012021

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Statements

Olaf Scholz

Der Stellenwert von Respekt in unserer Gesellschaft

Sehr geehrter Herr Scholz, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für dieses Interview nehmen, um die Frage des Stellenwertes von Respekt in unserer Gesellschaft zu erörtern.

In unserer Gesellschaft erfahren immer mehr Menschen Respektlosigkeit. Gleichzeitig erkennen wir einen Rückgang des Respekts gegenüber Institutionen wie dem Bundestag und den Abgeordneten durch den versuchten Sturm des Gebäudes oder durch eingeschleuste AfD-Anhänger. In den USA wurde sogar das Capitol gestürmt – Politiker erfahren Anfeindungen und Morddrohungen.

Was bedeutet vor diesem Hintergrund für Sie Respekt und welchen Stellenwert hat er in unserer Gesellschaft?

Die Bilder vom Capitol Anfang Januar waren verstörend und beängstigend. Das war ein unerträglicher Anschlag auf die Demokratie und hat sichtbar gemacht, dass Trump in vier Jahren Amtszeit das Land noch tiefer gespalten hat. Nun hat Präsident Joe Biden eine gewaltige Aufgabe geerbt: Er muss die Amerikanerinnen und Amerikaner wieder zusammenführen.

Es ist liegt an uns, ob Veränderungen gesellschaftliche Spaltung vertiefen oder … überwinden.

Für mich ist das eine der zentralen Fragen, wie wir ein gutes Miteinander gestalten können. Die Ungleichheit auch bei uns in Deutschland nimmt leider zu. Der gegenseitige Respekt geht zunehmend verloren. Das ist für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft nicht gut. Es ist Aufgabe von Volksparteien wie der SPD, verschiedene Interessen und Wertvorstellungen zusammenzuführen und gemeinsame Ziele über den Tag hinaus zu benennen und zu verfolgen. Mein Leitbild ist eine Gesellschaft des Respekts. Respekt, der aus dem Miteinander und aus gegenseitigem Verständnis erwächst. Ein solches „Wir“ entsteht nicht aus sich selbst heraus. Es ist daher eine große Aufgabe von politischen Parteien voranzugehen.Es ist liegt an uns, ob Veränderungen gesellschaftliche Spaltung vertiefen oder – so das Ziel der SPD – überwinden.

Welche gesellschaftlichen Entwicklungen und Herausforderungen liegen Ihrer Meinung nach hinter dem veränderten Umgang miteinander?

In den sozialen Netzwerken werden die Spannungen mittlerweile besonders deutlich. Aggressionen, Ausgrenzungen und Abwertungen nehmen einen besorgniserregend breiten Raum ein. Aber natürlich sind nicht die sozialen Netzwerke schuld – sondern nur ein Spiegel für tiefergehende Entwicklungen.

Nach dem Mauerfall erlebten viele Bürgerinnen und Bürger Ostdeutschlands eine rasante Entwertung ihrer Biografien und Berufe. Ich selbst habe zu jener Zeit viele von ihnen und ihre Sorgen kennengelernt, als ich als junger Anwalt Beschäftigte und Gewerkschaften im Osten vertreten habe, die zugleich für ihre Zukunft und die Sicherung ihrer Lebensleistung kämpften. Inzwischen erleben wir in ganz Deutschland: Viele Industriearbeitsplätze und damit Berufsstolz und soziale Strukturen sind verloren gegangen. Zwar sind natürlich neue Berufe und Arbeitsplätze entstanden, aber oftmals ohne Strukturen, die Sicherheit bieten. Das Aufstiegsversprechen von einst, gilt mittlerweile nur noch für eine privilegierte Minderheit.

Respekt muss sich auch in guten Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen äußern.

Eine weitere Entwicklung ist, dass zu viele schlicht davon überzeugt sind, der persönliche Platz in der Gesellschaft sei das – verdiente – Ergebnis individueller Anstrengung. Die Überbetonung des Erfolgs Einzelner darf aber nicht zur Herabwürdigung all derer führen, die nicht aufsteigen; die nicht nach akademischen Abschlüssen oder Kreativberufen in die Metropolen streben. Wir sind eine arbeitsteilige Gesellschaft. Das heißt, wir sind alle aufeinander angewiesen. Das Akademiker-Ehepaar in Vollzeitbeschäftigung mit kleinen Kindern kann es nur geben, wenn es auf eine qualifizierte Dienstleistungswirtschaft zurückgreifen kann. Konkret geht es meistens um Kinderbetreuung, das Sauberhalten der eigenen Wohnung, das Liefern von bestellter Ware. Nicht erst die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass ohne diese Jobs gar nichts geht: ohne diejenigen, die in der Pflege und im Erziehungsbereich arbeiten, ohne die Männer und Frauen, die uns Pakete oder Essen ausliefern oder tagelang LKW fahren. Antwort auf diese Erkenntnis ist übrigens nicht allein, samstags Beifall zu klatschen. Respekt muss sich auch in guten Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen äußern.

Wieviel Freiheit braucht unsere Gesellschaft, um die anstehenden Herausforderungen kreativ zu meistern und wieviel Ordnung ist nötig, um – bei aller gebotenen Vielfalt – die verschiede­nen Interessen miteinander in eine gute Balance zu bringen?

Freiheit und Ordnung sind keine Gegensätze. Der Staat stellt die Rahmenbedingungen – daraus leiten sich individuelle und gesellschaftliche Freiheiten ab. Ich will, dass wir raus kommen aus dem politischen Klein-Klein. Es geht nicht um einzelne Reparaturen – sondern ums große Ganze. Ziel der SPD ist ein moderner, bürgernaher Staat, aber eben auch der Staat als strategischer Investor, als Ordnungs- und Gestaltungskraft zur Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit. Staat und Verwaltung müssen zum Innovationstreiber werden. Die Corona-Krise nutzen wir auch dafür, mit viel Geld kräftig in die Modernisierung unseres Landes zu investieren. Ein Beispiel: die Digitalisierung. Seit Jahrzehnten bleibt die Digitalisierung Deutschlands ein Nebenschauplatz und steht zu selten im Fokus aller Bemühungen. Viele Länder um uns herum haben uns längst überholt. In der Corona-Krise haben wir uns plötzlich gefragt, warum Gesundheitsämter immer noch mehr mit dem Fax-Gerät arbeiten, als mit passgenauen Software-Lösungen. Ich schlage daher eine missionsorientierte Wirtschaftspolitik vor. Es geht um eine klimaneutrale Industrie, um ein modernes Mobilitätssystem, eine konsequente Digitalisierung hin zur Gigabit-Gesellschaft und eine gute und moderne Gesundheitsversorgung. Wie wichtig ein funktionierender Ordnungsrahmen ist – das erfahren wir seit einem Jahr in der Corona-Krise.

Bei vielen Gruppierungen in unserer Gesellschaft scheint das Bewusstsein vom Sinn und der Legitimität demokratischer Institutionen wie Grundgesetz, Bundestag oder Polizei verloren ge­gangen zu sein. Wie kann man in einer Demokratie von den Bürgern gegenüber diesen Institu­tionen Respekt einfordern, ohne autoritär zu sein?

Es geht immer um beides, um Vertrauen und Respekt.

Grundsätzlich ist es doch so: Der Staat gewinnt Respekt gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, wenn er zeigt, dass er in der Lage ist, klug und besonnen zu handeln, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen und die Zukunft fest im Blick hat. Es geht immer um beides, um Vertrauen und Respekt.

Diejenigen, die unsere Demokratie nicht respektieren, sind vielleicht lauter als die, die sie achten. Wir sollten uns von ihrem Lärm aber nicht in die Irre führen lassen: Eine ganz große Mehrheit steht mit beiden Beinen fest auf demokratischem Boden.

Wie viel Respekt kann man politisch Andersgesinnten wie Rechtpopulisten, Querdenkern oder Reichsbürgern zollen, die Vertretern und Institutionen des Rechtsstaats aus eigener Perspek­tive absolut respektlos begegnen und die Grundlagen unserer Demokratie mehr oder weniger offen in Frage stellen?

Was Rechtspopulisten, Querdenker und Reichsbürger eint, ist die bewusste Verkürzung und das Auslassen. Sie geben vor, sie hätten einfache Lösungen für komplizierte Probleme: den Blick zurück oder das Ressentiment. Diese Annahme ist aber immer falsch. Wichtig ist mir zu unterscheiden, zwischen den Brandstiftern und jenen, die in einer schwierigen Lage nach Antworten suchen. Radikalisierte Bürgerinnen und Bürger erreichen wir immer schwerer. Wir müssen diese Gruppe so klein wie möglich halten, Ihnen keine Dauerbühne und vor allem keine Gelegenheit bieten. Viele andere aber müssen wir wieder auf unsere Seite holen, mit guten Konzepten und verantwortungsvollem staatlichen Handeln. Ganz aktuell habe ich großen Respekt vor allen, die von der Pandemie und ihren Folgen betroffen sind, die sogar existenzielle Ängste haben und trotzdem einen klaren Blick auf die Situation behalten und nicht vermeintlich einfachen Antworten verfallen.

Amtsträger und Institutionen sind in einer Demokratie auf Respekt angewiesen, um handlungsfähig zu sein. Was müssen sowohl Personen als auch Institutionen leisten, um langfristig Vertrauen und damit Respekt und Handlungsfähigkeit zu gewinnen und zu behalten?

Eine von Respekt geleitete soziale Politik ist in der Lage, Diskurse um Gleichberechtigung und Identität in ihre politischen Lösungen zu integrieren.

Es geht ja immer um gegenseitiges Vertrauen – der Staat in seine Bürgerinnen und Bürger und umgekehrt. Dafür steht die Demokratie. In der Politik geht es darum, wem die Wählerinnen und Wähler zutrauen, ihre Interessen gut zu vertreten. Es geht um Mehrheiten und Kompromisse. Wenn ich an die Institution Polizei denke, geht es natürlich um das Sicherstellen von Recht und Ordnung, nicht vorrangig um Kompromisse. Die Institution Schule muss vom Staat so ausgestattet sein, dass alle Kinder eine gute Bildung erfahren. Staatliches Handeln muss also immer verlässlich und nachvollziehbar sein. Respekt und Vertrauen können nicht von oben herab eingefordert werden, ohne selbst zu liefern.

Nach Chantal Mouffe ist der „postdemokratische Konsens“ mit zu viel Respekt gegenüber politischen Gegnern eine Ursache für den Rechtspopulismus. Kann „Linkspopulismus“ eine Antwort auf den Rechtspopulismus sein?

Nein, die Antwort muss aus der Mitte der Gesellschaft kommen und eine soziale Politik der Mitte kann sie auch geben. Eine von Respekt geleitete soziale Politik ist in der Lage, Diskurse um Gleichberechtigung und Identität in ihre politischen Lösungen zu integrieren. Sie ist liberal und sozial und geht gleichzeitig konsequent gegen Rassismus und Sexismus vor. Es muss egal sein, wen man liebt, woher man kommt, ob und an welchen Gott man glaubt. Vor allem wendet sie sich konsequent gegen die Überheblichkeit gegenüber den vielen hart arbeitenden Bürgerinnen und Bürgern. Daraus leitet sich die Politik des Respekts ab: Sie orientiert sich nicht an denen, die sich für etwas Besseres halten. Sie wendet sich entschlossen gegen den „Klassismus“ in unserer Gesellschaft. Sie schafft stattdessen die Voraussetzungen für mehr Zusammenhalt und gegenseitige Anerkennung. Und darauf kommt es an.

Verlassen wir das politisch-institutionelle Themenfeld und werden wir – wenn Sie erlauben – etwas persönlicher:

Als stellvertretender Juso-Vorsitzender unterstützten Sie seinerzeit den Stamokap-Flügel der Jusos und kritisierten die „aggressiv-imperialistische Nato“, die Bundesrepublik als „europäische Hochburg des Großkapitals“ sowie die sozialliberale Koalition, die den „nackten Machterhalt über jede Form der inhaltlichen Auseinandersetzung“ stelle. War das schon respektlos gegenüber Ihrer Parteiführung und wie beurteilen Sie dies aus heutiger Sicht?

Mit dem Kompass, mit dem ich durch mein Leben navigiert bin als 17-Jähriger, würde ich heute nicht mehr durchkommen. Das gleiche gilt für den Olaf Scholz als 27-Jährigen oder auch 47-Jährigen. Es ist ganz wichtig, dass man nicht sein Bild von der Welt, irgendwann fertig abgeschlossen hat. Im Gegenteil, je älter ich werde, desto größer der Reichtum an Erfahrungen und Wissen – das ist eine große Chance, die es unbedingt zu nutzen gilt.

Bei allem was wir tun, geht es um Respekt … Das heißt nicht, dass man nicht hart im Argument sein kann.

Das habe ich tief in mir drin. Ich habe einen Kompass, der sich aus den Erfahrungen der Vergangenheit und dem Heute zusammensetzt – ohne den geht es nicht.

Heute würde ich sagen: Ich bin Vizekanzler und Finanzminister einer Nation, die sehr erfolgreich haushaltet und wirtschaftet. Deutschland leistet einen großen Beitrag zur Förderung der gemeinsamen europäischen Idee. Das will ich weiter stärken. Ein starkes Europa ist unsere Zukunft.

Kann ein Politiker in höchste Ämter gelangen, ohne jemals im Lauf seiner Karriere respektlos gewesen zu sein: gegenüber Vorgängern, Vorgesetzten, Spielregeln oder Konkurrenten? Wie war das bei Ihnen?

Ja, natürlich. Niemand soll sich für etwas Besseres halten. Das gilt für die Gesellschaft – genauso wie für mich als Politiker. Na klar geht es um Macht, um Rechte und ganz wichtig: um Pflichten. Als ich als 20-Jähriger für die Einführung einer Frauenquote gekämpft habe, hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass wir heute immer noch keine echte Gleichstellung haben. Das ist auch für mich frustrierend, auch wenn ich den Fortschritt natürlich anerkenne.

Wenn ich an die Maskenaffäre aus den Reihen von CDU und CSU denke, geht es leider oft auch um Geld. Die Affäre wirft ein sehr schlechtes Bild auf unseren Stand. Abgeordnete, die sich persönlich an der Pandemie bereichern, beschädigen mit ihrem Verhalten die Demokratie. Um es ganz klar zu sagen: Nebeneinkünfte in Millionenhöhe sind aus meiner Sicht schwer vereinbar mit dem Amt eines Vollzeit-Abgeordneten. Transparenz ist ein absolut notwendiges Mittel, um Vertrauen in gewählte Abgeordnete zu stärken. Erste Schritte nach den Masken-Skandalen in der Union sind immerhin die Verschärfung des Abgeordnetengesetzes und das Lobbyregister. Dafür hat die SPD lange gekämpft.

Bei allem, was wir tun, geht es um Respekt. Ich bin überzeugt, dass es sich lohnt, einen höflichen und respektvollen Ton zu wahren. Das heißt nicht, dass man nicht hart im Argument sein kann. So halten wir es jetzt auch innerhalb der SPD und kommen damit weiter als uns viele vor einem Jahr noch zugetraut haben. Wir haben einen Kompass. Wir wissen was wir für unser Land erreichen wollen.

Sehr geehrter Herr Scholz, vielen Dank für Ihre Offenheit und Ihre Bereitschaft unsere Fragen zu beantworten!

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