022021

Foto: Schub@: take a seat, read a book (CC BY-NC-SA 2.0)

Service & Dialog

Frank Reintgen

Rezension: Valentin Dessoy, Ursula Hahmann, Gundo Lames (Hrsg.): Macht und Kirche

“Macht und Umgang mit Macht in der Kirche” – so lautete das Motto des 6. Kongresses der Kongressreihe “Strategie und Entwicklung in Kirche und Gesellschaft”, der im Dezember 2019 in Bensberg stattfand. Die Kongressreihe wendet sich an Führungs- und Fachkräfte kirchlicher Organisationen (Bistümer, Landeskirchen, Caritas und Diakonie, Verbände, Einrichtungen, Unternehmen, Hochschulen, Orden, etc.) sowie Verantwortungsträger:innen in der Gesellschaft. In den letzten Jahren haben sich diese Strategiekongresse als Plattform etabliert, bei der relevante Zukunftsthemen an der Schnittstelle zwischen Kirche und Gesellschaft in fundierter und differenzierter Atmosphäre betrachtet, in freier und konstruktiver Atmosphäre diskutiert und mit der eigenen beruflichen und organisatorischen Praxis verknüpft werden können.

Im Nachgang des Strategiekongresses haben Valentin Dessoy, Ursula Hahmann und Gundo Lames im Echter Verlag unter dem Titel “Macht und Kirche” einen Sammelband herausgegeben, der die (zum Teil leicht überarbeiteten) Vorträge und Keynotes der Vorträge des Kongresses einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht. Ergänzt wurden diese Beiträge um markante Beiträge der futur2 Ausgabe (2/2019), die mit dem Themenschwerpunkt “Macht” erschienen ist, und so das Kongressthema vertiefend begleitete. Darüber hinaus wurde im Vorfeld des Kongresses eine Befragung von Führungskräften der evangelischen und der katholischen Kirche zum Thema Macht durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Befragungen wurden ebenfalls in diesen Sammelband aufgenommen.

Das Buch bietet eine Fülle von Anregungen, über neue Formen von Machtverteilung und Leitungsmodellen nachzudenken und lädt dazu ein, im eigenen Wirkungsbereich neue Formen des Miteinanders auszuprobieren bzw. zu implementieren

Inhaltlich gliedern sich die Beiträge in fünf Kapitel. Nach einer philosophisch und sozialwissenschaftlich fundierten Grundlegung des Themas (“Macht und System”) folgen im ersten Kapitel Beiträge aus unterschiedlichen “Außenperspektiven”, u.a. aus gesellschaftswissenschaftlichem, soziologischem, psychologisch-pädagogischem und systemisch-organisationstheoretischem Blickwinkel. Die Autor:innen beschreiben, wie Machtstrukturen und -mechanismen funktionieren, wie Macht im System Kirche wirksam ist und sich auf unterschiedliche Weise zeigt, wo sie hilfreich und zielfördernd ist, aber auch, wie sie missbraucht werden kann oder einfach nur unzeitgemäß ist.

Im zweiten Teil finden sich Beiträge, die das Thema Macht und Kirche aus der Perspektive unterschiedlicher theologischer Fachdisziplinen reflektieren. Neben systematisch-theologischen Beiträgen finden sich hier pastoral-theologische, liturgische und kirchenrechtliche Reflexionen.

Das dritte Kapitel stellt die schon oben genannte, nicht repräsentative Befragung 540 evangelischer und katholischer Führungskräfte und ihre zentralen Ergebnisse vor; die Ergebnisse der Studie zeigen markante konfessionelle Unterschiede der Einschätzungen kirchlicher Führungskräfte im Hinblick auf das Thema Macht auf.

Unter der Überschrift “Erfahrungen und Orientierung” sammelt das vierte Kapitel Beiträge konkreter Erfahrungen im Umgang mit Macht und Ohnmacht vor allem aus der Perspektive von Führungskräften der beiden Kirchen. Aufgrund ihrer Erfahrungen entwickeln die Autor:innen “Orientierungshilfen, wie ein guter, von der Botschaft des Evangeliums getragener Umgang mit Macht aussehen kann.” (S. 189)

Im fünften Kapitel finden sich Beiträge, die organisatorische Implikationen und Optionen für die Entwicklung in der katholischen Kirche beschreiben: Wie können differenzierte, Hierarchie und Partizipation ausbalancierende, transparente Entscheidungsstrukturen in der Kirche aussehen? Welches Potenzial steckt in dem aus der Tradition der Orden bekannten Modell der “Leitung auf Zeit”? Wie zeigt sich Macht in “kollegialen Organisationen”? Wie kann eine flexibel konfigurierbare Architektur geteilter Leitung auf Basis des vorgebenen kirchenrechtlichen Rahmens aussehen? Wie können agile Strukturen in einer Bistumsverwaltung implementiert werden? Diese und weitere Fragen werden in den Artikeln aufgegriffen und vertieft.

Macht, so lässt das Ergebnis der im Buch vorgestellten Studie vermuten, scheint insgesamt für Führungskräfte der katholischen Kirche ein drängenderes Thema zu sein als für evangelische Führungskräfte

Spätestens seit der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche steht die Frage nach dem Umgang mit der Macht in der Kirche auf der Tagesordnung. Zeigt sich doch hier in besonders bedrückender Weise, welche schlimmen Verbrechen im Macht-Raum der Kirche möglich waren. Die lange tabuisierte Frage danach, wie Macht in der Kirche ausgeübt wird und wie Macht verteilt und kontrolliert werden kann, wird aktuell nicht nur beim “Synodalen Weg” heftig diskutiert.

Macht, so lässt das Ergebnis der im Buch vorgestellten Studie vermuten, scheint insgesamt für Führungskräfte der katholischen Kirche ein drängenderes Thema zu sein als für evangelische Führungskräfte. Die Studie weist zudem darauf hin, welche Problemanzeigen es aus Sicht kirchlicher Führungskräfte im Hinblick auf das Thema Macht gibt. Evangelische Führungskräfte problematisieren vor allem Verschleierung von Macht, Machtstreben und Bildung von Seilschaften. Katholische Führungskräfte sehen vor allem Klerikalismus, Machtmissbrauch, Machtkonzentration, Machtverschleierung u.ä. als zu lösende Probleme.

Mit dem hier vorgestellten Buch ist den Herausgeber:innen ein ebenso wichtiges, wie lesenswertes Buch gelungen. Es stellt eine Fülle von anregenden Beiträgen zusammen, die immer wieder benannte Problemstellungen und Herausforderungen im Umgang mit Macht in der Kirche analysieren, bewerten und Wege aufzeigen, wie eine nachhaltige Entwicklung im Umgang mit Macht in den Kirchen aussehen könnte.

Trotz einer ökumenischen Offenheit der Veranstaltung zeigte sich schon beim Strategiekongress, dass das Thema Macht in der Kirche eher die katholische Perspektive im Blick hatte. Das setzt sich auch im Sammelband fort. Die überwiegende Zahl der Autor:innen schreibt mit einem katholischen Hintergrund. Dennoch finden sich hier viele Artikel, die sehr grundsätzliche Fragestellungen aufgreifen und überkonfessionelle Relevanz haben.

Die Beiträge weisen auf die enormen Herausforderungen hin, vor denen die Kirchen im Hinblick auf den Umgang mit Macht stehen. Sie zeigen auch, wie weit insbesondere die katholische Kirche dabei von allgemein gültigen Standards entfernt ist und welche tiefgreifenden Veränderungen notwendig sind. Hierin liegt sicherlich mit ein zentraler Treiber für die Entfremdung vieler Katholik:innen von ihrer Kirche.

Die Beiträge zeigen auch, wie weit insbesondere die katholische Kirche dabei von allgemein gültigen Standards entfernt ist und welche tiefgreifenden Veränderungen notwendig sind

Wie immer bei solchen Publikationen wird man ggf. nicht jeden Beitrag mit dem gleichen Interesse lesen. Dennoch ist das Buch all denen zu empfehlen, die auf unterschiedlichen Ebenen kirchlicher Organisationen darüber nachdenken, wie eine nachhaltige Entwicklung des kirchlichen Systems aussehen kann, das einerseits den Missbrauch von Macht verhindert, andererseits aber die den Kirchen eigene pastorale Wirkmacht in den Dienst der Menschen und der Gesellschaft stellen kann. Das Buch bietet eine Fülle von Anregungen, über neue Formen von Machtverteilung und Leitungsmodellen nachzudenken und lädt dazu ein, im eigenen Wirkungsbereich neue Formen des Miteinanders und der Entscheidungsfindung auszuprobieren bzw. zu implementieren.

Valentin Dessoy, Ursula Hahmann, Gundo Lames (Hg.): Macht und Kirche, Würzburg 2021

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