile gefördert, begleitet und vernetzt, so dass ein eigenes Innovationsnetzwerk entstanden ist.

Nicht Integration in das Bestehende einer zunehmend erodierenden generationalen Nachwuchskirche, sondern die Wiederentdeckung der eigenen Sendung in der Begegnung mit dem Fremden beschreibt die innovative Grundausrichtung der Initiativen. Erprobungsräume erfinden Kirche und Gemeinde nicht neu, ihre Formen und Formate muten durchaus bekannt an – aber sie finden sie neu, auf der Basis lebensweltlicher Kommunikation an anderen Orten. Sie regenerieren Kirche mit leichtem Gepäck, indem sie Unsicherheit und Komplexität bearbeiten. Sie lassen Kirche über das Bestehende hinauswachsen, indem sie die religiöse Erfahrung des Subjektes zum Ausgangs- und Zielpunkt von Organisationsformen machen und Formen kirchlichen Lebens von der Mikroebene her entwickeln und gestalten. Konstitutiv für die innovative Praxis ist der Freiraum des Lassens gegenüber klassischen Praktiken in der Regelstruktur. Das Anfangen lebt vom Aufhören. Kulturell äußert sich der Freiraum im Vertrauen seitens der Vertreter*innen der jeweiligen Anstellungsträger und den Verantwortlichen für das Programm. Dieses Vertrauen räumt den jeweiligen Erprobungsräumen auch die Möglichkeit des Scheiterns ein.

Die EPR-Initiativen erweitern den Möglichkeitsraum einer Diasporakirche durch kleinteilige, plurale soziale Formen mit unterschiedlicher gemeindlicher Gestalt. Sie nehmen mehrheitlich bei lebensweltlich basierter Kommunikation des Evangeliums ihren Ausgangspunkt, nicht beim institutionellen Erbe der Volkskirche noch bei optimierten Organisationsstrukturen, wenngleich sie punktuell nach wie vor am volkskirchlichen Erbe anknüpfen und organisational größtenteils in die kirchlichen Strukturen eingebunden sind. Sie liefern Miniaturansichten einer fluiden kirchlichen Biodiversität, die sich kreativ auf ihre jeweiligen Kontexte einlässt und fordern die kirchliche Gesamtorganisation zur Klärung des Verhältnisses von innovativer Praxis und organisationalen Rahmenbedingungen und damit zum Innovationsmanagement heraus.

Konstitutiv für die innovative Praxis ist der Freiraum des Lassens gegenüber klassischen Praktiken in der Regelstruktur. Das Anfangen lebt vom Aufhören

Mit den Erprobungsräumen hat die EKM Neuland innerhalb der deutschen Kirchenlandschaft betreten und ihrerseits als Prototyp gewirkt. In den vergangenen drei Jahren sind acht weitere Landeskirchen ihrem Beispiel gefolgt und haben entsprechende Zukunftswerkstätten eingerichtet bzw. ausgebaut.7 Teilweise wurden sogar die Wort-Bild-Marke und die Kriterien übernommen und weiterentwickelt.  Diese Resonanz zeigt, welche Wirkungen das Programm der EKM in seiner kurzen Laufzeitdauer angestoßen haben. Dies weist auf einen besonderen Kairos in der Kirchenlandschaft hin. Wir befinden uns im fließenden Übergang vom Reform- zum Innovationsparadigma.8

Die Erprobungsräume stehen im Zeichen einer „liquid church“, die organisational gewollt, ermöglicht und gefördert wird und in pluralen Formen neben die etablierten Strukturen der „solid church“ tritt. Das Nebeneinander wirft die Frage nach dem spezifischen Verhältnis zwischen der Erkundung des Neuen und dem Umbau des Bestehenden auf. Verhalten sie sich wie die Ausnahme von der Regel, wie die Kür zur Pflicht? Dann müssten sich die Experimente immer vor dem vermeintlichen Normalfall der verfassten Kirche und ihren Körperschaften und Einrichtungen legitimieren. Oder ist eine ergebnisoffene Erprobungspraxis angesichts der zunehmenden Dysfunktionalität der etablierten Strukturen und der komplexen Unübersichtlichkeit eines liquiden gesellschaftlichen Umfeldes nicht vielmehr unbedingt notwendig? Denn das Motto „Etwas weniger vom Alten“ birgt kein Innovationspotential. Durch die abnehmenden Finanzen wird der Konkurrenzdruck in Zukunft weiter erhöht. Droht angesichts der anstehenden Kürzungsrunden dann das Gewohnheitsrecht erneut die Oberhand zu behalten? Ein Seitenblick zum Konzept der Ambidextrie aus den Wirtschaftswissenschaften bzw. der Organisationstheorie kann bei der Beantwortung dieser Fragen Hilfestellung leisten.

Die Erprobungsräume stehen im Zeichen einer „liquid church“, die organisational gewollt, ermöglicht und gefördert wird und in pluralen Formen neben die etablierten Strukturen der „solid church“ tritt

3. Optimierung des Bestehenden und Erkunden des Neuen – das Konzept der organisationalen Ambidextrie

Wörtlich übersetzt bedeutet „Ambidextrie“ Beidhändigkeit und meint ursprünglich die Fähigkeit, mit beiden Händen schreiben zu können. Der Ambidextrieansatz geht davon aus, dass langfristig erfolgreiche Unternehmen mit zwei „Betriebssystemen“ laufen, die unterschiedliche strategische Ziele mit entsprechend diversen Logiken, Instrumenten, Strukturen und Kulturen verfolgen: Einerseits die Optimierung des Bestehenden (Exploitation), andererseits die experimentelle Erkundung des Neuen (Exploration). Bei der Ambidextrie handelt es sich primär um ein Konstrukt aus der Organisationstheorie. Es bietet ein heuristisches und orientierendes Raster, das ein unübersichtliches Handlungsfeld mit Konzepten, Instrumenten und Ansätzen sortiert. Daher werden zunehmend empirische Untersuchungen mit der Theorie unterlegt.9 Auch in der Führungsforschung wird auf die Ambidextrie als Theorieansatz zurückgegriffen.10 In seiner orientierenden Funktion wird der Ansatz jedoch aktuell ebenfalls für die Unternehmens- und Organisationsberatung genutzt.11 Wer sich das Ambidextrie-Modell mit Metaphern und Analogien erschließen will, dem sei nachdrücklich der Ausflug auf den Fußballplatz zum Exploit-Club „FC Bewahren“ und dem Explore-Club „Vorwärts Erkunden“ empfohlen.12

Der Ambidextrieansatz geht davon aus, dass langfristig erfolgreiche Unternehmen mit zwei „Betriebssystemen“ laufen, die unterschiedliche strategische Ziele mit entsprechend diversen Logiken, Instrumenten, Strukturen und Kulturen verfolgen: Einerseits die Optimierung des Bestehenden (Exploitation), andererseits die experimentelle Erkundung des Neuen (Exploration)

Der andere Modus, dem Explore-Modus, geht nicht vom Vorhandenen aus, um es weiter zu entwickeln, sondern wendet sich radikal der Zukunft zu. Das Unternehmen orientiert sich in Richtung Innovation. Es reagiert auf die immer dynamisch werdenden Veränderungen und Verschiebungen der Umwelt, indem es testet, erkundet, scheitert, neu ansetzt und auf diese Weise über Versuch und Irrtum neue Produkte, Dienstleistungen oder Geschäftsmodelle kreiert, die es dann am Markt platziert. Der Explore-Modus orientiert sich primär an den Kundenbedürfnissen und arbeitet daher mit Formen der Co-Innovation, Kund*innen werden zu Co-Kreator*innen. Zur Bearbeitung der komplexen und unsicheren Umgebungen werden unterschiedliche Perspektiven und Zugänge benötigt. Daher arbeitet man bevorzugt in cross-funktionalen, interdisziplinären Teams mit flachen Hierarchien. Die Kultur zeichnet sich durch Fehlerfreundlichkeit aus, wobei bemerkt werden muss, dass es Fehler im klassischen Sinn nicht gibt, da keine standardisierten Abläufe existieren

Die Differenzen der unterschiedlichen Modi ist größer, als auf den ersten Blick erscheinen mag, da sie sich auch auf Mindsets und Menschenbilder erstrecken. Ein Umgang mit multiplen, instabilen und fluiden Kontexten verlangt andere Haltungen als das Optimieren bewährter Prozesse. Während im Exploit-Modus die klar definierte Funktionalität die primäre Rolle im Blick auf das Menschenbild spielt, so kommt im Explore-Modus der Mensch als Subjekt seiner Arbeitswelt in den Blick, was einen höheren Grad an Selbstwirksamkeit und Sinn verspricht.

Für die Zuordnung der beiden Prinzipien hat die Forschung zwei Grundmodelle herausgearbeitet. Im Rahmen der strukturellen Ambidextrie leben Exploit- und Explore-Modus gleichzeitig in verschiedenen Organisationsbereichen unter einem Gesamtdach. Dabei kann es sich um sehr unterschiedliche Organisationseinheiten handeln (Tochterfirmen, Abteilungen, Teams). Vorteil ist hier, dass die innovative Organisationseinheit einen eigenen Rahmen inklusive Ressourcenzuteilung erhält, in dem explorative Muster greifen dürfen und sollen. Auf diese Weise wird die experimentelle Erkundung vor „Kannibalisierungseffekten“ der alten Organisationsform geschützt. Andererseits muss nicht das ganze Unternehmen den Aufbruch in das geschäftliche Neuland wagen, was ja auch für die finanzielle Wertschöpfung ein enormes Risiko beinhaltet. Das Verhältnis von Stabilität und Agilität kann daher dynamisch je nach Bedarf und Möglichkeit austariert werden. Die strukturelle Ambidextrie legt sich nahe, wenn radikale Innovation in ein älteres, bislang erfolgreiches Unternehmen implementiert werden soll. Ist die Beharrung auf alten Mustern im Unternehmen stark ausgeprägt, kann nur eine Trennung zwischen Zukunft und Vergangenheit aus der „Trägheit der Firmenhistorie“13 führen. Zunächst erfolgt daher die strukturelle Trennung von Exploitation und Exploration mit entsprechenden Schnittstellen, in einem späteren Stadium dann die Aufweichung, wenn der Explorationsbereich ein marktfähiges Geschäftsmodell etabliert hat. Die Herausforderung der strukturellen Ambidextrie besteht daher darin, einerseits geeignete strukturelle Abgrenzungen zu schaffen und andererseits beide Bereiche durch Schnittstellen und Korridore miteinander zu verbinden.

Im Rahmen der strukturellen Ambi-dextrie leben Exploit- und Explore-Modus gleichzeitig in verschiedenen Organisationsbereichen unter einem Gesamtdach … Bei der kontextuellen Ambidextrie werden die beiden Modi je nach Kontext situativ gesteuert

Bei der kontextuellen Ambidextrie werden die beiden Modi je nach Kontext situativ gesteuert. Der Vorteil dieses Modells ist die konzentrierte Kombination beider Logiken zur optimierten Zielerreichung. Das Unternehmen kann auf divergente Führungsstile, Abläufe und Prozesse zurückgreifen und sie je nach Bedarf miteinander kombinieren. Das impliziert ein hohes Maß an Flexibilität, mit der Unternehmen Unsicherheit bearbeiten und Trends antizipieren können.

Empirische Studien benennen als größte Hürde bei der Implementierung der strukturellen und kontextuellen Ambidextrie in etablierten Unternehmen die Kultur, die diese mit ihrer erfolgreichen Vergangenheit verbindet. Herkunft wird damit zum Schatten, der sich über die Zukunft legt, wenn sich Umwelten radikal wandeln. Wichtig für einen entsprechenden Kulturwandel ist ein konsequentes Führungshandeln, das beidhändig agieren und unterschiedliche Führungsstile integrieren kann. Weitere Faktoren sind eine transparente Kommunikation sowie eine umgreifende Unternehmensidentität, die in der Lage ist, mit emotional besetzten Narrativen und Metaphern die Widersprüche und Paradoxien zu umgreifen und die Mitarbeitenden mitzunehmen. Entscheidend ist die Verbindung von Top-down und Bottom-up-Logiken. Ambidextrie-Organisationsformen müssen von der Leitung gewollt, mit entsprechenden Ressourcen und Strukturen umgesetzt und ihre Kultur im konkreten Führungsverhalten verkörpert werden. Zentral sind die Haltungen, denen entsprechende soziale Interaktionen zugrunde liegen: Zuhören, Wissensaustausch, Feedback-Möglichkeiten und Vertrauensbildung. So entstehen gleichsam in den Alltagsfalten der Organisation die Räume, in denen Eigeninitiative und Selbstverantwortung wirksam werden können und sich Mitarbeitende zu Intrapreneur*innen wandeln.

4. Beidhändig agieren – ambidextre Organisationsentwicklung in der Kirche

Haben sich bisherige Verfahren und Strukturen trotz permanenter Optimierung aufgrund von radikal gewandelten Umweltbedingungen als dysfunktional erwiesen, müssen Lösungen jenseits der bisherigen Organisationsstrukturen und ‑kulturen gefunden werden, ohne damit gleich die gesamte Organisation der Verunsicherung eines umfassenden und radikalen Veränderungsprozesses auszusetzen

Hinter dem Ambidextrie-Konzept steht eine zentrale Einsicht: Haben sich bisherige Verfahren und Strukturen trotz permanenter Optimierung aufgrund von radikal gewandelten Umweltbedingungen als dysfunktional erwiesen, müssen Lösungen jenseits der bisherigen Organisationsstrukturen und ‑kulturen gefunden werden, ohne damit gleich die gesamte Organisation der Verunsicherung eines umfassenden und radikalen Veränderungsprozesses auszusetzen. Es wird unter dem Dach der bisherigen Unternehmen ein Bereich mit offenem Experimentiermodus geschaffen, der erkunden soll, was es noch nicht gibt, mit anderen Logiken, Haltungen und Strukturen. Ziel ist die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens in neuen Marktkontexten. Die Ressourcen für die Exploration stammen aus dem bisherigen Kerngeschäft, das zunächst in alter Logik weiterläuft – nicht zuletzt, um das Risikokapital erwirtschaften zu können. Stabilität und Fluidität werden organisational vermittelt. Mit der Rede vom Kerngeschäft ist jedoch ein bestimmtes Legitimationsgefälle angezeigt, das Widersprüche und Konfliktlagen impliziert.

In diese Beschreibung lässt sich die Genese und Programmatik der Erprobungsräume unmittelbar einzeichnen und dem Typus der strukturellen Ambidextrie zuordnen. Auffällig sind die formalen Parallelen im Blick auf die Dysfunktionalität des bisherigen Systems angesichts sich wandelnder Umwelten, die Schaffung eines internen Experimentierfeldes und das Agieren mit anderen Logiken und Haltungen. Analogien gibt es auch im Blick auf den Zielhorizont. Die Erprobungsräume sollen exemplarische Funktion für die Gesamtentwicklung der Kirche haben. Sie dienen als Ferment für eine notwendige Gesamttransformation, deren Gestalt sich im Vollzug konfigurieren muss und jenseits linear planbarer Steuerungsprozesse liegt. Auch der semantische Weg von Exploration zur Erprobung ist nicht weit. Unternehmen wie kirchliche Organisationen agieren beide in einem komplexen Feld und müssen Unsicherheiten und Ungewissheiten bearbeiten. In beiden Systemlogiken geht es darum, die komplementären Momente von Wandel und Anpassung, Dynamisierung und Stabilisierung organisational immer wieder neu auszubalancieren.

Differenzen liegen jedoch auf der Ebene des avisierten Ertrages der jeweiligen Experimentierräume und der Handlungslogik der Akteur*innen. Neuformationen christlicher Gemeinschaft und religiös motivierter sozialer Praxis im atheisierenden Umfeld lassen sich nicht eindimensional mit der Entwicklung und Skalierung von Produkten, Dienstleistungen und Geschäftsmodellen vergleichen. Kommunikation, Interaktion und Partizipation sind im religiösen Bereich kein Mittel zum Zweck, sondern Zweck an sich, weil sie auf das unverfügbare Kommunikationsgeschehen zwischen Gott und Mensch als Grunddimension sowohl der christlichen Praxis als auch des kirchlichen Organisationszwecks verweisen. Entsprechend geraten die Akteur*innen in den Erprobungsräumen primär als Subjekte selbstbestimmter Religionspraxis in den Blick, nicht in ihrer Funktion als Mitarbeitende einer kirchlichen Organisation. Diese versteht sich im Blick auf die Initiativen als Assistenzsystem zur Förderung der lokal getragenen Kommunikation des Evangeliums und nimmt insofern eine disponierende Funktion wahr.

Die Ausstrahlung der Erprobungsräume machen bereits nach fünf Jahren deutlich, dass ihre Wirkung primär in der Veränderung von Mentalitäten liegt

Die organisationsrechtliche „Schutzfunktion“ für die Erprobungsräume gewinnt auf dem Hintergrund der strukturellen Ambidextrie ebenso an Plausibilität wie der Drahtseilakt des Agierens zwischen den unterschiedlichen Logiken, Kulturen und Verfahren. Deutungskonflikte und Ressourcenkämpfe zwischen Vertreter*innen beider Teilbereiche lassen sich als systemisch bedingt verstehen – als Konflikte zwischen den Fanblöcken des „FC Bewahren“ und des „Vorwärts Erkunden“. Die seit Anfang mitlaufende Frage nach dem Effekt der Erprobungsräume für die Gesamtkirche weist auf entsprechende Schnittstellen hin, die strategisch über Ressourceneinsatz und Kommunikation zu gestalten sind. Die Ausstrahlung der Erprobungsräume machen bereits nach fünf Jahren deutlich, dass ihre Wirkung primär in der Veränderung von Mentalitäten liegt. Nicht die einzelnen Erprobungsrauminitiativen fungieren als Prototypen oder Modelle, sondern die Kriterien und Haltungen, die auf das Mindset Einfluss nehmen und zu verschiedenen handlungspraktischen Adaptionen in den etablierten Strukturen führen. Hier deutet sich der Übergang von der additiven Form der strukturellen Ambidextrie hin zur kontextuellen Ambidextrie an. Auf diese Entwicklung hat die EKM mit der Weitung der Förderrichtlinien auch für innovative Initiativen in Kirchengemeinden und Kirchenkreisen reagiert.

Mittelfristig stellt sich jedoch die Frage, ob angesichts des finanziellen Drucks die additive Variante aufrechterhalten werden kann. Ein Auslaufen des Programm der Erprobungsräume setzt jedoch voraus, dass es seine Mission erfüllt hat: die Fermentierung der Gesamtorganisation mit innovativen  Haltungen und der Lust am risikoreichen Experiment, die im Freiraum wurzeln. Ein Freiraum, der nur aufgrund von Ausstiegen aus dysfunktionalen Strukturen und Praktiken entstehen kann. Insofern liegt in der bewussten Exnovation ein Schlüssel zur kirchlichen Organisationsentwicklung für die Zukunft. Solange die Gesamtorganisation jedoch noch nicht den Erprobungsmodus in ihre Strukturen, Kulturen und ihrer strategischen Ausrichtung aufgenommen hat, sind gesonderte Erprobungsräume und entsprechende explorative Initiativen im Sinne der strukturellen Ambidextrie ebenso sinnvoll wie notwendig.

Solange die Gesamtorganisation jedoch noch nicht den Erprobungsmodus in ihre Strukturen, Kulturen und ihrer strategischen Ausrichtung aufgenommen hat, sind gesonderte Erprobungsräume und entsprechende explorative Initiativen im Sinne der strukturellen Ambidextrie ebenso sinnvoll wie notwendig

Der Umgang mit unterschiedlichen Innovationslogiken kann durch die Interpretation der biblischen Ursprungsnarrative flankiert werden. Nicht nur, weil diese gemeinsame Interpretationspraxis die kirchliche Organisation auch theologisch als Kirche ausweist. Biblische Texte können darüber hinaus zum Umgang mit unterschiedlichen Logiken bei der Deutung und dem Umgang mit Transformationsprozessen inspirieren. So steht zwischen Exodus und Landnahme die Phase der Erkundung, deren Ergebnis im Blick auf die Zukunftsaussichten im gelobten Land alles andere als eindeutig war (vgl. Num 13-14). Auch damals musste daher entschieden werden, ob man bereit war, über den Jordan zu gehen – mit der Treue Gottes im Rücken und seiner auf uns zukommenden Zukunft vor Augen.

  1. Vgl. Steffen Bauer: Landeskirchen unterwegs. Transformationsprozesse im Vergleich, digital abrufbar unter www.ermoeglichungskulturkirche.com/post/landeskirchen-unterwegs.
  2. Zitate und Belege in: Hinaus ins Weite – Kirche auf gutem Grund. 12 Leitsätze zur Zukunft einer aufgeschlossenen Kirche, hrsg. von der EKD, Hannover 2021, 29.
  3. Siehe Erhard Berneburg/Daniel Hörsch (Hg.): Atlas neue Gemeindeformen, Berlin 2019. digital abrufbar unter www.diakonie.de/broschueren/atlas-neue-gemeindeformen/.
  4. www.erprobungsraeume-ekm.de (5.11.2021); vgl. die facettenreichen Beiträge in: Juliane Kleemann / Thomas Schlegel, (Hg.): Erprobungsräume. Andere Gemeindeformen innerhalb der Landeskirche, Leipzig 2021.
  5. Ordnung EPR § 1 mit Bezug auf Artikel 3, Absatz 2 der Verfassung der EKM.
  6. Vgl. Kolja Koeniger/Gunther Schendel/Carla J Witt: Vom Testfall lernen. Zur Evaluation der „Erprobungsraume“ in der EKM – ein Werkstattbericht, PTh 55, (2020), 53.
  7. Zu weiteren landeskirchlichen Beispielen siehe Philipp Elhaus/Gunther Schendel: Mit beiden Händen geht es besser. Innovationen in der Kirche am Beispiel von Erprobungsräumen und Ambidextrie, SI-Kompakt 1/2021; 11f. Digital abrufbar unter www.siekd.de/mit-beiden-haenden-geht-es-besser/ (3.11.2021)
  8. Vgl. dazu den Auftakt in Form der Beiträge in: Valentin Dessoy, Gundo Lames (Hg.) „…Siehe, ich mache alles neu“. Innovation als strategische Herausforderung in Kirche und Gesellschaft. Gesellschaft und Kirche – Wandel gestalten Bd. 2,Trier 2012
  9. Vgl. exemplarisch Thomas Martin Fojcik: Ambidextrie und Unternehmenserfolg bei einem diskontinuierlichen Wandel, Wiesbaden 2015 und Sonja Schneeberger/Andreas Habegger: Ambidextrie – der organisationale Drahtseilakt. In: Jochen Schellinger/Kim Oliver Tokarski/Ingrid Kissling-Näf (Hg.): Digitale Transformation und Unternehmensführung. Trends und Perspektiven für die Praxis. Wiesbaden 2020, 105–144.
  10. Vgl.  Julia Duwe: Beidhändige Führung. Wie Sie als Führungskraft durch Ambidextrie Innovationssprünge ermöglichen, Wiesbaden ²2020.
  11. Vgl. u.a. Christoph Frey/Gudrun L. Töpfer: Ambidextrie in Organisationen. Das Praxishandbuch für eine beidhändige Zukunft, Stuttgart 2021. Einen guten Einblick sowie weitere Hintergrundinformationen bietet die Homepage des „Think Tank Ambidextrie“: www.thinktank-ambidextrie.com.
  12. Frey/Töpfer, 2021, 23-27.

    Im ersten Modus, dem Exploit-Modus gleicht die Organisation einer gut geölten Maschine. Es wird strategisch geplant und im Rahmen hierarchisch gegliederter Zuständigkeiten umgesetzt. Prozesse verlaufen gut organisiert, Abläufe werden optimiert, Geschäftsmodelle und Produkte verbessert und an den Markt angepasst. Da die Prozesse plan- und steuerbar, der Ablauf kontrollierbar und der Ressourceneinsatz kalkulierbar sind, tendieren Unternehmen im Laufe der Zeit zu diesem Modus. Dabei entsteht jedoch die Gefahr, dass sie sich im erfolgreichen Regelsystem verstricken und damit zum Opfer ihres bisherigen Erfolges werden. In diesem Fall spricht man von Pfadabhängigkeit. Erfolgreiche Handlungspfade bilden sich heraus und werden durch sich selbst verstärkende Prozesse zu „eingespurten“ Logiken, aus denen sich Organisationen nur schwer wieder lösen können.  Neue Entwicklungen ihrer Umwelt wie Marktgeschehen, Trends und Konsumverhalten können nicht mehr aufgenommen werden, so dass der Sprung zur disruptiven Innovation verpasst wird, wie die populären Beispiele von Kodak und Nokia im Blick auf die Digitalisierung zeigen.

  13. Michael Tushmann: Ambidextrie gestern und heute, Zeitschrift für Organisationsentwicklung, 4/2020, 4-9, hier 5.

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