022021

Foto: Schub@: take a seat, read a book (CC BY-NC-SA 2.0)

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Frank Reintgen

Rezension: Matthias Sellmann: Was fehlt, wenn die Christen fehlen?

Zum Hintergrund

Coverfoto Sellmann. Was fehlt, wenn die Christen fehlen
Im Jahr 2019 hat das Forschungszentrum Generationenverträge (FZG) der Albert-Ludwig-Universität Freiburg eine koordinierte Mitglieder- und Kirchensteuervorausberechnung für die katholische und evangelische Kirche in Deutschland erstellt. Seitdem liegen für die 20 evangelischen Landeskirchen und die 27 (Erz-)Bistümer der katholischen Kirche belastbare Projektionen auf dem Tisch, die zeigen, wie sich Kirchenmitgliederzahlen und Kirchensteueraufkommen langfristig bis zum Jahr 2060 mit hoher Wahrscheinlichkeit entwickeln werden. Beide Kirchen haben sich darauf einzustellen, dass Ihre Mitgliederzahlen in diesem Zeitraum um ca. die Hälfte zurückgehen werden.
Dass die Kirche an Relevanz für die Gesellschaft verliert, wird aktuell von niemandem ernsthaft bestritten. Das Christentum scheint unaufhaltsam aus der Gesellschaft zu verschwinden. Schon etwa 2030 werden gemäß der Prognosen die Christinnen und Christen nicht einmal mehr die Hälfte der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland ausmachen. Ein post-christliches Zeitalter wird also am Horizont sichtbar.

Sellmann legt dar, dass Christsein – entgegen einem oft vermittelten Eindruck – nicht aufgeht in Moral, Dogma, Kirche oder Gehorsam


Diese Ausgangslage ist Anstoß für Matthias Sellmann, Professor für Pastoraltheologie an der Ruhr-Universität Bochum und Direktor des „Zentrums für angewandte Pastoralforschung“, über die Frage nachzudenken: „Was fehlt, wenn die Christen fehlen?“

Diese Frage bildet dann auch den Titel für sein Buch, das im Echter Verlag erschienen ist. Sellmann entwickelt darin eine „Kurzformel“ des christlichen Glaubens. In leicht verständlicher und prägnanter Sprache werden Menschen darüber informiert, was das Christsein im Kern ausmacht. Sellmann legt dar, dass Christsein – entgegen einem oft vermittelten Eindruck – nicht aufgeht in Moral, Dogma, Kirche oder Gehorsam. Darüber hinaus möchte Sellmann mit seinem Buch Menschen Orientierung bieten, „die selber Christen sind und in den letzten Jahren durch so viele verwirrende Prozesse unsicher geworden sind, warum man selber noch dabeibleiben soll.“ (S.14)

Inhalt

Die zentrale These des Buches ist, dass das Christsein „eine bestimmte Form von Lebensklugheit“ darstellt

Sellmann geht davon aus, dass Christsein eine „Ressource für positive, gelingende Existenz“ darstellt. „Ein Leben“, so Sellmann, „lebt sich nicht von selbst; man muss Entscheidungen treffen, Antworten geben, Mitstreiter/innen finden, es mit sich aushalten und im Ganzen sein Glück versuchen.“ (S.17f) Diese Lebensleistung ist von jedem Menschen gefordert. Das Christentum hat, so Sellmann weiter, eine Idee davon, wie die Bewältigung dieser Aufgabe gut und erfolgreich gelingen kann.

Die zentrale These des Buches ist, dass das Christsein „eine bestimmte Form von Lebensklugheit“ darstellt. Diese Lebensklugheit kann nach Sellmann auch von Menschen genutzt werden, die selber Nicht-Christen sind. Auf dieser Grundlage formuliert Sellmann die folgende Kurzformel, die er im weiteren Verlauf des Buches weiter entfaltet. Demnach ist Christsein „eine bestimmte, nämlich geistliche Form von Klugheit (phronesis). Diese Klugheit motiviert zu drei Kompetenzen, die sich im Vollzug dauernd wechselseitig ergänzen: immer weniger wegrennen (physis); aus sich herauskommen (kenosis); Kraft von außen aufnehmen (dynamis).“ (S.33)

Die … von Sellmann präsentierte christliche Lebensklugheit baut auf drei Kompetenzen (physis, kenosis, dynamis) auf

Biblisch hängt Sellmann seine Kurzformel am Philipper-Hymnus (Phil 2,5-11) auf. Er entdeckt in diesem biblischen Christus-Hymnus einen vierstufigen Aufbau: Auf eine Art Einleitung folgen drei Strophen. Nachdem die Einleitung, die Gesinnung Christi thematisiert (phronesis), wird in der ersten Strophe die Abwärtsbewegung Christi (kenosis) besungen. Die zweite Strophe handelt von der „Bewährung“ Christi in der Welt (physis). Die dritte Strophe besingt, dass Gott Christus erhöht hat, beschreibt also eine Aufstiegsbewegung.

Die so von Sellmann präsentierte christliche Lebensklugheit baut auf drei Kompetenzen (physis, kenosis, dynamis) auf, denen Sellmann jeweils ein eigenes Kapitel widmet, um zu erschließen, was mit diesen Kompetenzen gemeint ist. Dies erfolgt jeweils in einem Dreischritt: Zunächst wird zu jeder Kompetenz der Sitz im Leben sowie der Sitz im Christus-Hymnus erläutert. Im weiteren Verlauf wird jeweils eine christliche Person aus der jüngeren Zeitgeschichte vorgestellt (Dietrich Bonhoeffer, Chiara Lubich und Madeleine Delbrêl), in deren Biografie die jeweilige Kompetenz besonders gut durchscheint. Zuletzt wird auf Materialien verwiesen, die einen ganzheitlichen Zugang („mit allen Sinnen“) zu den jeweiligen Kompetenzen ermöglichen. Hier finden sich YouTube-Links zu Videos aus der Theologischen LateNightShow „Sellmanns guter Abend“. Sie führen zu Interview-Filmen, die die jeweilige Kompetenz veranschaulichen, Comedy-Schnipseln und einem Konzertfilm zu Johann Sebastian Bach. Darüber hinaus wird auf Bilder des Elija-Zyklus der Benediktinerabtei Kornelimünster und das ZAP-Projekt „Raumdüfte für Kirchen und kirchliche Gebäude“ verwiesen, bei dem zu den drei Kompetenzen jeweils ein Duft entwickelt wurde.

Was mir an dem Buch gefällt

Der populärwissenschaftliche Ansatz des Buches und die Sprachbegabung Sellmanns sorgen dafür, dass das Buch … leicht lesbar und verständlich ist

Matthias Sellmann ist ein auf vielfache Weise starkes und anregendes Buch gelungen! Schon beim ersten Aufschlagen des Buches fällt dem Leser eine Duftkarte mit einem Motiv des Elija-Zyklus der Benediktinerabtei Kornelimünster entgegen. Das macht neugierig und weckt Lust zur Auseinandersetzung mit der in diesem Buch angebotenen Kurzformel des Christseins.

Der populärwissenschaftliche Ansatz des Buches und die Sprachbegabung Sellmanns sorgen dafür, dass das Buch (auch für Nicht-Theolog:innen bzw. Nicht-Christ:innen) leicht lesbar und verständlich ist. Die mitunter launig dargestellten Inhalte sorgen dafür, dass die Lesefreude nicht abreißt.

Für Christ:innen bietet die Kurzformel einen interessanten und inspirierenden Zugang zum christlichen Glauben, der auch aufgeklärten Menschen einer postmodernen Welt plausibel erscheint. Alles in allem handelt es sich hier um ein Buch, das auch von Nicht-Christen mit Gewinn gelesen werden kann und das dazu einlädt, die Lebensklugheit des Christentums für die eigene Lebensbewältigung nutzbar werden zu lassen.

Vermutlich mögen nicht alle die lockere, mitunter humorige Sprache des Buches und manchem mag das Buch vielleicht nicht wissenschaftlich oder ausführlich genug erscheinen. Für all diese gibt es eine ausführliche Fundierung der Kurzformel in dem ebenfalls 2021 im Echter Verlag erschienen Buch „Matthias Sellmann: Geistliche Klugheit als Lebenskompetenz. Fundierungen einer Kurzformel des christlichen Glaubens“.

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