
Praxis
Irgendwie ein wenig schizophren
Motivlagen und Strategien kirchlich Hochengagierter auf dem Kipp-Punkt
Eine Frau im liturgischen Gewand verteilt Blumen an alte Menschen, die sich sichtlich darüber freuen. So beginnt ein aktueller Kurzfilm von und über Gemeindereferent*innen. Die Seelsorgerin sagt: „Also ich arbeite sehr gerne mit Menschen. Ich mag Menschen und ich arbeite überwiegend mit Demenzkranken, mit alten Menschen und das ist für mich einfach eine ganz wunderbare Arbeit. Wenn man Menschen treffen kann, wenn man ihnen begegnen kann und ihnen auch was schenken kann, und es kommt so viel zurück.“ So beginnt der Film und dieser Grundtenor bleibt durchgehend bei allen Gemeindereferent*innen, die sich in ihm zu Wort melden. Auf meine Nachfrage schreibt mir eine der Kolleginnen, die an dem Projekt mitgewirkt hat: „Ja, unser Film ist sehr positiv. Hauptsächlich deshalb, weil er ja anlässlich unseres 100-Jahre-Jubiläums entstanden ist. Wir wollten damit uns selber feiern, und beim Feiern lässt man ja alles “Aber” weg. Wir wollten zeigen, wie interessant, vielfältig und wertvoll unser Beruf ist. … Ich habe inzwischen mitbekommen, dass es in unserer Berufsgruppe ein positives Echo auf unseren Film gibt. Anscheinend wird der kritische Blick auf die vorhandenen Probleme nicht vermisst. Ich denke mal, wir haben die Schnauze voll davon, uns immer nur mit Missständen zu beschäftigen (und der Öffentlichkeit immer nur ein problemzentriertes Bild der Kirche zu präsentieren), sondern freuen uns, wenn in diesem Film wieder das Eigentliche, das Sinnstiftende, in den Mittelpunkt gerückt wird.“
Die Kollegin, wie auch die vielen, denen der Film gefällt, bestreiten nicht, dass es Missstände gibt. Sie nehmen sie wahr als etwas, das den Blick auf das Wesentliche behindert und sie entscheiden sich dafür, sie zu ignorieren – zumindest im Rahmen dieses Filmprojekts. Sie stellen das Positive des seelsorgerlichen Berufs vor und dies anhand von Beispielen, bei denen es immer um Begegnung mit und Begleitung von Menschen geht. Solange dies geschieht in der Kirche, so verstehe ich die Aussagen des Films, solange bleibt Kirche relevant, und zwar unabhängig von Skandalen, Mitgliederschwund oder welchen innerkirchlichen Problemen auch immer.
Diese und viele andere hoch engagierte Personen in der katholischen Kirche wissen um Vieles, was in der Kirche kaum noch zu ertragen ist und sie benennen es auch.
Diese und viele andere hoch engagierte Personen in der katholischen Kirche wissen um Vieles, was in der Kirche kaum noch zu ertragen ist und sie benennen es auch. Besonders häufig ist dabei die Rede von „Machtmissbrauch“. Nachdem wir uns im Gemeindereferent*innen-Bundesverband längere Zeit mit diesem Thema auseinandergesetzt hatten, haben wir im Mai dieses Jahres entschieden, eine bundesweite Umfrage zu „Erfahrungen mit Machtmissbrauch im pastoralen Beruf“ unter Gemeinde- und Pastoralreferent*innen durchzuführen. Die Umfrage wurde von 936 Personen bearbeitet und die Ergebnisse füllen hunderte von Seiten. Wie sehr Kirche Schaden anrichtet und Leiden verursacht, das wissen diese Kolleg*innen – aus Beobachtung und eigener Erfahrung. Wie viele davon jedoch nicht nur an Mängel, die behoben werden müssten, denken, sondern darin Vorboten oder bereits Merkmale der Auflösung des Systems wahrnehmen, das ist schwer zu sagen. Befinden wir uns vor einem Kipppunkt, auf der Kippe oder sind wir schon im Absturz begriffen? Die ehrlichsten Aussagen dazu fallen in Gesprächen unter vier Augen oder in kleinen Gruppen, in denen man einander vertrauen kann. Ich kenne einige Hochengagierte, zum Teil auch in Sprecher*innenrollen für kirchliche Gruppen, die äußern im direkten Kontakt, dass das aktuelle System Kirche nicht reformierbar ist und beteiligen sich dennoch aktiv an Reformforderungen, -aktionen und -prozessen.
Viele Hochengagierte äußern im direkten Kontakt, dass das aktuelle System Kirche nicht reformierbar ist und beteiligen sich dennoch aktiv an Reformforderungen, -aktionen und -prozessen.
Bisweilen wirkt es fast schizophren. Mein Eindruck ist, dass die eigentliche Dramatik nicht ausreichend und schonungslos in den Blick genommen wird. Denn – was kippt denn da eigentlich? „Nur“ die Zahl der Mitglieder an sich, die Zahl der engagierten Mitglieder, der Respekt vor der Hierarchie, die Bereitschaft, ein Schaf zu sein? Kippen nicht auch die Lehre, die Glaubenspraxis und zunehmend der Glaube? Wer wagt denn die ergebnisoffene Frage zu stellen, ob und wie man heute überhaupt noch von Gott reden kann? Die Wahrnehmung und vor allem die Bewertung dessen, was derzeit geschieht, erfolgt unterschiedlich, divergierend und zum Teil diametral. Reformorientierte sehen Chancen in den Forderungen des Synodalen Wegs; ernüchterte Realist*innen bleiben, solange sie noch Handlungsoptionen im zugrunde gehenden System sehen; im christlich-katholischen Glauben tief Verwurzelte hoffen auf ein Wunder im Sinne einer neuen Gestalt der katholischen Kirche; Traditionalist*innen sehen die „wahre“ Kirche vom Zeitgeist bedroht; Katholikal-charismatische versuchen in Kooperation mit den Traditionalist*innen die „wahre“ Kirche zu sein; Christlich-ethisch Orientierte wünschen sich konfessions- und religionsunabhängige Kooperation mit allen, die sich für die Zukunft unseres Planeten stark machen.
Die meisten nehmen das Zerbröseln der Kirche wahr und wollen es gleichzeitig doch nicht in aller Konsequenz wahrhaben.
Bei denen, die ich nicht nur von außen beobachte, sondern mit denen ich persönlich in Kontakt bin, habe ich den Eindruck, dass die meisten das Zerbröseln der Kirche wahrnehmen und es gleichzeitig doch nicht in aller Konsequenz wahrhaben wollen. An persönlichen Strategien des Zurechtkommens mit dieser Situation erlebe ich u.a. folgende Haltungen und Vorgehensweisen:
- Ich kümmere mich um meinen Bereich und um die Menschen, mit denen ich alltäglich zu tun habe. Ich bin für sie Seelsorger*in, unterstütze sie ihn ihrer ehrenamtlichen Arbeit, wende mich aufmerksam dem zu, wo ich gebraucht werde – u.a. auch in Bezug auf gesellschaftlich-caritative Situationen
- Ich suche mir meine Nische – in der Gemeindearbeit selbst oder auch in der Kategorie, in Ämtern oder als Referent*in, Berater*in u.ä.
- Ich wage pastoralen Ungehorsam (Beispiel: Spendung der Krankensalbung)
- Ich halte durch bis zur Rente und trete dann aus der Kirche aus
- Ich arbeite an meinem persönlichen Plan B – durch ein Zweitstudium, eine Zusatzqualifikation, durch Netzwerken mit dem Ziel, außerhalb von Kirche einen Arbeitsplatz zu finden
- Ich werde krank (Nicht als geplante Strategie, aber rückblickend evtl. so wahrgenommen als einziger Ausweg, der noch blieb)
- Ich kündige
Was auf jeden Fall zunimmt, ist das Bedürfnis, den kirchlichen bzw. pastoralen Beruf zu verlassen. Deutlich häufiger als vor ein paar Jahren sagen vor allem jüngere Kolleg*innen offen, dass sie sich nicht vorstellen können, dauerhaft für die Kirche zu arbeiten.
Dass es zu einer Kirchenspaltung kommen wird, das sagen wenige. Viele benennen immer wieder, was es bräuchte, damit die Kirche in veränderter Form weiterbestehen kann. Aufgeführt werden da z.B. Elemente wie Entklerikalisierung, Geschlechtergerechtigkeit, professionelle Personalführung oder auch kritische Grenzziehung zu katholikalen Strömungen. Dass es dazu tatsächlich kommen wird, das glauben eher wenige. Manche befürchten ein Erstarken der traditionalistisch geprägten Kirche, und zwar vor allem durch evangelikal-katholische Strömungen wie z.B. die Jüngerschaftsschulen. Nachwuchs für pastorale Berufe gibt es aus diesen Kreisen nicht nur, was Priester anbelangt. Die Gegenbewegung dazu sind die, die sich als katholische Christ*innen oder auch ökumenisch (und im Übrigen problemlos unter Einbeziehung von aus der Kirche ausgetretenen Personen) zusammentun und miteinander ihr Christsein leben: in vielfältigen liturgischen Feiern, im Erleben von Gemeinschaft und in sozial-caritativem Tun. Der Übergang ist schon im Gange.
Was auf jeden Fall zunimmt, ist das Bedürfnis, den kirchlichen bzw. pastoralen Beruf zu verlassen.
Die Frage, ob und ggf. wie dieser Übergang konstruktiv gestaltet werden könnte, ist meinem Eindruck nach wenig im Gespräch. Das Interesse an und die Hoffnung auf Kirchenentwicklungsprozesse hat stark nachgelassen. Man hört sich mal den einen oder anderen Vortrag an, liest möglicherweise mal wieder ein Buch, findet die eine oder andere Idee ganz interessant. Aber das war es dann auch.
Das Bild von Kirche, das in Deutschland und weltweit als das zukunftsträchtige vorgestellt wird, ist das der synodalen Kirche. Ich habe nicht den Eindruck, dass es die Engagierten, mit denen ich zu tun habe, so wirklich vom Hocker reißt. Manche setzen ihre Hoffnung in dieses Modell und merken im Erleben der praktischen Ausgestaltung, wie wenig letztlich möglich ist, z.B. was die Mitbestimmung bei Bischofsernennungen anbelangt. Synodal klingt sehr nach „schön, dass wir mal wieder geredet haben“. Nach Demokratie und selbstbestimmten Christsein klingt es eher nicht. Ich nehme kein Szenario oder Zukunftsbild von Kirche wahr, das echte Energien freisetzt. Das Kirchenbild des 19. Jhd., das die Rückwärtsgewandten propagieren, wirkt abschreckend. Die synodale Kirche andererseits wirkt nicht wirklich faszinierend, sondern wird eher wahrgenommen als: „Ist ok, kann man probieren.“ Vielleicht findet man die treffendsten Kirchenbilder in Karikaturen, wie z.B. bei Thomas Plaßmann. Sie ermöglichen ein Schmunzeln, ein Wiedererkennen dessen, worunter man leidet und die Chance, durch Humor einen inneren Abstand zum Trauerspiel zu finden.
Und dann bleibt man halt noch eine Weile, solange man es erträgt und das Gefühl hat, noch etwas Positives bewirken zu können.

Praxis
Aufhören, um neu anzufangen
Der Letzte macht das Licht aus
„Der Letzte macht das Licht aus“ – mit diesem Titel haben einige Seelsorger:innen und ich in den letzten Jahren das Gespräch mit den Haupt- und Ehrenamtlichen in den Pfarreien gesucht und geführt. Ziel war es, die Betroffenen hinzuweisen auf die anstehenden Veränderungen in der Personalbesetzung und der finanziellen Lagen in den Pfarreien und Seelsorgeeinheiten. Denn die Angst war und ist da, dass es in den Seelsorgeeinheiten bald kein kirchliches Leben mehr gibt.
Nun wurde dieses Motto rascher Realität und anders als gedacht. Zwar haben aktuell nicht die Letzten das Licht ausgemacht, wohl aber die Vorvorvorletzten. Denn aus Kostengründen wurden und werden seit Herbst 2022 viele Domkirchen, aber auch kleine Dorfkirchen nachts nicht mehr angestrahlt. Damit werden sie in den Städten und Dörfern unsichtbar. Auch das ist für mich ein Zeichen dafür, dass die Kirche aus der Mitte der Gesellschaft, aus der Mitte des Dorfes verschwindet! Kein Kirchturm mehr, der Orientierung gibt? Kein Licht, dass im Dunkeln die Mystik des Göttlichen aufstrahlen lässt?
Was hier Symbolwert hat, ist in der Realität längst angekommen: Die Kirche in ihrer aktuellen Sozialform ist in Auflösung begriffen.
Was hier Symbolwert hat, ist in der Realität längst angekommen: Die Kirche in ihrer aktuellen Sozialform ist in Auflösung begriffen. Und ich denke, es gibt da kein Zurück mehr. Viele Menschen, die sich noch zur Kirche zählen und denen zumindest punktuell die Kirche wichtig ist, wünschen sich eine Veränderung. Annette Zoch merkt in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung nach dem Ad-limina-Besuch der deutschen Bischöfe richtig an, dass die Gläubigen in Deutschland keine Geduld mehr haben mit der festgefahrenen römischen Leitung der katholischen Kirche.1 Die Gläubigen, die noch bereit sind, sich zu engagieren oder sich Gedanken über die Zukunft der Kirche zu machen, drängen auf Veränderung der Glaubens- und Sittenlehre und der Machtstrukturen. Kurz gesagt: Sie wollen endlich, dass das Kirchenbild des II. Vatikanischen Konzils umgesetzt wird, und auf den Glaubenssinn der Gläubigen gehört wird.
Und diese Veränderung geht nur über die Auflösung der alten Strukturen und Denkweisen.
Und diese Veränderung geht nur über die Auflösung der alten Strukturen und Denkweisen. Ob dieser Transformationsprozess in Kontinuität mit der bisherigen Sozialform möglich ist, oder ob es einen Bruch und einen Neuanfang bracht, ist noch nicht ausgemacht. Es bleibt spannend.
Wer ist denn überhaupt noch da?
Als ich dieses Jahr in einer Pfarrei zur Aushilfe war und dort dem traditionellen Totengedenken mit Gräbersegnung vorgestanden bin, hat eine jüngere Ministrantin zu mir gesagt: „Heute war die Kirche aber schön voll. Das letzte Mal als ich ministriert habe, waren nur vier Leute da“. Da stellt sich natürlich die Frage: Wer ist denn überhaupt noch da in den Pfarreien, wer feiert denn noch die Gottesdienste mit?
Christiane Bundschuh-Schramm geht „im Wesentlichen von drei Mitgliedschaftstypen aus, den sogenannten Kasualfrommen, den regelmäßig Praktizierenden und den Spirituellen Wanderern“.2 Die Kasualfrommen nutzen die Angebote der Kirchen an den Lebenswenden oder zu bestimmten (Krisen-)Zeiten, die Praktizierenden sind die, die in den Gemeinden regelmäßig mitfeiern und da sind, jedoch wählt diese Gruppe immer mehr auch die Angebote aus, die für sie subjektiv ansprechend sind. Die Spirituellen Wanderer wählen sehr gezielt aus allen spirituellen Angeboten, auch außerhalb der Kirchen, aus und vertrauen auf ihre innere Fähigkeit, für sich das richtige zu finden.3
„Heute war die Kirche aber schön voll.”
Der Religionssoziologe Michael Ebertz hat in einer aktuellen Studie erhoben, dass die Christen in Deutschland sich unterschiedlich stark an ihre Kirche gebunden fühlen. Er unterscheidet „von einer ganz engen Bindung über eine kritische Bindung bis hin zu einer Mitgliedschaft lediglich auf dem Papier“. In konkreten Zahlen: „15% der Kirchenmitglieder fühlen sich eng angebunden, 45% kritisch und 40% „haben keine positiven Gefühle der Kirche gegenüber, gehören ihr aber faktisch an“.4
Mit Blick auf diese Erhebungen und Zusammenfassungen lässt sich leicht erahnen, dass es um die Kirchenbindung nicht besonders gut bestellt ist. Die Bindung an die Kirche allgemein, aber auch an die konkrete Kirche vor Ort, ist stark am Abnehmen, und dies relativ rasant. Ein kleiner Kern von Gläubigen und Praktizierenden hält das Gemeindeleben am Leben, doch auch dieser Kern, der vor allem aus älteren Menschen besteht, ist im Schwinden begriffen. „Die Kirche als einen Ort der Gemeinschaft zu erleben, wo man sich aufgehoben fühlt und dem Glauben emotional Ausdruck verleihen kann – das ist eigentlich nur noch bei älteren Menschen so“ resümiert Michael Ebertz (5).5
Ein kleiner Kern von Gläubigen und Praktizierenden hält das Gemeindeleben am Leben, doch auch dieser Kern, der vor allem aus älteren Menschen besteht, ist im Schwinden begriffen.
Dies alles, so man es wahrnehmen will, ist ein deutliches Zeichen für die Auflösung der bisher bekannten und tradierten Sozialgestalt von Kirche. Und umso unverständlicher ist es, dass sowohl Verantwortliche in der Hierarchie der Kirche, aber auch in jedem noch so kleinem Kirch-Ort, gar nicht so genau hinschauen wollen, was sich da vor ihren Augen abspielt. Denn es schmerzt, da ja die Communio, die Gemeinschaftsbildung, die Weggemeinschaft6 konstitutiv zu einer christlichen Kirche gehört. Denn: „Entscheidend ist also in jeder menschlichen Gemeinschaft … das innere Band, das die Gemeinschaft zusammenhält“.7
Diese soziologische Sicht, die auch Bernd Joas deutlich hervorhebt,8 steht als Mahnung im Raum. Jedoch, so glaube ich, ist diese kirchliche Gemeinschaft schon seit längerer Zeit mehr Wunschdenken als Realität. Die real oder gefühlt in den letzten Jahrzehnten noch hin und wieder gefüllten Kirchen und Pfarrheime haben viele darüber hinweggetäuscht, dass es diese kirchliche Gemeinschaft nur mehr rudimentär gibt oder sie sich schon aufgelöst hat. Oder aber abgelöst wurde von einem kulturkämpferischen Traditionalismus, im Sinne des „mia san mia“, in der sich politische Verantwortliche, die sonst selten eine Kirche von innen sehen, beim Bischof melden und fordern, dass selbst im kleinsten Dorf am Sonntag eine Messe stattzufinden hat. Denn das sei wichtig für den Zusammenhalt im Dorf.
Und umso unverständlicher ist es, dass sowohl Verantwortliche in der Hierarchie der Kirche, aber auch in jedem noch so kleinem Kirch-Ort, gar nicht so genau hinschauen wollen, was sich da vor ihren Augen abspielt.
Und die hauptamtlichen Seelsorger:innen?
Die persönliche Beziehung der pastoralen Mitarbeiter:innen zu den Pfarreimitgliedern ist sehr unterschiedlich. Zu einem Teil der Menschen, v.a. zu den regelmäßigen Kirchgängern und den Engagierten in den Gremien und Gruppen, ist der Kontakt eher intensiv und persönlich. Das sind aber in der Regel nicht mehr als 10 bis maximal 20 Prozent der Katholiken einer Seelsorgeeinheit. Mit der überwiegenden Mehrheit der Katholiken kommt es zu einer punktuellen Berührung und einem kurzen Kontakt anlässlich von Sakramenten und Kasualien. Diese, wenn auch punktuellen Begegnungen, sind als Kairos für die Verkündung des Evangeliums zu nutzen.
Aufgrund einiger wissenschaftlichen Studien in den letzten Jahren, bei denen in ganz Deutschland Priester, Diakone und hauptamtliche pastorale Mitarbeiter:innen befragt wurden, kann die Situation der Befragten nun erstmals sehr detailliert und fundiert beschrieben werden. Die Überlegungen zu den Konsequenzen aus der deutschen Seelsorgestudie, die von Baumann u.a. unter dem Titel „Zwischen Spirit und Stress“ die im Frühjahr 2015 veröffentlicht wurden,9 müssen in den kommenden Jahren noch intensiver diskutiert werden, um daraus Handlungsoptionen abzuleiten. Zudem haben sich die gesellschaftlichen und kirchenpolitischen Rahmenbedingungen innerhalb der letzten zwei Jahre, aufgrund der veröffentlichten Missbrauchsgutachten, der Konflikte in manchen Diözesen und der Pandemie massiv verändert.
Vor allem das Priesterbild und auch die priesterliche Existenz sind dadurch in eine Krise geraten.
Vor allem das Priesterbild und auch die priesterliche Existenz sind dadurch in eine Krise geraten. Teilweise durch mangelnde Wertschätzung der Gesellschaft, aber auch durch kritische Anfragen durch das Volk Gottes selbst: wegen ihrer zölibatären Lebensform, wegen aktuellen Skandalen in der Kirche oder einer zugeschriebenen Haltung zu einer nicht mehr verständlichen Sexualmoral. Zudem ist auch die Leitungsfunktion eines Priesters/Pfarrers einem Wandel unterworfen. Mit immer größer werdenden Seelsorgeeinheiten, aufgrund des Priestermangels, und aufgrund staatlicher Vorgaben in Finanz- und Verwaltungsfragen müssen Priester immer mehr Managementaufgaben an Verwaltungsleitungen abgeben. Damit bleibt dem Priester zwar wieder mehr Zeit für die Seelsorge, jedoch muss diese neue Rolle erst noch aktiv angenommen und mit Leben gefüllt werden. „Denn noch gibt es wenige attraktive Formen erprobter Partizipation und gemeinschaftlichen Lebens und Handelns von Priestern und Gläubigen in der Seelsorge“.10
„Die vielen engagierten Priester, die trotz andauernder Missbrauchskrise und zähem Fortschritt kirchlicher Reformen mit Herzblut ihren Dienst tun und der Kirche ein menschenfreundliches Gesicht geben, können am negativen Image offenbar nur wenig ändern. Für viele wird die Situation zur Belastung. Wo soll sich ein Priester im säkularen Umfeld verorten zwischen seinen Rollen als Kultdiener und Seelsorger, Sozialarbeiter und Verwalter?“.11
„Koppelung von Sakramentalität und Macht (ist) heute für die Existenz des katholischen Amtspriestertums offenkundig zum Problem geworden“
Der Pastoraltheologe Rainer Bucher bringt es so auf den Punkt: Die „Koppelung von Sakramentalität und Macht (ist) heute für die Existenz des katholischen Amtspriestertums offenkundig zum Problem geworden“.12
Deutlich sichtbar wurde dies meines Erachtens beim „Synodalen Weg“. Dort wurde provokant die Frage aufgeworfen, ob es denn überhaupt noch Priester brauche. Rasch wurde dann – dogmatisch sauber – nachgeschoben, dass es ja bei der Frage nicht grundsätzlich um die Frage des Priesteramts gegangen sei, sondern um die Frage, welche Art von Priestern das Volk Gottes im 21. Jahrhundert benötigt. Also: auch das Priesterbild in seiner bisherigen Form ist in Auflösung begriffen. Und mit ihm natürlich auch die Bilder von Diakonen, Pastoral- und Gemeindereferenten, deren Proprium sich vielfach ja nur in Abgrenzung zur Vollmacht von Bischof und Priester sich ableitet.
Eine territorial strukturierte Kirche, wie es nun mal die katholische ist, tut sich schwer mit Sozialraum-Pastoral, mit innovativen Ideen, mit kategorialen Diensten, mit Multiprofessionalität. Und mit ihr natürlich auch deren Mitarbeiter:innen. Viele der in der Pastoral hauptberuflich Tätigen gehören nicht mehr zu den Jüngsten und tragen ihre Kirchenbilder aus der eigenen Jugendarbeit und aus Studienzeiten in sich. Wandel, Abschied, Auflösung sind Begriffe, die nicht gerne angegangen werden, da sie meist auch zu Widerständen bei den Ehrenamtlichen führen.
Wie geht eine Kirche in Auflösung?
Und natürlich hinterfragen diese Begriffe auch die Person selbst: War denn alles, was ich in den Pfarreien geleistet habe, umsonst? Habe ich mehr Leute aus der Kirche vertrieben als für die Kirche gewonnen? Wie geht eine Kirche in Auflösung? Macht es noch Sinn, die letzten Jahre meines Berufslebens mich nochmals neu auszurichten?
Viele pastorale Mitarbeiter:innen schwanken meines Erachtens zwischen einem „die Zeiten werden sich schon wieder zu unseren Gunsten ändern“ und dem Wunsch nach einem möglichst raschen Zusammenbruch der aktuellen Sozialform von Kirche in Deutschland. Und natürlich gibt es zwischen diesen beiden Polen alle möglichen Schattierungen von Handlungsmustern und Gedankenspielen. Und damit sind die pastoral Tätigen ein Spiegelbild der Haltungen auch aller anderen Kirchenmitglieder.
Gefangene des Kirchenrechts
Seit Jahrzehnten findet bereits eine Entfremdung zwischen dem gläubigen Volk und den Amtsträgern statt. Da ist auf der einen Seite die Kirche, die Amtskirche, und auf der anderen Seite, da bin ich. Mit dieser Haltung distanziert und suspendiert sich der gläubige Mensch von den Entscheidungen der Kirchenhierarchie. Denn vieles, was Dogmatik und Morallehre der Kirche betrifft, deckt sich nicht mehr mit der Lebenswirklichkeit der Menschen. Mehr noch, manche kirchlichen Aussagen werden als verletzend, diskriminierend, isolierend wahrgenommen.
Denn vieles, was Dogmatik und Morallehre der Kirche betrifft, deckt sich nicht mehr mit der Lebenswirklichkeit der Menschen.
Doch eine Änderung in diesen doch für die westliche Welt drängenden Fragen, auch wenn nur in kleinen Schritten, ist nicht in Sicht. Das hat deutlich auch der Ad-limina-Besuch der deutschen Bischöfe in Rom vom 14.bis zum 19. November 2022 gezeigt. Rom hat die roten Linien aufgezeigt bei Fragen der Frauenordination, bei Fragen zum Zölibat, bei Änderungen der Sexuallehre, bei Fragen zur kirchlichen Anthropologie. Letztlich, so würde ich es bezeichnen, sind wir Gefangene des Kirchenrechts.
In diesem 1983 von Papst Johannes Paul II. erlassenen Kirchengesetzt ist viel festgeschrieben, was in den kirchlichen Diskussionen in Deutschland aktuell zur Debatte steht. Aber kein Synodaler Weg, auch keine Bischofskonferenz kann das Kirchenrecht ändern. Darauf weist der Kirchenrechtler Norbert Lüdecke deutlich hin.13 Er findet es zudem unverständlich, dass sich immer wieder Katholik:innen in den Gremien und Verbänden finden, die sich auf zeitintensive Diskussionen wie den Synodalen Weg einlassen. Denn, so sein Resümee: Egal, was hier mit Mehrheit beschlossen wird – entschieden darüber wird im Vatikan, letztlich durch den Papst.
Egal, was hier mit Mehrheit beschlossen wird – entschieden darüber wird im Vatikan, letztlich durch den Papst.
Von daher möchte man mit Cassian rufen: „Fliehe des Bischofs und der Frauen“.14 Cassian hatte hier natürlich den Mönch in Blick und möchte ihn vor den Versuchungen der Macht, des Eingebundenseins in eine Hierarchie und der Sexualität warnen. Jedoch passt dieser Satz auch in unsere Situation. Dem Bischof „fliehen“ – das machen zurzeit viele Kirchensteuerzahler, aber auch gläubige Katholiken. Den Frauen „fliehen“ haben dagegen die Bischöfe und die Kurie mit dem Papst in Rom über Jahrhunderte gemacht und machen es immer noch. Das Ergebnis sehen wir gerade in den Debatten über Zugänge von Frauen zu allen Ämtern und Funktionen in der Kirche.
Die Unselbständigkeit der Teilkirchen, die nach wie vor zentralistisch geleitete Kirchenmonarchie trägt hier in Deutschland ebenfalls zur Auflösung bei. Wenn man das Gefühl gewinnt, dass noch so viele Debatten, Synoden, Synodale Wege und Gesprächsprozesse keine wirklichen Veränderungen bringen, dann wird auch der letzte gutgesinnte Katholik mürbe und verabschiedet sich oder es bleibt „beim Dauerbejammern einer Kirche, auf die man heilsängstlich nicht verzichten kann“.15
Und nun?
Harald Welzer hat ein Buch mit dem Titel „Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens“ geschrieben.16 Es ist autobiografisch gefärbt. Der Autor reflektiert darin nach einer schweren Erkrankung seine Entscheidung, mit manchen Dingen aufzuhören, damit Neues entstehen kann. Dieses „Aufhören“ im Kleinen wie im Großen der Welt legt er auch seinen Leser:innen nahe.
Ich glaube, genau dieses „Aufhören“ vom Gewohnten ist die größte Herausforderung unserer Kirche und aller seiner Glieder. Und es ist das, was die wenigsten können und wollen.
Der ehemalige Generalvikar der Erzdiözese München und Freising, Peter Beer, hat den Impuls von Harald Welzer aufgegriffen und empfiehlt seinerseits „unserer Gesellschaft eine Kultur des Aufhörens. Und ich glaube, das fehlt auch in unserer Kirche. Es fehlt das entspannte Aufhören mit etwas, das vielleicht früher mal gepasst hat, aber jetzt seine Funktion, seine Bedeutung und Wichtigkeit verloren hat. Wer mit etwas aufhören kann, der muss auch keinen Mangel verwalten. Wer aufhören kann, der kann auch mit etwas anderem neu beginnen“.17
Ich glaube, genau dieses „Aufhören“ vom Gewohnten ist die größte Herausforderung unserer Kirche und aller seiner Glieder. Und es ist das, was die wenigsten können und wollen. Denn der Blick zurück gibt Sicherheit, der Blick nach vorne ist ein Wagnis. Und dann noch die Frage: Was füllt den Raum, der durch das Aufhören von etwas sichtbar wurde? Es gibt daher nicht viele, die einem der 12 Merksätze, die Harald Welzer zusammenfassend formuliert hat, wirklich glauben: „Aufhören sichert das Erreichte. Weitermachen banalisiert es“.18
Von daher nehme ich im Verhalten von vielen Haupt- wie Ehrenamtlichen vor allem eine Verunsicherung wahr und ein konsequentes Festhalten am Überkommenen. Sie wollen retten, was zu retten ist, damit alles so bleibt wie bisher, auch wenn die Mitfeiernden und Teilnehmen von Monat zu Monat abnehmen. Zwar gibt es die kleinen und großen Aufbrüche innerhalb der bisherigen Seelsorgeeinheiten und Kategorien, es wird mal etwas Neues versucht, aber das Alte wird weitergeführt, vielleicht im Umfang reduziert, aber nicht beendet.
Diese Gruppen werden für sich das umsetzen und leben, was sie für sich brauchen. Sie werden sich in Selbstermächtigung ihre Rituale, Liturgien und die Regeln für das Zusammenleben geben
Und daneben wachsen kleine Gruppen von Christen, die sich Jesu Wort verschrieben haben: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich unter ihnen“ (Mt 18,20). Diese Gruppen werden für sich das umsetzen und leben, was sie für sich brauchen. Sie werden sich in Selbstermächtigung ihre Rituale, Liturgien und die Regeln für das Zusammenleben geben. Was diese Gruppen sicher nicht brauchen: ein Kirchenrecht, eine unverständliche Dogmatik, eine Morallehre jenseits aller Wissenschaft und evtl. brauchen sie auch keine Dienste und Ämter der verfassten Kirche. Und doch werden sie sich im Verbund mit anderen Gruppen und ggf. auch der Gemeinde vor Ort als Teil der katholischen Kirche verstehen wollen.
Und das mit dem Licht?
Es gibt eine ganz einfache biblische Antwort für die Zukunft der Kirche:
„Nicht mehr die Sonne wird dein Licht sein, um am Tage zu leuchten, / noch wird dir der Mond als heller Schein leuchten, sondern der HERR wird dir ein ewiges Licht sein / und dein Gott dein herrlicher Glanz. Deine Sonne geht nicht mehr unter / und dein Mond nimmt nicht mehr ab; denn der HERR ist dein ewiges Licht, / zu Ende sind die Tage deiner Trauer. Dein Volk besteht nur aus Gerechten; / sie werden für immer das Land besitzen, / Spross meiner Pflanzung, Werk meiner Hände / zum herrlichen Glanz. Der Kleinste wird zu einer Tausendschaft, / der Geringste zu einer starken Nation. Ich, der HERR, / zu seiner Zeit führe ich es schnell aus“ (Jes 60,19-22).

Praxis
Kirche in der Krise – geht auch das kirchliche Engagement den Bach runter?
Wahrnehmungen einer Organisationsberaterin
Annäherungen
Dass sich die jetzige Form von Kirche in einer massiven und tiefgreifenden Krise befindet, ist hinlänglich und schon seit langem bekannt. Spannend ist derzeit die Frage, ob sich die Institution Kirche selbst abschafft oder ob und wie sie noch zu retten ist.
In diesem Artikel soll der Frage nachgegangen werden, wie die bislang hoch engagierten freiwillig wie auch beruflich tätigen Personen in Kirche die sich abzeichnenden kirchlichen Entwicklungen wahrnehmen, sie bewerten und mit ihnen umgehen.
Als stellv. Leiterin der Beratungsdienste im Erzbistum Paderborn bin ich mit vielen Kolleg*innen im Gespräch, die hauptberuflich im Erzbistum Paderborn tätig sind, sei es in der erzbischöflichen Behörde im Bereich Pastoral, Personal oder Verwaltung, sei es in Einrichtungen oder Verbänden. Viele von ihnen sind auch ehrenamtlich in Gemeinden und pastoralen Räumen aktiv. Durch meine Tätigkeit als Organisationsberaterin begegne ich vielen hauptberuflich und freiwillig tätigen Menschen in Pastoralen Räumen. Darüber hinaus mache ich selbst Erfahrungen in Kirche als Ehrenamtliche im pastoralen Raum und in einem kirchlichen Sozialfachverband. Aus diesen Erfahrungen und Wahrnehmungen erwachsen die eher subjektiven Streiflichter zu den Fragestellungen dieses Artikels.
Wie nehmen die (bislang) hoch engagierten freiwillig wie beruflich tätigen Personen in Kirche die sich abzeichnenden kirchlichen Entwicklungen wahr? Wie bewerten sie diese?
In vielen Gesprächen zeigt sich durchgängig eine Aussage: „Es kann in und mit Kirche nicht so weitergehen wie bisher! Es muss sich endlich etwas ändern.“1
Bei genauerem Nachfragen ergeben sich verschiedene Aspekte, die zu dieser grundlegenden Aussage führen:
Die Veränderungen in der Gesellschaft führten zur Frage, welche Menschen den transzendenten Bezug, den Kirche herstellen will, überhaupt noch bräuchten und ob Kirche dann die Partnerin für die Erfüllung von möglicher spiritueller Sehnsucht sei. Vielen Menschen sei diese Welt genug, so dass Kirche mehr und mehr an Bedeutung verliere.
Die Institution Kirche kämpfe schon lange mit einem Glaubwürdigkeitsproblem. Die Sprache der Kirche sei nicht (mehr) die Sprache der Menschen. Die Sprache in Liturgie und Verkündigung erreiche die Menschen genauso wenig, wie die Sprache im kirchlichen Gesetzes- und Regelwerk. Dazu komme, dass die Botschaft Jesu Christi, die u.a. eine Botschaft von Liebe, Barmherzigkeit und Vergebung sei, für viele Menschen nicht im Agieren der Institution Kirche und mancher ihrer Vertreter*innen spürbar wäre. Botschaft und Taten deckten sich nicht.
Die schon länger bestehende Krise in der Kirche sei in den letzten Jahren durch die Veröffentlichung der MHG-Studie (Studie zum Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland) noch einmal massiv verschärft worden. Die jetzt nach und nach über Jahre veröffentlichten Ergebnisse der Missbrauchsstudien der einzelnen Bistümer würden immer wieder als Einschläge erlebt, die Menschen erschütterten. Die gefühlt „scheibchenweise“ Bekanntgabe von Ergebnissen und das Zögern bei der Aufklärungsarbeit schürten das Misstrauen gegenüber der Kirche als Institution enorm. „Jetzt ist es endlich genug!“ bzw. „Das ist nicht mehr meine Kirche!“ seien geläufige Reaktionen.
Insgesamt wird wahrgenommen, dass die in der Institution Kirche Verantwortlichen […] viel zu lange gezögert hätten, um zukunftsweisende Richtungen, wie z. B. die stärkere Beteiligung der Laien, insbesondere auch der Frauen, an Leitung oder das konsequente Zugehen auf Menschen, die sich von der Kirche entfernt haben, einzuschlagen.
Insgesamt wird wahrgenommen, dass die in der Institution Kirche Verantwortlichen (angefangen in Rom, über den eigenen Bischof und vielfach bis zu den Leitungen in den Pastoralen Räumen vor Ort und in den Bereichen der bischöflichen Behörde) viel zu lange gezögert hätten, um zukunftsweisende Richtungen, wie z. B. die stärkere Beteiligung der Laien, insbesondere auch der Frauen, an Leitung oder das konsequente Zugehen auf Menschen, die sich von der Kirche entfernt haben, einzuschlagen. Immer wieder würden Entscheidungen aufgeschoben, z.T. auch wieder zurückgenommen. Oftmals interpretieren die Menschen dieses Zögern und Zaudern der Leitungen in Kirche als Mittel, um die eigene Macht nicht teilen oder abgeben zu müssen.
Hauptberuflich wie freiwillig Engagierten konnten, trotz Kritik an der Institution Kirche und Nicht-Einverstanden-Sein mit kirchlichen Entscheidungen, lange für sich sagen: „Ich kann hier vor Ort an meinem Platz Kirche positiv gestalten und verändern und damit ein guter Teil von Kirche sein!“ Dieses oftmals gut eingeübte Konstrukt funktioniere inzwischen nicht mehr, da zum einen die Erfolgserlebnisse im eigenen Tun fehlten („es funktioniert alles nicht mehr!“) und zum anderen die vielen Negativschlagzeilen in und über Kirche das eigene Engagement massiv überlagerten. Es sei nicht mehr attraktiv und cool, in kirchlichen Bereichen zu arbeiten oder sich dort zu engagieren. Mehr und mehr seien die Engagierten Angriffen, Hohn und Spott ausgesetzt. Viele ausgeschriebene Arbeitsstellen im kirchlichen Kontext könnten derzeit nicht besetzt werden, weil passende Bewerbungen fehlten. Selbst an Orten, an denen Engagierte sich gut einbringen und viel gestalten können, schlüge ihnen aufgrund der Großwetterlage der Wind ins Gesicht. Ohne eine starke eigene Glaubensüberzeugung, die weiterhin Kraftquelle für das eigene Leben ist, könnten man in diesen rauen Zeiten nicht bestehen.
All diese Wahrnehmungen führen immer häufiger und zugespitzter zu der Aussage, dass Kirche sich unbedingt verändern müsse, damit „nicht alles den Bach runter geht!“ Gleichzeitig herrscht eine große Skepsis vor, ob die Verantwortlichen in der Institution Kirche wirklich bereit seien, die Entwicklungen zu sehen und auf die Menschen zu hören und – noch grundlegender – ob Institution sich überhaupt noch verändern könne. Zu häufig haben die Engagierten offensichtlich keine Veränderung nach vorne, sondern Stillstand, ja bisweilen sogar Rückschritt erlebt.
Wie gehen die Engagierten mit Ambivalenzen, Widersprüchen und Polarisierungen um, die in der aktuellen Situation deutlicher werden? Welche persönlichen Strategien sind beobachtbar?
Erst einmal ist festzustellen, dass jede*r Engagierte für sich persönlich einen Umgang mit der jetzigen Kirchensituation finden muss. Trotzdem lassen sich einige, durchaus auch unterschiedliche Tendenzen des Umgangs bei hauptberuflich und freiwillig Engagierten wahrnehmen:
Hauptberuflich Engagierte, die in ihrer Arbeit im kirchlichen Bereich sehr nah an den Menschen mit ihren Lebensfragen und -nöten sind und hier eine hohe Wirksamkeit für sich erleben, können die Krise der Kirche besser ausblenden als andere.
Hauptberuflich Engagierte, die in ihrer Arbeit im kirchlichen Bereich sehr nah an den Menschen mit ihren Lebensfragen und -nöten sind und hier eine hohe Wirksamkeit für sich erleben, können die Krise der Kirche besser ausblenden als andere. Sie haben das Gefühl, etwas sehr Sinnvolles zu tun, etwas, das auch wirklich funktioniert. Hierzu gehören Mitarbeitende in der Kategorie (z.B. in der Gefängnis- oder der Krankenhausseelsorge) oder in jedweder Form von Beratung.
Auch sind hauptberuflich Engagierte erkennbar, die sehr bewusst und motiviert in besondere Projekte und Initiativen hineingehen. Durch das Heraustreten aus der bisherigen kirchlichen Struktur sehen sie Möglichkeiten, Kirche und pastorale Arbeit zukunftsfähig aufzustellen. Wo es gelingt, diese Projekte und Initiativen organisatorisch, finanziell und personell gut auszustatten und das Verhältnis von Bisherigem und Neuem gut auszuloten, sind Aufbrüche zu erkennen, wie z.B. in sozialen Stadtteilprojekten oder auch in der Arbeit in geistlichen Zentren. Diese tragen zur Zufriedenheit der Engagierten bei und fördern das Erleben von eigener Wirksamkeit.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass immer mehr hauptberuflich Engagierte nach Möglichkeiten der Weiterbildung suchen. Damit wollen sie sich selbst für neue zukunftsfähige Arbeitsfelder fit machen. Bisweilen ziehen sie sich nach einer Weiterbildung auch aus der pastoralen Arbeit in den Gemeinden und pastoralen Räumen zurück und gehen sehr bewusst hinein in andere kirchliche Berufsfelder. Und sie haben durch die Weiterbildung ein weiteres berufliches Standbein entwickelt, um womöglich ganz aus dem kirchlichen Dienst aussteigen zu können.
Andere beruflich Engagierte in der Flächenpastoral befinden sich gefühlt wie in einem Hamsterrad. Die bisherigen Konzepte und Strategien funktionieren längst nicht mehr.
Andere beruflich Engagierte in der Flächenpastoral befinden sich gefühlt wie in einem Hamsterrad. Die bisherigen Konzepte und Strategien funktionieren längst nicht mehr. Die zu erfüllenden Aufgaben werden durch Personalknappheit immer mehr. Hektischer Aktionismus und mehr des immer Gleichen sind die Strategien, um die Kirche zu retten. Im Arbeitsalltag bleibt keine Zeit, um zu stoppen, zu reflektieren und sich wirklich mit der Situation auseinander zu setzen. Oft endet dieses Agieren in der totalen Überforderung, die schlussendlich krank macht. Ausfälle, Burnouts und Depressionen sind inzwischen nicht mehr nur Einzelfälle.
Weiter erlebe ich hauptberuflich Engagierte, die innerlich völlig zerrissen sind. Die Diskrepanz zwischen dem eigenen Bild von Kirche und dem derzeitigen Zustand von und in Kirche führt bei vielen hauptberuflich Engagierten zu Fragen, wie sie mit dieser Zerrissenheit umgehen können, ob ihr Platz noch in dieser Kirche sein kann, ob sie bleiben können oder gehen sollen. Der Anstieg von diesen und ähnlichen Themen in Supervisions- und Coachingprozessen ist deutlich wahrnehmbar.
Gerade bei hauptberuflich Engagierten, die schon lange im kirchlichen Dienst tätig sind, ist ein innerer Ausstieg wahrzunehmen. Oft haben sich diese Menschen viele Jahre lang in der Kirche eingesetzt, haben um Veränderungen gekämpft und sich u.a. an der Hierarchie abgearbeitet. „Ich habe keine Kraft mehr zum Kämpfen!“ oder „Hoffentlich schaffe ich es noch bis zur Rente!“, wird in Gesprächen gesagt. Diese hauptberuflich Tätigen machen irgendwie ihren Job, privat ziehen sie sich vermehrt aus Kirche zurück.
Insgesamt ist festzustellen, dass hauptberuflich engagierte Laien durch ihre berufliche Abhängigkeit vom Arbeitgeber Kirche eher vorsichtig sind mit Kritik. Daher stabilisieren sie durch ihr Verhalten das derzeitige System Kirche.
Darüber hinaus gibt es hauptberuflich Engagierte, die weiterhin das tun, was sie schon immer getan haben, nach dem Motto: „Das war schon immer so!“. Sie blenden die Entwicklungen in Gesellschaft und Kirche aus bzw. bewerten sie mit ihren eigenen Denkschemata. Sie sehen keine Veränderungsnotwendigkeit, weil sich die wesentlichen ‚Wahrheiten‘ des Glaubens nicht verändern. Menschen, die Veränderungen fordern, haben in ihrer Denklogik den Kern der Glaubenswahrheiten nicht verstanden. Insgesamt ist festzustellen, dass hauptberuflich engagierte Laien durch ihre berufliche Abhängigkeit vom Arbeitgeber Kirche eher vorsichtig sind mit Kritik. Daher stabilisieren sie durch ihr Verhalten das derzeitige System Kirche.
Die große Zahl der Austritte zeigt deutlich, dass inzwischen nicht nur die „Kirchenfernen“, sondern auch die Menschen aus dem „inner circle“, die bisher hoch motivierten freiwillig Engagierten, die Kirche verlassen. Neben dem inneren Ausstieg, der das Niederlegen des Engagements zur Folge hat, gibt es eben auch den äußeren Ausstieg, der mit dem Kirchenaustritt aus dieser Kirche besiegelt wird.
Andere freiwillig Engagierte bleiben Mitglied der Kirche, weil es ihnen um den eigenen Glauben geht. Diesen erleben sie für sich als eine Kraftquelle für ihr Leben, sie bleiben auf der Suche nach der Erfüllung der eigenen spirituellen Sehnsucht, oft „trotz allem“.
Die Suche nach einer Nische, in der die freiwillig Engagierten ihren Platz haben, die Suche nach einem Ort, einer Gruppe, in der das eigene Engagement Spaß macht und wirksam ist, wird größer. Erstaunlicherweise gibt es immer noch viele freiwillig Engagierte, die weiter massiv darum kämpfen, ihren Lebens- und Glaubensort mitgestalten zu dürfen, gerade auch gegen die Macht von Klerikern und Verantwortlichen vor Ort.
Insgesamt ist mein Eindruck, dass die Emanzipation der Menschen und damit auch der freiwillig Engagierten weiter stark voranschreitet. Das Verständnis, dass sie selbst Kirche sind, wächst. Auch wenn der Gedanke, ganz auf die Institution Kirche zu verzichten noch nicht sehr ausgeprägt scheint, suchen immer mehr Menschen Orte und Gruppierungen, in denen sie ohne die Strukturen der derzeitigen Kirche ihren Glauben leben und (eine andere, neue) Kirche sein können. Und andere gehen einfach – wohin auch immer.
Kann die jetzige Form der Kirche bestehen bleiben? Welche Knackpunkte werden identifiziert? Wie kommt die nächste Sozialform von Kirche in die Welt?
In den Gesprächen mit hauptberuflich und freiwillig Engagierten wird deutlich formuliert, dass die jetzige Form der Kirche so nicht weiter bestehen bleiben könne und es dringend radikale Reformen in den folgenden Bereichen brauche. Aus Sicht der Engagierten liegen besondere Knackpunkte hier:
Das Leben der Menschen und damit die Menschen selbst und die Situationen, in denen Menschen leben, müssten endlich eine Relevanz für die Kirche in ihrem Agieren und in ihrer Verkündigung haben. Nur wenn sie von den Menschen her denke und agiere, könne sie auch wieder Relevanz für die Menschen haben. Der Anspruch, der im II. Vaticanum in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ formuliert sei, gelte auch heute noch: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“2 Und gerade die Menschen, die eine spirituelle Sehnsucht spürten, bräuchten Orte und Angebote, um diese Sehnsucht zu erfüllen. Hier werde Kirche nicht mehr als Ansprechpartnerin gesehen.
Das Leben außerhalb von Kirche habe sich massiv geändert. Die Welt sei global vernetzt, unsere Gesellschaft werde u. a. durch die Individualisierung der Menschen und demokratische Strukturen geprägt. In diese Welt passe Kirche mit ihrer hierarchischen Struktur und mit ihren z.T. als menschenverachtend empfundenen Regelungen und Gesetzen nicht mehr hinein. Daher brauche es endlich die schon lange geforderten synodalen Strukturen und den Dialog auf Augenhöhe.
Mehr Synodalität würde zum einen bedeuten, dass es keine einsamen Entscheidungen der „Machthaber“ mehr gäbe, sondern auf allen Ebenen gemeinsam entschieden würde. Dazu bräuchte es Beteiligungsformate, die von Anfang an die betroffenen Menschen beteiligten.
Ganz praktisch benötige die Kirche insgesamt eine gute, zielgerichtete Organisation und einen effektiven Ressourceneinsatz.
Hinter den hier benannten Aspekten stünden zentrale theologische Fragestellungen, z. B. die Frage nach dem Verständnis des Priesteramtes und der Frage, wozu Priester in Zukunft gebraucht würde. Und auch die Frage nach dem Verständnis von Sakramentalität einschließlich der Frage, wie Sakramentalität von Kirche zu verstehen sei und wie Kirche als „Zeichen des Heils in der Welt“3 agieren könne.4
Neben all den inhaltlichen Fragestellungen, die hier benannt werden und die sicher noch fortgeführt werden könnten, schwingt in den Gesprächen mit Engagierten etwas mit, was ich als den eigentlichen Knackpunkt benennen möchte:
„Das, was wir benennen, ist nicht neu. Vieles wird schon seit langem besprochen, eingefordert, erkämpft, und es ist gefühlt immer nur in Mini-Schritten nach vorne gegangen. Oft gab es auch Rückschritte. Es dauert alles viel zu lange, es ist eigentlich schon zu spät und wir glauben gar nicht mehr daran, dass die Kirche sich in dem Maße verändern kann, wie es notwendig ist.“
Aus all dem resultiert, dass die Engagierten vielfach nicht mehr an einen sanften Übergang von der jetzigen zur nächsten Gestalt von Kirche glauben.
Aus all dem resultiert, dass die Engagierten vielfach nicht mehr an einen sanften Übergang von der jetzigen zur nächsten Gestalt von Kirche glauben. Dafür sind zu viele Chancen für eine Assimilation vertan worden. In ihren Augen braucht es jetzt radikale Veränderungen, die auch radikale Einschnitte beinhalten. Dass die jetzige Kirche komplett zusammenbricht, ist noch nicht wirklich vorstellbar, auch wenn dieser Gedanke inzwischen häufiger ins Spiel gebracht wird.
Welche Optionen werden diskutiert, wie der Übergang konstruktiv gestaltet werden kann und Risiken gemindert werden können?
Mit Blick auf die oben benannten Knackpunkte wird von vielen hauptberuflich und freiwillig Engagierten beschrieben, dass es in diesen Bereichen nur eine Option gäbe: klare Wegweisungen und inhaltliche und strukturelle Entscheidungen von den an höchster Stelle Verantwortlichen in der Institution Kirche (von den Bischöfe, gerne auch vom Papst). Diese und nachrangig dann alle weiteren verantwortlichen Entscheidungsträger*innen müssten eine zukunftsweisende Richtung einschlagen, die geprägt sei von synodalen, demokratischeren Strukturen, von der Option für die Menschen (die „Armen“) und von der Beteiligung der Betroffenen. Und sie müssten beherzt, engagiert und ehrlich in diesem Sinne handeln. „Leitung muss vorgehen – wenn Leitung nicht vorgeht, kann man irgendwann nur weggehen!“
Am Beispiel des synodalen Weges zeigt sich, wie gerade auch die Engagierten über die Zukunftsfähigkeit der Institution Kirche denken. Einige erwarten keine gewichtigen Entscheidungen und glauben, dass die deutschen Ergebnisse spätestens in Rom wieder „einkassiert“ werden. Andere erwarten, dass die Entscheidungen, die die deutsche Kirche direkt umsetzen könnte, auch wirklich direkt umgesetzt werden. Hier brauche es ein gemeinsames Zeichen in der Kirche von Deutschland. Alle Verzögerungen, auch das Ausbremsen von einzelnen Bischöfen seien ein großes Risiko. Die Menschen, und hier auch die hoch Engagierten, scheinen nicht mehr bereit, diese Reaktionen zu tolerieren. Das Risiko ist sehr groß, dass mit dem Scheitern des synodalen Weges alles infrage gestellt wird: „Wenn der synodale Weg nicht gelingt, dann ist es aus mit der Kirche!“, „Dann habe ich keine Hoffnung mehr!“
Welche impliziten und expliziten Bilder und Szenarien der „nächsten“ Kirche sind wirksam und wie beeinflussen sie Haltung, Mitarbeit und Engagement in der Kirche?
In den Gesprächen mit hauptberuflich und freiwillig Engagierten schwingen verschiedene Bilder und Szenarien mit, die sie in ihrem Denken und Handeln beeinflussen, so u.a.:
Es gibt das große Bild einer Kirche, die für die Menschen da ist. Dieses beinhaltet, dass sich die Kirche auf die Lebenssituationen der Menschen einlässt und dass sie von der Welt, in der sie leben und arbeiten, ausgeht, um ihre Botschaft vom Heil und vom Reich Gottes zu verkünden. So gewinne die Botschaft Relevanz für das Leben der Menschen. Dazu gehörten heute Bedürfnisse wie angesehen und geliebt zu werden, jemanden an der Seite zu haben und nicht allein zu sein; als Mensch geschätzt und nicht nach Leistung eingeschätzt zu werden, schwach sein und sogar scheitern zu dürfen, Vergebung zu erfahren. Die Kirche müsse für der Wert des menschlichen Lebens in seiner Vielfalt und die Erhaltung der Schöpfung stehen.
Die Funktionen (besonders auch Leitungsfunktionen), die in der Organisation von Kirche notwendig sind, seien mit Menschen zu besetzt, die entsprechende Kompetenzen besitzen (unabhängig vom Geschlecht). Darauf basierend seien Weihen zu vollziehen, Beauftragungen auszusprechen und Delegationen zu erteilen. Es müssten verschiedene Arten von Leitung unterschieden werden, so z.B. die organisationale und die geistliche Leitung im Sinne von geistlicher Orientierung. Leitung dürfte nicht mehr per se an das Priesteramt gekoppelt sein, sondern jene übernähmen Leitung, die über entsprechende Kompetenzen verfügten. Mit Blick auf die Fähigkeiten und Charismen der Menschen würden Aufgaben verteilt und Funktionen besetzt (Was kannst du gut? – Wo ist dann dein Platz?).
Für die Engagierten in Kirche ist auch die Frage nach den Strukturen eine wichtige. Hier gibt es das Bild von sehr viel flacheren Hierarchien und von ausgeprägten synodalen Strukturen. So sollten Beteiligung von Betroffenen und gemeinsame Entscheidungsfindung auf breiter Basis gewährleistet sein.
Die nächste „neue“ Kirche brauche viel weniger Regelwerk in Liturgie, Verkündigung und Diakonie, sondern eher eine verständliche, den Menschen zugewandte Sprache und eine Orientierung am Nutzen für die Menschen.
Die nächste „neue“ Kirche brauche viel weniger Regelwerk in Liturgie, Verkündigung und Diakonie, sondern eher eine verständliche, den Menschen zugewandte Sprache und eine Orientierung am Nutzen für die Menschen (Was brauchen die Menschen? Was tut ihnen gut? Was kann dazu beitragen, dass sie von Gott berührt werden? Wie kann die spirituelle Sehnsucht von Menschen gestillt werden?). Zentral sei an dieser Stelle, dass die Verkündigung der Botschaft vom Reich Gottes und das Agieren der Kirchenvertreter*innen deckungsgleich seien, so dass eine neue Glaubwürdigkeit entstehen könne. Dieses Szenario setze voraus, dass Kirche viel experimentiere und neue Dinge ausprobiere, sich mit den Menschen auf den Weg mache und Neues wage – und sich auf diese Weise als Kirche immer wieder neu erfinde.
Diese Bilder und Szenarien beeinflussen in der Weise, dass sie eine Folie für das eigene Engagement sind. Immer da, wo diese Bilder oder Teile davon im eigenen Engagement vorkommen, können die Engagierten wirklich engagiert mitarbeiten und sich einbringen. Immer da, wo diese Bilder kaum oder gar nicht vorkommen, ziehen sie sich mehr und mehr zurück, machen Dienst nach Vorschrift oder steigen ganz aus.

Praxis
Alles wird sich ändern, wenn wir groß sind … Vom Erwachsenwerden in einer Kirche des Umbruchs
Ausgangslage
Die Kirche in Deutschland befindet sich in einem rasanten Veränderungsprozess. Die Phänomene, an denen dies sichtbar wird, sind allgemein bekannt und bedürfen in kirchennahen Kreisen kaum einer vertiefenden Darstellung: ein sich beschleunigender gesellschaftlicher Relevanzverlust, ein Glaubwürdigkeitsverlust durch den nicht enden wollenden Missbrauchsskandal, die enorme Anzahl an Kirchenaustritten, eine als nicht mehr zeitgemäß geltende kirchliche Sexualmoral mit den sich hieraus ergebenden Verwerfungen, die u.a. die Aktion OutinChurch eindringlich sichtbar gemacht hat etc.
Wie geht es hierbei eigentlich denjenigen, die in der Kirche bleiben und sogar hauptberuflich in ihr tätig sind? Zur Beantwortung dieser Frage werde ich nur einige wenige persönliche Schlaglichter beitragen können und auch diese werden angesichts der Kürze des Beitrags sowie der Komplexität heutiger kirchlicher Realität nur holzschnittartig die Situation beschreiben können. Hierbei beschränke ich mich auf die Gruppe der so genannten hauptberuflichen pastoralen Mitarbeiter*innen (Priester, Gemeindereferent*innen, Pastoralreferent*innen) aus der ich selbst komme und mit der ich mich von daher besonders verbunden fühle.
Ist es wirklich so, dass sich Kirche in Auflösung befindet, wie es der Titel des diesjährigen Strategiekongresses formuliert? Dann müssen sich ja auch die Rollen, Stellenbeschreibungen, Selbstverständnisse und Erwartungen an hauptberufliches pastorales Personal in Auflösung befinden. Diesem Gedanken folgend werde ich versuchen, die Situation Hauptberuflicher in Kirche zu reflektieren und Ansätze für die professionelle Zukunft kirchlicher Mitarbeiter*innen zu beschreiben. Die Zeiten des Umbruchs bieten meiner Ansicht nach vor allem eine Chance: endlich erwachsen zu werden.
Blick in den Rückspiegel
Um zu verstehen, in welcher Situation sich viele hauptberufliche Mitarbeiter*innen befinden, lohnt ein Blick zurück, um zu sehen, aus welcher Zeit wir kommen und was unsere Realität maßgeblich geprägt hat.
Ist es wirklich so, dass sich Kirche in Auflösung befindet, wie es der Titel des diesjährigen Strategiekongresses formuliert?
Viele sind, so wie ich auch, in der Kirche Johannes Paul II. und Benedikt XVI. groß geworden und durch diese geprägt. Diese kirchenpolitische Epoche von 1978-2013 war in der Frage kirchlicher Veränderung und deren weltkirchlicher Durchsetzung geprägt von kirchlicher Sanktionierung, Definition von korrektem und angemessenem Verhalten sowie der Stärkung der Zentrale in Rom. Bezogen auf das Selbstverständnis und die Rollenzuschreibung für pastorale Laien sind mir Ereignisse und Entscheidungen haften geblieben: Wie z.B. das Predigtverbot für Laien bestärkt und ihnen stattdessen eine Statio vor Beginn der eigentlichen Liturgie eingeräumt wird, es für wiederverheiratete Geschiedene im kirchlichen Dienst unmöglich war, weiterhin tätig zu sein, die Diskussion um das Priestertum der Frau für beendet erklärt wurde, Kolleg*innen zu einer schnellen kirchlichen Trauung nach der standesamtlichen Hochzeit gedrängt wurden und homosexuelle Kolleg:innen aus Angst vor Repressionen Kirche als Arbeitgeber verlassen haben.
Gleichzeitig hat sich die Zahl der Gemeindereferent*innen und Pastoralreferent*innen in derselben Zeitphase signifikant erhöht, ihr Berufsbild hat sich weiter professionalisiert und die Möglichkeiten des beruflichen Einsatzes haben sich wesentlich erweitert. Diese Gemengelage hat über viele Jahre das Handeln hauptberuflicher Laien geprägt. Für viele war es das Gebot der Stunde, möglichst nicht aufzufallen, abweichendes Verhalten nur in ausgesuchten Situationen zu zeigen und sich eines Umfeldes zu vergewissern, in dem zumindest in Ansätzen die Freiheit des Denkens gelebt werden konnte.
Was ist heute anders?
Diese Epoche ist unwiderruflich vorbei. Angesichts einer sich rasant verändernden Wirklichkeit verändern sich auch Diskurs- und Freiheitsräume für kirchliche Mitarbeitende. Veränderte Partizipationserwartungen tragen hierzu ebenso bei wie die Unmittelbarkeit des Diskurses, wie er in den sozialen Medien erfahrbar ist. Neue Formen der digitalen wie auch physischen Vernetzung (lokal, regional, global) ermöglichen Austausch, Selbstvergewisserung und Kampagnenfähigkeit. In diesen Diskursen erleben sich Mitarbeitende als selbstwirksam und selbstmächtig.
Es wird Zeit einzustehen, dass dieses Ende nun erreicht ist und zum anderen damit auch ein bestimmtes Bild von Hauptberuflichkeit in Kirche an sein Ende kommt.
Gleichzeitig artikulieren auch Leitungsverantwortliche in Kirche immer stärker die Notwendigkeit grundlegender kirchlicher Reformen und werden, zumindest zum Teil inhaltlich wie auch zeitlich befristet, zu Verbündeten pastoraler Laienberufe. Allen gemeinsam ist die große Ratlosigkeit, wie sich Kirche in Deutschland auf Zukunft hin weiterentwickelt und welche Rolle hierin Amtsträger, Leitungsverantwortliche und alle pastoralen Dienste haben werden. Bezogen auf die Zukunft der Kirche wird seit ca. 15 Jahren, z.B. durch den damaligen Bischof von Essen und heutigen Bischof von Münster Felix Genn konstatiert: Eine bestimmte Sozialgestalt von Kirche ist an ihr Ende gekommen. Es wird Zeit einzustehen, dass dieses Ende nun erreicht ist und zum anderen damit auch ein bestimmtes Bild von Hauptberuflichkeit in Kirche an sein Ende kommt.
Pubertät
Mir kommt bei der Wahrnehmung der Wirklichkeit des hauptberuflichen pastoralen Personals gelegentlich das Bild der Pubertät in den Kopf. Wie bei pubertierenden Jugendlichen schwanken die Verhaltensmuster sehr stark zwischen Resignation, Rebellion, Aktionismus und Rückzug ohne das für Außenstehende ohne weiteres erkennbar wäre, warum wann welches Reaktionsmuster vorherrscht.
De facto können heute pastorale Mitarbeitende weitestgehend machen, was sie wollen. Sie initiieren neue pastorale Projekte, vernetzen sich mit Gleichgesinnten, gestalten z.B. die Katechese zusammen mit freiwillig Engagierten neu und entwickeln Angebote in neuen pastoralen Handlungsfeldern. Sie konzentrieren sich z.B. nur auf die Kür und verweigern die Pflicht, sie halten sich nur dann an Vorgaben, wenn sie ihnen nützen, ignorieren Ansprüche der Christen in ihrem Verantwortungsbereich, verwirklichen sich in pastoralen Nischen, verweigern die Auseinandersetzung mit dem Thema Qualität ihrer Arbeit und stellen kirchliche Glaubensinhalte auch öffentlich schonungslos in Frage. Sie erfüllen treu ihren Dienst, machen um ihre Arbeit wenig Aufhebens und sind als Seelsorger*innen nah bei den Menschen.
De facto können heute pastorale Mitarbeitende weitestgehend machen, was sie wollen.
Parallel gibt es auch bei pastoralen Mitarbeiter*innen den Wunsch nach Anerkennung ihrer Arbeit und Person sowohl individuell durch Verantwortungsträger aber auch systemisch im Wunsch nach Anerkennung als bedeutende Akteure pastoraler, seelsorglicher Professionalität. Eine Veranstaltung erfährt dann eben doch dadurch Anerkennung und Aufwertung, dass der Bischof dabei ist. Und ich erlebe mich in meiner Professionalität z.B. besonders geschätzt, wenn mir zugetraut wird, ein großes diözesanes Projekt zu verantworten.
Erwachsenwerden
Es wird Zeit, auch als Berufsgruppen der pastoralen Laien erwachsen zu werden. Erfahrungsgemäß nimmt hierbei die Akzeptanz der eigenen Person sowie der Realität eine entscheidende Rolle ein.
Die zentralen Aspekte in der Wahrnehmung der Wirklichkeit sind meiner Ansicht nach folgende:
- Die Einführung neuer Berufsgruppen hauptberuflicher Laien im pastoralen Dienst hat zu einer weiteren Differenzierung und Ausgestaltung theologischer Berufe und Berufungen, Qualifikationen und Berufsprofilen geführt.
- Die Kehrseite ist, dass heutzutage viele Aufgaben und Zuständigkeiten bei Hauptberuflichen liegen, die ihnen entweder von Christ*innen übertragen oder die sie sich genommen haben. Hauptberuflichkeit verhindert bzw. verunmöglicht so auch freiwilliges Engagement in Kirche.
- Die Zahl der Berufungen zum Priestertum sinkt seit Jahrzehnten und hat vielerorts den viel zitierten Nullpunkt erreicht. Dies gilt in ähnlichem Maße für den Nachwuchs bei Gemeindereferent*innen und Pastoralreferent*innen. Die Konsequenz wird sein, dass die Kirche in Deutschland zukünftig nicht mehr maßgeblich eine Kirche der Hauptberuflichen sein wird. Es wird große pastorale Räume geben, in denen nur noch sehr wenige Hauptberufliche (Priester wie Laien) ihren Dienst tun.
- Für hauptberufliche Laien gilt vergleichbar wie für Priester, dass die Besinnung auf die Charismen, die Menschen von Gott geschenkt sind, leider erst dann ins Bewusstsein dringt, wenn es zu massivem hauptberuflichem Personalmangel kommt.
- Die Professionalität hauptberuflicher pastoraler Mitarbeiter*innen ist Fluch und Segen zugleich. In gleichem Maße, wie diese einer gut gestalteten pastoralen Arbeit und somit den Menschen und ihrem Leben dient, führt sie auch dazu, dass den Laien die Kompetenz in Fragen des Glaubens abgesprochen und ihre Lebens- wie Glaubenserfahrung zu wenig wahrgenommen, geschätzt und akzeptiert wird.
- Eine nicht geringe Zahl an hauptberuflichen pastoralen Mitarbeiter*innen überschätzt die Qualität, spirituelle Tiefe und fachliche Kompetenz ihrer Arbeit. Echtem beruflichen Wettbewerb auf dem freien Arbeitsmarkt würden viele nicht standhalten.
- Viele Mitarbeitende haben kein geklärtes Verhältnis zum Thema Loyalität gegenüber der Kirche und dem konkreten Bistum, in dem sie tätig sind, im Gegenteil: Illoyalität verschafft und erfährt Anerkennung.
Tippingpoint
Aktuell wird beim Thema der beschleunigten Veränderungsdynamik in Kirche davon gesprochen, dass womöglich ein Kipppunkt erreicht ist, der eine Steuerung dieses Veränderungsprozesses unmöglich macht und unweigerlich zum Ende der Kirche führt, wie wir sie in den vergangenen Jahrzehnten gewohnt waren.
Ich möchte abweichend hierzu einen Gedanken einbringen, auf den mich der britische Autor Malcolm Gladwell mit seinem wunderbaren Buch „Tippingpoint. Wie kleine Dinge Großes bewirken können“ (Goldmann Verlag. 5. Auflage 2016) aufmerksam gemacht hat.
Tippingpoints sind einflussbare Stellschrauben, an denen ich bewusst eine (auch positive) Veränderung herbeiführen kann.
Kipppunkte z.B. im Kontext des Klimawandels beschreiben den Moment, in dem bestimmte Entwicklungen irreversibel werden und die Welt unwiderruflich eine andere sein wird. Kipppunkte beschreiben sozusagen die Schwelle, an der sich alles entscheidet.
Tippingpoints hingegen sind einflussbare Stellschrauben, an denen ich bewusst eine (auch positive) Veränderung herbeiführen kann. Sie zeichnen sich durch drei Eigenschaften aus, die der Logik von Epidemien entsprechen: Sie sind ansteckend, kleine Ursachen können große Wirkungen haben und sie lösen exponentielle Veränderungsprozesse aus.
Drei Regeln der Epidemie sind nach Gladwell bedeutsam:
- Das Gesetz der Wenigen, mit denen Veränderungsprozesse beginnen.
- Die Verankerung einer Botschaft, die durch einfache Veränderungen in der Präsentation und Struktur von Informationen gelingt.
- Die Macht der Umstände, die über Möglichkeiten und Willen zur Veränderung entscheiden.
Tippingpoints lassen sich, wenn man die Logik von Epidemien verstanden hat kreieren, um ein bestimmtes Verhalten wahrscheinlicher werden zu lassen. „Letztlich sind die Tippingpoints eine Bestätigung des Potenzials zur Veränderung und der Kraft intelligenten Handelns. Sehen Sie sich die Welt um sich herum an. Sie mag als unbeweglich und unnachgiebig erscheinen. Sie ist es nicht. Mit dem kleinsten Anstoß kann man sie – wenn man den richtigen Punkt findet – kippen.“ (Gladwell, Seite 301)
Was könnten solche Tippingpoints in Kirche sein oder gibt es sie womöglich schon längst?
Veränderungsschritte mit Potenzial
Wenn die dargestellte Diagnose stimmt, ergeben sich mögliche Ansätze für verändertes Handeln und veränderte Rollendefinitionen von pastoralen Mitarbeiter*innen in einer Kirche des Umbruchs.
- Wenn es das Gebot der Stunde ist, endlich erwachsen zu werden, dann ist für mich ein Ausgangspunkt weiterer Überlegungen die Anerkennung des Knowhows zum Thema Führen, Leiten, Personalgewinnung und -entwicklung, Aus- und Fortbildung, Rollenklärung und Stellenprofil etc. in nichtkirchlichen Kontexten. Die Wahrnehmung der Erkenntnisse anderer Disziplinen, Wissenschaften und Forschungseinrichtungen ist dann nicht nur nice-to-have, sondern ein must-have in Kirche!
- Die Zeit der Lippenbekenntnisse ist unwiderruflich vorbei. Hauptberufliche erwarten heute Partizipationsformen und -möglichkeiten, echte Entscheidungsräume, Geschlechtergerechtigkeit, Begegnung auf Augenhöhe und Freiheit im gemeinsamen Diskurs. Diese Ansprüche sind in einer freiheitlichen Demokratie nicht verhandelbar – auch nicht in Kirche. Personalverantwortliche stehen damit u.a. vor der Herausforderung klären zu müssen, wie sie diesen Prinzipien Geltung verschaffen und wie sie mit Mitarbeitenden umgehen, die diesem Anspruch nicht gerecht werden. Bräuchte es nicht z.B. auch den Mut, sich dann von Mitarbeitenden zu trennen?
Hauptberufliche erwarten heute Partizipationsformen und -möglichkeiten, echte Entscheidungsräume, Geschlechtergerechtigkeit, Begegnung auf Augenhöhe und Freiheit im gemeinsamen Diskurs. Diese Ansprüche sind in einer freiheitlichen Demokratie nicht verhandelbar – auch nicht in Kirche.
- Transformation ist das Gebot der Stunde. Hierzu bedarf es eines größeren (auch externen, siehe den ersten Spiegelstrich) Knowhows. Es braucht jetzt Programme, in denen Personen als Transformationsmanager*innen ausgebildet und befähigt werden, um als Letzte ihrer Art den Übergang hin zu einer Kirche des Volkes Gottes aktiv zu gestalten. Pro Pfarrei/pastoraler Raum wäre eine Person (besser noch ein Team) zu identifizieren, deren Kernaufgabe darin besteht, diesen Übergang verantwortlich zu begleiten.
- Es bedarf einer Auseinandersetzung darüber, was Loyalität in Kirche bedeutet und zwar jenseits der Diskurse, die bezogen auf die Überarbeitung der kirchlichen Grundordnung derzeit geführt werden. Hier geht es meiner Ansicht nach vor allem um Haltungsfragen: Können Menschen an meiner Art, wie ich mein Leben gestalte, wie ich in Konfliktsituationen handle, wie ich mit Menschen umgehe, die anderer Meinung sind als ich etc. erfahren, dass ich mich bemühe, mein Leben und damit auch meine Hauptberuflichkeit im Geiste Jesu zu gestalten? Diese Klärung gilt gleichermaßen für Mitarbeitende wie für Führungskräfte und Amtsträger.
- Der Fachkräftemangel wird sich auch im Kontext hauptberuflicher pastoraler Mitarbeiter*innen weiter verschärfen. Eine Konsequenz ist bereits heute, dass wir nicht nur Spitzenpersonal in Führungsverantwortung haben. Eine systematische Förderung und Qualifizierung von Führungskräftenachwuchs tut daher not.
- Es ist in der Forschung unbestritten, dass Frauen in Führungspositionen einen Unterschied machen. Daher gilt kurz und knapp: Fähige Frauen an die Macht!
Die Pubertät ist bekanntermaßen eine, zum Glück für viele Eltern, zwar anstrengende aber auch glücklicherweise endende Phase. Im Idealfall finden Eltern und Kinder wieder neu zusammen. Und irgendwann gründen die Kinder ihren eigenen Hausstand. Es liegt in der Verantwortung aller Beteiligten dafür Sorge zu tragen, ob sie auch zukünftig noch gerne nach Hause zurückkehren und ob die Eltern ihre Rolle neu definieren. Die Entscheidung ist derzeit offen!

Praxis
„… es kann gar nicht schnell genug gehen!“
Was passiert, wenn nichts passiert
„Es kann gar nicht schnell genug gehen!”1 so lautet die Antwort einer Engagierten der Initiative „Frauen(t)raum“ in der Begegnungskirche Köllerbach”2 im Bistum Trier auf die Frage, ob man aktuell einen Zusammenbruch der Amtskirche beobachten könne.
Sie wollte damit zum Ausdruck bringen, dass nach ihrer Einschätzung die traditionelle römisch-katholische Gemeinde und Pfarrei und insbesondere die kirchenleitenden Personen in den Bistümern viel zu träge und gestrig sind, als dass diese noch adäquat auf die Herausforderungen und Bedarfe reagieren könnten oder wollten.
Beschleunigter Zusammenbruch
Die ständig steigende Zahl von Kirchenaustritten ist jedoch nur eines von vielen sichtbaren Zeichen einer inneren Zersetzung und eines massiven Abbruchs von volkskirchlicher Praxis.
„Es kann gar nicht schnell genug gehen“, so denken wahrscheinlich auch nicht wenige derjenigen, die aus den Kirchen, insbesondere der römisch-katholischen Kirche, austreten.3 Die ständig steigende Zahl von Kirchenaustritten4 ist jedoch nur eines von vielen sichtbaren Zeichen einer inneren Zersetzung und eines massiven Abbruchs von volkskirchlicher Praxis. Auch ist zu beobachten, dass von der Aufbruchstimmung in der Folge des vor 60 Jahren eröffneten Zweiten Vatikanischen Konzils in der römisch-katholischen Kirche im deutschen Sprachraum kaum noch etwas zu spüren ist. Dazu kommt ein ängstliches Erstarren in feudalistisch-bischöflichen Macht- und Entscheidungsstrukturen innerhalb der deutschen Bistümer, das auch durch die zu lobenden Initiativen und Papiere des Synodalen Weges nicht wirklich aufgebrochen wird.
Weitere Anzeichen sind die überbordende Bürokratisierung in den Ordinariaten, außerdem die bei einem großen Teil der Seelsorgerinnen und Seelsorgern wahrzunehmende Lähmung und bleierne Müdigkeit, die Restaurationstendenzen, sowohl innerhalb des jüngeren Klerus als auch bei einem nicht zu unterschätzendenden Teil der Gläubigen und vieles mehr.
Wenn man zu alledem noch die deutlich zurückgehenden Ressourcen beim Personal und bei den Finanzen betrachtet, kann ich nicht anders als zu konstatieren, dass die Gestalt der nachkonziliaren römisch-katholischen Kirche gerade in einem rasanten Tempo implodiert.
Wenn man zu alledem noch die deutlich zurückgehenden Ressourcen beim Personal5 und bei den Finanzen betrachtet, kann ich nicht anders als zu konstatieren, dass die Gestalt der nachkonziliaren römisch-katholischen Kirche gerade in einem rasanten Tempo implodiert. Sie tut es immer noch viel zu leise, denn die meisten Kirchenaustritte geschehen in Stille und lösen bei den ausgetretenen eher Traurigkeit und eine gewisse Schwermut aus. Auch beispielsweise der Rückgang der Gottesdienstbesucherzahlen oder Gremienmitglieder vollzieht sich leise. Die Menschen kommen einfach nicht mehr. Bei den kirchlichen Gebäuden dämmert den inner- und außerkirchlichen Fachleuten mittlerweile, dass wir schon Jahrzehnte von der Substanz leben und eine Riesenwelle von notwendigen Investitionen oder alternativ Schließungen auf die Bistümer und in der Folge auf die Gesellschaft zukommen, weil sich die Kommunen dann mit nicht mehr genutzten, oft ortsbildprägenden Kirchen und Gebäuden befassen müssen, deren Finanzierung durch die Kirche und die Betreuung durch Ehrenamtliche nicht mehr möglich sein wird.
Auch beim Personaleinsatz des kirchlichen Personals bekommen wir die Quittung für mangelnde strategische Personalförderung und -betreuung, für die Diskriminierung von nicht-männlichen Personen und für die Mängel beim Personaleinsatz und den daraus folgenden Konflikten. Besonders deutlich wird dies beim Personaleinsatz und der Betreuung der Priester. Weder gibt es dort eine Art von kirchlicher Mitarbeitervertretung, noch eine auf der Höhe der Zeit befindliche Besoldungs- oder Urlaubsordnung. Auch gibt es (fast) keine Beteiligung der Gemeinden, in denen ein Priester eingesetzt wird. Nicht zuletzt ist die Funktion und die Rolle eines kanonischen Pfarrers durch das römische Kirchenrecht fast absolut geschützt, was ebenfalls dringend einer Überprüfung und Neuordnung bedarf.
Und was die kirchliche Führungskultur betrifft, läuft immer noch das Meiste zielgenau auf die alleinige und un- oder wenig kontrollierte Entscheidungskompetenz des feudal-bischöflichen Amtes auf Bistumsebene und auf die Entscheidung des mit einer immensen Machtfülle ausgestatteten Pfarrers auf lokaler Ebene hinaus. Beide, Bischof und Pfarrer sind damit hoffnungslos überfordert. Wie könnten sie es angesichts der Herausforderungen auch nicht sein? Wo die Machtfülle des Pfarrers vor Ort durch Gremien eingehegt wird, sind diese meist in einem Kirchenbild verhaftet, das den eigenen Kirchturm über alles stellt. Geld für innovative pastorale Experimente freizugeben, ist für solche Gremien nur schwer vorstellbar.
All das vollzieht sich meist leise, was verständlich ist, aber fatalerweise sind alle diese Vorgänge höchst gefährlich und brisant.
All das vollzieht sich meist leise, was verständlich ist, aber fatalerweise sind alle diese Vorgänge höchst gefährlich und brisant. Denn ähnlich wie bei der Baufälligkeit eines Gebäudes der Aufenthalt im Gebäude oder in der Nähe des Gebäudes mit erheblichen Gefahren verbunden ist, so ist der Zusammenbruch der aktuellen Gestalt der Kirche nicht ungefährlich, wie die vielen Verwundungen belegen, die Menschen erlitten haben.
Die Analyse kann nicht klar und scharf genug sein und muss auch so kommuniziert werden, weil es nicht nur um kleine kosmetische Veränderungen der Gesamtausrichtung geht, sondern weil der unkoordinierte Zusammenbruch (oft ohne erkennbare strategische Alternativen der Bistumsleitungen) unnötig immer neue Verwundungen hervorbringt.
Was tut daher Not?
Vieles was sich ändern muss, ist im Kontext des Synodalen Weges auf der Tagesordnung und muss hier nicht wiederholt werden. Ich möchte mich beschränken auf einen Aspekt, der in meinen Augen oft zu kurz kommt, nämlich den der Notwendigkeit von Schutzzonen und Schutzräumen für pastorale Innovation und pastorale Experimente!
Es braucht geschützte Orte und Räume für alle Menschen, Initiativen und Projekte, die für das Ankommen der Kirche im 21.Jahrhundert stehen und sich Menschen zuwenden, die nicht zur klassischen Zielgruppe gehören.
Es braucht geschützte Orte und Räume für alle Menschen, Initiativen und Projekte, die für das Ankommen der Kirche im 21.Jahrhundert stehen und sich Menschen zuwenden, die nicht zur klassischen Zielgruppe gehören. Es braucht Schutzzonen für Initiativen, in denen sich die Kirche nicht mit sich selbst beschäftigt, sondern die Anliegen und Bedarfe der Menschen zu ihrem Anliegen macht.
Solche Projekte6, von denen es in den Bistümern viele gibt, sind oft aufgrund des hohen persönlichen Engagements Einzelner lokal entstanden und zum Teil mit kirchlichen Projektmitteln befristet finanziert. Der Unterschied zur Finanzierung pfarrlicher oder kategorialer Seelsorge ist der, dass bisher keine Pfarrei über die Verwendung ihrer (i.d.R. großzügigen) Mittel Rechenschaft ablegen muss, die Projekte hingegen schon. Ein weiterer Unterschied ist der, dass mit dem Projektende das Projekt oft vor dem Aus steht, weil es sich in direkter Konkurrenz zur Finanzierung pfarrlicher Aufgaben befindet.
Es braucht daher eine Anerkennung der Tatsache, dass sich kirchliches Engagement im Territorium nicht nur parochial ereignet, sondern, dass es weitere und alternative Gemeindeformen und Herausbildungen von Kirchorten/Kirchinitiativen geben kann und geben muss.
Sollte dieser Schutzraum nicht von den Leitungsverantwortlichen auf Bistumsebene und in den Pfarreien zur Verfügung gestellt werden, wird sich der leise aber hochgefährliche Zusammenbruch der Kirche weiter beschleunigen.
Und dies muss sich in der Verteilung der Ressourcen (Personal, Geld und Raumangebot) widerspiegeln. Die alternativen Gemeindeformen und anderen kirchlichen Ausdrucksformen brauchen genau diesen geschützten Raum, brauchen eine Brandmauer, brauchen einen Schutzzaun, damit sie eine Chance haben, im Raum der Kirche zu wachsen und Wurzeln zu schlagen. Sollte dieser Schutzraum nicht von den Leitungsverantwortlichen auf Bistumsebene und in den Pfarreien zur Verfügung gestellt werden, wird sich der leise aber hochgefährliche Zusammenbruch der Kirche weiter beschleunigen.

Praxis
Überzeugen statt belehren: Wege zu nachhaltigem Handeln
Alle Fakten liegen auf dem Tisch. Die regelmäßigen Sachstandsberichte des Weltklimarats (IPCC) werden immer eindringlicher. Wir haben nicht mehr viel Zeit, eigentlich gar keine mehr, um die Folgen des Klimawandels einzudämmen und das 1,5-Grad-Ziel doch noch zu erreichen. Der Klimawandel bereitet auch großen Teilen der Gesellschaft immer mehr Sorgen. Und auch die Politik hat endlich erkannt, dass nun dringender Handlungsbedarf besteht und mahnt zu mehr Tempo. Aber warum dauert dann alles so lange und warum wird häufig nur geredet und nicht gehandelt?
Warum dauert dann alles so lange und warum wird häufig nur geredet und nicht gehandelt?
Innerhalb der memo AG stellen wir uns diese Frage fast täglich. Warum kaufen Menschen immer noch zu viele konventionelle Produkte? Warum bestehen nach wie vor so viele Vorurteile gegenüber nachhaltigen Produkten? Warum zählt häufig nur der Preis, obwohl doch die Vorteile nachhaltiger Produkte und nachhaltigen Handelns längst bekannt sind?
Hürden nachhaltigen Handelns
Ein Beispiel ist das Thema Recyclingpapier. Hier gibt es zahlreiche Studien, die den ökologischen Nutzen bei der Herstellung und Verwendung von Papierprodukten aus 100 % Altpapier (mit Blauem Engel) belegen. Wälder, Klima und Biodiversität werden dadurch geschützt. Dennoch hören wir immer wieder das Argument, Recyclingpapier sei doch grau und staubig und schlecht für Drucker. Das ist längst widerlegt: Recyclingpapier steht Frischfaserpapier in nichts nach, hat aber im Gegensatz dazu viele ökologische Vorteile, v.a. dass bei der Produktion kein frischer Zellstoff verwendet wird und damit die Wälder entlastet werden.
Häufig erleben wir auch, dass bei einer nachhaltigen Beschaffung von Büroprodukten bei Gewerbekund*innen letztlich nur der Preis ausschlaggebend ist. So landen dann in einem Büro nicht die qualitativ hochwertigen, reparierbaren und ergonomischen Bürostühle, sondern die vermeintlich günstigere Variante. Wir müssen uns aber vergegenwärtigen, dass bei derartigen Produkten die Folgekosten für Umwelt und Klima externalisiert werden und auch die Menschen, die am Anfang der Wertschöpfungskette stehen, die Kosten tragen müssen. Würden die Schäden, die „billige“ Produkte verursachen, eingepreist, wären nachhaltige Produkte günstiger.
Wer sich aber einmal ernsthaft auf das „Abenteuer Nachhaltigkeit“ eingelassen hat, kann bestätigen, dass nachhaltiges Handeln eine Bereicherung und keine Einschränkung ist.
Was uns auch nicht weiterhilft, ist die Diskussion des „Verzichts“. Gerade im Zusammenhang mit nachhaltigem Handeln wird von „Verboten“ und „Verzichten“ gesprochen. Das schreckt viele Menschen ab, da sie darin einen Verlust ihres Lebensstandards sehen. Klar ist, dass in Zukunft weniger mehr sein muss: weniger Ressourcenverbrauch, weniger Flächenbedarf, weniger Fleisch, weniger (Flug-)Reisen – die Liste kann beliebig fortgesetzt werden. Wer sich aber einmal ernsthaft auf das „Abenteuer Nachhaltigkeit“ eingelassen hat, kann bestätigen, dass nachhaltiges Handeln eine Bereicherung und keine Einschränkung ist. Und das gilt für Privatpersonen wie Unternehmen und Organisationen gleichermaßen.
Lösungen für mehr nachhaltiges Handeln
Um es also unseren Kund*innen so einfach wie möglich zu machen, nachhaltig einzukaufen und nachhaltig zu handeln, überzeugen wir durch Information und nicht durch Belehrung. Der erste Schritt zu mehr verantwortungsvollem Handeln ist Wissen, das wir unseren Kund*innen in möglichst einfacher, verständlicher und übersichtlicher Form vermitteln. Sie finden es in unseren Onlineshops direkt bei den Produkten, in Newslettern, sonstigen Werbemedien, in unseren sozialen Netzwerken und in unserem memo Nachhaltigkeitsbericht, der alle zwei Jahre erscheint.
Auch die Kosten behalten wir für sie im Blick, was in Zeiten unterbrochener Lieferketten, Rohstoffengpässen und immer weiter steigender Energiepreise gar nicht so einfach ist. Dennoch verzichten wir bei zahlreichen Produkten bewusst auf einen höheren Gewinn, damit nachhaltige Produkte für die breite Gesellschaft leistbar sind und bleiben. Serviceleistungen wie der Versand in unserem Mehrweg-Versandsystem „memo Box“ und die Zustellung in immer mehr deutschen Städten per Elektrolastenrad bieten wir sogar ohne Aufpreis zu unseren Versandkosten an und tragen die Mehrkosten sowie den weiteren Aufwand selbst. Wirtschaftlicher Erfolg ist wichtig, da wir nur so Arbeitsplätze erhalten und nachhaltige Maßnahmen umsetzen können. Diese gibt es nicht umsonst, aber wir setzen sie aus Überzeugung um. Auf diese Weise wollen wir auch anderen Unternehmen zeigen, dass nicht kurzfristige Gewinnmaximierung, sondern nachhaltiges Wirtschaften zum Erfolg führt. Als Unternehmen nehmen wir zum Teil erheblichen Aufwand in Kauf, um nachhaltige Maßnahmen umzusetzen. Und nicht immer amortisieren sich die Kosten dafür oder erst sehr viel später. Aber das sollte generell nicht der Antrieb sein. Wir machen das mit Freude, weil wir davon überzeugt sind, dass wir als Versandhandel ein Teil des Problems sind, aber auch unseren Beitrag zur Lösung des Problems leisten können. Und wir wollen seit über 30 Jahren und auch in Zukunft nicht auf Kosten der nachfolgenden Generationen, der Umwelt und des Klimas leben und arbeiten.
Für uns sind das Engagement und die Arbeit in einem immer größer werdenden Netzwerk nachhaltiger Unternehmen und Organisationen essentiell, um die Entwicklung einer nachhaltigen Gesellschaft voranzutreiben.
Unser aktueller memo Nachhaltigkeitsbericht 2021/22 trägt den Titel „Gemeinsam Handeln“. Für uns sind das Engagement und die Arbeit in einem immer größer werdenden Netzwerk nachhaltiger Unternehmen und Organisationen essentiell, um die Entwicklung einer nachhaltigen Gesellschaft voranzutreiben. So sind wir beispielsweise seit vielen Jahren Mitglied beim B.A.U.M. e.V. und beim BNW e.V., die sich für nachhaltiges Wirtschaften in Unternehmen jeder Größe einsetzen. Die Zahl dieser Unternehmen wird immer größer und am Ende werden die verlieren, die sich nicht zukunftsfähig ausgerichtet haben. Das Gemeinschaftsgefühl, das u.a. durch die Netzwerkarbeit entsteht, ist einer der wichtigsten und stärksten Treiber der nachhaltigen Transformation.
Ein Blick in die Zukunft
Lassen Sie uns zum Schluss noch einen Blick in die Zukunft werfen. Wir schreiben das Jahr 2050. Ich denke immer wieder daran, dass eine kluge Frau Anfang der 2010er Jahre einmal auf die Frage, ob die Transformation denn ein Können oder ein Muss sein würde, geantwortet hat, dass es wohl eher ein Muss sein würde. So ist es dann auch gekommen. Nachdem wir nach immer dringlicher werdenden Apellen der Wissenschaft zu zögerlich in der Umsetzung des Klimaschutzes waren, sind wir irgendwann an den Punkt gekommen, wo gehandelt werden musste.
Mehrere heiße und trockene Jahre hintereinander haben weiteren Wassermangel und Dürren mit Ernteausfällen nach sich gezogen. Die erste Pandemie – Covid-19 – ist dank fortschreitender medizinischer Entwicklung und einer doch noch gerechten Verteilung der Impfstoffe weltweit besiegt. Aber immer wieder treten andere Zoonosen auf, da wir vor allem der Tierwelt zu lange zu nah gekommen sind. Einige Teile der Erde sind kaum mehr bewohnbar, vor allem aufgrund des gestiegenen Meeresspiegels. Immerhin konnten wir aber den weiteren Eintrag von Plastik in die Gewässer stoppen und auch einen Großteil des Mülls durch verschiedene Techniken wieder herausholen. Dieses Material dient nun als Recyclingmaterial zur Herstellung verschiedener neuer Produkte. Kreislaufwirtschaft ist mittlerweile völlig normal. Es gibt kaum mehr Müll und der, der entsteht, ist jetzt ein wichtiger Rohstoff. Nach wie vor benötigen wir jedoch eine Unmenge an Energie, die jedoch weitestgehend aus 100 % erneuerbaren Quellen gewonnen wird. Die Politik konnte doch noch die notwendigen Weichen stellen und so werden nur noch die energieintensiven Industrien zentral versorgt. Alles andere erfolgt dezentral, z.B. durch gebäudeeigene Solar- und Photovoltaikanlagen. Auch unsere Mobilität hat sich verändert. Vor allem in den Städten haben Fußgänger*innen und Radfahrer*innen Vorfahrt. Der ÖPNV wurde auch in den ländlichen Räumen intelligent ausgebaut und angepasst. Im Bildungswesen ist der Bereich Nachhaltigkeit ein wichtiger Baustein jedes Schulfachs.
Wir haben zumindest ganz im Sinne von SDG 17 (Partnerschaften zur Erreichung der Ziele) begriffen, dass wir – trotz fortschreitender Erkundung des Weltalls – nur eine Heimat haben, die nur dann geschützt und bewahrt werden kann, wenn wir alle an einem Strang ziehen.
Die memo AG gibt es nach wie vor. Unser Bekanntheitsgrad in Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten erheblich gestiegen – auch weil die Menschen gezielt darauf achten, was und bei wem sie einkaufen. Wir ermöglichen verantwortungsvollen Konsum für alle. Verändert hat sich unser Sortiment. Verkauften wir vor 30 Jahren noch überwiegend Büromaterial an gewerbliche Endverbraucher*innen, sind es heute fast ausschließlich Produkte des täglichen Bedarfs. Das papierlose Büro ist dank digitaler Technik Wirklichkeit geworden. Papier und Kartonagen gehören auch in der Logistik weitestgehend der Vergangenheit an. 2021 nutzten rund 25 % unserer Kund*innen unser Mehrweg-Versandsystem „memo Box“. Heute sind es nahezu 100 %. Auch bei anderen Händlern hat sich Mehrweg im Versand durchgesetzt. Die Zustellung von Waren auf der letzten Meile erfolgt mit verschiedenen Zustellfahrzeugen, die emissionsfrei unterwegs sind – und das Elektrolastenrad ist eine Variante vor allem in Städten und Ballungsräumen. Wir haben im Jahr 2016 die Zusammenarbeit mit Radlogistik-Unternehmen begonnen und 2022 bereits in 13 Städten auf diese Weise ausgeliefert. Heute arbeiten wir in nahezu allen deutschen Städten auch dank vereinheitlichter Technik mit entsprechenden Partnern zusammen.
Die Welt ist nach wie vor kein Paradies. Wir haben die 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (SDGs) noch nicht vollständig erreicht. Es gibt immer noch Armut und kriegerische Auseinandersetzungen in Teilen dieser Welt, bei denen es meist um wertvolle Rohstoffe und um Wasser geht. Aber wir haben zumindest ganz im Sinne von SDG 17 (Partnerschaften zur Erreichung der Ziele) begriffen, dass wir – trotz fortschreitender Erkundung des Weltalls – nur eine Heimat haben, die nur dann geschützt und bewahrt werden kann, wenn wir alle an einem Strang ziehen.

Praxis
Auf dem Weg zur ökologischen Umkehr Schöpfungsverantwortung im Erzbistum Köln
Als Mitarbeitender eines katholischen Bistums ist die Konfrontation mit Krisen mittlerweile zum Liniengeschäft geworden. Neben den vielen innerkirchlichen Krisen beschäftigen uns auch die Flutkatastrophe aus dem letzten Jahr, die andauernde Corona-Krise und die schreckliche Ukraine-Krise. Ist es angesichts dieser schlimmen und sich überlagernden Krisen richtig, in diesen Tagen auch noch in der Kirche über Lösungen der Umwelt- und Klimakrisen zu sprechen, wo gleichzeitig eine immer stärker werdende Angst vor einer Gas- und Energieknappheit oder einer Inflation herrscht?
Diese Frage beantworte ich mit einem ganz klaren “Ja!”. Es ist sogar zwingend notwendig. Die Wucht, mit der die durch den Klimawandel verstärkten Unwetter, Hitzeperioden oder Dürren bei uns angekommen sind, ist erschreckend. Zustände herrschen, die in den nächsten Jahrzehnten zunehmen werden und die Menschheit vor noch weitaus größere Herausforderungen stellen werden. Wir müssen uns immer wieder bewusstmachen, dass die Klima- und Umweltkrise die größten und vor allem lebensbedrohlichsten Krisen sind, die wir haben, vor allem, weil sie irreversible Schäden an unserer Erde verursachen. Und doch hindern andere Krisen uns immer wieder am Handeln in diesem Bereich. Papst Franziskus stellt uns in seiner Enzyklika Laudato si‘ dazu die entscheidende Frage: „Welche Art von Welt wollen wir denen überlassen, die nach uns kommen, den Kindern, die gerade aufwachsen?“ (LS 160)
Welche Art von Welt wollen wir denen überlassen, die nach uns kommen, den Kindern, die gerade aufwachsen?
In den letzten Jahren haben wir Kirchen in verschiedenen Krisen gezeigt, dass wir noch schnelle Hilfe für Menschen in Not bieten können. Sehr positiv haben wir in den letzten zwölf Monaten die große Solidarität und Hilfsbereitschaft für die Opfer der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen beobachten können. Auch viele Kirchengemeinden und kirchliche (Jugend-)Verbände, einzelne Christinnen und Christen bieten bis heute ihre tatkräftige Unterstützung, Unterkünfte oder Spenden an. Es scheint auf den ersten Blick, dass wir Christinnen und Christen in dieser Krise das Gleichnis des barmherzigen Samariters verstanden haben: bedingungslose Hilfe für die Opfer ist selbstverständlich.
Gleichzeitig wage ich aber einen zweiten Blick, einen ganzheitlichen, und dann müssen wir uns ehrlich eingestehen, dass wir als Kirche eigentlich auch Teil der Räuberbande in dem Gleichnis sind, weil wir uns am Raubzug an der Schöpfung aktiv beteiligen. Wieso? Durch die vielfache Ignoranz oder das Nicht-Ernst-Nehmen unserer Schöpfungsverantwortung sind die deutschen Diözesen im Vergleich zu Städten oder Kommunen schlecht aufgestellt. Dabei ist Schöpfungsverantwortung ein urchristliches Thema. Durch die beachtliche CO2-Emission im Betrieb kirchlicher Gebäude mit häufig veralteten fossilen Heiztechniken, durch unser Konsumieren und durch die Dienstmobilität schädigt auch die Kirche das Klima. Durch eine radikale ökologische Umkehr verhindern wir nicht die Klima- und Umweltkrise, aber wir leisten unseren Beitrag, dass wir die Auswirkungen und somit Leid abmildern. Deswegen ist es wichtig, in diesen Krisen die Querschnittskrise nicht aus den Augen zu verlieren.
Wollen wir als Kirche in den nächsten Jahren nicht noch mehr Glaubwürdigkeit verlieren, müssen wir unsere ökologische Schuld ehrlich anerkennen.
Zusätzlich besteht die Gefahr, dass bei Nicht-Beachten der Umwelt- und Klimakrise durch die Kirche die nächste innerkirchliche Krise entsteht. Denn wollen wir als Kirche in den nächsten Jahren nicht noch mehr Glaubwürdigkeit verlieren, müssen wir unsere ökologische Schuld ehrlich anerkennen. Wir benötigen eine radikale sozial-ökologische Umkehr. Dabei helfen kein weiteres Formulieren von Handlungsempfehlungen durch die Bischofskonferenz und auch kein Laudato-si‘-Zitate-Bingo in Predigten und Flyern. Da helfen Bischöfe, die sich weigern, das Flugzeug zu benutzen, und nur in dringenden Fällen mit dem Auto fahren. Da hilft es, Fleischkonsum in allen kirchlichen Einrichtungen auf den Sonntagsbraten zu reduzieren. Da helfen Kirchengemeinden, die ihre großen Gas- und Ölheizungen einfach ausschalten und die eingesparten Betriebskosten in eine Photovoltaikanlage und elektrische Sitzheizung investieren. Da helfen Christinnen und Christen, die endlich “Nein” sagen zum unökologischem Handeln ohne „ja, aber …”.
In einem Zukunftsweg darf das herausforderndste gesellschaftliche Thema der Zukunft nicht fehlen.
Ein erster großer Schritt auf institutioneller Ebene wurde dafür im Erzbistum Köln im November 2020 gegangen. Durch die Einsetzung einer Vision mit dem Ziel ein klimapositives und nachhaltig schöpfungsfreundliches Erzbistum Köln zu werden, hat unser Erzbischof ein deutliches Signal an die Verwaltung des Bistums und die Kirchengemeinden gesandt. Motiviert wurde die Erstellung dieser Vision von vielen Gläubigen, die zum pastoralen Zukunftsweg im Erzbistum kritisch zurückmeldeten, dass in einem Zukunftsweg das herausforderndste gesellschaftliche Thema der Zukunft nicht fehlen darf. Somit wurde die Schöpfungsverantwortung ein fester Bestandteil des Zukunftsweges mit dem Ergebnis eines konkreten Auftrags an das Erzbistum Köln für das Jahr 2030.
Bei der Erstellung der Vision wurde weniger geprüft, was wir erreichen können, sondern vielmehr gewagt auszusprechen, was wir als Christinnen und Christen in unserer Verantwortung für Gottes Schöpfung erreichen müssen. Dabei wurde in Anlehnung an die Enzyklika Laudato si‘ ein ganzheitlicher ökologischer Ansatz gewählt. Die Gefahr, dass nach einzelnen Leuchtturmprojekten mit guter Außendarstellung, die Bemühungen wieder eingestellt werden, sollte somit vermieden werden. In den sechs folgenden Handlungsfeldern wurden dabei der Einfluss der Kirche auf Umwelt und Klima ermittelt und kurz- und langfristige Ziele gesetzt:
- Energie & Gebäude
- Beschaffung
- Biodiversität
- Mobilität
- Bildung und Pastoral
- Umweltmanagement
Um eine ganzheitliche sozial-ökologische Umkehr im Erzbistum zu erreichen, muss die Schöpfungsverantwortung als Querschnitts- und Schwerpunktthema gesetzt werden. Dabei ist die harte Erreichung des formulierten Zieles der Vision bis 2030 gar nicht unbedingt das Wichtigste, sondern vielmehr die schnellstmögliche Änderung unseres Handelns in all unserem Tun. Wenn das gelingt und wir die Dringlichkeit einsehen, dann kann eine Kirche aufgrund der vielen Multiplikatorinnen und Multiplikatoren vor Ort viel mehr schaffen als ihr zugetraut wird und auch das herausfordernde Ziel eines klimaneutralen Gebäudebestandes bis 2030 wird realistischer.
In der Praxis ist für eine ökologische Umkehr viel Bewusstseinsbildung und Kommunikation notwendig. Die meisten Diskussionen auch in kirchlichen Kreisen enden leider doch wieder bei der Frage nach der (kurzfristigen) Finanzierung. Dabei wird mittlerweile immer deutlicher: Am teuersten wird es, wenn wir nichts tun! So wird es auch bei den Kirchengemeinden sein. Sicher sind für die Umstellung hohe Investitionen notwendig, die in den nächsten zehn Jahren schmerzen werden, weil sie den Spielraum für andere Bereiche verkleinern. Diese Investitionen sind aber notwendig, um langfristig den Betrieb bei steigenden Energie- und CO2-Kosten aufrecht erhalten zu können.
Es wird aber auch deutlich, wie verschwenderisch die Kirchen insbesondere in den sakralen Gebäuden mit Energie umgegangen sind.
Der Angriffskrieg von Russland in der Ukraine und seine globalen Auswirkungen – insbesondere der Gasknappheit – werden die Dringlichkeit des Energieeinsparens und Umstellung auf erneuerbare Energien beschleunigen. Schon jetzt merken einige Kirchengemeinden, dass diese ihre Kirchenheizung im nächsten Winter nicht mehr bezahlen können und somit abgestellt werden. Dabei wird aber auch deutlich, wie verschwenderisch wir Kirchen insbesondere in den sakralen Gebäuden mit Energie umgegangen sind. Die Beheizung von großen Räumen mit einer Luftheizung führt dazu, dass das gesamte Luftvolumen aufgewärmt wird und nur ein sehr kleiner Anteil der Energie wirklich zum Erwärmen der Gottesdienstbesucherinnen und Gottesdienstbesucher aufgebracht wird. Dabei gibt es praktikable alternative Lösungen, zum Beispiel durch Sitzheizungen, welche die Gottesdienstbesucherinnen und -besucher direkt am Platz erwärmen, wodurch über 90 % der bisherigen Heizenergie reduziert werden kann. Auch in großen Pfarrzentren, Kitas oder anderen Einrichtungen wird sich in den nächsten Monaten zeigen, wer auf einen sinnvollen Verbrauch von Energie geachtet hat. Noch besser aufgestellt sind dabei die Kirchengemeinden, die ihre großen Dachflächen nutzen, um mit Photovoltaikanlagen ihren eignen Strom zu produzieren. Hätten die Kirchen ihre Dächer in den letzten zehn Jahren sinnvoll für die Erzeugung von Strom eingesetzt, dann wären die steigenden Herausforderungen beim Betrieb der Gebäude jetzt deutlich geringer.
Die Deutsche Bischofskonferenz hat die Dringlichkeit, Notwendigkeit und das Potenzial der Schöpfungsverantwortung nicht ansatzweise erkannt.
Das Erzbistum Köln ist dabei aber keine Ausnahme. Auch die anderen deutschen Bistümer haben im Bereich Nachhaltigkeit viel Nachholbedarf. Zwar starten viele Bistümer aktuell mit der Entwicklung von Klimaschutzkonzepten, eine umfangreiche überdiözesane Zusammenarbeit findet dabei aber nicht statt. Dabei hätten die deutschen Bistümer eine große Chance, das Potenzial von Synergien zu nutzen, da alle Bistümer vor den gleichen Herausforderungen stehen, wenn sie klimaneutral werden wollen. Der Grund, warum das Erzbistum Köln in den letzten zwei Jahren eine ganze Abteilung aufgebaut hat und jetzt großflächig aktiv wirkt, liegt an der Herangehensweise. Anstatt ein neues eigenes Konzept zu entwickeln, wurden andere bereits bestehende Konzepte von Kirchen kopiert. Anstatt neue Lösungen zu finden, wurde in Kommunen oder Kirchen gesucht, ob schon gute Ansätze in anderen Orten bestehen. Somit konnten viel Zeit und auch Ressourcen eingespart werden. Noch sinnvoller wäre die Einrichtung einer Koordinationsstelle auf der Ebene der Deutschen Bischofskonferenz. Diese Stelle könnte alle Bistümer verknüpfen, den Austausch stärken und dafür sorgen, dass kleinere oder weniger nachhaltig aktive Bistümer von den ambitionierteren Bistümern lernen. Die evangelische Kirche Deutschlands hat im letzten Jahr gezeigt, dass eine solche Zusammenarbeit sinnvoll ist, inklusive der Ausrufung eines gemeinsamen Ziels (klimaneutral zu werden bis 2035). Hier muss man als Außenstehender leider feststellen, dass die Deutsche Bischofskonferenz die Dringlichkeit, Notwendigkeit und das Potenzial der Schöpfungsverantwortung nicht ansatzweise erkannt hat. Für viele Bistümer wird dies in den nächsten Jahren zu immensen ökonomischen Herausforderungen führen und im schlimmsten Fall zu einem weiteren Glaubwürdigkeitsverlust der katholischen Kirche.
Wenn wir als Kirche und als Christinnen und Christen radikal authentisch eine ökologische Umkehr vorleben, dann können wir Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.
Dabei müssen wir als christliche Kirche die Klimakrise nicht nur als Krise verstehen, sondern vielmehr als Chance. Sozial-ökologisch leben vereint so viele christliche Tugenden, wie (intergenerationelle und globale) Nächstenliebe, Dankbarkeit für und Freude an Gottes Schöpfung, Achtsamkeit, Einfachheit, etc. Wenn wir als Kirche und als Christinnen und Christen radikal authentisch eine ökologische Umkehr vorleben, dann können wir Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. Dies gelingt nicht, wenn Letzteres die einzige Motivation für die Umkehr ist. Dann endet das Vorgehen schnell im Greenwashing, also dem Versuch, sich ein grünes Mäntelchen umzuhängen und ein umweltfreundliches und verantwortungsbewusstes Handeln nur vorzugeben.
Stattdessen müssen wir uns ganzheitlich auf den Weg zur ökologischen Umkehr machen. Auch mit der zusätzlichen Motivation, die wir als Christinnen und Christen aus einer Schöpfungsspiritualität heraus gewinnen können, denn – so formuliert es Papst Franziskus in seiner Umweltenzyklika passend, „es wird nicht möglich sein, sich für große Dinge zu engagieren allein mit Lehren, ohne eine “Mystik”, die uns beseelt, ohne “innere Beweggründe, die das persönliche und gemeinschaftliche Handeln anspornen, motivieren, ermutigen und ihm Sinn verleihen.” (LS 216)

Praxis
Nachhaltigkeit – ein Thema der Jugend!?
Auch wenn anfangs viele eher den Aspekt des freitags-nicht-zur-Schule-Gehens gesehen und moniert haben, ist die Bewegung, die den Freitag und die Zukunft im Namen führt, zu einer anerkannten Größe geworden, die es geschafft hat, auf Augenhöhe mit Politiker*innen zu diskutieren. Jugendliche sind die Keimzelle von Fridays for future, wenngleich viele Demonstrationen inzwischen altersmäßig heterogener geworden sind. Viele Jugendliche scheinen jedoch verstanden zu haben, dass es höchste Zeit ist, von der Theorie in die Praxis zu kommen: machen statt reden. Daher soll die Perspektive der jungen Menschen in dieser Ausgabe von futur2 nicht fehlen.
Natürlich gibt es genau so wenig „die Jugend“, wie es „die Männer“ oder „die Frauen“ gibt. Deshalb sei vorangestellt, dass die Gruppe der Jugendlichen, die bewusst die Zukunft gestaltet und ihre Lebensbereiche aus der Perspektive von Nachhaltigkeit betrachtet, nicht unbedingt repräsentativ für alle Jugendlichen ist. Allerdings kann man die weitläufig auf Jugend hin konstatierte Politikverdrossenheit in der aktuellen Jugendforschung nicht bestätigen, wenn man politisches Engagement weiter fasst als nur „Parteipolitik“.
Individueller wirtschaftlicher Erfolg ist nicht das erklärte Lebensziel, sondern die Gesamtsituation der Welt und die Veränderung der individuellen und gesellschaftlichen Verhaltensweisen sind Ziel und Strategie der Lebensführung.
Das relativ aktuelle Buch „Erwachsenwerden heute. Lebenslagen und Lebensführung junger Menschen.“ (hrsg. von Anne Berngruber und Nora Gaupp) untersucht verschiedene aktuelle Jugendstudien unter anderem auf die politische Beteiligung junger Menschen hin und konstatiert, dass gerade bei Themen, welche die Lebenswelt der Jugendlichen betreffen, wie Rechtsextremismus, Umweltschutz oder Menschenrechte, Jugendliche wesentlich engagierter sind als andere Menschen.
„So unterscheidet die My-Place-Jugendstudie für westdeutsche Jugendliche einen Anteil des Engagements zum Beispiel im Bereich der Frauenrechte von 2,5 % bis hin zu einer Beteiligung in Umweltgruppen von ca. 9 %. Mit jeweils unter 10 % wirkt die Partizipationsrate auch in weiteren Bereichen hier recht gering. Der EU-Youth-Report 2015 unterscheidet einerseits in einem zusammengefassten Bereich, zu dem unter anderem das Eintreten für Menschenrechte sowie Natur- und Tierschutz zählen. Hier beteiligen sich ca. 15 % der Befragten. Für das gleichzeitig abgefragte politische Engagement als anderen Bereich werden nur 8 % Beteiligung festgestellt. Fasst man dagegen Beteiligungsformen mit politischem Bezug zusammen, so ergibt sich eine Quote von ca. 25 % engagierter Befragten in der MyPlace-Studie, von 33 % innerhalb der EFS-Jugendstudie 2015 und von 37 % in der Shell-Studie 2019, was Aussagen zu einem umfassenden Engagement junger Menschen auch für den Bereich der politischen Beteiligung zulässt. Zusammenfasend kann festgestellt werden, dass der Hinweis auf eine Politikverdrossenheit Jugendlicher, wie er häufig geäußert wird, kaum zutrifft.“ (ebd.)
Im Folgenden werden Aussagen von vier jungen Menschen wiedergegeben, die alle der o.g. Gruppe politisch engagierter Jugendlicher zuzuordnen sind. In Interviews wurden Fragen zum Thema Nachhaltigkeit, zur Einschätzung von Gegenwart und Zukunft und zu den individuellen Lebensentwürfen gestellt.
Befragt wurden: Tim Koziel, 20 Jahre, Erkrath, Ausbildung zum Brandmeister, Sandra Gassen, 25 Jahre, Rostock, Sonderpädagogin, Simon Demming, 20 Jahre, Münster Studium Lehramt, Florin Kutten, 27 Jahre, Düsseldorf, CEO von Glasbote GmbH / BWL Bachelor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Fotos am Ende des Beitrags). Die Interviews wurden ab Ende Februar geführt, so dass die Themen Corona und Ukraine-Krieg aktuell waren und am Rande thematisiert wurden. Die Leitfragen bezogen sich jedoch ausschließlich auf den Themenkomplex „Nachhaltigkeit“.
Zukunft weckt in mir irgendwie Befürchtungen, dass es noch schlechter werden könnte, als es jetzt schon ist, und das macht mir durchaus auch Angst!
Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten bei den Befragten fällt als Erstes auf, dass individueller wirtschaftlicher Erfolg nicht das erklärte Lebensziel ist, sondern die Gesamtsituation der Welt und die Veränderung der individuellen und gesellschaftlichen Verhaltensweisen Ziel und Strategie der Lebensführung sind. Ob nun im pädagogischen Kontext als Lehrer*in oder im unternehmerischen Sinne als nachhaltiges Start-Up, die Grundhaltung bildet sich in allen Lebensbereichen ab. Bei allen Befragten gab es Schlüsselerlebnisse, die zu einer klaren oder pointierteren Positionierung gegenüber der derzeitigen Überlastung des Planeten geführt haben. Erfahrungen im Ausland waren dabei meist entscheidend.
Wenn ich an die Zukunft denke …
Die Einstiegsfrage war auf die Zukunft gerichtet: „Wenn du an Zukunft denkst, was kommt dir in den Sinn?“. Die Antworten waren höchst ambivalent.
So sagt Simon: „Ich habe auf jeden Fall das Gefühl, dass wir noch eine Menge tun müssen, damit es eine schöne Zukunft ist, auf die wir uns freuen können, und dass wir uns dafür einsetzen müssen, dass wir unsere eigene Zukunft gestalten. Zukunft weckt in mir irgendwie Befürchtungen, dass es noch schlechter werden könnte, als es jetzt schon ist, und das macht mir durchaus auch Angst!“
Ganz allgemein finde ich, dass man das Gemeinwohl über das Interesse von einzelnen stellen sollte.
Ähnlich äußern sich alle Befragten. Mit Blick auf die eigene Biografie stellt sich Sandra die Frage, ob sie Kinder in diese Welt setzen will. Aktuell kann sie das für sich noch nicht beantworten.
Tim verknüpft hier sehr direkt das eigene Tun mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung: „Für mich ist Zukunft was Ferneres, die steht halt noch nicht fest, da können wir noch was dran machen. Und auf mich persönlich bezogen: Da will ich irgendwie weiter sein, als ich jetzt bin. In Zukunft werde ich dann irgendwie für mich ein besserer Mensch sein, als ich jetzt bin. Und genau so, wie ich es für mich sage, sehe ich es auch gesamtgesellschaftlich. Also ich hoffe auch das wir – alle – auch weiter sind in zehn Jahren, als wir es jetzt sind, was nachhaltiges Leben angeht.“
Nachhaltigkeit bedeutet für mich …
Was die jungen Menschen mit Nachhaltigkeit verbinden, zeigt, wie breit alle mit diesem Thema befasst sind. Globale Zusammenhänge, Bildungsgerechtigkeit und wirtschaftliche Abhängigkeiten sind ebenso im Blick wie die Tatsachte, dass globale Veränderungen nur gelingen, wenn auch andere Perspektiven eingenommen und bedacht werden.
Auf die Frage, was für ihn Nachhaltigkeit bedeutet, antwortet Florin: „Dass man auf dieser Erde immer weiter machen kann, ohne dass die Erde darunter leidet.“
Tim führt aus: „Ich habe die SDGs im Kopf, z.B. Klimaschutz, wichtig finde ich Ungleichheit, Armut, globale Versorgung, auf Essen bezogen, aber auch Wasserversorgung.“
Politik ist viel zu viel Gerede und Gelaber und am Ende kommt nichts dabei raus.
Sandra sagt dazu: „Ganz allgemein finde ich, dass man das Gemeinwohl über das Interesse von einzelnen stellen sollte.“ Sie macht das deutlich am Beispiel „Tesla“ und den Auswirkungen auf den Wasserverbrauch in Grünheide bei Berlin, aber auch der aktuellen Frage nach Energiegewinnung durch Atomkraft mit den damit verbundenen Entsorgungsproblemen.
Simon verweist direkt auf den Zusammenhang von Nachhaltigkeit und Bildung. Er stellt fest, dass der „Kampf gegen die Klimakrise eigentlich ‘ne Grundlage für sehr Vieles ist. Denn, wenn wir dieses Problem nicht schaffen, dann sind auch sehr viele andere Dinge schwer einzuhalten. Neben dem konkreten Kampf gegen die Klimakrise ist ganz viel Bildung wichtig, dass Leute aufgeklärt werden über die Klimakrise.“
Politisches Engagement …
Auf die Frage zum eigenen politischen Engagement führt Simon aus, dass er bei Fridays for future aktiv ist und er darin die Möglichkeit einer globalen Einflussnahme sieht: „Es gibt mir auf jeden Fall Hoffnung. Wir arbeiten ja recht viel mit der Wissenschaft zusammen. Es ist eigentlich recht klar, was getan werden müsste, um solche Ziele einzuhalten, und dass es auch möglich ist. Es muss halt nur gewollt werden und darauf wollen wir ja ganz viel hinarbeiten. Das stimmt mich durchaus hoffnungsvoll, dass es fff-Gruppen auf der ganzen Welt gibt, also das dies jetzt nicht so ein lokales Phänomen ist. In über 150 Ländern wird teilweise gleichzeitig demonstriert.“
Ich glaube, Klimaschutz geht noch sehr viel auf Eigeninitiative der Bürger, ich glaube, dass ist nicht die beste Idee. Ich behaupte, dafür sind wir Menschen zu bequem und zu egoistisch.
Sandra sagt zwar von sich selbst, politisch nicht aktiv zu sein, konkretisiert das aber: „Mein Tun beschränkt sich auf meinen privaten Bereich: Ich kauf’ keine Klamotten mehr [in kommerziellen Läden] sondern kaufe nur noch Second Hand, ich ernähre mich vegetarisch und gucke halt, dass wir Strom sparen und Wasser sparen. Ich gehe sehr viel zu Demos, auch gegen Rechts, weil, das finde ich, ist auch Nachhaltigkeit, dass wir für unsere Werte einstehen und die Straßen nicht denen überlassen, die am lautesten schreien. Bei Fridays for future bin ich fast immer dabei, dass wir halt nachhaltig unsere Demokratie schützen! Bei mir ist das so’n kleines Hoffnungsding! Da sind welche, die sind engagiert.“
Tim hat da etwas weniger Hoffnung: „Bei Friday for future bin ich sehr wenig aktiv. Mein politisches Engagement ist sehr gering, Faulheit, Hoffnungslosigkeit. Ist irgendwie nicht meins. Mit den politischen Forderungen kann ich mich teilweise nicht so anfreunden. Ich glaube – leider – den Einfluss, den man darauf haben kann als Individuum, der ist ja sehr schlecht zu greifen. Man spürt einfach wenig Effekt. Ich hab einfach das Gefühl, dass da die Auswirkung, die man auf die globale Klimapolitik haben kann, recht gering ist.“ Ähnlich wie Sandra erzählt er im Nachsatz, dass er selbst Vegetarier ist und auch bald vegan leben möchte, fast nur Second Hand einkauft und auch bei der Mobilität versucht, auf das Auto zu verzichten.
Florin ist auch nicht direkt politisch aktiv, er will durch seine wirtschaftliche Tätigkeit nachhaltigen Konsum unterstützen, daher hat er mit Freunden das junge Unternehmen Glasbote entwickelt. Er führt aus, dass für ihn „Politik viel zu viel Gerede und Gelaber ist und am Ende nichts dabei raus kommt, und was wir gerade machen, hat halt den realen Effekt und das ist so Unternehmertum, ist halt einfach ‘ne ganz and’re Welt und das ist meine Welt!“
Wenn ich politische/r Entscheider*in wäre …
Auf die Frage, was sie tun würden, wenn sie in der Politik Entscheider*innen wären, antwortet Simon: „Was ein ganz großer Punkte wäre, dass es mit der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern endlich mal aufhört. Mir wäre sehr wichtig, dass die Kommunikation dahin geht, dass man natürlich viel über den Klimawandel und die Klimakrise spricht, dass man in einen hoffnungsvollen Austausch geht, dass man sehr viel ins Handeln kommt, anstatt davor zu resignieren.“
Ich bin einfach der Meinung, die Europäer waren irgendwie immer vorne, die Europäer haben Plastik eingeführt, die Europäer haben Plastik in die ganze Welt gebracht und jetzt ist es an den Europäern, die ganze Sache ernst zu nehmen und das Ganze wieder abzuschaffen.
Tim erläutert: „Ich glaube, Klimaschutz geht noch sehr viel auf Eigeninitiative der Bürger, ich glaube, dass ist nicht die beste Idee. Ich behaupte, dafür sind wir Menschen zu bequem und zu egoistisch. Ich würde mir wünschen, dass bestimmte Klimaschutzmaßnahmen einfach mehr gesetzt werden.“ Wobei er das Dilemma sieht, dass es unter dem Gerechtigkeitsaspekt schwer umzusetzen ist und die Akzeptanz dafür nicht leicht zu erreichen sein wird. Aber er hat den Eindruck, dass viele Menschen einfach noch nicht mit diesem Thema befasst sind. „Gleichzeitig muss man die Eigeninitiative der Menschen stärken. Es juckt die Menschen einfach nicht, man muss die Menschen mitnehmen – das Thema [ist] nicht präsent bei den Menschen.“
Auch Sandra sieht den wichtigsten Punkt bei den „erneuerbaren Energien“. Aber auch das Thema „Regionalität bei Produktion und Einkauf“ sieht sie in direktem Zusammenhang. „Beispiel China – die stoßen auch „unsere Emissionen“ mit aus! Da würde ich mal die Ketten irgendwie so ein bisschen umstellen“
Und Florin kombiniert in gewisser Weise die Sichtweisen, indem er gerade auch im wirtschaftlichen Kontext auf Eigeninitiative setzt und dafür politische Veränderung herbeisehnt: „Ich würde vor allem die Wirtschaft viel mehr unterstützen, Start-Ups Anreize geben, um Innovationskultur zu schaffen.“
Was hat dazu geführt, dass ich so denke …
Bei der Frage, was dazu geführt hat, dass sie so denken, wie sie denken, fällt auf, dass neben der Erziehung auch der Freundeskreis und Erfahrungen im Ausland zu neuen, veränderten Sichtweisen geführt haben.
Es geht um ein geändertes Konsumverhalten, darum, Gewohnheiten im Alltag zu ändern. Und das begründet sich in ethisch-politischen Einstellungen. Das schließt auch ein, die eigene Kaufkraft einzusetzen, um wirtschaftliche Praktiken zu verändern.
Tim berichtet aus seinem FSJ: „Man hat ganz andere Probleme. Da ist mir in Ecuador aufgefallen, dass die Thematik Klimaschutz auf dem Level, auf dem wir uns in Deutschland dann teilweise den Kopf zerbrechen, über Einwegplastikverbote oder was weiß ich noch nicht so präsent ist bei den Leuten. Weil für die Leute teilweise andere Dinge noch wichtiger sind. Man kann sich [in Deutschland] sozusagen den Luxus erlauben, sich über solche Dinge Gedanken zu machen.“
Und Sandra stellt im Rückblick auf ihr Freiwilligenjahr in Israel fest: „Dass mich das total geprägt hat. Deutschland ist schon sehr privilegiert. Ich habe eine Verantwortung für die Vergangenheit, auch mit Blick auf Nachhaltigkeit und ich möchte Werte mitgeben.“ Und das bezieht sie auch auf die rechtsradikalen Tendenzen in Deutschland, die sie in Rostock, wo sie zurzeit lebt, noch mehr mitbekommt.
Florin hat in 18 Monaten die Welt bereist, schon 50 verschiedene Länder besucht, war sehr viel in Asien und Südamerika und blickt auf vielfältige Eindrücke zurück. Er berichtet unter anderem von Erfahrungen in Thailand und Laos, wo er zwei Tage lang über den Mekong-River fuhr und nur Plastik gesehen hat. „Die Menschen haben viel Plastik und kippen’s in den Fluss, weil der fließt ja eh flussabwärts. Die wissen’s nicht besser! Für die ist das halt so Überlebenskampf.“
Als Konsequenz hat er für sich mitgenommen: „Ich bin einfach der Meinung, die Europäer waren irgendwie immer vorne, die Europäer haben Plastik eingeführt, die Europäer haben Plastik in die ganze Welt gebracht und jetzt ist es an den Europäern, die ganze Sache ernst zu nehmen und das Ganze wieder abzuschaffen.“
Machen statt reden
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich in diesen Aussagen exemplarisch Ergebnisse der eingangs erwähnten Studien bestätigen: Junge Menschen wählen sehr unterschiedliche, eher unkonventionelle Formate für ihr politisches Engagement. Für viele gehören Praktiken einer nachhaltigen Lebensweise grundlegend dazu. Es geht um ein geändertes Konsumverhalten, darum, Gewohnheiten im Alltag zu ändern. Und das begründet sich in ethisch-politischen Einstellungen. Das schließt auch ein, die eigene Kaufkraft einzusetzen, um wirtschaftliche Praktiken zu verändern (Boykott, Fairtrade, Bio).
Dahinter liegt die Überzeugung (oder zumindest die Hoffnung), dass jede*r einzelne durch sein/ihr Verhalten eine Veränderung herbeiführen kann, und die Haltung, dass wir als privilegierte Westeuropäer dazu in gewisser Weise verpflichtet sind. Gegenargumenten wie „ja, aber wenn die anderen (Menschen, Länder, Staaten) nichts machen, dann bringt es ja auch nichts“ wird so der Wind aus den Segeln genommen.
Ein paar Sachen müssen beschlossen, anstatt diskutiert werden!
Wie solchen Argumenten oder auch der Einschätzung, dass der Mensch eigentlich mit seiner Freiheit „überfordert“ ist und sich der Egoismus letztlich doch gegen den Sozialsinn durchsetzt, begegnet werden kann, beschäftigt die Jugendlichen ebenfalls. Von Überzeugungsarbeit und Bildung, über veränderte Gewohnheiten beim Konsumieren bis hin zu Verboten und Restriktionen wurde eine breite Palette von Ideen formuliert.
Sandra meint dazu: „Ein paar Sachen müssen beschlossen, anstatt diskutiert werden! Das Allgemeinwohl müsste über allem anderen stehen!“
Tim sagt abschließend: „Man hat ja trotzdem Hoffnung, dass das eigene Tun einen Unterschied machen kann. Jeder hat so Ecken, wo er sagt, da bin ich sehr bequem, das kann ich verändern und fühl’ mich auch gut damit. Kleine Veränderungen, die kann man machen, einfach nicht in diese Hoffnungslosigkeit zu verfallen, sondern ruhig einfach mal machen und sich gut dabei fühlen!“
Vielleicht lässt sich hoffnungsvoll formulieren, dass die jungen Menschen verstanden haben, dass es darum geht, etwas zu machen, anstatt zu reden und dass das einzelne Individuum nur dann weiter existieren kann, wenn sich die Welt, die Menschen, die Wirtschaft, die Bildung auf ein gerechtes, ausgewogenes, „nachhaltiges“ Konzept verständigen.
Simon Demming, 20 Jahre, Münster, Student (Lehramt)
„Wir sind als FFF eine „Klima-Gerechtigkeits-Bewegung“ […] Ganz wichtig ist Bildung!“
Florin Kutten, 27 Jahre, Düsseldorf, CEO von Glasbote GmbH / BWL Bachelor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
„Deutschland könnte anfangen, Gründer zu unterstützen!“
Tim Koziel, 20 Jahre, Erkrath, Stufenausbildung zum Brandmeister
„Man hat ja trotzdem Hoffnung, dass das eigene Tun einen Unterschied machen kann. Einfach mal machen und sich gut dabei fühlen!“
Sandra Gassen, 25 Jahre, Rostock, Sonderpädagogin
„Ein paar Sachen müssen beschlossen anstatt diskutiert werden! Das Allgemeinwohl müsste über allem anderen stehen!“

Praxis
gASTWERKe und Nachhaltigkeit
Unweit von Kassel, zwischen Nordhessen und Südniedersachsen, leben 50 Menschen zwischen unter einem und 75 Jahren in einer Lebensgemeinschaft zusammen. Die Gemeinschaft ist bei Weitem kein Abbild der Gesellschaft, aber ein Mikrokosmos, in dem unterschiedliche Menschen in Kontakt sind, sich intensiv aufeinander beziehen und ihren Lebensalltag miteinander abstimmen. Hier wohnen und arbeiten Menschen unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichen Bildungsbiographien und Lebensentwürfen. Wir erproben und erforschen in unserer Gemeinschaft ein nachhaltiges Zusammenleben, das über den Bau von Niedrigenergiehäuser, die Nutzung von Solaranlagen und Carsharing hinausgeht.
Auch in den gASTWERKen, wie sich unsere Lebensgemeinschaft nennt, praktizieren wir auch diese wichtigen Maßnahmen ökologischer Nachhaltigkeit. Die Transformation zu einer zukunftsfähigen, also nachhaltigen Lebensweise erfordert jedoch mehr. Um als Weltgesellschaft in Zukunft miteinander auf diesem Planeten leben zu können, braucht es ein Umdenken und Einüben von neuen Praktiken und Handlungsweisen in allen vier Dimensionen der Nachhaltigkeit: Ökologie, Soziales, Kultur und Ökonomie.1
Um als Weltgesellschaft in Zukunft miteinander auf diesem Planeten leben zu können, braucht es ein Umdenken und Einüben von neuen Praktiken und Handlungsweisen in allen vier Dimensionen der Nachhaltigkeit: Ökologie, Soziales, Kultur und Ökonomie.
Während der Fokus von “Fridays for Future”, “Ende Gelände”, den Grünen, anderen Parteien und Initiativen auf dem ökologischen Aspekt von Nachhaltigkeit liegt, ist die größte Herausforderung in der Lebensgemeinschaft der gASTWERKe der soziale Zusammenhalt. Dies wird seit zwei Jahren noch stärker deutlich, in denen auch in den gASTWERKen dieser Zusammenhalt durch die Pandemie und ihre Folgen auf die Probe gestellt wird.
Die Frage, die sich als zentral herauskristallisiert, lautet: Wie können wir in den gASTWERKen unser Zusammenleben so gestalten, dass es trotz unterschiedlicher, ja manchmal konträrer Meinungen und Werte langfristig nicht zu mehr Trennung, sondern zu mehr Verbindung führt? Denn eins ist klar: Eine nachhaltige Lebensweise, das gute Leben für alle, kann nur miteinander funktionieren. Wir erproben im Sinne eines Reallabors ein Miteinander, das nicht nur uns als Gemeinschaft zusammenhält, sondern im Prinzip auch von anderen Gruppen praktiziert werden kann. Darüber hinaus kann es eine Inspiration für Fragen des gesamtgesellschaftlichen Miteinanders sein.

Wie können wir in den gASTWERKen unser Zusammenleben so gestalten, dass es trotz unterschiedlicher, ja manchmal konträrer Meinungen und Werte langfristig nicht zu mehr Trennung, sondern zu mehr Verbindung führt?
Prinzipien und Instrumente des Zusammenlebens
1. Verbindliche Austauschforen einrichten und pflegen

Alle drei Wochen findet ein sozialer Austauschraum statt, in dem wir uns zu Ängsten, Nöten, Befindlichkeiten und Bedürfnissen austauschen. Dieser Raum ist von Langsamkeit und Achtsamkeit geprägt. Die Teilnahme an diesen Austauschräumen ist nicht verpflichtend, jedoch kommen die meisten Gemeinschaftsmitglieder zu den Treffen.
Für den Zusammenhalt ist nichts wichtiger als stetige Kommunikation.
2. Verantwortung und Ressourcen teilen
Nicht alle Menschen, die in der Lebensgemeinschaft wohnen, sind befreundet. D.h. die Basis für einen regelmäßigen verbindlichen Austausch ist nicht in erster Linie die freundschaftliche Verbundenheit. Vielmehr sind die 50 Menschen, die hier am Platz wohnen, durch die wechselseitige Selbstverpflichtung miteinander verbunden, Verantwortung und Ressourcen zu teilen. Wir leben in einer solidarischen Ökonomie, das heißt wir geben unser individuelles Einkommen zu 100% in einen gemeinsamen Topf, aus dem wir unsere gesamten gemeinsamen und individuellen Ausgaben bestreiten. Die Gemeinschaftsmitglieder (nicht alle, aber doch viele) kümmern sich gemeinsam um die Betreuung und Begleitung unser 20 am Ort lebenden Kinder, wir kochen und essen größtenteils zusammen, wir wohnen in Wohngemeinschaften und besitzen Autos, Häuser, Werkzeug und vieles mehr gemeinsam. Die konkreten Verbindungen können darüber hinaus noch durch gemeinsame Erwerbsarbeit, Ehrenamt, andere Projekte oder auch Verwandtschaftsverhältnisse etc. geprägt sein.
Die Menschen, die hier wohnen, sind durch die wechselseitige Selbstverpflichtung miteinander verbunden, Verantwortung und Ressourcen zu teilen.
Commitments und daraus wachsende Verbindungen stellen sicher, dass wir uns regelmäßig austauschen, verhandeln und einigen müssen. Das kann sich im ersten Moment nach einer Bürde anhören, ist vielmehr der Motor dafür, in Kontakt zu bleiben und sich nicht von den Bedürfnissen und Meinungen der anderen zu entfremden und in Trennung zu gehen.
3. Differenzen anerkennen und aushalten
Auch wenn es Anstrengung und Überwindung erfordert, streben wir an, in Konfliktsituationen und Auseinandersetzungen unterschiedliche, auch konträre Meinungen zu hören, anzuerkennen und nachzuvollziehen, wie es zu einer Meinung oder einem Verhalten gekommen ist. Dafür ist es wichtig, Konflikte nicht zu vermeiden oder sie zu negieren, sondern sie als Entwicklungsmöglichkeit und als Chance zu sehen und zu kultivieren, etwas Neues über andere und sich selbst zu lernen. Oft tendieren wir dazu, in Konflikten vorschnell nach Lösungen zu suchen und verpassen dabei auf das Bedürfnis der Konfliktparteien einzugehen und ihre Meinung in Ruhe anzuhören. Es hilft in vielen Situationen, die Differenzen angemessen zu würdigen und erst danach in eine Lösungsfindung gehen. Hier sind die Prinzipien gewaltfreier Kommunikation hilfreich.
Es ist wichtig, Konflikte nicht zu vermeiden oder sie zu negieren, sondern sie als Entwicklungsmöglichkeit und als Chance zu sehen und zu kultivieren, etwas Neues über andere und sich selbst zu lernen.
4. Entscheidungen treffen ohne Minderheiten abzuhängen

Aus diesen vier Prinzipien und den zugehörigen Instrumenten folgt ein großes Wohlwollen in inhaltlichen Fragen, eine hohe Nachsichtigkeit bei Konflikten und Missverständnissen und ein starkes Vertrauen, dass jede:r als Individuum einen Platz in der Gruppe haben darf, bei allen Interessensunterschieden, Meinungsverschiedenheiten und Konflikten, die es gibt. Insgesamt mündet es in einem Wir-Gefühl im Guten wie im Schlechten, einer Zugehörigkeit über einzelne Fragen und Konflikte hinaus.
Entscheidungen werden nur dann getroffen und umgesetzt, wenn keine Person schwerwiegende Bedenken hat.
Die Attraktivität, die durch dieser Art des Zusammenlebens entsteht, ist der entscheidende Punkt zu dieser Gruppe oder besser zu dieser Gemeinschaft dazugehören zu wollen. Daraus wächst ein starker Zusammenhalt in der Gemeinschaft. Die Erfahrungen in Gruppen wie den gASTWERKen, die innovative Formen des Zusammenlebens erproben, können Hinweise darauf geben, wie eine veränderte, nachhaltige Kultur gesellschaftlichen Zusammenlebensaussehen könnte.
Praxis unter verschärften Rahmenbedingungen
In den letzten beiden Pandemie-Jahren sind die Kommunikation und der Zusammenhalt in der Gemeinschaft verstärkt auf die Probe gestellt worden. Wir haben auch die Grenzen von Inklusion und Zusammenhalt erlebt. Wie in der Gesamtgesellschaft gab es auch zur Covid-19-Pandemie, den damit verbundenen Maßnahmen und Einschränkungen sowie dem Umgang damit sehr unterschiedliche Positionen. In der Gemeinschaft gab es Menschen, die aus Angst vor Ansteckung in freiwillige Selbstisolation gegangen sind. Es gab auch Menschen, die sich aus Überzeugung und Solidarität über die staatlichen Vorgaben hinaus eingeschränkt haben. Andere wiederum standen den Maßnahmen kritisch gegenüber, befolgten sie aber. Manche hatten einen sehr lockeren Umgang mit den Maßnahmen und Einzelne zweifelten an der Existenz des Virus. Gleichzeitig bestand die Notwendigkeit, sich aufgrund der gemeinsamen Räumlichkeiten und des eng miteinander verwobenen Alltags auf einen gemeinsamen Umgang zu einigen.
Wir haben auch die Grenzen von Inklusion und Zusammenhalt erlebt.
Covid-19 und der Umgang mit der Pandemie und den verbundenen Maßnahmen war Thema in vielen Austauschräumen. Wir haben in der großen Runde und in kleineren Gruppen dazu geredet und versucht, uns auf einen Weg zu einigen, den wir gemeinsam gehen können. Das war mit vielen Meinungsverschiedenheiten, wechselseitigem Unverständnis und auch Vorwürfen verbunden. Das ist verständlich und konnte in unseren Strukturen weitgehend aufgefangen werden. Das änderte sich allerdings, als Menschen mit extremen Meinungen nicht mehr zu den Austauschräumen kamen und es somit keine Möglichkeit mehr gab, sich als Gruppe auszutauschen und anzunähern. Die Dynamik der Entfremdung spitzte sich immer weiter zu, bis wir irgendwann an dem Punkt ankamen, an dem sich die unterschiedlichen Überzeugungen und vor allem das unterschiedliche Handeln nicht mehr vereinbaren ließen. Zwei Menschen, Gründungsmitglieder der Gemeinschaft, fühlten sich nicht mehr verstanden und brachten ihre Bedenken und Meinungen nicht mehr in die Entscheidungsprozesse mit ein. Schließlich beschlossen sie, auszuziehen. Dadurch wurde das Spektrum der Meinungen kleiner und der weitere Umgang mit der Pandemie leichter. Aber es bleibt eine Unzufriedenheit mit der Entwicklung der Situation und insbesondere dem Misslingen von Inklusion.
Gesellschaftlich ist Exklusion keine Lösung
In unserem Falle mag es teilweise ein probater Lösungsweg gewesen sein, dass ein extremer Teil die Gruppe verlässt und in der verbleibenden Gruppe dadurch wieder ein gemeinsames Handeln möglich wird. Aber für uns als Gesellschaft ist das keine Option. Vielmehr ist es unsere Aufgabe, immer wieder Austauschräume zu schaffen, zu denen sich alle eingeladen und bei denen sich alle sicher fühlen können, sich in ihren Zweifeln zu zeigen. Und es ist unsere Aufgabe, uns der Herausforderung zu stellen, konsequent Differenzen auszuhalten und anzuerkennen, auch wenn es Anstrengung erfordert.
Es ist unsere Aufgabe, uns der Herausforderung zu stellen, konsequent Differenzen auszuhalten und anzuerkennen, auch wenn es Anstrengung erfordert.
Wir als Lebensgemeinschaft gASTWERKe möchten die Auseinandersetzung rund um den Umgang mit der Pandemie dafür nutzen, unsere Kommunikationsräume und -formen weiterzuentwickeln, damit wir es in kommenden Krisen noch besser schaffen, Konflikte als verbindendes statt als trennendes Element wahrzunehmen und zu nutzen.

Praxis
Schwul und katholisch in der Gemeinde Maria Hilf
Eine christliche Gemeinschaft von und für Lesben, Schwule und ihre Freund*innen (PSK) in Frankfurt am Main
Zum Projekt „Schwul und katholisch in der Gemeinde Maria Hilf“ (PSK) sagte der Frankfurter Stadtdekan Dr. Johannes zu Eltz im Buch „Eine Brücke bauen“ des Jesuitenpaters James Martin [Stuttgart 2018]: „Die Gruppe, überwiegend homosexueller Männer, feiert regelmäßig Eucharistie. Als es losging, wurde das Projekt von manchen stark angefeindet. Auch ich war aus der Ferne total dagegen. […] Bevor ich nach Frankfurt [August 2010] kam, dachte ich: Eines der ersten Dinge, die ich hier tun werde, ist, das Projekt schwul und katholisch plattzumachen. Aber der Stadtdekan ist von Amts wegen verpflichtet, einmal im Jahr im Projekt „schwul und katholisch“ Eucharistie zu feiern und ein Gespräch zu führen. Also ging ich hin. Und dann diese Messe, äußerlich ruhig, aber von innen her bewegend. Das hat mich tief berührt. Wie diese Menschen auf Gottes Wort hören und miteinander das Brot brechen, das hat mich so beeindruckt, das ich mich bekehrt habe.“
Johannes zu Eltz: Das hat mich so beeindruckt, das ich mich bekehrt habe.
Die Anfänge
Es ist schon erstaunlich, wie bedrohlich eine kleine schwule Gottesdienstgemeinschaft auf einen leitenden Kirchenvertreter, dem ehemaliger Richter am Limburger Diözesangericht [1999-2010] Dr. Johannes zu Eltz, wirkte, dass er sie „plattmachen“ wollte. Eine Gottesdienstgemeinschaft, die seit Frühjahr 1991 mit ihren verbündeten Priestern und Pastoralreferentinnen zuerst in der Kapelle der Katholischen Hochschulgemeinde und dann in der Kirche der Gemeinde Maria Hilf regelmäßig Gottesdienst feiert. Schaut man auf die Beweggründe der Initiatoren des PSK, die wegen ihres Outings als schwule Studenten trotz ihrer hervorragenden theologischen und menschlichen Fähigkeiten Berufsverbot im Bistum Limburg erhalten hatten, ist die Einstellung des ehemaligen Richters nicht verwunderlich. Schwule Christen mit ihren Freunden und Freundinnen zeigten sich gegen die kirchliche Tabuisierung homosexueller Personen nicht nur seit 1991 in aller Öffentlichkeit, sondern luden auch – wegen ihrer weit geöffneten Kirchentüren – andere Menschen zu ihren sonntäglichen Abendgottesdiensten mit ökumenischer Gastfreundschaft ein. Unter Beibehaltung der Liturgie des Kirchenjahres begannen die Verantwortlichen zunehmend in geschlechtergerechter Sprache auf der Grundlage schwuler Befreiungstheologie und der Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils Eucharistie- bzw. Wortgottesfeiern zu gestalten. Etwa zwanzig bis dreißig Frauen und Männer kamen nicht nur aus dem Rhein-Main-Gebiet sonntagsabends in die Kirche Maria Hilf. Der Zuspruch schwuler, lesbischer, bisexueller und transidenter Menschen bestätigte die Initiatoren angesichts ihres Gemeindevorhabens. Ausdruck für ihre sorgfältig vorbereitete sonntägliche Liturgie ist das in den PSK-Anfangsjahren entstandene Gebet- und Gesangsbuch „Gotteslob unterm Regenbogen“. Der Katholischen Hochschulgemeinde Frankfurt gefiel dieses Gebetbuch so gut, dass sie es für ihre eigenen Studierenden anschaffte.
Schwule Christen mit ihren Freunden und Freundinnen zeigten sich gegen die kirchliche Tabuisierung homosexueller Personen nicht nur seit 1991 in aller Öffentlichkeit, sondern luden auch – wegen ihrer weit geöffneten Kirchentüren – andere Menschen zu ihren sonntäglichen Abendgottesdiensten mit ökumenischer Gastfreundschaft ein.
Lebendige Gottesdienstgemeinschaft
Endlich konnten gleichgeschlechtlich liebende Menschen in dieser ersten schwul-lesbischen Gottesdienstgemeinschaft im deutschsprachigen Raum aufatmen, beten, singen, sich als gläubige Katholiken ohne Angst zeigen, ohne sich verteidigen oder sich für ihre gottgegebene Sexualität entschuldigen zu müssen. Vom Gottesdienstmoderator, der zu Beginn des Gottesdienstes die Gemeinde wie den Priester bzw. die Pastoralreferentin begrüßt, weiß sich die Gemeinde willkommen geheißen. Schwule und Lesben geben sich den Friedenskuss, tragen aus ihrer Lebenserfahrung Fürbitten vor Gott und treten einzeln oder als Liebespaar im Kreis um den Altar auf. Die sonntägliche Fürbitte im Hochgebet für alle an AIDS Erkrankten, Verstorbenen und um sie Trauernden berührte viele Mitfeiernde tief. Schwule, lesbische und transidente Christen hören aus ihrer Gemeinschaft die Predigt, in der ihre Lebenswirklichkeit auf Grund der Frohen Botschaft Jesu vorkommt. So vom Sonntagsgottesdienst getröstet und gestärkt, fühlen sich viele gut vorbereitet für die kommende Woche, für ihre Arbeit, Nachbarschaft, Familie und ihren Freundeskreis.
Gemeinschaftsleben und Aktionen in der Öffentlichkeit
Trotz Anfeindungen extrem rechtskatholischer und evangelikaler Kreise, trotz äußerer und innerer Krisen des PSK – zum Beispiel angesichts der Fluktuation ihrer Mitglieder in den Anfangsjahren – fühlen sich die PSK’ler durch ihren Sonntagsgottesdienst nicht nur spirituell gestärkt. Über die Jahre entstand ein reichhaltiges Gemeinschaftsleben mit Feiern, Reisen und Wochenendtagungen mit spiritueller Vergewisserung und Gemeinschaftsbildung. Darüber hinaus entstanden Untergruppen für die Bereiche Liturgie, Diakonie und Öffentlichkeitsarbeit. Obgleich die sonntägliche Liturgie das Hauptanliegen des PSK vor Ort im Frankfurter Gallusviertel blieb, wollten die Teilnehmer*innen nicht in einem sogenanntes „Nest des Wohlfühlens“ bleiben, sondern zeigten sich in der lesbisch-schwulen Frankfurter Community und nahmen an deren Aktionen wie zum Beispiel dem jährlichen CSD mit einem eigenen christlichen Stand und einem Gottesdienst zu Beginn der Christopher Street Day Tage teil.
Allen Anfeindungen extrem rechtskatholischer und evangelikaler Kreise zum Trotz … entstand über die Jahre ein reichhaltiges Gemeinschaftsleben mit Feiern, Reisen und Wochenendtagungen.
Vernetzung mit anderen Gruppen im deutschsprachigen Raum
Als die PSK’ler erfuhren, dass inzwischen auch andere lesbisch-schwule Gottesdienstgemeinschaften in Basel, Stuttgart, Münster und Nürnberg entstanden waren, lud das PSK diese Gemeinden zum Dreikönigstag 2002 nach Frankfurt am Main ein, um sich als LSGG (Lebischwule Gottesdienstgemeinschaften) zu vernetzen und gemeinsam in ihren Bistümern und Landeskirchen aufzutreten. Inzwischen gehören zehn schwul-lesbische Gemeinden von Basel bis Berlin der LSGG an. Neben den Jahrestagungen traten die LSGG‘ler zusammen auf Katholiken- und Kirchentagen jeweils mit einem Stand, einem Gottesdienstort und einer zentralen Veranstaltung in Zusammenarbeit mit andern lesbischen, schwulen, transidenten christlichen Initiativen auf, wie zum Beispiel der „Ökumenischen Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche e.V.“ oder dem „Netzwerk katholicher Lesben e.V.“ oder der „Arbeitsgemeinschaft schwule Theologie e.V.“.
Zusammenarbeit vor Ort – Verortung im Bistum
Vor Ort im Frankfurter Gallusviertel suchte das PSK einen guten Austausch mit der gastgebenden Gemeinde Maria Hilf. Eine jährlich gemeinsam gestaltete Sonntagmorgenmesse mit anschließendem Mittagessen, regelmäßige Teilnahme am Pfarrfest mit eigenem Cocktailstand und an Gemeinderatssitzungen festigte den gegenseitigen Respekt bis hin zur selbstverständlichen Akzeptanz des PSK in der Gemeinde Maria Hilf. Unsicherheiten, Ängste und Vorurteile bestanden nicht nur in der Pfarrei Maria Hilf, sondern auch unter den PSK‘ler selbst. Anlässlich seines Visitationsbesuches im PSK 1996 sagte Bischof Franz Kamphaus zu den ängstlichen PSK‘lern, die befürchteten, dass, wenn Lederkerle oder Transvestiten an ihrem Gottesdienst teilnehmen, die Kirchtüren zugemacht würden: „Wenn das Projekt vom Heiligen Geist ist, wird es Bestand haben.“
Inzwischen gehören zehn schwul-lesbische Gemeinden von Basel bis Berlin der LSGG an.
Es ist kein Geheimnis, dass sich Ressentiments gegen Minderheiten durch Outing, Begegnung, Dialog und Bildung sehr schnell in Luft auflösen. So ist auch die spontan veränderte Haltung des oben erwähnten Stadtdekans Dr. Johannes zu Eltz zu verstehen. Er ist vom extremen Gegner des PSK zu einem engagierten Befürworter geworden. Outing – Mut sich zu zeigen trotz aller begründeten Ängste, Konflikte und Bedrohungen in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft, in der Pfarrgemeinde oder im Bistum ist der einzige Weg, um als homosexuelle Menschen normal in der Gesellschaft zu leben. Charakterzüge wie Selbstbewusstsein (wissend um Rechte und Pflichten), Selbstinitiative (auch gegen Widerstände) und Selbstverantwortung (der bedingungslosen Liebe Gottes als Schöpfer und Heiler vertrauend) können sich leichter in einer schwul-lesbischen Gemeinschaft entwickeln. Auf Grundlage dieser Erkenntnis entstand auf Initiative der PSK-Sprecher 1996 bis 1998 in Zusammenarbeit mit dem damaligen Rechtsdezernenten des Limburger Bischofs, Thomas Schüller, ein kirchenamtliches Dokument mit dem Titel „Projekt. Schwul und katholisch in der Gemeinde Maria Hilf“. Es ist das erste Mal im deutschsprachigen Raum, dass in einem kirchlichen Dokument das Wort „schwul“ benutzt wurde. Unter anderem steht in diesem kirchenrechtsgültigen Papier, dass der Frankfurter Stadtdekan jährlich das PSK zur Visitation zu besuchen hat. Wie sich zeigte, besuchte der Stadtdekan das PSK nicht nur, sondern feiert mit der kleinen Gottesdienstgemeinschaft zusammen Eucharistie und bleibt anschließend zum geselligen Informationsaustausch. Aus dieser Zusammenarbeit entstanden auf Stadtebene gemeinsame Veranstaltungen wie in der Philosophisch Theologischen Hochschule St. Georgen zum Thema „schwul, lesbisch, katholisch sein“. Darüber hinaus wurde von der Stadtkirche eine Seelsorgestelle gegründet, an die sich ratsuchende homosexuelle Menschen, aber auch Eltern, Geschwister, Lehrer und Pfarrbeauftragte wenden können. Selbst die traditionspflegende Zeitung „Gottesdienst“, eine Information und Handreichung der Liturgischen Institute Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, veröffentlichte im März 2019 den Bericht des ehemaligen Sprechers Burkhard Cramer anlässlich der 25-jährigen Feier des PSK im Frankfurter Haus am Dom unter der Fragestellung „Lern- und Wandlungsort. In Frankfurt am Main gib es seit über 25 Jahren einen Gottesdienst, der sich an homosexuelle Menschen und Ihre Freundinnen und Freunde richtet. Was unterscheidet diese Gruppenmesse von anderen, und warum braucht es diese Feiern überhaupt?“
Bischof Kamphaus: „Wenn das Projekt vom Heiligen Geist ist, wird es Bestand haben“
Basisgemeinde mit befreiungstheologischem Ansatz
In weiteren Begegnungen und gemeinsamen Aktionen des PSK mit kirchlichen Gruppen und schwul-lesbischer Community, auch auf europäischer Ebene durch die Mitgliedschaft im „Europäischen Forum christlicher Lebens- und schwulen Gruppen“, spiegelt sich die Grundhaltung der PSK‘ler wieder, wie sie Michael Ling in seiner Rezension zum Buch: „schwul+katholisch eine christliche Gottesdienstgemeinschaft“, Berlin 2013, beschreibt: „Die Gemeinschaft organisiert, gestaltet und leitet ehrenamtlich Gottesdienste und Gemeindeleben – ein Beispiel, wie christliche Gemeinde authentisch gelebt werden kann. Denn: Unabhängig davon, ob ihre Mitglieder schwul und lesbisch sind oder nicht – das PSK kann Modell für eine von Gläubigen selbst getragene und geleitete Basisgemeinde sein. Folgendes wird deutlich: Selbstorganisation von Gemeinde im Sinne einer Entscheidungs-, einer ‚ehrenamtlichen‘ Kirche – auf der Grundlage des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen – ist möglich und machbar! Von daher können das PSK und seine Gottesdienstgemeinschaft – etwa unter dem Leitbegriff ‚Kommunikation des Evangeliums‘ – alle Menschen ansprechen und ihnen am eigenen Beispiel in einer sich verändernden, von Individualisierung, Pluralisierung, Emotionalisierung und Globalisierung geprägten Welt aufzeigen, wie Glaube gemeinsam eine (neue) Heimat finden, gefördert und gestärkt werden kann…”
Jesus hat alle eingeladen und angenommen, ohne Wenn und Aber.
Das Projekt selbst versteht sich als Basisgemeinde mit einem befreiungstheologischen Ansatz. Viele der Gemeindemitglieder – auch nicht-schwule bzw. nicht-lesbische – haben die Erfahrung des Auszugs oder des Ausgegrenzt-Seins gemacht. Der Weg zu sich selbst führt durch die Wüste aber auch zu intensiven Suchbewegungen und zu neuen Aufbrüchen. Die Gemeinschaft unterstützt dabei. Auf diese Weise werden spirituelle Erfahrungen gemacht, die anderen kirchlichen Initiativen und Gruppen, Kirchengemeinden und Kirche überhaupt wertvolle Impulse geben können. Jesus hat alle eingeladen und angenommen, ohne Wenn und Aber, ohne Vorleistungen, ohne Ansehen von Stand, Position, sexueller oder jedweder Orientierung. Diese Annahme ermöglicht dem Einzelnen – als Zusage Gottes – die Annahme seiner selbst.