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Foto: Shane Rounce/Unsplash

Konzept

Katharina Gröne und Christa Liedtke

Die Große Transformation in Gang setzen – ein Gemeinschaftswerk

Mit Blick auf die Klimakrise, den Biodiversitätsverlust und die klima-, sozial- und umweltrelevanten Auswirkungen der aktuellen geopolitischen Lage steht die Weltgemeinschaft vor komplexen und mannigfaltigen Herausforderungen in Bezug auf das Thema Nachhaltigkeit. Diese Herausforderungen bieten (teilweise seit Jahrzehnten) Grund zur Sorge – und die Nachrichten sind voll von Schreckensbildern. Zur Untätigkeit sind wir jedoch nicht gezwungen, ganz im Gegenteil! Der Gestaltungsraum und die Möglichkeiten wachsen mit den technologischen und kreativen Möglichkeiten der Menschen.

Die ‚Große Transformation‘ (WBGU 2011) ist ein Gestaltungsaufruf an uns alle. Sie läutet Wenden in den Kernbereichen Produktion und Konsum, Energie und Ressourcen, Industrie, Wirtschaft und Unternehmen sowie Wohlstand und Lebensstile ein (Schmidt-Bleek 1994; Schneidewind 2018). Sie betrifft jegliche Handlung, Entscheidung, Aktivität – sei es im Beruf oder Alltag. Nach Friedrich von Borries (2016) entwirft oder unterwirft jede Handlung, jedes kreative Erschaffen und jedes in die Welt geworfene Objekt. Es kommt eben auf die Gestaltung an, ob ökologische Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Teilhabe, Entfaltung, gesellschaftliche Entwicklung, fairer und gerechter Umgang miteinander u.v.m. ermöglicht wird.

Die Weltgemeinschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten viel notwendiges Wissen generiert und sich mit den 17 Sustainable Development Goals einen transformativen und normativen Handlungsrahmen gegeben, um die Welt nachhaltiger zu gestalten. Das systemisch-kritische Wissen im Umgang mit dem Klimawandel existiert und wir erleben einen breiten gesellschaftlichen Diskurs zu den Themen Anpassung und Strukturwandel. Und doch stellen wir fest: die sozial-ökologische Transformation geht nur langsam voran, (insbesondere systemische) Kompetenzen werden kaum oder nicht im notwendigen Umfang weiterentwickelt, abgerufen, zusammengebracht und angefragt. Das Wissen, die Fähigkeiten und Fertigkeiten übersetzen sich nicht mit dem nötigen Tempo in Handlungen und Veränderungsprozesse (Transitionen), in Resilienzorientierung, Risikovorsorge und Aktivität. Notwendige systemisch angelegte Rahmenbedingungen und Anreize für nachhaltiges Handeln fehlen in allen Bereichen von Produktion und Konsum – nachhaltiges Handeln in falschen, d.h. nicht fördernden Strukturen kostet viele Menschen Energie und frustriert.

Abbildung: Schneidewind 2018, S. 12

Schneidewind (2018) fordert daher, eine Haltung einzunehmen, bei der wir die große Transformation auf technologischer, ökonomischer, institutioneller und kultureller Ebene verinnerlichen und als „Zukunftskunst“ gestalten.

Haltung, Experimentier- und Gestaltungslust sowie Möglichkeitsräume (=Reallabore) sind für die Entwicklung einer Zukunftskunst grundlegende Voraussetzung.

Im Gestalten liegt das entscheidende Momentum der aktiven Veränderung. Nicht-Gestalten und Verharren, schlimmer noch Beharren, bedeutet eben auch Gestaltung durch Unterlassung und bestätigt oder festigt bestehende nicht-nachhaltige Strukturen.

Die SDGs formulieren Nachhaltigkeitsziele konkret und entwerfen bisher nicht erreichte definierte Zustände: Hunger und Armut bekämpfen, Klima, Wälder und Meere schützen, Bildung und Gleichstellung ermöglichen, Umwelt erhalten, Kooperation stärken u.v.m.

Im Gestalten liegt das entscheidende Momentum der aktiven Veränderung.

Um nun den Möglichkeitsraum Zukunft in Nachhaltigkeit zu eröffnen und ihn uns gestaltend anzueignen, sollten wir uns darauf einlassen, das (experimentelle) Lernen, das transformative Forschen mit dem Gestalten und Experimentieren (Schneidewind/ Singer-Brodowski 2015) zu verbinden. Dies befähigt uns, Gelerntes in eine kulturelle Haltung zu überführen und neues als “konkrete Utopie” (Bloch 1985) zu antizipieren sowie die Verantwortung eines „ökologischen Imperativs“ (Jonas 2003) zu materialisieren. Während wir auf diese Weise einen neuen grand narrative der Nachhaltigkeit beleben, sollten wir stets darauf bedacht sein, die vielfältigen Ansätze und Erkenntnisse der Forschung über die Welt und Systemzusammenhänge zu nutzen. Jedes Forschungsergebnis ist eine bestimmte Beschreibung und Interpretation der Welt – sie zeigen uns Teilaspekte der Wirklichkeit und des Systems. Jede Forschungsfrage, jede Annäherung an ein Phänomen der Wirklichkeit ist ein spezifischer Ausschnitt der Welt, den die/der Forscher:in aufgrund bestimmter Prämissen wissenschaftlich exploriert und analysiert. Damit ist jede Sichtweise der Welt auch sozial konstruiert (Berger/Luckmann 1980; Giddens 1984) und somit rückbindbar in vorherige Erkenntnisse und Entwicklungen, in kulturelle und wissenschaftliche Kontexte, die sich selbst auch in Frage stellen. Das ist der Kern von Gestaltung: Konstruiertes neu zu formen bis hin zur Demontage und daraus Zukunftsvorstellungen zu rekonstruieren – was also sind die neuen nachhaltigen Mobilitätskonzepte oder Ernährungs- und Wohnweisen?

Umso wichtiger ist eine konsequente Ausrichtung sowohl der Transformationsforschung1 als auch der transformativen Forschung2 auf gesellschaftliche Schlüsselfragen. Wir können eine neue, eine andere Zukunft auf Basis dieser vielfältigen wissenschaftlichen Daten, Zugänge und Erkenntnisse gemeinsam gestalten, wenn wir diese in offenen Räumen diskutieren und für Transformation lösungs- und systemorientiert nutzen. Iterativ aufs Lernen ausgerichtetes Ziel-, System- und Transformationswissen ist für eine gelingende Zukunftsgestaltung grundlegend (Literacy und Reallaborforschung).

Da jedes Handeln und Gestalten politisch ist (Arendt 1960; von Borries 2016) tragen wir durch Veränderungen unserer sozialen Praktiken in den Bereichen

  1. Konsumieren und Produzieren,
  2. politische Partizipation und Politikgestaltung,
  3. Arbeit und Leben,
  4. Forschen und Entwickeln,

täglich zur ‚Großen Transformation‘ bei. Alles Handeln, jede Entscheidung ist relational und unterliegt der (kulturellen) Aushandlung. So kann Arbeit sinnstiftend und schöpferisch sein und spielerische oder ästhetische Momente enthalten (Spittler 2016). Konsum und Produktion wiederum unterliegen ihrerseits der gesellschaftlichen Aushandlung und können sich durchaus an gemeinwohlorientierten und umweltschonenden Parametern ausrichten. Das ist eine gesellschaftspolitische Entscheidung, die stets neu und dynamisch zur Aushandlung steht. Das Bestehende ist ausgehandelt wie auch das Künftige. Die Bedingungen dieser Aushandlung, die Bedingungen von In- oder Exklusion, von Partizipationsmöglichkeiten und Teilhabe, von den zeitlichen, strukturellen und ressourcenbasierten Möglichkeiten, an Aushandlungsprozessen teilzuhaben, ist ebenso ein soziales Konstrukt, das einst gestaltet wurde und in permanenter Gestaltung ist. Daraus ergibt sich, dass in diesem Multilevel- wie auch soziotechnischen System Gestaltung möglich ist: es bleibt dabei, wir entscheiden mit, ob ein anderes Wirtschaften, Arbeiten und Konsumieren möglich werden.

Vier Ansätze der Zukunftsgestaltung

1. Konsumieren und Produzieren – Wertschöpfung: Konsum und die Produktion von Wert

Das ist der Kern von Gestaltung: Konstruiertes neu zu formen bis hin zur Demontage und daraus Zukunftsvorstellungen zu rekonstruieren.

Konsum ist stets von Ambiguität gekennzeichnet. Nachhaltig ist Konsum insoweit, als dass er schlicht notwendig ist, um menschliche Grundbedürfnisse zu decken. Nicht-nachhaltig ist er beispielsweise, wenn das konsumierte Produkt überflüssig ist oder ungenutzt bleibt, also nicht der Nutzenstiftung dient und die Ressourcen umsonst der Natur entnommen wurden. Die moderne Massenproduktion und massentaugliche Kulturindustrie tut ihr Übriges, Überkonsum zu fördern. Thorstein Veblen beschrieb bereits 1899 in Bezug auf gesellschaftlichen Status durch den Konsum von Dingen das Phänomen des Geltungskonsums. Überkonsum und die Symbolik der Dinge führen unweigerlich zu einer Segmentierung der Gesellschaft. Currid-Halkett (2021) spricht hier sogar vom demonstrativen Geltungskonsum. Dieser hat sich aber laut der Autorin weitgehend demokratisiert. Stattdessen spaltet gerade hochpreisiges konsumbasiertes Engagement die Gesellschaft immer mehr. Dies wird gerade auch dann verstärkt, wenn nachhaltiges Handeln zum Statussymbol wird und der Zugang und die Möglichkeit dazu vielen versperrt bleibt. Die Folge sind Risse im sozialen, ökologischen und ökonomischen Gefüge3 und die Überbeanspruchung natürlicher Ressourcen. Konsument:innen und Produzent:innen sollten sich daher wieder stärker als politisch handelnde Akteur:innen und Bürger:innen verstehen, die mit jeder (Produktions-/Konsum-) entscheidung auch eine politische Entscheidung4 treffen. Dabei können sie sich stets mit der Frage auseinandersetzen, welchen Produkt- und Konsummerkmalen sie den größten Wert beimessen.

Allerdings treffen sie meist noch auf schwer nachvollziehbare Informationslagen. Würden die Preise der Dinge die ökologische (von Weizsäcker 1997) und soziale Wahrheit sagen, so hätte man eindeutige Orientierungspunkte. Doch die bestehende Informationsasymmetrie lässt sich im Alltag nur schwerlich überwinden. Denn jedes in die Welt geworfene Objekt hat eine politische Dimension, ist ökologisch, sozial und ökonomisch relevant (vgl. hierzu von Borries 2016, Schmidt-Bleek 1994). Die planetaren Grenzen zeigen dies in eindrücklicher Form und die internationalen Nachhaltigkeitsziele der UN suchen dies in einen globalen Ausgleich zu bringen. Die daraus entstehende kulturelle Haltung der Nachhaltigkeit ermöglicht eine neue Koexistenz zwischen dem Menschen und seiner belebten und unbelebten Umwelt5 und bietet die Chance eines radikalen „Kulturwandels“ der Nachhaltigkeit (Leggewie/Welzer 2009, S. 230). Gerade das SDG 12‚ ‘nachhaltiges Konsumieren und Produzieren‘ verbindet die belebte und die unbelebte Welt, denn in Wertschöpfungsketten oder -netzen findet der Stoffwechsel mit der Natur (Marx 1867) seine Umsetzung – das Entstehen der Produkte aus der Natur und ihre Rückgabe in diese. SDG12 ist damit eines der zentralen systemischen SDGs und ist mit allen anderen SDSGs stark vernetzt (LeBlanc 2015).

2. Politische Partizipation und Politikgestaltung – Befähigung: Konsumpolitik und Kommunalpolitik

Nachhaltiger Konsum sollte, nein muss, möglich sein und bedingt eine nachhaltige Entwicklung. Das bedeutet Bewusstsein, Kompetenz und Gelegenheit sind Voraussetzungen für eine nachhaltige Entwicklung (SVRV 2021, S. 420 ff.; Zimmermann-Janssen et a. 2021). Als Produzent:innen, Prosument:innen, Konsument:innen, Bürger:innen und Träger:innen eines nachhaltigen Kulturwandels ist es notwendig, dass wir uns die Verbindung zwischen Produktion und Konsum, unseren Lebensstilen und Lebens- und Wirtschaftsräumen vergegenwärtigen. Die Kommunen, in denen wir leben, sind dabei die Orte der ‚Großen Transformation‘. Unsere Städte, Gemeinden, Landkreise, das sind die Orte, an denen wir unser Handeln an den Prämissen und Bedingungen der Nachhaltigkeit ausrichten können und dies auch in die politischen Räume adressieren und einspielen (Grabow et al. 2021).

Das neue Statussymbol der ökologischen Nachhaltigkeit generiert sich bereits: aus weniger mache mehr.

Lokal entsteht globale Kooperation für Nachhaltigkeit. Vor Ort können wir kooperieren und unsere grünen, sozialen und sozio-technischen Innovationen erproben und in die Tat umsetzen. Wir können soziale und grüne (Hightech-) Unternehmen gründen, nachhaltige Produkte und Dienstleistungen entwerfen, anbieten, nachfragen und gebrauchen.Hier können wir mobilisieren, vernetzen, uns einsetzen, und unsere Handlungen an der Nachhaltigkeit ausrichten. Nachhaltiges Handeln meint die drei Strategien
  • Effizienz – aus weniger mehr machen,
  • Konsistenz – in Kreisläufen führen,
  • Suffizienz – Maßhalten, Leben genießen, sich und anderen Gutes tun.

Wir können in unseren Mensen, Kantinen, Büros und Sporteinrichtungen nach fairen und nachhaltigen Produkten und Vorgehensweisen fragen und unsere Mobilität nachhaltiger gestalten. Wir können und sollten jeweils Ziele und Wege für Nachhaltigkeit erarbeiten und deren Einhaltung einfordern. Das neue Statussymbol der ökologischen Nachhaltigkeit generiert sich bereits – aus weniger mache mehr – (allerdings ist dies paradoxerweise eher den einkommensstarken Gruppen der Gesellschaft möglich – vgl. hierzu demonstrativer Geltungskonsum, Currid-Halkett 2021).

In unseren Kommunen, in unserem Alltag können wir selbst Politikwirksamkeit spüren, auch die Politik selbst anhalten, die nötigen Schritte gezielt und beharrlich zu verfolgen. Wir können uns in Städtepartnerschaften engagieren und Regionen nachhaltig vernetzen. Wir können die Politik auffordern, Politikkohärenz sicher zu stellen und Verbraucher:inneninformationen niedrigschwellig zur Verfügung zu stellen. Kurz: wir sind politische Subjekte – ob wir nun handeln oder nicht. Dies zeigt sich ideengeschichtlich deutlich angesichts der Veränderung der Nutzung öffentlicher Räume in der Stadt: in der griechischen Antike hatte die Agora als zentraler Versammlungsort der Polis in Athen eine wichtige Funktion für die direktdemokratische Entscheidungsfindung freier Bürger6 (Kränzle 2017). Der öffentliche Raum war Ort für Reibung, Diskurs, Auseinandersetzung und Teilhabe. Heute ist er einer “Verordnung der Gemütlichkeit” (Kränzle 2019) und dem Primat der Sicherheit gewichen. Zwar ist städtischer Raum immer noch belebter Kultur- und Begegnungsraum, ein Ort für Tourist:innen, Passant:innen, Kulturinteressierte, politische Kundgebungen – doch mit zunehmender Kommodifizierung und Privatisierung ist städtischer Raum vorrangig ein Ort für Konsum und Konsumkultur als sein Hauptsinn geworden (Siehr 2016). Gleichzeitig fand eine Verschiebung der demokratischen Debattenkultur in E-Plattformen statt (Kamps 2000) – mit entsprechenden Möglichkeiten der Mobilisierung (z.B. Fridays for Future, aber auch u.a. PEGIDA).

In unserem Alltag können wir selbst Politikwirksamkeit spüren.

In einer wohlfahrtsstaatlich organisierten, freiheitlichen Demokratie und auf Basis der in unseren Breitengraden zur Verfügung stehenden ökologischen und sozialen Voraussetzungen und Ressourcen sollten wir frei sein, nachhaltige Entscheidungen zu treffen. Diesen Möglichkeitsraum zu nutzen, Reibung, Entscheidung, Auseinandersetzung wieder in die öffentliche Sphäre zu bringen, wieder öffentlich politisch zu werden, wäre ein wesentlicher Beitrag zur Zukunftskunst. Bleibt uns diese Freiheit verwehrt und Möglichkeitsräume verschlossen, sollten wir sie vehement in unseren öffentlichen Räumen, in Schulen, Universitäten und Ausbildungs- und Arbeitsstätten einfordern. Die richtige Zeit ist eigentlich immer das Jetzt!

3. Arbeit und Leben – Kompetenz und nachhaltige Kreativität brauchen Raum, Zugang und Entwicklung sowie neue Arbeitsmodelle

Man kann sich schöne Weltbilder malen, wenn man ein gutes Ein- und Auskommen hat und einen sicheren Arbeitsplatz genießt. Dies kann man nicht, wenn die ökonomischen Mittel, Bildungschancen und Entfaltungsräume und -zeiten fehlen. Kompetenz für eine nachhaltige Entwicklung kann sich aber nur in Handlungs- und Erfahrungsräumen weiterentwickeln und erproben, in denen die soziale Kohäsion ausgeprägt und Ungleichheit gering ist. Laut WBGU sind soziale Kohäsion und geringe Ungleichheit Voraussetzung für Kooperation und fördert die Lebenszufriedenheit aller (2016, S. 11). Nachhaltigkeit ist deshalb wesentlich auch die Herstellung sozialer Gerechtigkeit, und spezifischer, die Herstellung von Verteilungs- und Ressourcengerechtigkeit, sowie von Chancen- und Zugangsgerechtigkeit.

Von Seiten der Politik muss daher sichergestellt werden, dass Menschen befähigt werden und es ihnen ermöglicht wird, ihre eigenen Möglichkeitsräume zu gestalten und zu entwickeln, dass sie Zugang zu Wissen und Kompetenzentwicklung haben, um daraus Zukunftskunst zu machen. Mitsprache auf Augenhöhe in Planungs- und Umsetzungsprozessen ist Grundlage für Kooperation und gemeinsamer Transformationsgestaltung. Dabei ist immer auch klar, dass Entscheidungen getroffen werden müssen und es immer vieler Kompromisse bedarf, um die ‚Große Transformation‘ zu realisieren. Dafür bedarf es einer Verringerung von Ungleichheit, die „Stärkung der Handlungskapazitäten von Akteuren“, soziale Kohäsion und Inklusion, gerechte Bildungszugänge und -förderung sowie die „Teilhabe betroffener Bevölkerungsgruppen und zivilgesellschaftlicher Initiativen“ (WBGU 2016, S. 18). Eine Literacy für nachhaltigen Konsum sowie die Gelegenheit dazu gehört aus unserer Sicht zur Daseinsvorsorge, die politisch zu organisieren ist.

Zudem bestimmt die Art und Weise wie wir unsere Zeit verbringen und mit welchen Aktivitäten darüber, wie groß unser ökologischer Rucksack ist7 – und dieser ist einkommensabhängig. Einkommensstarke Haushalte haben durchschnittlich einen sehr viel größeren Rucksack als einkommensschwache Haushalte (Buhl/Schipperges/Liedtke 2017).

Eine Literacy für nachhaltigen Konsum sowie die Gelegenheit dazu gehört zur Daseinsvorsorge, die politisch zu organisieren ist.

Liedtke und Caplan (2020) beschäftigten sich mit den Bedarfen der Menschen für ein gutes Leben und mit den Ergebnissen einer Studie der Bundesregierung zur Lebensqualität (BMAS 2016). Diese zeigt, dass Mitgestaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten, das sorgenfreie Leben durch einen sicheren und auskömmlichen Arbeitsplatz, das Arbeiten in starken Solidargemeinschaften bei gleichzeitiger individueller Entfaltung, die Gestaltung der Arbeitszeit und die Wahl des Arbeitsortes für das Wohlbefinden zentral sind. Liedtke und Caplan gehen noch einen Schritt weiter und diskutieren die Zeit selbst als wertvolle Ressource – Stichwort: Zeitwohlstand (IÖW 2015; Reisch/Bietz 2014; Rinderspacher 2000; Rosa et al. 2014; Von Jorck 2016). In ihren Überlegungen zu Post-Corona Zeit regen sie an, über die Zeit als neues Statussymbol und über nachhaltige und resiliente Arbeitsmodelle nachzudenken, die Zeitgewinne ermöglichen. Diese generieren, z.B. durch wegfallende Pendelwege nicht nur Zeitwohlstand8, sondern ermöglichen erst den Einsatz von Zeit für Gemeinwohlorientierung und Umweltschutz9.

Neue Arbeitsmodelle schaffen Möglichkeiten, z.B. durch Homeoffice, Ressourcen einzusparen, die ansonsten für das tägliche Pendeln (oft mit dem Auto) aufgebracht werden müssen. Zudem ist klar: kürzere Arbeitszeiten erhöhen die Produktivität (vgl. Seifert 2008). Doch der Clou ist, dass ehrenamtliches Engagement auch Bestandteil der Lebens- und Arbeitsplanung werden sollte: Politik sollte über eine Art Agentur für soziale Innovationen (wie bei der Elternzeit) eine Finanzierung bereitstellen, phasenweise in Reallaboren Gesellschaft mitzugestalten z.B. über neue Mobilitätsprojekte, urbanes Grün, u.v.m. Unternehmen sollten hierzu Beschäftigte zeitweise freistellen und Gewerkschaften könnten solche Modelle mit Politik und Wirtschaft aushandeln. Je nachdem wie sich die Digitalisierung auswirkt, könnte dies auch ein Vorläufer sein, für weitere freigesetzte bezahlte Arbeitszeit, die sich in bezahlte gesellschaftliche Entwicklungsarbeit umsetzen ließe. Das wäre eine der vielfältigen Chancen, die Automatisierung durch Digitalisierung mit sich bringen könnte (Land 2018).

4. Forschen und Entwickeln – Das Reallabor als Transformationswerkstatt der Zukunftskunst

Zukunftskunst bedarf Entwicklungs- und Möglichkeitsräumen, in denen Zukunftsprojekte erdacht, entwickelt und erprobt werden können. Hier werden technologische Innovationen mit sozialen Konstrukten verbunden, hier findet aktive Gestaltung statt. Reallabore sind wissenschaftlich begleitete, konkrete Interventionen in die Lebenswirklichkeit und dienen auch der gesamtgesellschaftlichen Aushandlung von Transformationspfaden. Sie sind nachhaltigkeitsorientiert, transdisziplinär, experimentell, reflexiv und langfristig (Wanner/Stelzer 2019). Durch Co-Kreation generieren Reallabore nicht nur anwendungsrelevantes Wissen, sondern darüber hinaus können Reallabore zur Minderung von Demokratiedefiziten beitragen. Gemeinsam erarbeitete Nachhaltigkeitspraktiken können breite Unterstützung erfahren und in Routinen übergehen. Folgend benötigen sie entsprechend gestaltete und materialisierte Produkt-Dienstleistungssysteme – zuerst wird der Nutzen definiert, dann wird materialisiert für eine zirkuläre Bioökonomie. Erst eine Nutzenwende beflügelt eine Ressourcenwende, die wieder Grundlage eine Energie- und Klimawende wäre – nicht umgekehrt.

Für die Transformationsforschung/transformative Forschung ist die Arbeit in Reallaboren deshalb bedeutsam, weil „mit ihr Veränderungsprozesse in allen vier Dimensionen transformativer Zukunftsgestaltung angestoßen und untersucht werden können“ (Wanner/Stelzer 2019, S. 4). Das ist Bedingung für Transformation und Zukunftskunst! Deswegen schätzen wir das Design so sehr – es übersetzt Ideen in die reale Welt und macht Erzählungen – seien es Utopien, Dystopien oder einfach nur machbare kleine sinnstiftende Veränderungen – so nahe und erfahrbar.

  1. Transformationsforschung generiert ein umfassendes Verständnis von gesellschaftlichen Transformationsprozessen.
  2. Transformative Forschung befördert aktiv transformative Prozesse.
  3. vgl. Marx Metabolismus (Foster 1999/2010; Moore 2011a/2011b).
  4. vgl. „consumer citizenship“ z.B. Anderson 2018.
  5. vgl. “multi-species conviviality” z.B. Rigby 2018.
  6. Nicht gegendert, da Frauen damals vom politischen Leben ausgeschlossen waren.
  7. zu Ressourcenintensität und Zeit siehe Buhl et al. 2017.
  8. Das Statistische Bundesamt errechnete 2016, dass 47,5 Prozent der Vollzeiterwerbstätigen 10 bis unter 30 Minuten zur Arbeit pendeln gefolgt von 22,1 Prozent mit 30 bis unter 60 Minuten Pendelzeit. Hauptfortbewegungsmittel ist dabei mit 67,7 Prozent der Pkw (Statistisches Bundesamt, 2017).
  9. Zu möglichen Rebound-Effekten von Zeitwohlstand siehe Buhl 2015.

Literatur:

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Arendt, H. (1960): Vita activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart: Kohlhammer.

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Berger, Peter L. /Thomas Luckmann (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt am Main: Fischer.

Bloch, E. (1985): Werkausgabe: Band 5: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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Buhl, J./ Schipperges, M./ Liedtke, C. (2017): Die Ressourcenintensität der Zeit und ihre Bedeutung für nachhaltige Lebensstile. In: P. Kenning et al. (Hrsg.), Verbraucherwissenschaften. Wiesbaden: Springer Fachmedien.

Currid-Halkett, E. (2021): Fair gehandelt? Wie unser Konsumverhalten die Gesellschaft spaltet. München: btb-Verlag.

DESTATIS – Statistisches Bundesamt (2016): Qualität der Arbeit. Zeitaufwand für den Weg zum Arbeitsplatz. (Download unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-3/zeitaufwand-weg-arbeit.html#:~:text=Im%20Jahr%202016%20pendelten%2069,als%20eine%20Stunde%20zur%20Arbeit; Zugriff am 10. Mai 2022)

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Zimmermann-Janssen, V.E.M., Welfens, M.J. und Liedtke, C. (2021): Transformation zur Nachhaltigkeit. Warum wir eine Literacy für nachhaltigen Konsum brauchen. Wuppertal Institut, Zukunftsimpuls 16. (Download unter: https://epub.wupperinst.org/frontdoor/index/index/docId/7636; Zugriff am 18. Mai 2022)

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