022021

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Bonustrack

Heinzpeter Hempelmann

Schwache Kirche unter den Verheißungen eines starken Gottes

Wie die Kirche Zukunft gewinnen kann1

 

Wer verändern will, muss auf der transzendentalen Ebene ansetzen: Was sind die Bedingungen der Möglichkeit von Veränderung? Vielfach ist ja die Notwendigkeit von Veränderung eingesehen, aber es fehlt die Perspektive, es fehlt der Blick dafür, wie es gehen könnte, und es fehlt der Mut.

Wir fragen zunächst: Welchen Habitus braucht es für grundlegende Veränderungen? Welche Einstellungen tragen durch, auch gegen Widerstände und gegen die Beharrungskraft der System-Logiken?

Wir fragen dann: Wie können wir Systeme nicht anpassen, sondern Logiken ändern und schauen nach konkreten Alternativen?

I. Starke Perspektiven für eine schwache Kirche

Gegen die vielfältigen Faktoren, die den Aufbruch behindern, setzen wir einen dezidiert theologischen Rahmen. Er eröffnet Perspektiven, die Änderungen ermöglichen.

a) Gott setzt auf das Schwache

Ist ein Glas Wasser halb voll oder halb leer? Ist es schon zu einem Viertel voll oder ist es nur noch zu 25% gefüllt? Auf das Framing kommt es an. Theologie und Kirche müssen nicht auf die Kraft positiven Denkens setzen. Auch diese kann sich erschöpfen und schließlich uns erschöpfen, wenn unsere allerletzten Reserven verbraucht sind. Auch geht es ja nicht darum, wirklichkeitsfern die kritische Analyse einfach zu vergessen.

Es gilt vielmehr die faktisch gegebenen und kaum bestrittenen Schwächen der Kirche in einen neuen Rahmen zu rücken und sie, genau sie als Chance, Möglichkeiten, Perspektiven zu entdecken

Es gilt vielmehr die faktisch gegebenen und kaum bestrittenen Schwächen der Kirche in einen neuen Rahmen zu rücken und sie, genau sie als Chance, Möglichkeiten, Perspektiven zu entdecken. Dafür braucht es eine theologische Logik, die die biblischen Verheißungs- und Hoffnungsgeschichten ernst nimmt und genau mit dem Gott rechnet, der uns in ihnen begegnet. Die schwierige, komplexe, notvolle, aporetische und ausweglose Realität wird in ihnen nicht negiert, nicht bestritten, nicht verdrängt, nicht verschönt; sie wird auch nicht nur interpretiert. Sie wird in einen umfassenderen Rahmen gesetzt, der eine Schau eröffnet, die in der Kirche wiederum neue Kräfte und Hoffnungen freisetzt, weil sie sich nicht mehr auf die eigenen Möglichkeiten verlässt.

Obwohl von Feinden umzingelt, wird ihr der Blick dafür geöffnet, dass die umgebenden Bataillone Gottes noch viel größer sind (vgl. 2Kön 6,14ff ). Obwohl sie nur fünf Brote und drei Fische hat, darf sie die Herrlichkeit Gottes entdecken, wo sie beginnt, diese im Namen Gottes auszuteilen und tausende Menschen satt macht. Obzwar sie durch Unglück und Unfähigkeit finanziell völlig gegen die Wand fährt, darf sie entdecken, wie genau dieser Kollaps zum Reset und Neustart einer missionarisch lebendigen Kirche wird. Der bekannteste und vermutlich wichtigste Verkündiger der Christenheit ist in seinem apostolischen Dienst behindert, vermutlich durch einen Sprachfehler, der ihm viel Spott einbringt. Paulus bringt die theologische Logik, das Grundgesetz des Handelns Gottes, das er am eigenen Leib erfährt, auf den Punkt, wenn er dafür das Wort des Erhöhten zitiert: „Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft kommt in Schwachheit in Vollendung.“ (2Kor 12,9)

Diese theologische Logik ist riskant. Mit ihr verlässt sich die Kirche auf Möglichkeiten, die sie nicht hat; sie hofft auf eine Realität, die ihr nicht einfach verfügbar ist und die sich der Machbarkeitslogik entzieht. Die resultierende Ekklesiologie ist zutiefst „unbefriedigend“. Sie ist nicht in sich schlüssig, weist vielmehr über sich hinaus auf  eine Realität, über die sie einerseits nicht einfach verfügen kann, die aber andererseits allein vernünftig und richtig, weil adäquat ist. Aber gerade so ist diese Ekklesiologie wahr, dass sie die Kirche in ihrem defizitären Zustand auf Gottes Wirklichkeit und seine Möglichkeiten hinweist, nach der Herrlichkeit Gottes fragt, die sich unter genau ihren Umständen manifestieren will – wenn sie das denn zulässt und auf sie setzt. Es ist kein verdrehter Masochismus, wenn Paulus völlig konsequent folgert: „Sehr gerne will ich mich nun vielmehr meiner Schwachheiten rühmen, damit (!) die Kraft Christi bei mir wohne. Deshalb habe ich Wohlgefallen an Schwachheiten, an Misshandlungen, an Nöten, an Verfolgungen, an Ängsten um Christi willen. Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“ (2Kor 12,9f )2 Das ist paradox: Gerade da, wo wir stark, fähig, kompetent zu sein suchen, stehen wir dem Wirken Gottes oft am meisten im Wege.

Diese theologische Logik ist riskant. Mit ihr verlässt sich die Kirche auf Möglichkeiten, die sie nicht hat; sie hofft auf eine Realität, die ihr nicht einfach verfügbar ist und die sich der Machbarkeitslogik entzieht.

Gerade da, wo wir zu unseren Schwächen und unserer Erfolglosigkeit stehen, kann der lebendige Gott zum Zuge kommen.3

Hier ist einer schwachen, defizitären, durch ihre Schwierigkeiten und Verluste gebeutelten Kirche der Weg gewiesen. Beschrieben ist ein dreifacher Schritt:

  1. Erkennen, was ist; auf Beschönigung verzichten: der „Stachel“ ist da;
  2. die eigene Erschöpfung einsehen und nicht mehr auf die eigenen Möglichkeiten setzen; unsere Anstrengungen, ihn herauszuziehen, sind vergeblich;
  3. genau die eigenen Defizite zu Möglichkeiten Gottes werden lassen, die eigenen Leerstellen und Leer-Räume Gott zur Verfügung stellen; nicht eine aporetische Situation und Konstellation festhalten, sondern öffnen.

b) Darum hat Kirche Zukunft – um ihrer Schwäche willen

Wir dürfen die gegenwärtige Gestalt unserer Kirche im weiteren Horizont der Geschichte der Gesamtkirche sehen. Da entdecken wir, was auch für uns heute gilt und was die Grundlage alles dessen ist, was sonst noch zu überlegen sein wird: Kirche hat Zukunft, …

weil Gott in ihr drin ist. Sie hat Zukunft nicht wegen uns und unserem Tun oder Nicht-Tun, sondern weil Gott in ihr drin ist.

weil Menschen Gott suchen – und finden(!), trotz oder wegen unserer fehlenden oder vorhandenen Angebote.

weil Gott sich seine Kirche baut, weil sie creatura verbi ist. Wir sehen in der Kirchengeschichte, wie immer neue Gestalten von Kirche entstehen, wie es immer neu Aufbrüche und Erneuerungen gibt, die den Bedürfnissen der verlorenen Menschen abhelfen und ihnen „entgegen“-kommen.

weil Gott gar keine andere Chance hat, als durch menschliche Fehler, Irrtümer, Irrwege und Umwege zum Ziel zu kommen. Und – Gott sei Dank! – nimmt er diese Chance auch immer neu wahr.

Kirche hat Zukunft, weil Gott in ihr drin ist. Sie hat Zukunft nicht wegen uns und unserem Tun oder Nicht-Tun, sondern weil Gott in ihr drin ist

weil selbst wir Kirche nicht kaputt kriegen können. So fest dieser Satz steht (vgl. Mt 16,18), so wichtig ist es freilich, ihn präzise zu bestimmen. Er bedeutet keine Bestandsgarantie für die geschichtlich auftretenden und wegtretenden Gestalten von Kirchen, sprich Kirchentümer. Er gilt für die Wolke der Zeugen in und durch alle Zeiten. Von den Kirchen der ersten Jahrhunderte bestehen heute die allermeisten nicht mehr. Dementsprechend gilt unsere letzte Loyalität der von Jesus Christus herausgerufenen ekklesia, nicht einer bestimmten, geschichtlich gewordenen und immer überholbaren Gestalt von Kirche. Kirche und Kirchentümer sind grundsätzlich zu unterscheiden. Auch wenn letztere Gefäße des Segens und Gestalten des Handelns Gottes sein können, so sind und bleiben sie doch „irdene Gefäße“ (2Kor 4,7).

weil Kirche soziokulturelle Grenzen überwindet. Kirche hat Zukunft, weil sie ihren Bestand in dem Gott hat, der immer neu Kulturen erschließt und gemäß missionsgeschichtlicher Wahrnehmung schon da ist, bevor der Missionar kommt. Weltweite Kirche zeichnet sich aus – angefangen mit dem Übersetzen nach Europa (vgl. Apg 16,9) – durch eine nahezu unüberschaubare Fülle von Inkulturationen und Kontextualisierungen des Evangeliums, mit der Gott vorhandene kulturelle Grenzen überschreitet.

weil ihr das corpus permixtum und das simul justus et peccator eben nicht nur zur Legitimation bestehender Missstände dienen, sondern beobachtbar immer neu zum Anlass einer ecclesia semper reformanda werden.

weil sie so demütige Kirche ist: selbstkritisch und bereit, sich korrigieren und verändern und vom Evangelium neu umgestalten oder gar schaffen zu lassen. Sie beharrt nicht auf dem, was sie ist. Sie behauptet sich nicht selbst. Wenn sie ihre Geschichte und Gestalt sieht, vergeht ihr das. Sie nimmt ihre Zuflucht zu Christus und bittet ihn um Veränderung. Insofern gilt eben nicht nur das Wort des Erhöhten an Sardes: „Ich kenne deine Werke, dass du den Namen hast, dass du lebst, und bist tot“ (Offb 3,2), sondern auch die Zusage an Philadelphia: „Ich habe eine geöffnete Tür vor dir gegeben, die niemand schließen kann; denn du hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet.“ (Offb 3,8).

c) Theologische Logik als Entlastungslogik: Verzichtserklärungen

Die schwache Kirche lernt das Loslassen. Der normale Impuls ist ja umgekehrt: Festhalten, was man noch hat; sich klammern an das, was noch funktioniert. Wenn unsere Verlegenheiten zu Gottes Gelegenheiten werden sollen, dürfen wir loslassen, preisgeben, Fixierungen auflösen, die unsere Ressourcen binden. Wir dürfen verzichten auf einen morphologischen ebenso wie auf einen theologischen Fundamentalismus. Beides garantiert ja den Bestand der Kirche nicht, weil niemand einen anderen Grund legen kann außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus (1Kor 3,11); wir sind darauf angewiesen, dass er sichtbar wird. Machen können wir das nicht;

Wir dürfen verzichten auf die so lieb gewordene Verankerung in einer schrumpfenden und immer älter werdenden Bürgerlichen Mitte; wir dürfen die Fixierung auf eine kleinbürgerliche Lebenswelt preisgeben, die kirchengemeindliches Leben ebenso stark bestimmt, wie sie im Abnehmen und Verschwinden begriffen ist; wir dürfen entdecken, wie wichtig Christus für Menschen wird, die Kirche bisher mit unbeweglicher Tradition identifizierten.

Wenn unsere Verlegenheiten zu Gottes Gelegenheiten werden sollen, dürfen wir loslassen, preisgeben, Fixierungen auflösen, die unsere Ressourcen binden

Wir dürfen verzichten auf Monopole, Privilegien und Positionen; wir dürfen Ubiquitätsansprüche loslassen und die zu schwer gewordene Konstantinische Rüstung4, wie David den Panzer Sauls, einfach stehen lassen (1Sam 17,38f ); wir müssen kein anerkannter Partner des Staates mehr sein, kein angesehener Player in der Gesellschaft, nicht zur postmateriellen Speerspitze der Zivilgesellschaft gehören.

Wir dürfen verzichten auf – scheinbar – starke dogmatische Positionen und ethische Proklamationen; auf Bekenntniszuspitzungen, mit denen wir genauso zu spät kommen wie mit EKD-Texten, die bereits in den Leitmedien Publiziertes nachträglich verdoppeln.

Wir dürfen verzichten auf Immobilienbestände, die unsere finanziellen und personellen Ressourcen aufzehren und entdecken, wie gut es sich mit leichtem Gepäck lebt.

d) Ressourcen heben und gewinnen

Ungeahnte Kräfte wachsen uns zu, wenn wir entdecken:

Wir gewinnen Kraft durch Anerkennung der Leistung von Menschen: Wir dürfen in Dank gegen Gott bewusst wahrnehmen und aussprechen, was Gott durch Menschen in unserer Kirche tut, bewirkt und „leistet“. Wieviel passiert da weitgehend unbemerkt, im Verborgenen! Anerkennung kostet nichts, außer der Wahrnehmung und Würdigung des Anderen und seiner Gaben wie Anstrengungen. Was wird das für eine attraktive, gesuchte und besuchte Kirche sein und wie motiviert werden Menschen in einer Kirche mitwirken, in der eine Kultur der Anerkennung immer mehr an Boden gewinnt! Wir sind in unseren postmateriell geprägten Leitungsstrukturen vor allem in einem gut: im Reflektieren und Kritisieren.

Wir gewinnen Kraft durch Staunen über das, was beispielhaft gelingt. Die analytische Expertise ist wertvoll, aber sie steckt nicht an. Es braucht die leuchtenden Augen. Inspirieren durch Infizieren durch Affizieren! Es braucht das gelungene Beispiel oder auch nur den Versuch, von dem wir fasziniert erzählen; der zeigt: So kann es gehen. Es braucht die Messen und Märkte, die Begegnungsmöglichkeiten, durch die wir Mut bekommen. Was wird das für eine begeisterte und begeisternde Kirche sein, in der Menschen aus dem Häuschen geraten, weil sie sehen, was sich mit Gottes Hilfe für Horizonte eröffnen!

Wir denken nicht von unseren Defiziten und Problemen her. Wir gehen von dem aus, was Gott schenken und durch uns erreichen kann

Wir gewinnen Kraft durch Träumen von Gottes Zukunft: Wir blicken auf das, was werden kann; wir fixieren uns nicht auf das, was nicht oder schlecht läuft. Wir verbrauchen unsere Ressourcen nicht durch mühselige Reparaturen, die unsere Kraft erschöpfen. Wir gestehen einander das Träumen zu (vgl. Ps 126). Wir denken nicht von unseren Defiziten und Problemen her. Wir gehen von dem aus, was Gott schenken und durch uns erreichen kann. Was wird das für eine vitale Kirche sein, in der nicht mehr nur die Bewahrer und Analytiker dominieren, sondern auch Performer und innovative Kreative Raum haben und ihre Gaben einbringen!

Wir gewinnen Kraft durch gemeinsames Aufbrechen: Wir suchen nach denen, die Verbündete sein können; mit denen wir zusammen ein Ziel erreichen können. Wir suchen und finden sie auch jenseits soziokultureller Barrieren und über theologische Differenzen hinweg. Wie stark wird eine Kirche sein, in der die gemeinsame Loyalität gegenüber dem Herrn der Kirche – Jesus Christus – ganz unterschiedliche zusammenführt und ihre Kräfte bündelt!

Wir gewinnen Kraft durch Fehlerfreundlichkeit: In der evolutionären Entwicklung erweist sich Fehlerfreundlichkeit als ein zentraler Treiber5. Ein fehlerfreundliches System „verzeiht“ Fehler. Weil Fehler es nicht zum Absturz bringen, muss es sie nicht fürchten. So kombiniert es das Bedürfnis nach Sicherheit und nach Innovation bzw. Anpassung. Nur durch Fehlerfreundlichkeit verhindern wir eine Verteidigungshaltung, die im Endeffekt lähmt und Innovationen verhindert. Wie fortschrittlich, attraktiv und anpassungsfähig wird eine Kirche sein, in der man Neues ausprobieren und dabei auch scheitern darf; in der Menschen, die etwas Neues versuchen, nicht misstrauisch beäugt, sondern ermutigend begleitet werden, wenn sie sich etwas trauen! Wie anziehend, wie zukunftsfähig und problemlösungsstark wird die Kirche sein, in der eine Haltung der Offenheit herrscht und in der nicht die Notwendigkeit zur Absicherung und Beherrschung aller Eventualitäten dominiert!

II. Unsere Verlegenheiten – Gottes Gelegenheiten

Impulse für eine schwache Kirche

a) Schrumpfende Kirche

Auch und gerade diese schwache Kirche steht unter der Verheißung, wenn sie ihre Lage richtig zu deuten und zu nutzen weiß.

1. Verheißungen

Bewusst Minderheitenkirche werden: Eine schwach gewordene Kirche tritt als Minderheitenkirche in einer pluralistischen Situation in die urchristliche und frühchristliche Konstellation ein, in der sie ihrerseits eine beispiellose Blüte erlebt hat.6 Wenn die Kirche die Pastoralmacht (Michel Foucault7) wieder verliert, die sie mit staatlicher Unterstützung und durch die Legitimation des Staates über 1600 Jahre gewonnen hat, dann bedeutet das einen Paradigmenwechsel, der in seinen Auswirkungen kaum zu überschätzen ist. Will sie diesen Change nicht nur ertragen und erleiden, braucht es mehr als eine Reformation. Es bietet sich die Chance, umzukehren und in ein ursprüngliches Christentum zurückzukehren. Christlicher Glaube und christliche Kirche leben nicht davon, dass sie dominierende Weltanschauungen und Institutionen darstellen. Sie zeigen ihre Kraft gerade in der Konkurrenz, unter Druck. Der geistliche Grund dafür liegt darin, dass sich eine schwache Kirche nicht auf ihre weltlichen Ressourcen stützt, ihre Mitgliederzahl, ihre gesellschaftlich beherrschende Stellung, ihre finanziellen Mittel, sondern sich auf den besinnt, der sie alleine erhalten kann.

Eine schwach gewordene Kirche tritt als Minderheitenkirche in einer pluralistischen Situation in die urchristliche und frühchristliche Konstellation ein, in der sie ihrerseits eine beispiellose Blüte erlebt hat

Die Chance des Neubeginns: Der Reset-Knopf, den diese Situation einer weitgehenden Unkenntnis und Indifferenz gerade in den dynamischen und jüngeren Bevölkerungsanteilen darstellt, bedeutet eine ungeheure Chance. Immer weniger belastet und aufgehalten durch den allzu schweren Rucksack des Kulturtransportes abendländischen Erbes kann sich eine schwach und einflusslos gewordene Kirche als für die meisten unbeschriebenes Blatt neu beschreiben. In einer durch Traditionsabbruch und Entfremdung gekennzeichneten Gesellschaft muss eine schwache Kirche neu erklären und darf sie neu plausibilisieren, was christlicher Glaube ist. Das anstehende und in den eigenen Reihen beginnende Programm einer Alphabetisierung des Glaubens verlangt von ihr, die eigenen Überzeugungen lehrmäßiger, ethischer, lebensweltlicher Art neu durchzubuchstabieren; Worte, ggf. auch ganz neue Worte zu finden, um den eigenen Glauben zu erklären, neue lebensweltliche Gestalten zu bilden, um zu versinnbildlichen, was christlicher Glaube heute heißt. Es gilt ganz neu herauszufinden, wie die Imperative biblischen Wortes auf die lebensweltlichen Konstellationen bezogen und in ihnen wirksam werden können. Diese Prozesse eines Aufbruchs bergen unheimliche Chancen der Dynamisierung christlichen Glaubens in sich.

Neubesinnung auf das Proprium und den Unique selling point (USP): Krise ist auch Chance. Eine Kirche, die schrumpft, hat die Chance, sich ganz neu auf ihr Proprium zu besinnen und sich neu aufzustellen. Der notwendige Konzentrationsprozess hilft ihr, mit dem nötigen Druck, zu einer Fokussierung, die ihren USP deutlicher erkennen lässt. Er hilft ihr, abzuschneiden, was Allotria ist, weil es nicht zu ihrem Alleinstellungsmerkmal gehört; sich von dem zu verabschieden, was sich überlebt hat, aber nur mühsam sterben kann und Kräfte gebunden hat, die sie nun nicht mehr hat. Er hilft ihr aber ebenso und umgekehrt, das zu stärken, was zukunftsfähig ist und was sich bewährt hat.

Überzeugung statt Konvention: Eine schwache Kirche kann die Verheißung entdecken, dass geringere Quantität umschlägt in höhere Qualität. Schon die letzte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung zeigte, dass sich unter den Kirchenmitgliedern eine Polarisierung anbahnt zwischen denen, die als Gliedern in Halbdistanz nur eine geringe Affinität zu Glauben und Bindung an die Kirche zeigen, und solchen, die als engagierte Glieder sich Kirche und Glauben hoch verbunden wissen. Positiv ausgedrückt: In einer religiös pluralen Gesellschaft entscheiden sich zwar weniger Menschen für den christlichen Glauben und eine christliche Gemeinde; aber die, die es tun, tun es mit ungleich mehr Überzeugung. Was für ein Geschenk! Christlicher Glaube wird zu einer Sache der Überzeugung, nicht der Konvention! Hier wächst ein Potential, mit dem es noch ganz anders zu wuchern, ja das es zu fördern und zu entdecken gilt. Die kleine(re) Zahl ist nicht nur Not, sie ist Chance.

2. Perspektiven8 für eine heruntergekommene Kirche

Verzicht auf ubiquitäre Ansprüche: Eine schwache Kirche steht zu ihrer Schwäche. Sie versucht nicht, mehr zu sein als sie ist. Sie versucht nicht mehr, Volkskirche zu sein und alle zu umschließen. Sie realisiert, dass sie es an vielen Orten schon lange nicht mehr ist und über kurz oder lang – von Enklaven abgesehen – einen freikirchlichen Status mit freiwilligkeitskirchlichen Merkmalen haben wird. Sie betreibt nicht Mission, um ihren Mitgliederschwund aufzuhalten. Auch wenn sie gerade Mission neu entdeckt, ist einer Instrumentalisierung der Mission zum Zweck religiöser Selbstbehauptung zu wehren. Die Kirche betreibt nicht Missionsarbeit, sie ist mit den ihr gegebenen Kräften Mission, in dem Maße, wie sie sich in die Mission des dreieinigen Gottes hineinstellt.

Eine schwache Kirche steht zu ihrer Schwäche. Sie versucht nicht, mehr zu sein als sie ist

Sie setzt nicht mehr allein(!) auf das flächendeckende Netz und die institutionell geregelte pastorale Versorgung. Sie ist Kirche bei den Menschen, weil und insofern sich ihre Glieder auf die Menschen in ihrem sozialen Umfeld einlassen. Dafür rüstet sie zu. Dafür bereitet sie vor.

Brief Christi sein (2Kor 3,2f): Sie setzt nicht auf die Anziehungskraft von großen Zahlen, die sie als wichtige Institution ausweist, nicht auf beeindruckende Gebäude und modern performte Veranstaltungen, sondern auf Menschen, in denen das Evangelium lebt und in deren alltäglichem Leben es Gestalt gewinnt: Ihr seid das Salz der Erde; ihr seid ein Tempel des heiligen Geistes; ihr seid das Haus der lebendigen Steine; ihr seid ein Brief Christi. Sie setzt vor allem auf Begegnung, Beziehungen, Konvivenz und Kondeszendenz in die Lebensverhältnisse der Menschen hinein, die noch kaum oder keine Berührung mit Christus hatten. Gerade so steht sie in der Nachfolge Christi, als Kirche, deren Rückgrat nicht mehr die Institution ist, sondern die gelebte Gemeinschaft, nicht mehr – v. a. – die Organisation, sondern der lebendige Organismus. Sie hat am ehesten die Gestalt einer Raststätte, an der Menschen als Oase halten, um sich mit allem Notwendigen zu versorgen und an der man auf Menschen trifft, die – wie man selber – unterwegs sind und die bei der Orientierung und Lebensreise helfen können. Sie wächst – auch – in kleinen Zellen, wuchert9 in dynamischen Netzwerken, erschließt sich die flüchtigen Formate von Gemeinschaft, die eine hochmobile, Patchworkbiographien erzwingende Gesellschaft mit sich bringt.

Ökumenische Öffnung und Geschwisterlichkeit: Schwache Kirche ist eine Gemeinschaft, die sich – schon aus Schwäche – ökumenisch öffnet. Sie sieht in Freikirchen und selbst independenten Gemeindebewegungen nicht mehr Konkurrenten, sondern Geschwister und Verbündete. Sie entdeckt die Kraft des Con10. Mit ihnen zusammen verfolgt sie in einer sich noch zunehmend mehr säkularisierenden und von ihren christlichen Wurzeln entfernenden Gesellschaft das gemeinsame Ziel, dem Evangelium von Jesus Christus Gestalt zu geben. Eine schwache Kirche begreift sich nicht mehr als „Platzhirsch“, dem die evangelischen Menschen offenbar naturgemäß „gehören“.

b) Kirche ohne Ansehen

Manifest ist – vor allem für die älteren Generationen, die noch anderes erlebt haben – ein gesellschaftlicher Ansehensverlust, der eine Kirche empfindlich schwächt, die in der Mitte der Gesellschaft zu stehen sucht.

1. Kirche ohne Ansehen unter der Verheißung

Zuwendung zu nicht anerkannten Minderheiten: Der Bedeutungs- und damit verbunden Ansehensverlust hat eine ungemein entlastende, hilfreiche und theologisch relevante Kehrseite, die erkennen lässt, welche Potentiale mit genau dieser Situation verbunden sind:

Kirche, die wenig Reputation hat, kann sich – ohne Reputationsverlust befürchten zu müssen – Minderheiten annehmen, gegen die etablierte Leitungseliten Ekelschranken hochziehen.

Wider das System löcken11 dürfen: Kirche darf zu einer Institution werden, die gerade weil sie nicht mehr „systemrelevant“ ist und ins System eingebunden werden muss, als freies Radikal auch wider das System löcken darf.

Kirche, die wenig Reputation hat, kann sich – ohne Reputationsverlust befürchten zu müssen – Minderheiten annehmen, gegen die etablierte Leitungseliten Ekelschranken hochziehen

Kirche, auf die – nicht mehr so gut vernetzt – immer weniger „gehört wird“, kann sich umso entschlossener zum Sprachrohr derer machen, die wegen Artikulationsschwäche keine oder kaum eine Stimme haben, von unsichtbaren und vergessenen Menschen in prekären Lebensverhältnissen über Kirchenasyl für unrechtmäßig sich Aufhaltende bis hin zu Empfindungen von aus dem Diskurs der Vernünftigen ausgeschiedenen Rechtspopulisten.

Eine solche Kirche realisiert die Nachfolge dessen, der rief: Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid (Mt 11,28).

Identität bilden in der Nachfolge: Eine solche Kirche muss ihre Identität nicht mühsam theoretisch bestimmen, sondern bildet sie aus in der Nachfolge. Sie muss nicht gesellschaftlich relevant sein, weil sie einer eigenen Agenda aus eigenem Recht folgt, indem sie an der Mission des lebendigen Gottes teilhat. Das wird zunehmend aufwändiger, mühsamer und für das gesellschaftliche Umfeld ärgerlicher werden, wo christliche Wurzeln zu rein historischen Beständen ohne Bindewirkung werden. Solche Prozesse kritischer Auseinandersetzung mit der paganen Umwelt haben christlichen Gemeinden immer geholfen, ihr Profil zu schärfen. Sie führen weltweit vielfach in die Verfolgung hinein. Sie machen eine Kirche unter Druck und im Konflikt dem ein wenig ähnlicher, von dem ein Gottesknechtslied sagt: Er hatte keine Gestalt und keine Pracht. Und als wir ihn sahen, da hatte er kein Aussehen, dass wir Gefallen an ihm gefunden hätten. ( Jes 53,2).

2. „Kein Aussehen, dass wir gefallen an ihm gefunden hätten“. Perspektiven

Minderheitenkirche sein können: Evangelische Kirche verzichtet bewusst darauf, mit Macht Mehrheitskirche, Volkskirche, große Kirche sein zu wollen. Das hat enorme entlastende organisatorische und institutionelle Konsequenzen.

Sprachrohr der Sprachlosen sein: Sie verzichtet darauf, Anliegen zu vertreten, die ein breiter Mainstream unserer Gesellschaft sich bereits zu eigen gemacht hat. Sie konzentriert sich auf die Anliegen, Personen und Fragen, die in unserer Gesellschaft keine Lobby haben.12

Evangelische Kirche verzichtet bewusst darauf, mit Macht Mehrheitskirche, Volkskirche, große Kirche sein zu wollen

Sie riskiert es – reflektiert, seelsorgerlich formatiert und bis zum Schluss gesprächsbereit – Mitglieder zu verlieren, wenn sie Mainstreampositionen nicht teilt bzw. verlässt. Sie muss nicht alle umfassen, aber ihre Aufgabe ist es, dem Menschensohn auf seinem Weg in die Tiefe zu folgen: zu den Elenden, Beleidigten, Entrechteten, den materiell wie mental Armen, den „Prekären“ wie „Reaktiven“.

Unabhängigkeit von Staat und Öffentlichkeit: Sie setzt nicht auf den Konnex zum Staat und die Sichtbarkeit eigener Institutionen. Sie initiiert und organisiert Projekte, die aus der Mitte der Gemeinde heraus von engagierten Christen getragen werden. Sie buhlt nicht um öffentliche Aufmerksamkeit. Sie kommt vor Ort ins Gerede. Sie tut, was konkret dran ist. Sie wartet nicht auf Beifall und Subventionen.

Sie hat nichts zu verstecken. Sie macht, im Detail, nicht bloß in zusammenfassenden Überschriften, transparent, wie sie ihr Geld verwendet, und sie stellt sich ggf. kritischen Rückfragen. Sie setzt Zeichen, die mehr als Zeichen sind. Unerwartete Mittel bei zu erwartender wirtschaftlicher Erholung steckt sie nicht in verschiedene ihrer Absicherung dienende Rücklagen. Sie investiert vorrangig nicht in Rücklagen, sondern in Menschen.13

c) Kirche ohne Konstantinische Rüstung

1. Verheißungen für eine Kirche, die loslässt und aufbricht

Loslassen können: Verheißung hat eine Kirche, die nicht festzuhalten sucht, was nötig scheint, sondern loslässt, was immer möglich ist. Wer loslässt, bekommt die Hände frei und kann anderes und Neues anpacken.

Zukunft als Chance: Verheißung hat eine Kirche, die Zukunft nicht als Bedrohung begreift, sondern als Chance; die aufbricht wie der Glaubensvater Abraham (vgl. Hebr 11,8ff.17f ), um die Verheißungen zu empfangen, die für sie bereit liegen.

Entlastung von Schuld durch Eingeständnis von Fehlern: Verheißung hat eine Kirche, die umkehrt: administrativ, organisatorisch, mental, vor allem aber geistlich: die die Fehler ihrer Vergangenheit eingesteht und die Schuld bekennt, die sie in der Konstantinischen Ära auf sich geladen hat. Ohne anachronistisch zu werden und ahistorisch zu argumentieren, befreit es die Kirche, wenn sie bekennt: Es widerspricht dem Geist des Evangeliums, anderen Menschen den christlichen Glauben als Zwang aufzuerlegen, ihnen ihr Denken, Handeln und Reden – mit staatlichen Sanktionen bewehrt – vorzuschreiben, sich zum moralischen Büttel und zur un-heiligen Legitimationsinstanz des Staates zu machen. Abschied von der Pastoralmacht der Kirche ist nicht Not, sondern Chance.

Befreiung durch apostolischen Gestus: Verheißung hat eine Kirche, die den apostolischen Gestus einnimmt und in ihrer Armut ihres Grundes in Christus gewisser wird: „Ich habe gelernt, mich darin zu begnügen, worin ich bin. Sowohl erniedrigt zu sein, weiß ich, als auch Überfluss zu haben, weiß ich; in jedes und in alles bin ich eingeweiht, sowohl satt zu sein als auch zu hungern, sowohl Überfluss zu haben als auch Mangel zu leiden. Denn Alles vermag ich in dem, der mich kräftigt.“ (Phil 4,11–13)

Entlastung durch offene Kommunikation: Verheißung hat eine Kirche, die offen kommuniziert, was die Stunde geschlagen hat, was Kirche ist und Kirchenmitgliedschaft in Zukunft bedeutet, und die die Chancen dieser Situation deutlich macht. Sie öffnet denen, die nur den Rückgang sehen, den Horizont. Sie stellt buchstäblich die Zukunft in Aussicht, die wir erwarten dürfen, wenn wir aufbrechen und uns nicht durch die Vergangenheit binden, ja lähmen lassen.

Verheißung hat eine Kirche, die die zu schwer gewordene Konstantinische Rüstung abwirft; die mit leichterem Gepäck mobil und flexibel auf die neue, sich ja immer weiter ändernde Situation reagieren kann

Den zu groß und schwer gewordenen Konstantinischen Panzer ablegen – zur Avantgarde gesellschaftlicher Transformation werden: Verheißung hat eine Kirche, die die zu schwer gewordene Konstantinische Rüstung abwirft; die mit leichterem Gepäck mobil und flexibel auf die neue, sich ja immer weiter ändernde Situation reagieren kann; die im Effekt nicht mehr nur den Veränderungen kurzatmig hinterherläuft, sondern sich an die Spitze der Entwicklung setzt und aus der Kraft wie Kreativität christlichen Glaubens heraus wichtige Trends gesellschaftlicher Transformation setzt.14 Wer nicht mehr vorwiegend mit Systemerhaltung beschäftigt ist, kann die Trends der Zukunft setzen und Weichen stellen. Dass und wie das möglich ist, zeigen uns Personen mit einem digital-kosmopolitisch und gesellschaftsdistanziert eingestellten Mindset, von denen es in der evangelischen Kirche genügend gibt.

Gabenreichtum aktivieren: Verheißung hat eine Kirche, die den ihr geschenkten Gabenreichtum aktiviert und vor allem für ihre Eliten nicht nur auf liberal-intellektuelle Analyse und Reflexion baut, die sich nicht nur bewegen lässt durch die Impulse postmaterieller, emanzipativer Initiativen, sondern ebenso auch dem Gestaltungswillen von Performern Raum gibt, die wissen, wie man Ziele umsetzt. Sie weiß als ihre Speerspitze, durchaus auch als Stachel im Fleisch, die expeditive Avantgarde zu integrieren, – Menschen, die sich ständig selbst zu überschreiten und neue Ufer zu erreichen suchen; die herausfordern, aber auch in Bewegung bringen. Auch unsere Kirche hat sie alle. Sie muss nur das deutliche Signal geben: Wir wollen euch und eure Gaben.

Unbequeme Prioritäten setzen und verfolgen: Verheißung hat eine Kirche, die nicht in Steine investiert, sondern in Menschen; die Prioritäten zu setzen weiß; die auf Denkmalerhaltung verzichtet, um geistliches Leben zu erhalten und zu fördern.

2. Die Konstantinische Rüstung los- und stehen lassen: Perspektiven

Das faktische Ende von Volkskirche annehmen: Eine aufbrechende Kirche wird sich nicht mit Hoffnungen trösten, die die notwendige Veränderung nur hinausschieben und im Endeffekt noch schwerer machen. Kirche darf nicht mehr den Eindruck erwecken, es könnte, wenn auch mit Einschränkungen, immer so weiter gehen. Das beliebte Versatzstück „Wir haben schon vor 50 Jahren das Ende der Volkskirche angekündigt – es gibt sie immer noch“ steht dem notwendigen Wandel der Kirche im Wege und ist nicht hilfreich. Es gibt diese Volkskirche eben nicht mehr. Kirche ist eben nicht mehr dieselbe wie noch 1970, 1980 oder 1990. Das ist überhaupt keine Tragik. Wir müssen nur die Konsequenzen daraus ziehen.

Raus aus der Reformfalle! Reformation, nicht Reförmchen: Sie wird nicht durch Reparaturen an Details und Korrekturen in Einzelfragen notwendige Veränderungen im Ganzen verhindern. Es reicht nicht das Abschneiden alter Zöpfe, die das Ganze dann etwas stromlinienförmiger macht; es reicht nicht, einzelne störende Elemente zu beseitigen, das überlebte System15 als solches dadurch aber in seiner Überlebensfähigkeit zu stabilisieren. Vor dieser seit Jahrzehnten betriebenen Reformfalle wird sich eine aufbrechende Kirche hüten.

Krisenfeste Planungssicherheit gewinnen: Sie wird Planungen krisenfest machen und mit den notwendigen Zumutungen frühzeitig konfrontieren. Sie wird vermeiden, sich über Jahrzehnte mit scheibchenweise realisierten Kürzungsprogrammen selbst zu beschäftigen und die Gemeinden durch immer neue Pläne zu ermüden. Sie wird in der Gemeindearbeit wie in der Mitarbeiterschaft anhaltend klären, was es für eine Kirche auf allen Feldern bedeutet, sich zu depotenzieren, und welche Chancen in diesem Prozess liegen.

Es braucht Rahmenbedingungen, die echte Emergenz ermöglichen – Emergenz also nicht als Bestandteil des Systems (…), sondern als Kraft, die das System überschreitet; als Innovation, nicht als Reparatur, theologisch: als Reformation statt Konsolidierung

Effizienter Mitteleinsatz – für alle: Sie wird sich um mehr Ressourcengerechtigkeit und um einen effizienteren Mitteleinsatz bemühen und diesen finanziellen Gesichtspunkt nutzen, um nicht mehr nur „Versorgungskirche“ zu sein, sondern auch Pionierkirche zu werden, die sich neue Lebenswelten erschließt. Sie wird die Hauptmasse ihrer finanziellen und Personalressourcen nicht zur Erhaltung einer Versorgungsstruktur einsetzen, die nur von einer kleinen Minderheit ihrer Glieder genutzt wird, und an der die große Mehrheit ihrer Mitglieder erkennbar kein Interesse hat.

Transitionsphase I: Bypasse im System und am System vorbei: Sie wird Bypasse legen, wo die Traditionen, aber auch Bequemlichkeit oder die Trägheit des Systems Innovationen ausbremsen oder gar verhindern. Sie bahnt sich im System oder auch an ihm vorbei Um-Wege; sie bekämpft das System nicht – das wäre ja nur eine neue Form der Kraftvergeudung und kirchlicher Selbstbeschäftigung. Sie um-geht es buchstäblich. Sie fragt bspw. nicht mehr danach, welche oberkirchenrätlichen Regelungen unter welchen Bedingungen ein Hausabendmahl erlauben. Sie feiert es einfach, wo, wie und wann es geboten ist. Sie wird Prozesse einleiten, die in der Transitionsphase eine Mischform möglich machen.

Transitionsphase II: Parallel-Welten zulassen Sie wird nicht darauf warten, bis eine oft veränderungsresistente Traditionskirche – aller Wahrscheinlichkeit nach zu spät – neue Regeln und Spielräume erschließt, sondern inmitten des Bestehenden lebensweltorientierte Kirchen bauen und Kirche für noch einmal ganz andere Menschen sein. Sie schafft Fakten und Strukturen, ohne lange zu fragen. Sie sucht den Konsens innerhalb der verfassten Organe, aber sie lässt sich nicht entmutigen, wenn sie in diesen nur eine Randgeltung erhält. Sie bricht auf und baut inmitten des herkömmlichen Kirchentums eine andere Kirche, die Geltung gewinnt durch das, was sie darstellt und für die Gesamtkirche bedeutet. Sie versteht sich als Teil eines umfassenderen Kirchentums, das sie durch die eigenen Impulse ebenso befruchten will, wie sie dankbar ist, wenn sie von ihm gefördert wird. Aber sie ist so unabhängig, dass sie sich von der Anerkennung der Kirchenleitung nicht abhängig macht. Sie entgeht der Sehnsucht nach den Fleischtöpfen Ägyptens, so verführerisch diese auch sind und so sehr man meint, ein Recht auf sie zu haben. Sie kann glaubwürdig versichern, dass sie ihre Ziele ggf. auch in einer separierten Gestalt verfolgen kann.

Transitionsphase III: Logiken umkehren: Sie wird systemtheoretische wie juristische Betrachtungsweisen nicht beseitigen können, ihnen aber regulativ ihre beherrschende Bedeutung nehmen. Sie wird sich nicht beherrschen lassen durch die oftmals alles beherrschende Frage: Erlauben das unsere Regeln? Sie wird sich nicht lähmen lassen durch die ausgesprochene oder – schlimmer noch: unausgesprochene – Schere im Kopf: Passt das ins System? Welchen Spielraum bieten die kirchlichen Erlasse und Regeln? Sie wird das Präjudiz umkehren und vielmehr umgekehrt fragen: Was von dem, was früher galt, kann auch in der Zukunft noch hilfreich sein? Was ist Ballast, der behindert und aufhält?16

Vorrang für die Aufbruchslogik: Sie wird kritisch und offensiv fragen und in Frage stellen: Welche Systemlogiken stehen hinter den einzelnen kirchlichen Konstrukten? Sie wird ihnen gegenüber theologisch eine andere Logik zur Geltung bringen. Sie wird wechseln aus einer Logik der Versorgung in eine Logik der Mündigkeit und Selbstständigkeit. Sie wird der Kontroll-Logik mit ihrer Sicherheitsorientierung eine Aufbruchslogik entgegensetzen: Wohin wollen und müssen wir und wie setzen wir unsere Kräfte dafür ein?

Nicht fehlerfrei, aber fehlerfreundlich: Sie wird dafür ein nicht fehlerfreies, aber fehlerfreundliches Umfeld schaffen; in dem man sich nicht mehr verteidigen muss; in dem man nicht aus einer Kräfte zehrenden Defensivhaltung heraus agiert; in dem man sich eher rechtfertigen muss, wenn man wie der „faule Knecht“ (Mt 25,24ff ) nichts riskiert, sondern „auf Numero sicher“ gegangen ist und „alles seine Ordnung hat“; in dem man anerkannt wird, wenn man etwas ausprobiert und versucht hat – auch dann, wenn’s schief gegangen ist.

Ins Gelingen verliebt: Sie wird die Erfahrung der Selbstwirksamkeit und Eigenwirksamkeit stärken. Sie weiß: Gelingende Projekte sind gewinnende Projekte. Sie wird Menschen sammeln und ihre Kräfte bündeln, die andere durch ihre Aufbruchs-Erzählungen und Erfahrungen affizieren, infizieren und inspirieren.

Narrative Kultur: Sie brodelt von Messen und Marktplätzen, Trading-Zones und Foren, wo Menschen sich erzählen, was geht und was läuft – und auch, was nicht; wo ganz unterschiedliche Professionen mit ihren Perspektiven, Kompetenzen und Erfahrungen aufeinander treffen, sich austauschen und als geniale Ergänzung entdecken.

Das Kriterium, das gilt: Sie wird nicht auf kirchenrechtliche Legalität setzen, sondern ihre Legitimation daraus beziehen, dass sie überschaubares, ansehbares Heil-Land ist, in dem Menschen auf sehr unterschiedliche Weise Heimat und Zuflucht, Lebenshilfe finden.

Sie beschäftigt Erhalter, Versorger und Seelsorger ebenso wie Gemeindegründer und Entrepreneure, Performer und Pioniere

Freiräume für Pioniere, Performer, Entrepreneure: Sie wird sich für neue und andere Berufe öffnen. Sie beschäftigt Erhalter, Versorger und Seelsorger ebenso wie Gemeindegründer und Entrepreneure, Performer und Pioniere. Sie sammelt Menschen, die in der Lage sind, im Neuland anzufangen, in der Neubausiedlung Gemeinde in nuce zu bauen, auch da, wo es noch keine kirchliche Struktur gibt; die in Lebenswelten hineinkommen, die nicht kirchengemeindenah sind; die als Pioniere neue Räume für neue Ausdrucksformen von christlichem Glauben kreieren bzw. erschließen. So gewinnt Kirche auch Anziehungskraft für Menschen, die ihr bisher eher museale Qualität bescheinigen. Sie wird sich gezielt um die Rekrutierung von Menschen mit der gift of non fitting ( Jonny Baker17) bemühen, um Menschen also, die nicht ins System passen, die aufbrechen und neue Sozialgestalten von Kirche schaffen. Sie bemüht sich gezielt darum, ihren Nachwuchs nicht nur aus Elternhäusern mit postmateriellem Hintergrund zu rekrutieren. Eine solche aufbrechende Kirche fordert eine neue theologische Ausbildung, mindestens aber ergänzende Inhalte für die bisherige.

Evangelisch prägen wollen: Qualität vor Quantität: Sie wird auf eine möglichst breite, quantitativ orientierte Präsenz verzichten. Nicht mehr die Zahl der Kindertagesstätten in evangelischer Trägerschaft in einer Kommune ist dann entscheidend, sondern die Frage: Wie viele KiTas mit wie vielen Gruppen können wir evangelisch prägen, so dass Menschen an ihnen ablesen und in ihnen erfahren können, was Evangelium ist und was es heißt, aus einem praktizierten Glauben zu leben? Knapper werdende Mittel regen sie dazu an, nicht flächendeckend präsent sein zu wollen, sondern Leuchtturmprojekte zu favorisieren, exemplarische Vorhaben umzusetzen, an denen man etwas davon ablesen kann, was es heißt, jeden einzelnen Menschen als von Gott geliebtes Ebenbild Gottes zu verstehen. Sie konzentriert sich dabei auf diakonische Felder, die von anderen Trägern noch nicht in der Breite gepflügt werden, auf denen aber eine besondere soziale Not und Herausforderung erkennbar ist. Entsprechende Initiativen kann sie anregen und unterstützen, weil sie ihren Mitteleinsatz fokussiert.

Immo I: Lieber in Menschen investieren, als in Immobilien. Sie kommuniziert und realisiert, dass sie nicht reich sein möchte an Gebäuden, sondern an Menschen. Wenn gilt: Räume prägen Menschen, und Menschen prägen Räume, dann sind ihr Räume für die Begegnungen mit Menschen nach wie vor ungeheuer wichtig. Wo immer sie Immobilien sinnvoll und befriedigend nutzen kann und d. h. auch: wo sich kirchliche Häuser finanziell tragen, da ist der erhebliche finanzielle und personelle Aufwand auch zu rechtfertigen. Wenn Kirche sich gastfreundlich zeigt und die Türen für andere Gruppen öffnet, strahlt sie ins soziale Umfeld aus und knüpft Beziehungen, über die das Evangelium laufen kann. Eine aufbrechende Kirche wird aber ganz neu bedenken, welch ungeheure Finanzmittel wie Kraftressourcen Immobilien in Finanzierung und Erhalt binden. Immobilien machen immobil. Gerade auf dem Land gilt noch: In jeder Kirche, die steht, muss auch ein Gottesdienst stattfinden. Das kann eine Chance sein. Vielfach ist aber die Erfahrung: Es bindet unnötig Kräfte;18 es schürt Erwartungen, die nicht mehr zu erfüllen sind, und verstärkt damit Frustrationen; es blockiert Konzentrationen, die zukunftsträchtig sind.

Immo II: Lieber mieten als besitzen: Die ihre Mittel vernünftig einsetzende Kirche wird prüfen, wo Immobilien den notwendigen Aufbruch aufhalten und blockieren. Sie realisiert: Räume kann man auch mieten, und betriebswirtschaftlich ist Mieten günstiger als Besitzen. Aufbrechende Kirche verhängt darum einen Baustopp für neue Immobilien und versucht, wo immer möglich und sinnvoll, vorhandene abzustoßen. Sie nimmt sich ein Vorbild etwa an der reformierten Kirche in den Niederlanden. Diese besitzt keine Immobilien mehr, sie mietet diese an. Das ist mit erheblichen Vorteilen verbunden. Sie bindet deutlich weniger Mittel für neue Gebäude und v. a. ihren Erhalt; sie kann sich flexibel auf veränderte Verhältnisse einstellen. Sie kann mobil reagieren. Und vor allem: Sie setzt Mittel frei, die sie in Menschen investieren kann.

Immo III: Die begrenzte Attraktivität von Vereinsheimen: Sie realisiert, dass nur eine Minderheit der Kirchenmitglieder Interesse an Gemeinde-Häusern hat, die soziologisch gesehen die Funktion von Vereinsheimen besitzen und die entgegen einem weitverbreiteten kirchlichen Konsens nicht Mittelpunkt des Gemeindelebens sind, sondern Attraktionspunkte für 2–3 von 10 Milieus19. Sie lernt aus der Lebensweltforschung, dass für viele Menschen kirchliche Gebäude Un-Orte sind. Sie macht die Einsicht stark, dass eine stundenweise Nutzung von Stein- oder Betonungetümen energetisch nicht zu verantworten ist. Sie versucht, Kulturdenkmale bis auf erkennbar vitale Zentren mit geistlicher Ausstrahlung abzustoßen, und sie fordert, dass der Staat die Fürsorge für Baudenkmaler finanziell selber tragen soll. Statt ein Gemeindehaus zu renovieren, schafft sie lieber projektbezogen eine halbe Diakonenstelle. Wo die Kirche noch eigene Immobilien betreibt, da öffnet sie sie für die Nutzung durch Gruppen aus der Zivilgesellschaft.20 Kirchliche Immobilien sind für eine kleine, immer weiter schrumpfende Minderheit noch Haftpunkte des Christlichen in unserer Gesellschaft. Die notwendige und vielerorts noch ausstehende Trauerarbeit kann hier zum Anlass werden, das Wesen von Kirche als wanderndes Gottesvolk zu profilieren und Kirche-Sein zu intensivieren.

Alternative, lebensweltbezogene Adressierung: Eine in die unerschlossenen Lebenswelten aufbrechende Kirche wird nicht alles tun, um v. a. das immer dünner und fadenscheiniger werdende parochiale Netz zu erhalten, sie wird vielmehr verstärkt Zielgruppen adressieren, die zwar nicht kirchengemeindenah leben, sich aber dennoch Kirche, Glauben, Gott verbunden wissen. Sie fördert das durch eine weitere Ausdifferenzierung von zielgruppen- und lebensweltbezogenen Spezialisierungen.

Öffnung für neue und andere Berufe: Durch die Pluralisierung von haupt- und nebenamtlich beschäftigten Berufsgruppen ragt sie ganz anders in die verzweigten Lebenswelten hinein und bietet gestaffelte Andockmöglichkeiten. Die speziellen Beauftragungen sind unterschiedlichen Lebenswelten zugeordnet. Anders als Sonderpfarrämter „für“ leben sie in ihnen mit. Eine in die verschiedenen Lebenswelten aufbrechende Kirche wird noch stärker als bisher darum bemüht sein, dass aus den verschiedenen Initiativen, Projekten und Aufbrüchen fresh expressions of church werden, die tragfähig sind.

Umstellung beamtenähnlicher Besoldung: Sie weiß, dass sie über kurz oder lang beamtenrechtsähnliche Besoldung und Versorgung ihrer Theologenschaft nicht wird aufrechterhalten können. Sie macht aus der Not eine Tugend und unterstützt Initiativen von Förderkreisen, indem sie 50% der Kosten (oder die Sozialabgaben oder die ruhegehaltsfähige Rücklage etc.) übernimmt, wenn diese den anderen Gehaltsanteil stemmen. Zusätzlich und auf freiwilliger Basis geschaffene Stellen sind kein Sand mehr im kirchlichen Getriebe, keine „unregelmäßige Verben“, für die man sich entschuldigen muss, sondern das Rückgrat einer hochengagierten, aufgabenbezogenen aufbrechenden Kirche. In der Gestaltung von Stellen ist sie sehr kreativ. Gehaltssplittungen (4x 25% oder 5x 20%) erlauben es ihr, die ehrenamtliche Mitarbeit auf einem speziellen Feld zu unterstützen und anzuerkennen, Akzente zu setzen und die Wirkung der eingesetzten materiellen Mittel zu vervielfachen. Wenn die so angestellten Glieder als ganz normale Christen („GanoChris“) schwerpunktmäßig in ganz normalen bürgerlichen Berufen unterwegs sind, verankert das eine Gemeinde zusätzlich und erhöht ihre Ausstrahlung.

Sie lässt die überkommenen Privilegien und faktischen Religions-Monopole hinter sich

Verzicht auf überkommene Privilegien: Sie lässt die überkommenen Privilegien und faktischen Religions-Monopole hinter sich. Konkret heißt das:

Kritische Sichtung des Religionsunterrichtes: Sie wird fragen, ob sie wirklich noch die Kraft hat, über den evangelischen Religionsunterricht Menschen zu prägen oder ob es nicht das deutlichere Zeichen für eine Kirche in einer säkularen und vielreligiösen Gesellschaft sein kann, auf Religion als ordentliches Lehrfach zu verzichten und nach profilierteren Möglichkeiten der Glaubenskommunikation zu suchen. So lange und wenn sie prägen kann, sollte sie das Instrument einer Präsenz an staatlichen Schulen nicht aufgeben.21 Die Curricula in einem weltanschaulich neutralen Staat und für eine durch Vielreligiosität und Konfessionslosigkeit geprägten Gesellschaft lassen die Möglichkeiten eines den christlichen Glauben glaubwürdig vermittelnden RU deutlich reduziert erscheinen, zumal dann, wenn die curricularen Vorgaben umgesetzt werden.

Starke kirchliche Hochschulen und Präsenz an philosophischen Fakultäten: Sie wird weiter fragen, ob sie noch die geistliche Kraft und den theologischen Willen hat, eine evangelische, an Bibel und reformatorischen Bekenntnissen ausgerichtete akademische Theologie an staatlichen Universitäten zu halten. Die Kirche benötigt Mitarbeiter, die von der Wirklichkeit Gottes wissen; eine am modernen Wissenschaftsbegriff orientierte Theologie muss den Gottesgedanken ausschließen. Eine aufbrechende Kirche wird darüber nachdenken und entscheiden müssen, ob sie die Ausbildung ihres akademischen Nachwuchses einer Theologie überlassen möchte, die vielfach nur noch von Gottesvorstellungen zu sprechen vermag. Es könnte das deutlichere Zeichen für ihren neuen Status sein, auf die entsprechenden Staatskirchenverträge zu verzichten und sich auf angemessenere Formen des Zeugnisses in der universitas litterarum und inmitten der faktischen Konkurrenz monotheistischer Religionen einzulassen. Eigene, starke Kirchliche Hochschulen und eine Präsenz im Rahmen der philosophischen Fakultäten, gesprächsbereit und dialogfähig im unmittelbaren Gegenüber, Stiftungslehrstühle oder Lehraufträge an den weltanschaulich relevanten Schaltstellen gegenwärtiger Forschung könnten die Theologie fruchtbar herausfordern und dynamisieren und zugleich die Wirkung des Evangeliums auf akademisch-universitärer Ebene multiplizieren.

Verzicht auf staatlichen Kirchensteuereinzug: Sie wird fragen, ob es sinnvoll und angemessen ist, eine Steuer für die Kirche durch staatliche Stellen von Menschen einziehen zu lassen, die vielfach nur vergessen haben, sich auch offiziell von ihr zu verabschieden, oder ob es nicht das deutlichere Zeichen für eine evangelische Kirche ist, nicht wie eine Behörde Steuern zu erheben, sondern auf die freiwillige und reflektierte Unterstützung ihrer Glieder zu setzen.22 Ein transparenter Mitteleinsatz, Diskurse über sinnvolle und notwendige Zuwendungen und nicht zuletzt die Möglichkeit, selbst zu bestimmen, erhöhen im Endeffekt die Identifikation mit der Kirche.

Flexible Mitgliedschaftsmodelle: Sie wird auch ihr Mitgliedschaftsrecht neu regeln. Wie wäre es mit einer Mitgliedschaft zur Probe und auf Zeit, versehen vielleicht mit eingeschränkten Rechten und Pflichten? Wie mit einer Mitgliedschaft mit verschiedenen Partizipationsformen, die man individuell wählen kann, je nach Schwerpunkten, die man setzen möchte? Wie wäre es mit einer Mitgliedschaft, die – zunächst und grundsätzlich – auch ohne Taufe möglich ist, wie reformierte Kirchen in der Schweiz sie praktizieren? Wie wäre es mit einer Mitgliedschaft, die man grundsätzlich nur auf Zeit eingehen kann, bei der man auch pausieren kann und die man immer wieder erneuern muss, wenn man das will, dann aber doch, weil es einem relevant zu sein scheint? Eine Flexibilisierung der Mitgliedschaft kommt auch einem postmodernen Mindset entgegen, das sich zunächst nicht auf Dauer binden möchte; das die Wahl haben will; das probieren will, bevor es sich bindet, und für das die bestehenden Regeln Hürden bildet, die viele nicht überspringen wollen und können. Aber sind solche Mitgliedschaftsmodelle last but not least nicht auch theologisch adäquater, setzen sie doch auf Freiwilligkeit, Entscheidung, Reflexion, bewusste Annäherung? Eine wirklich traurige Kirche, die das fürchten müsste.

 

Resümee

Zukunft hat auch, hat gerade, hat nur eine schwache Kirche …

… die sich bekennt zu der Schuld, die sie in der Vergangenheit auf sich geladen hat; und die darum Ja sagt zum Verlust ihrer Parochialmacht;

… die nicht mehr beansprucht, Präsenz des Wahren, Richtigen, Guten und Schönen zu sein; die von sich weg weist und gerade so den Weg weist – zu Christus;

… die nicht aus sich selbst und um ihrer selbst bestehen will; die sich nicht selbst behauptet und zum Selbstzweck macht;

… die Alleingeltungsansprüche und Platzhirschattitüden nicht mehr nötig hat; die die Brüder und Schwestern entdeckt und mit ihnen nach vorne geht;

… die sich nicht auf Machtmittel gleich welcher Art verlässt, sondern auf die Beistands- und Bestandszusage des Erhöhten;

… die grund-los zu leben und zu denken sucht;

… die den Konstantinischen Panzer abwirft und „erleichtert“ aufbrechen kann;

… die nicht in Steine investiert, sondern in Menschen;

… die sich nicht mehr durch die Logiken von Institutionen binden lässt; die sich – immer neu inspiriert durch Christus – hineinreißen lässt in die Mission des dreieinigen Gottes.

 

Summary

This essay takes up the article in thbeitr 2020/issue 6. In the earlier article 11 reasons were given why the present form of church does not have a future. In this essay the perspectives for just such a weak church are unfolded: A church that confesses the guilt it has incurred in the past and therefore says yes to the loss of its parochial power; a church that no longer claims to be the presence of the true, the right, the good and the beautiful; a church that points away from itself and just so points in the right direction – to Christ; a church that does not want to exist out of itself and for its own sake; a church that does not assert itself and is not an end in itself; a church that renounces exclusive claims of validity; a church that discovers the brothers and sisters and goes forward together with them; a church that does not rely on means of power of any kind, but on the promise of support by the exalted One and on his promise for the continuation of his church; a church that throws off the Constantinian armor and – thus relieved – is ready to decamp; a church that does not invest in stones, but in people; a church that no longer allows itself to be bound by the logics of institutions; a church that – always inspired anew by Christ – allows itself to be swept into the mission of the triune God.

  1. In der letzten futur2 hatte ich den Aufsatz veröffentlicht: Warum die Kirche keine Zukunft hat (ThBeitr 51, 2020, 440–456). Hier hatte ich bereits eine Fortführung angekündigt, die die vorgelegten analytisch-kritischen Reflexionen konstruktiv ergänzen, und Impulse für eine zukunftsfähige Gestalt versprochen. Diese Weiterführung liegt sowohl in diesem Text vor wie in einem Beitrag, der im Mai diesen Jahres erscheinen wird: „Jede/r hörte sie in seiner Sprache reden” (Apg. 2,6b). Verheißungen für eine milieusensible, lebensweltorientierte Kirche, in: Thomas Schlegel/ Martin Reppenhagen (Hg.): Kirche in der Diaspora: Bilder für die Zukunft der Kirche. Festschrift zu Ehren von Michael Herbst, Leipzig 2021.
  2. Vgl. zur Sache die schöne Annäherung bei Ulrich Heckel: Schwachheit und Gnade. Trost im Leiden bei Paulus und in der Seelsorgepraxis heute, Stuttgart 1997.
  3. Dieses Grundgesetz des Handelns Gottes stellt die Mainstream-Logik einer Kompetenz-Orientierung und -Maximierung in Frage. Gaben und Fähigkeiten sind wichtig. Werden materielle Mittel, Bildung (universitäre Theologenausbildung), Akzeptanz (wie denken Menschen über die Kirche?) und flächenabdeckende Struktur zu Ankerpunkten, von denen wir die Lösung erwarten, greifen wir aber zu kurz und stehen dem Helfen Gottes im Wege. Mangel, Defizite, Schwächen können dann ein Mittel werden, sich für die Wirklichkeit Gottes zu öffnen und auf seine Möglichkeit neu aufmerksam zu werden. Im Rahmen einer solchen Abhängigkeit können dann auch die natürlichen Gaben, kulturellen Errungenschaften, administrativen Kompetenzen eine segensreiche, weil dienende Wirkung entfalten.
  4. Auch wenn Grundgesetz Art. 140 i. A. an die Weimarer Reichsverfassung 137 Abs. 1 festhält: „Es besteht keine Staatskirche“, gibt es eine, v. a. von Konfessionslosen und anders Religiösen wahrgenommene tiefe Diskrepanz zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Die Kirchen haben als öffentlichrechtliche Körperschaften eine hervorgehobene Stellung. Der Staat zieht ihre Steuern ein. Kirchlicher Religionsunterricht ist an staatlichen Schulen Pflichtfach. Es bestehen alte Finanzierungspflichten des Staates gegenüber den Kirchen. Diese oft verharmlosend als „hinkende Trennung“ von Staat und Kirche bezeichneten juristischen Gegebenheiten markieren, was an Verbindung von Staat und Kirche in Fortführung der Ehe von Thron und Altar in nahezu 1700 Jahren als Konzept eines christlichen Abendlandes gewachsen ist. In Zeiten zunehmender Konfessionslosigkeit resultiert die Frage: Sollten wir an Strukturen festhalten, die noch aus der Zeit des Wiener Kongresses stammen? Ist die gegenwärtige Kontextualisierungsgestalt von Kirche nicht schlicht überholt? Gibt es nicht andere, die angemessener sind? Reichsrechtliche Normativität gewinnen die Bekenntnistexte der Kirche erst durch die staatliche Anerkennung des Christentums und die damit verbundene politisch-rechtliche Fixierung ihrer Überzeugungen (so Reinhard Staats: Art. Bekenntnis III, Kirchengeschichtlich, 1. Alte Kirche, in: RGG 4. Aufl., Bd.1, [1998], [1249–1251] 1250.) Vgl. zum Ganzen den lesenswerten Beitrag von Michael Domsgen: Evangelium kommunizieren in einer mehrheitlich konfessionslosen Gesellschaft. Sechseinhalb Thesen in kirchentheoretischer Absicht, Vortrag vor der Landessynode der ELM am 22. 11. 2017 in Erfurt (link: https://www.ekmd.de/asset/zzTH48EKSbK66TVGXWaYFA/ds-2-2-referat-prof-domsgen.pdf).
  5. Vgl. wegweisend: Christine Weizsäcker/Ernst Ulrich von Weizsäcker: Fehlerfreundlichkeit, in: Klaus Kornwachs (Hrsg.): Offenheit – Zeitlichkeit – Komplexität. Zur Theorie der Offenen Systeme, Frankfurt/New York 1984, S. 167–201; Ernst Ulrich von Weizsäcker: Error Friendly Technologies, in: Bulletin of Science Technology Society. Band 4, 1984, S. 337–339.
  6. Zur Begründung und notwendigen Ausdifferenzierung dieser These vgl. Heinzpeter Hempelmann: Nach der Zeit des Christentums. Warum Kirche von der Postmoderne profitieren kann und Konkurrenz das Geschäft belebt, Gießen 2009. Die vorchristliche und die nachchristliche Situation und Konstellation sind – bedingt – vergleichbar. Je mehr der Traditionsabbruch zunimmt (vgl. die grundlegende Analyse von Armin Kuphal: Abschied von der Kirche. Traditionsabbruch in der Volkskirche, Gelnhausen 1979), umso mehr verlieren christliche Traditionen an Prägekraft. Umso weniger wissen aber die nachwachsenden Generationen, was christlicher Glaube ist; umso geringer wird der Druck, sich mit dem Christentum als übermächtiger Größe kritisch auseinanderzusetzen und sich von ihm zu distanzieren. Umso mehr ergibt sich die Chance, das, was christlicher Glaube ist, neu zu erklären und im Rahmen einer postchristentümlichen Gesellschaft neu zu kontextualisieren und eine im besten Sinne attraktive Gestalt zu geben, die – unvorbelastet durch Vorurteile – (neu) entdeckt werden kann.
  7. Michel Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. – Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesungen am Collège de France 1977/1978, (2004), Berlin 2006, 5. Aufl. 2017 (stw; 1808), 173–200.
  8. Die indikativische bzw. in die Zukunft blickende Sprache, in der ich für verschiedene Felder Perspektiven zu entfalten suche, ist nicht die Sprache der Organisationsentwicklung, sondern – schon vom Duktus der Argumentation her – die Sprache der Verheißung. Es geht um das Aufspannen von Horizonten, die die Kirche hat, auch wenn sie sie vielleicht noch nicht sieht; um Realitäten, auf die sie sich vertrauend einlassen darf, auch wenn sie gegenwärtig noch nicht ihre Gestalt bestimmen. Transitionsprozesse brauchen solche rücken vom „nicht“ über das „noch nicht“ zum „das wird und kann mit Gottes Hilfe sein“.
  9. Sie bildet – i. A. an Gilles Deleuze/Felix Guattari: Rhizoms (Merve, Berlin 1977, 40). Zu Deleuze/Guattari vgl. Frank Beyersdörfer: Multikulturelle Gesellschaft. Begriffe, Phänomene, Verhaltensregeln, Münster 2004, 202ff.
  10. Ausführlicher bei Heinzpeter Hempelmann: Die Kraft des Con. Konkurrenz von Kirchen und in der Kirche als Herausforderung. Grundzüge einer alternativen Ekklesiologie, in: Thbeitr 50. (2019), 151–168.
  11. Vgl. Apg 26,14.
  12. Exemplarisch nenne ich: das Elend der an den Rand der Gesellschaft gedrängten Bewohner von Senioren und Pflegeheimen; das unsichtbare Leiden älterer und sehr alter Menschen, die durch den Verlust von Angehörigen oft isoliert, materiell klamm und mental abgehängt sind; Menschen aus dem Prekariat, die sich von allen anderen gedisst fühlen und gesellschaftlich abgehängt wissen: in prekären Beziehungen (Scheidung!), prekären Bildungsverhältnissen (oft kein Hauptschulabschluss), prekären materiellen Verhältnissen (oft überschuldet, [langzeit-]arbeitslos) und prekären Gesundheitszuständen (oft adipös, alkoholsüchtig); aber auch Menschen, die mit der Komplexität einer unübersichtlich gewordenen Welt überfordert sind und zum Opfer von Sekten, Verschwörungstheorien und rechts- wie linksradikalen Ideologien werden. So sie überhaupt wahrgenommen werden, werden sie schnell zum Gegenstand des moralischen Fallbeiles derer, die etabliert sind und im Leben noch zu recht kommen.
  13. Das meint nicht nur die bestehende Personalförderung. Was würde es bedeuten, wenn eine Landeskirche garantieren würde, dass in ihrem Bereich kein Obdachloser mehr frieren oder erfrieren muss? Was ist es für ein Signal, wenn gezielt und massenhaft in die Ausbildung und Anstellung junger Menschen investiert wird, die in der Lage sind, mental wieder andere junge Menschen zu erreichen?
  14. Wer Anschauungsmaterial sucht und sich „anstecken“ lassen möchte: Mario Herger: Das Silicon-Valley-Mindset: Was wir vom Innovationsweltmeister lernen und mit unseren Stärken verbinden können, Kulmbach 2020.
  15. Systemtheoretisch formuliert: Wir brauchen nicht die Trägheit und Selbstgenügsamkeit eines im Sinne des AGIL-Schemas (Adaption, Goal Attainment, Integration, Latency) funktionierenden Systems (nach Talcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften, 6. Aufl. 2003, und in seiner Weiterentwicklung bei Niklas Luhmann: Soziale Systeme, 11. Aufl. 2001). An Stelle des AGIL-Schemas braucht es Rahmenbedingungen, die echte Emergenz ermöglichen – Emergenz also nicht als Bestandteil des Systems (so etwa bei Luhmann, Soziale Systeme, 154, der Emergenz als systemtheoretische Eigenschaft, „emergente Ordnung als soziales System“ auffasst), sondern als Kraft, die das System überschreitet; als Innovation, nicht als Reparatur, theologisch: als Reformation statt Konsolidierung.
  16. Sie wird nicht fragen: Passen fresh x ins System; stören sie nicht unser System? Sie wird umgekehrt fragen: Wie sieht eine flexible Struktur aus, die solchen Initiativen jeden notwendigen Raum gibt? Wie können wir die bestehenden Regeln so anpassen, dass sie helfen, lebensnotwendige Maßnahmen zu realisieren? Mit den Freunden aus England formuliert: Wie bekommen wir eine mixed economy hin, in der alte und neue Gestalten von Gemeinde einander ergänzen, unterstützen und befruchten?
  17. Jonny Baker/Cathy Ross (Ed.): The Pioneer Gift. Explorations in Mission, London 2014.
  18. Die kleine Schar – wie oft nur ein oder zwei Hände voll – ist aller Mühe wert. Sie braucht aber für ihre Gemeinschaft nach Mt 18,20 kein ganzes Kirchengebäude dafür. Das ist mit Verlaub kein Plädoyer für Freikirche, sondern für vernünftigen Ressourceneinsatz.
  19. Selbst das Konservativ-Etablierte Milieu und auch das Sozial-Ökologische werden Gemeindehäuser eher meiden.
  20. Vorbild kann eine Kirchengemeinde in einer Stadt Norddeutschlands sein, die ihr Gemeindehaus einer Musikschule zur Verfügung stellt und es zu einer Begegnungsstätte umgestaltet hat.
  21. So war der RU nach der „Wende“ als ordentliches Lehrfach an ostdeutschen Schulen oft noch der einzige Kontakt der Bevölkerung zur Kirche. So wichtig dieser Konnex ist, so sehr muss sich eine Kirche immer wieder prüfen, welchem Bild von Kirche sie bei einem solchen Wunsch nach öffentlicher Präsenz folgt; ob dieses noch zeitgemäß ist und ob sie die theologische wie geistliche Kraft für einen solchen Auftritt besitzt.
  22. Denkbar sind verschiedene Modelle, die diesen Kriterien entsprechen, etwa der Ansatz eines Solidarbeitrages, den jeder in der Bevölkerung zu entrichten hat, bei dem aber individuell und regelmäßig darüber entschieden wird, welchem gemeinnützigen, wohltätigen oder religiösen Zweck er zugutekommt. Eine solche Mandatssteuer gibt es schon in Spanien, Italien (otto per mille; 8/1000 vom Einkommen). Denkbar wäre auch ein Konzept, das dem Kirchensteuerzahler mindestens teilweise im Rahmen einer breiten Palette von alternativen Verwendungszwecken in regelmäßigen Abständen die Möglichkeit einräumt zu bestimmen, was mit seinem Geld geschehen soll.

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