012021

Foto: Bálint Szabó/Unsplash

Konzept

Philipp Elhaus

Ursprüngliche Freiheit und befreite Ordnungen – Kirchentheoretische Orientierungslogiken im komplexen Gelände

1. Verwachsenes Dickicht

Freiheit und Ordnung scheinen auf den ersten Blick durch einen Gegensatz gekennzeichnet zu sein – zumindest, wenn man das Begriffspaar mit dem Hintergrundrauschen europäisch geprägter Geistes- und Kulturgeschichte im Ohr hört. Freiheit steht dann in der Regel für das Moment der Selbstbestimmung, die sich emanzipatorisch an Vorgaben abarbeitet, die der eigenen Autonomie entgegenstehen. Der Begriff der Ordnung dagegen suggeriert Rahmenbedingungen, die der freiheitlichen Selbstbestimmung tendenziell entgegenlaufen. Zugleich klingt beim Ordnungsbegriff aber auch eine Grenzfunktion gegenüber einem willkürlich gefüllten Freiheitsverständnis mit. In sehr unterschiedlichen Diskursfeldern lassen sich die Spuren des Begriffspaares Freiheit und Ordnung und das jeweilige Austarieren ihres spannungsvollen Verhältnisses verfolgen. Ob in der Ethik, der Rechtsphilosophie, der Sozialphilosophie oder der Soziologie – in unzähligen Varianten werden die Begriffe semantisch gefüllt und das Feld zwischen dem Begriffspaar vermessen. Erinnert sei hier nur an Kants Verbindung von Freiheitsautonomie und allgemeinem Sittengesetz als über die Vernunft vermittelte Identität. Oder an die dialektische Verhältnisbestimmung von konkreter Freiheit und konkreter Ordnung bei Ernst Bloch und die Bedeutung des Begriffspaars in Karl Poppers Plädoyer für eine offene Gesellschaft, an die jüngst Stefan Brunnhuber mit dem Untertitel „Ein Plädoyer für Freiheit und Ordnung im 21. Jahrhundert“1 eindrücklich erinnert hat.

Was als liberal oder konservativ, individualistisch oder kollektivistisch, progressiv oder regressiv, visionär oder revisionistisch gelten kann, wird zunehmend eine Frage der polarisierten Perspektiven und muss kontrovers ausgehandelt werden.

Eine besondere Ordnungsfunktion in unserem Gemeinwesen kommt dem Recht zu, das die Freiheit des Individuums in Form von Freiheitsrechten grundsätzlich garantiert und schützt. Dabei sind die rechtlich gewährten Handlungsfreiheiten relational gefasst. Die Freiheit einer oder eines Jeden findet ihre Grenze an der Freiheit der Anderen. Das Recht – im rein formalen Sinne und damit in der Tradition Kants gesprochen – ließe sich daher als vernünftige Ordnung der Freiheit verstehen. Wenn man allerdings einräumt, dass der Freiheitsbegriff nicht nur mit formalen Kategorien zu fassen ist, sondern auch materiale Komponenten wie Selbstwirksamkeit, Teilhabemöglichkeiten u.a. enthält, wird die Verhältnisbestimmung komplexer. Rückt damit doch die soziale und ökonomische Teilhabe in den Fokus. Die gesellschaftlich damit verbundenen notwendigen Aushandlungsprozesse reichen über rechtliche Rahmenbedingungen hinaus bis weit in die diversen Teilsysteme und Öffentlichkeiten hinein.

Spätestens seit dem Wiedererstarken des Populismus als weltweitem Phänomen2 wird deutlich, dass man sehr genau hinsehen und hinhören muss, wer die jeweiligen Begriffe mit welcher Intention verwendet. Entsprechend mischen sich die semantischen Vorhöfe, die sich traditionell mit den jeweiligen Begriffen verbinden. Was als liberal oder konservativ, individualistisch oder kollektivistisch, progressiv oder regressiv, visionär oder revisionistisch gelten kann, wird zunehmend eine Frage der polarisierten Perspektiven und muss kontrovers ausgehandelt werden. Unterschiedliche Abgrenzungs- und Zugehörigkeitslogiken verstärken sich viral im digitalen Raum und verdichten sich in abgeschlossenen Kommunikationsblasen. Die Wahl von Argumentationsfiguren wie das Reklamieren von Identität oder das Plädoyer für eine Wir-Kultur gleicht zunehmend einem Bäumchen-wechsel-dich-Spiel im Rahmen von vielfältigen Singularitäts- und Diversitätsdiskursen, die durch wechselseitige Vorwürfe moralisch zusätzlich aufgeladen werden. Täter– und Opfersemantiken, Diskriminierungs- und Rassismusvorwürfe dienen sowohl als Schutzzone wie als Angriffsstrategie. Kein Wunder, dass man hier manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht.

Die Orientierung in diesem komplexen Gelände wird zunehmend schwieriger, da in spät- bzw. postmodernen Zeiten keine universale Vogelperspektive mehr zur Verfügung steht.

Die Orientierung in diesem komplexen Gelände wird zunehmend schwieriger, da in spät- bzw. postmodernen Zeiten keine universale Vogelperspektive mehr zur Verfügung steht. Es scheint, als wären wir nicht nur in Europa von der nächsten Variante der neuen Unübersichtlichkeit betroffen. Die damit verbundene Unsicherheit wird durch die globalen Zukunftsfragen wie die Klimakrise zusätzlich verstärkt. Die Corona-Pandemie hat uns zudem die Verwundbarkeit von Personen und Systemen ebenso eindrucksvoll wie demütigend vor Augen geführt und die soziale Spaltung der Weltgesellschaft weiter verschärft.

Die VUCA-Welt3, gekennzeichnet von Unbeständigkeit, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit, mutet uns als individuelle und kollektive Identitäten ein hohes Maß an Umgang mit Widersprüchen und Veränderungen zu. Wer in diesem zugewachsenen Wald ihren oder seinen Weg finden will, muss damit rechnen, dass sich ein Weg erst unter den Schritten bildet und die Wegführung nur im Rückblick erkennbar wird. In der Fülle möglicher Orientierungen zeichnen sich zwei gegensätzliche Richtungen ab. Zum einen der Versuch, der Unübersichtlichkeit und Unsicherheit durch Vereinfachung und Verdrängung der herausfordernden Pluralität zu entgehen. Dieser populistische Weg führt – im Bild gesprochen – zum Kahlschlag und impliziert tendenziell Gewalt. Eine zweite Richtung lässt sich bewusst auf Ambivalenzen und Widersprüche ein und sucht mögliche Schnittstellen und Vernetzungsmöglichkeiten der unterschiedlichen Logiken und Systeme.Auf Komplexität wird mit Diversitätsstrategien reagiert, die in der Lage sind, widersprüchliche Vielfalt zu bearbeiten und sie kommunikativ zu vermitteln, anstatt sie zwanghaft zu reduzieren. Managing diversity auf zahlreichen Trampelpfaden, die sich ihren Weg durch das unübersichtliche Dickicht bahnen.

Auf Komplexität wird mit Diversitätsstrategien reagiert, die in der Lage sind, widersprüchliche Vielfalt zu bearbeiten und sie kommunikativ zu vermitteln, anstatt sie zwanghaft zu reduzieren.

2. Mittendrin – Orientierungsversuche der Kirchen

Welche Bedeutung kommt der christlichen Religion und den Kirchen als ihren organisationalen Repräsentanten bei diesen Orientierungsversuchen im komplexen Gelände zu? Eine klassische Variante besteht darin, für sich mit dem Gottesbegriff die offensichtlich verloren gegangene Universalperspektive zu reklamieren und damit Richtungen vorzuschlagen, die sich eher wertekonservativ auf den Ordnungsbegriff oder veränderungsaffirmativ auf den Freiheitsbegriff beziehen. In der Regel aber ohne sich über zwei fundamentale Differenzen Rechenschaft zu geben.  Zum einen kann die universale Perspektive immer nur von einem partikularen, menschlichen Standpunkt aus vertreten werden. Über die eigene Positionalität des In-der-Welt-Seins kommt niemand hinaus. Der denkerische Ausgriff auf das Ganze der Wirklichkeit mithilfe des Gottesbegriffes scheitert am Horizont, der uns mit unserem jeweiligen Existenzort und seinen Einbettungen in Sprache und geschichtliche Kontexte mitgegeben ist. Dieser Erkenntnishorizont markiert zwar keine statische Grenze, weil er sich mit jeder Bewegung des denkenden Subjektes bzw. der konkreten christlichen Interpretationsgemeinschaft verschiebt, aber bleibt prinzipiell nicht hintergehbar.

Die Begrenztheit der eigenen Erkenntnisperspektive wandert gleichsam mit wie auf einer theologischen Pilgerreise.

Die Begrenztheit der eigenen Erkenntnisperspektive wandert gleichsam mit wie auf einer theologischen Pilgerreise. Damit wird zugleich deutlich, wie sehr wir bei unseren theologischen Orientierungsversuchen auf das dialogische Moment im Teilen unserer perspektivischen Wahrnehmungen und Deutungen angewiesen sind. Dies gilt sowohl innerkirchlich – Kirche ist als Interpretationsgemeinschaft4 zu verstehen – als auch für den Dialog mit anderen perspektivischen Zugängen auf die Wirklichkeit, wie sie uns in den verschiedenen Erfahrungswelten, Wissenschaften und Religionen begegnen.

Zum anderen spiegelt sich in der Unterscheidung von Universalität und Partikularität die fundamentale Differenz von Schöpfer und Geschöpf, die der jüdisch-christlichen Erinnerungskultur mit der Schöpfungsgeschichte eingeschrieben ist. Diese Differenz ist in der christlichen Trinitätslehre zwar sehr komplex aufeinander bezogen, hebt den kategorialen Unterschied jedoch nicht auf, sondern präzisiert ihn zugunsten des Menschen. In evangelischer Tradition gesprochen: Die Gewissheit, mit der sich eine christliche Wirklichkeitsdeutung präsentiert, ist prinzipiell verdankt und kann auf Gott als unverfügbaren Grund der eigenen Gewissheit nur verweisen. Weil ich Gott daher nicht als Legitimationsgrund mit universalem Geltungsanspruch für alle einbringen kann, muss ich christlich begründete Positionen in die jeweiligen Diskurse hinein argumentativ übersetzen. Wer angemessen vom Himmel reden will, muss der Erde treu bleiben und darf die Bodenhaftung nicht verlieren.

Wer angemessen vom Himmel reden will, muss der Erde treu bleiben und darf die Bodenhaftung nicht verlieren.

Die christlichen Kirchen, ihre Repräsentant*innen und Mitglieder stehen nicht jenseits des komplexen Terrains, sie bewegen sich mittendrin und haben Anteil an denselben Unsicherheiten, Transformationsprozessen und Dynamiken, denen sich auch andere gesellschaftliche Teilsysteme ausgesetzt sehen. So ist z.B. die Deinstitutionalisierung und der Mitgliederschwund ein Teil der kulturellen Gesamtentwicklung, die sich daher auch nicht durch gezielte Strategien umkehren, sondern nur punktuell durchbrechen lässt. Die innerkirchlichen Qualitätsoffensiven und Reformversuche, die um die Jahrtausendwende mit ihren linearen Entwicklungslogiken im Gepäck aufbrachen5, haben sich im Dickicht der potenzierten Unübersichtlichkeit verfangen. Die Sprache der aktuellen kirchlichen Zukunftspapiere aus evangelischen Landeskirchen verspricht hier leichteres, kleinteiligeres Gepäck. Die Zivilgesellschaft scheint mehr und mehr zum Referenzrahmen einer Minderheitenkirche zu werden, in dem sich die Kirche öffentlich als „Lobbyistin für Gott-Offenheit“6 präsentiert. Von christlichen Präsenzen in unterschiedlichen Netzwerken ist die Rede. Neben die traditionelle Mitgliedschaftslogik tritt der Sozialraum als Bezugsgröße, in denen kirchliche Vertreter*innen und Christ*innen ihre Vision von gelingendem Leben kooperativ mit anderen Akteur*innen einbringen.7 Um auf die wachsende Komplexität im Umfeld und die immer schneller werdenden Veränderungen reagieren zu können, sollen alte Versäulungen aufgebrochen, verfasste Kirche und unternehmerische Diakonie intensiver miteinander verschränkt, Verwaltung agiler, Risikokapital in Experimente investiert und zunehmend ökumenisch agiert werden.8 Gesamtkirchliche Zukunftsprozesse werden zunehmend partizipativ9 gestaltet und ergänzt durch bewusste Musterunterbrechungen in Erprobungsräumen.10 Hier sollen das ermöglichende und unterstützende Handeln der Organisation und die Initiativen von Akteur*innen innerhalb und jenseits der etablierten Strukturen beim explorativen Erkunden neuer Formen des Kircheseins zusammenfinden: Eine verlässlich geordnete Freiheit in der Hoffnung, dass in den Freiräumen neue christliche Sozialformen und Vernetzungen kirchlicher Präsenz entstehen. Freilich mit dem Preis, dass in den ebenso geschützten wie begrenzten Freiräumen bewusst andere Logiken wirken als in den bestehenden Strukturen und sich die Frage stellt, wie sich mit den Widersprüchen und Ambiguitäten im Blick auf Zuständigkeiten, Ressourcenverteilung, strukturelle Verfahren, Anstellungsverhältnisse, Leitung sowie Kultur und Haltungen umgehen lässt. Die damit auftretenden Probleme können zugleich als Indiz gewertet werden, dass die Kirchen mit ihren eigenen Orientierungsversuchen in der VUCA-Welt angekommen sind und sich im Blick auf Mitgliedschafts- und Einflusslogik11konzeptionell darauf einstellen.

Hier sollen das ermöglichende und unterstützende Handeln der Organisation und die Initiativen von Akteur*innen innerhalb und jenseits der etablierten Strukturen … zusammenfinden: Eine verlässlich geordnete Freiheit in der Hoffnung, dass in den Freiräumen neue christliche Sozialformen und Vernetzungen kirchlicher Präsenz entstehen.

Wenngleich die Frage bleibt, ob die aktuelle Papierlage und das Einrichten segmentierter kirchlicher Innovationsräume ausreicht, um das Gewohnheitsrecht in den Mentalitäten und Strukturen zu brechen und die über Jahrhunderte gewachsene Pfadabhängigkeit der klassischen Organisationsgestalten zu überwinden.12 Strukturen sind bekanntlich leichter zu verändern als habituell verankerte Kulturen.

Welche individuellen und sozialen Formen christliche Religiosität unter den Bedingungen von prinzipialisierter Religionsfreiheit annimmt und welche Rolle die kirchlichen Organisationen unter dem Anpassungsdruck im Blick auf schwindende Relevanz und Finanzen dabei spielen werden, wird zur Zukunftsfrage, die sich mit keinem Masterplan jenseits kleinteiliger Versuchsschritte und explorativer Wege beantworten lässt. Umso wichtiger, in diesem Feld als Lerngemeinschaft unterwegs zu sein, sowohl im evangelischen Raum als auch darüber hinaus. Ökumene wird als Learning Community für Zukunftsorientierungen im komplexen Gelände an Relevanz gewinnen. Denn unbestreitbar ist die Tatsache, dass der Umbau der Kirchen von einer staatsanalogen Institution zu einer zivilgesellschaftlichen Akteurin auf zahlreichen Ebenen bereits begonnen hat.13Auch wenn die tektonischen Verschiebungen, die mit diesem Paradigmenwechsel verbunden sind, längst noch nicht in der Breite angekommen sind und berücksichtigt werden.

Strukturen sind bekanntlich leichter zu verändern als habituell verankerte Kulturen.

Bei diesen anstrengenden Anpassungs- und Austarierungsleistungen ist jedoch eine dritte Logik noch nicht ins Blickfeld geraten, die das Spezifikum der kirchlichen Organisationsgestalten ausmacht: die Ursprungslogik. Auch wenn sie in großen Konfessionsfamilien im Blick auf das klassische Verhältnis von Bibel, Tradition und Amt unterschiedlich interpretiert wird, kann sie doch im Rückgriff auf das biblische Gesamtzeugnis als gemeinsamer Kompass für die kirchlichen Orientierungsversuche dienen.14 Bezogen auf die Begriffe der Freiheit und des Rechtes weist die Ursprungslogik auf die Befreiung Israels aus der Sklavenexistenz in Ägypten und den Dekalog als Ordnung der Freiheit hin. Beides ist als Gabe Gottes zu verstehen, als wirksames Zeichen seiner Bündnistreue. Der Exodus und der Dekalog werden zur Signatur eines befreienden Gottes und seiner Freiheitsordnung. Seine Anwaltschaft für die Freiheit im Sinne von Teilhabegerechtigkeit der Marginalisierten wird von der Prophetie eindrücklich in Erinnerung gerufen. Die Verkündigung Jesu vom Reich Gottes knüpft an die prophetische Rede vom befreienden Gott an. Wenn Blinde sehen, Taube hören, Lahme gehen, Aussätzige rein, Tote auferweckt werden und Gefangenen die gute Botschaft verkündet wird (Mt 11,5 par in Aufnahme von Jes 35,5), wird Freiheit im Sinne sozialer Teilhabemöglichkeiten mit der Vorstellung einer erneuerten Schöpfung verbunden. Utopischer Zukunftshorizont und protologische Erinnerung verschmelzen im Hier und Jetzt des Redens und Handelns des Nazareners. Sein Scheitern am Kreuz und das Geheimnis seiner Auferstehung lassen den Verkündiger Jesus in der kreativen Erinnerung seiner Jünger*innen zum verkündigten Christus werden. Theologische Chiffre für die Dynamik dieser vielfältigen Vergegenwärtigungen des Vergangenen in Narrationen, Ritualen und Handeln ist der Geist.15 Das Kreuz erscheint in der geistreichen Retrospektive des österlichen Lichtes als Inbegriff jener subversiven Neuordnung, die den Friedenstiftern das Himmelreich und den nach Gerechtigkeit Hungernden einen gedeckten Tisch verspricht. In der Praxis der frühen Christen und ihrer Gemeinden wird diese neue Ordnung der inklusiven Liebe als Befreiung aus sozialen und religiösen Zuschreibungen im Blick auf Ethnie, Geschlecht und sozialem Status (vgl. Gal 3,28) ebenso anschaulich wie wirksam und trägt zum Wachstum der Jesusbewegung bzw. der sich auch strukturell langsam herausbildenden Kirche bei.

Die Kirchen sind mit ihren eigenen Orientierungsversuchen in der VUCA-Welt angekommen und stellen sich im Blick auf Mitgliedschafts- und Einflusslogik konzeptionell darauf ein.

Das sozialutopische Potential des Christusglaubens wirkte in vorkonstantinischer Zeit wie ein Ferment – analog zu den biblischen Bildern von Salz und Sauerteig. Je nach Kontext hat es eine kulturaffirmativ-transformierende Variante wie in den Haustafeln der Deuteropaulinen (Kol 3,18-4,1 und Eph 5,22-6,9) oder eine herrschaftskritische Variante wie in der Johannesapokalypse gefunden. Die nachkonstantinische Ära, in der wir mit hinkender Trennung von Kirche und Staat über 100 Jahre nach der Weimarer Verfassung zeitverzögert nun definitiv angekommen sind, macht gerade die vorkonstantinische Zeit zur spannenden Entdeckungsfolie für eine Neuverortung der Kirchen in der Zivilgesellschaft.

Der Aktualisierung der herrschaftskritischen Tradition im nationalsozialistischen Deutschland verdanken wir im evangelischen Raum übrigens die Einsicht, dass nicht nur die kirchliche Verkündigung, sondern auch die Ordnung der Kirche Zeugnisgestalt für die kirchliche Botschaft von der freien Gnade Gottes bildet (vgl. die 3. These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934). Der Rekurs auf die Ursprungslogik kann daher nicht nur als Legitimation kirchlicher Verkündigung und kirchlichen Handelns beansprucht werden. Er fungiert zugleich als bleibende kritische Instanz – auch für die Organisationsgestalt und das organisationale Handeln. Selbstkritische Reflexion auf die Aktualisierungsmöglichkeiten der eigenen Ursprungslogik in den Bereichen von Mitgliedschafts- und Umweltlogik ist daher das Signum von Kirche als Organisation. Mit theologischen Vokabeln gesprochen: die Kommunikation des Evangeliums macht den Auftrag der Kirche und ihren Selbstvollzug zugleich aus. Dogmatisch steiler formuliert: Wo sich die Kirche der unverfügbaren Wahrheit des durch den Geist vermittelten Wirkens Gottes in Jesus Christus aussetzt, gerät sie in den exzentrischen Sog der heilvollen Bewegung Gottes in die Welt. Nur in diesem Modus bleibt sie in der Wahrheit, die sie zu bezeugen hat.

Damit ist nicht nur die grundsätzliche Bejahung einer pluralistischen und interreligiösen Gesellschaft verbunden, sondern auch die Annahme der Herausforderung, kirchliches Leben unter den Bedingungen von prinzipialisierter Religionsfreiheit zu gestalten.

3. Kompass – nicht Navi

Befreiung aus menschenverachtenden Verstrickungen und die Mitwirkung an befreiten Ordnungen gehören sowohl in den internen Interaktionen als auch in den Umweltbeziehungen zu den Grundkonstanten der kirchlichen Ursprungslogik. Sie stellt kein Navigationsgerät dar, das uns sicher durch die unübersichtlichen Landschaften zum gewünschten Zielpunkt führt. Als Kompass zeigt sie jedoch eine spezifische Richtung an. Eine Richtung, die von der klaren Bejahung und Unterstützung der staatlich gewährten und garantierten Religionsfreiheit ausgeht. Damit ist nicht nur die grundsätzliche Bejahung einer pluralistischen und interreligiösen Gesellschaft verbunden, sondern auch die Annahme der Herausforderung, kirchliches Leben unter den Bedingungen von prinzipialisierter Religionsfreiheit zu gestalten.

Nicht nur, um sich als Organisationsgestalt im Sinne kenotischer Übungen nach Phil 2 auf Privilegienverzicht und schwindende kulturelle Relevanz einzustellen. Ob dies zu Formen der (Selbst)Auflösung und/oder zur notwendigen Transformation christlicher Lebensformen und ihrer organisationalen Repräsentanzen führt, wird die Zukunft entscheiden, an der wir mitwirken.16 Entscheidend ist dabei, ob wir als verfasste Kirchen das uns bleibend vorgegebene biblische Zeugnis von der Befreiung Gottes aus menschenunwürdigen Abhängigkeiten in Hoffnung auf die Kraft des Geistes inszenierend darstellen, in Interaktionen verkörpern und wirksam in Lebenswelten und Systeme übersetzen können. Und dabei die Arbeit von Diakonie und Caritas als komplementäres soziales Zeugnis des christlichen Hoffnungsüberschusses deuten und wertschätzen.

Zukunft hat Kirche dort, wo es ihr gelingt, Erfahrungszugänge zur eigenen Ursprungsdynamik offen zu halten bzw. neu zu eröffnen.

Zukunft hat Kirche dort, wo es ihr gelingt, Erfahrungszugänge zur eigenen Ursprungsdynamik offen zu halten bzw. neu zu eröffnen. Es geht darum, das Evangelium von der Freiheit der Gotteskinder so zu kommunizieren, dass es zur religiösen Erfahrung im Zeichen von Selbstbestimmtheit werden kann,17 um seine Kreise in Lebenswelten, Sozialräumen und gesellschaftlichen Systemen zu ziehen. Es geht um einen Wiedereintritt, ein Re-Entry der sozialutopischen Visionen des christlichen Glaubens, personal wie organisational in verfasster Kirche, Diakonie und Caritas. Denn mit dieser Erfahrung ereignet sich Kirche immer wieder neu, als Raum mit-geteilter Freiheit. Aus dieser Erfahrung heraus wächst die Kraft, mit leichterem Gepäck und größerer Unsicherheit seine Schritte in die Zukunft dennoch hoffnungsvoll und zuversichtlich setzen zu können. Als Bürger*innen im demokratischen Gemeinwesen ebenso wie als kirchliche Organisationen oder christliche Unternehmen im Wohlfahrtsbereich.

Der Rekurs auf die Ursprungslogik entrückt uns nicht aus den innerkirchlichen und gesellschaftlichen Kontroversen und Aushandlungsprozessen. Aber er zeigt eine Richtung an und schickt uns mit Vertrauen auf Erkundungswege. Wo Vertrauen wirkt, wird Sozialkapital freigesetzt, das als Nährboden für soziale Teilhabe wie Innovation dient. Beides braucht ein Gemeinwesen – ob lokal, glokal oder global gedacht – nötiger denn je, um einen Weg zwischen Freiheit und Ordnung zu finden, der im Zeichen gelingenden Lebens für alle steht.

  1. Die offene Gesellschaft, München 2019
  2. Vgl. die sorgfältigen Analysen des Historikers Piere Rosanvallon, Das Jahrhundert des Populismus, Hamburg 2020 und die interdisziplinären Beiträge in Isabelle-Christine Panreck (Hg.), Populismus – Staat – Demokratie, Wiesbaden 2020.
  3. VUCA ist ein Akronym, das sich auf volatility, uncertainty, complexity und ambiguity bezieht. Damit werden vermeintliche Merkmale der modernen Welt beschrieben.
  4. Die evangelische Rede vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen wie der katholische Topos vom „gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen“ und dem sensus fidelium, dem Spürsinn des Gottesvolkes, zielt u.a. auf die Teilhabe an dieser Interpretationsgemeinschaft.
  5. Pars pro toto sei hier an das EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“ von 2006 und entsprechende Reformprogramme erinnert.
  6. So der Titel eines aktuellen Papiers des Theologischen Ausschusses der Ev. Kirche im Rheinland, https://landessynode.ekir.de/wp-content/uploads/sites/2/2020/12/LS2021_74-DS08-Lobbyistin-Gottoffenheit.pdf
  7. Z.B. im Zukunftsprozess der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, EKHN 2030 „Offene und öffentliche Kirche nah bei den Menschen“, siehe den Zwischenbericht unter https://www.kirchenrecht-ekhn.de/synodalds/44828.pdf
  8. Um nur einige Akzente der 12 Thesen des EKD-Zukunftspapiers „Zwölf Leitsätze zur Zukunft der Kirche“ aufzunehmen. Vgl. www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/zwoelf_leitsaetze_zukunft_kirche_ES_2021.pdf
  9. Vgl. den Entstehungsprozess der neuen Verfassung der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers https://www.kirchenverfassung2020.de/ sowie den gesamtkirchlichen Zukunftsprozess „Profil und Konzentration“ in der Ev.-luth. Kirche in Bayern https://puk.bayern-evangelisch.de/
  10. Als erste Landeskirche installierte die Ev. Kirche in Mitteldeutschland 2015 das landeskirchliche Programm der „Erprobungsräume“ www.erprobungsraeume-ekm.de/ueber-uns/. Das Modell macht zurzeit Schule, sieben weitere Landeskirchen haben ähnliche Zukunftswerkstätten eingerichtet. Weitere sind in der Planung.
  11. Hier folge ich Karl Gabriel, der drei divergente Handlungslogiken ausmacht, die innerhalb der Kirche als intermediäre Organisation wirken: Die Mitgliedschaftslogik zielt auf die Integration und Interaktion mit einer sich wandelnden Mitgliedschaft. Die Einflusslogik weist auf die gesellschaftliche Vermittlung von Religiosität hin. Die Ursprungslogik nimmt die Bindung der Großkirchen an ihre religiöse Tradition in den Blick, vgl. Modernisierung als Organisation von Religion, in: ders., Winfried Gebhard, Karl Krüggeler (Hg.), Institution. Organisation. Bewegung. Sozialformen der Religion im Wandel, Wiesbaden 1999, 19-37.
  12. Erhellend dazu nach wie vor aus dem ökonomischen Bereich Gunter Dueck, Das Neue und seine Feinde, Frankfurt/ New York 2013.
  13. Weitsichtig reflektiert der Kirchenjurist Rainer Mainusch die Konsequenzen für das Kirchenrecht, Der rechtliche Rahmen einer Kirche im Transformationsprozess, ZevKR 65 (2020), 349–406.
  14. Vgl. zum Folgenden die beiden Entwürfe einer biblischen Theologie von Reinhard Feldmeier und Hermann Spieckermann, Der Gott der Lebendigen, Tübingen 22017 sowie Menschwerdung, Tübingen 2018 und Udo Schnelle, Die ersten 100 Jahre des Christentums, Göttingen 32019.
  15. Vgl. zum Ansatz einer „praktischen“ Pneumatologie die Arbeiten von Michael Böhnke, Gottes Geist im Handeln der Menschen, Freiburg 2017 sowie Geistgewirkte Gottesrede, Freiburg 2021.
  16. Vgl. dazu die anregenden Anstöße von Christoph Theobald, Christentum als Stil. Für ein zeitgemäßes Glaubensverständnis in Europa, Freiburg 2017.
  17. Mit Matthias Sellmann, Dienstleistung an artikularisierter Religionsfreiheit, in: Kolja Königer, Jens Monsees (Hg.), Kirche(n)gestalten, Neukirchen 2019, 145-173

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