Praxis
Verstörend: Redet bitte nicht von Gott
Im Raum zwischen den Widersprüchen
In einem Interview im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung bringt die Schauspielerin Sohie Reus, Katholikin, ihre ambivalente Haltung bezüglich ihres Glaubens an Gott zum Ausdruck. „Ich glaube nicht an Gott, aber ich kann auch nicht nicht dran glauben“. Sie verortet sich mit ihren Glaubenserfahrungen in den „Räume(n) zwischen den Widersprüchen“, in denen sich, so wie sie sagt, das Leben ereignet.1
Ja, das trifft auch meinen Standpunkt. Glaubenserfahrungen finden ihren Ort in den „Zwischen-Raümen“ der Gegensätzlichkeit, der Ambivalenzen und Paradoxien2. Klarheit und Sicherheit, Glück und Zufriedenheit sind hier, zwischen den Gegenpolen, nicht gegeben. Ebenso wenig gibt es zufriedenstellende Antworten, wir mögen sie noch so dringlich suchen. Die Frage, ob und wie wir von Gott und über Transzendenz reden sollten, steht natürlich immer im Raum. Ich verneine allerdings die Möglichkeit einer Antwort. Die Frage ist einfach zu groß, zu umfassend, auch zu existentiell, als dass sie schnelle oder auch komplexe Antworten erlaubte. Für die Rede von Gott und auch über Gotteserfahrung ergibt sich daraus für mich, besser gar nicht erst von Gott zu reden. Natürlich stellt dies ein Dilemma dar, denn wie sollen wir uns angesichts dieser Unmöglichkeit, von Gott zu reden, über ihn und unser Verhältnis zu ihm austauschen?
Nicht von Gottes-Erfahrung reden …
Trotz dieses Dilemmas halte ich am Verzicht auf jegliches Reden von und über Gott und Gotteserfahrung fest und begrenze mich auf die Rede und den Austausch über Glaubenserfahrung. Dies ist natürlich eine Grundsatzfrage, aber in Hinblick auf Gott, Gottes- und Transzendenzerfahrung erscheint es mir nicht nur sinnvoll, sondern nahezu zwingend, Erfahrung der Begrenztheit zuzulassen, allem Zweifel Raum zu geben, jeglicher (verdrängten) Irritation nachzugehen und genau diese Erfahrungen – Begrenztheit, Zweifel, Irritation – zum Ausgangspunkt und Gegenstand des theologischen Diskurses in der Frage nach Gott zu machen3. Dabei ist dann auch eine nicht geringe Menge an Skepsis hilfreich, eine konstruktive Skepsis gegenüber allen, die glauben genau zu wissen was und wie Gott ist.
Ich glaube nicht an Gott, aber ich kann auch nicht nicht dran glauben
… sondern über Glaubens-Erfahrung
Auf den Weg dieser durch Skepsis inspirierten Such- und Redeversuche brachten mich unzählige Menschen, mit denen ich als Seelsorger in Kontakt kam und die mich an den Erfahrungen ihres Lebens und Glaubens teilhaben ließen. Hier der Spur Anton T. Boisen’s folgend, gelten sie mir, anders als die (Lehr-)Dokumente der Kirche und der Tradition, als „living human documents“4. Durch ihre Kompetenz (als Leidende) haben sie meine Skepsis in Hinblick auf die „klassische“ Rede von Gott immer wieder neu angeregt und mich auf die Spur der Erfahrung als „Zwischen-Raum“ der Offenbarung gesetzt. Neben ihnen sind auch Theologen mit auf dieser Spur. Edward Schillebeeckx5 und Michel de Certeau6 sind hier exemplarisch zu nennen, wie aus jüngster Zeit Jonas Maria Hoff7. Er hat den Diskurs zwischen radikalem Konstruktivismus und der Theologie (neu) angefacht und bürstet so manches gegen den Strich. Theolog*innen fordert er heraus, sinnvoll vom verborgenen Gott zu sprechen, auf theologische und insbesondere „ontologische Killerargumente“ zu verzichten und sich der Konstruktionalität der eigenen Aussagen und Theorien bewusst zu werden8.
Für die Rede von Gott und auch über Gotteserfahrung ergibt sich daraus für mich, besser gar nicht erst von Gott zu reden.
Meine eigenen anthropologisch-theologisch ausgerichtete Denkbewegungen sind inspiriert von einem multiperspektivisch offenen Diskurs mit der (nicht nur neueren) Psychoanalyse9, den in ganz ähnlicher Weise auch Andreas Odenthal praktiziert10. Wie sollte es anders sein, als dass in dieser multiperspektivischen Denk- und Weggemeinschaft Skepsis aufkommt und sich – vielleicht paradox(?) – zugleich als Kreativimpuls und darin als heilsam für den theologischen Diskurs erweist? So bewege ich mich mit all diesen existentiellen Themen weniger im doktrinären, als vielmehr in einem relationalen Diskurs, von dem ich nun erzählen will.
Eine Irritation
Mein Ausgangspunkt ist dabei eine seelsorgliche Begegnung, also die Erfahrung. Sie ereignete sich in der ersten Zeit meiner Tätigkeit als Seelsorger im psychiatrischen Krankenhaus. Sie liegt nun schon mehr als 30 Jahre zurück, aber sie hat sich mir bleibend eingeprägt. Heute verstehe ich sie als eine von vielen Schlüsselszenen meiner Entwicklung als Seelsorger und Theologe.
Jörn11 war mir als Patient der Klinik schon länger bekannt. Immer wieder liefen wir uns mal über den Weg. Zuweilen nahm er am Gottesdienst teil. Ich erinnere mich noch, als wäre es gerade gestern gewesen. Er kommt und geht, wie es ihm gerade passt und wenn er da ist, setzt er gerne schonmal kleine, durchaus rituelle Zeichen. Mit ausgebreiteten Armen stellt er sich während der Wandlung oder der Predigt mitten in den Raum. Er ergreift gerne das Wort, ungefragt. Dabei beklagt er sich über die Behandlung als „Verrückter“, schreit seinen Zorn und Frust über seine Situation in den Raum, ein anderes Mal erzählt er von seiner neuen Liebe. Manchmal preist er seinen Gott. Und dann wieder klagt er ihn an. Er lässt sich auch nicht alles sagen. Bei einer Predigt, in der ich vom Segen und vom Segnen spreche, fällt er mir ins Wort: „Das höhere Wesen schlägt und straft mich“ ruft, ja schreit er mehrfach in den Gottesdienstraum. Das irritiert zunächst einmal. Schwerer wiegt jedoch, dass es mir als postkonziliar aufgestelltem Theologen der Moderne oder gar Postmoderne überhaupt nicht behagt, was er da von sich gibt. Ich will nichts hören von einem „höheren Wesen“, das „schlägt“ und „straft“ und so leitet mich der Gedanke, mit ihm das Gespräch zu suchen und ihm gegen sein aus meiner Sicht destruktives Gottesbild ein „positives“ zu vermitteln 12.
Gott schlägt und Gott segnet
In der seelsorglichen Begleitung kam es dann jedoch ganz anders. Nicht ich korrigierte sein Gottesbild, sondern er korrigierte meins. Ich habe von ihm gelernt, dass und wie sein Gottesglaube mit seinen (Leidens-)Erfahrungen zu tun hatte und dass er ohne diese nicht zu haben war. Jörn brachte, ohne jede theologische Bildung, Fluch und Segen seines Lebens mit seinem Gott in Verbindung. Er brachte das dann auch szenisch zum Ausdruck.
Das irritiert zunächst einmal. Schwerer wiegt jedoch, dass es mir als postkonziliar aufgestelltem Theologen der Moderne oder gar Postmoderne überhaupt nicht behagt, was er da von sich gibt.
In drastischen Bildern sprach er in unseren Gesprächen davon, wie er sich von Gott geschlagen und gestraft fühlte und zugleich wollte er die Gespräche nicht beenden, ohne einen Segen zu erhalten. Das mutete er mir zu: Sein Gott schlägt und segnet. Und wenn ich ihm das nun wieder aus rationalen Erwägungen ausreden wollte, hatte er genügend Durchsetzungskraft, diesen Segen dennoch zu bekommen. Er schmiss sich dann mitten auf dem Hauptgang seiner Krankenstation vor mir auf die Knie, ließ mich nicht los und „zwang“ mich so, ihn zu segnen (allein schon aus dem Grund, die mir peinliche Situation zu beenden)13.
„Richtig“ über Gott sprechen?
Irgendwann dämmerte es mir, welche Sprengkraft in der Begegnung mit Jörn lag. Okay, ich kam nicht von selbst drauf. Aber weil es mich nicht losließ, habe ich von der Begegnung mit ihm in der Supervisionsgruppe erzählt. Die Gruppe sprühte nur so von guten Ratschlägen, was ich anders machen könnte, wie man Jörn seelsorglich „gut“ begleiten könne und – vor allem – wie man mit ihm „richtig“ („gut“ und „richtig“ – ja, diese Worte fielen wirklich!), über Gott sprechen sollte. Das triggerte unter uns Teilnehmer*innen unsere ohne Zweifel vorhandenen, intellektuellen Möglichkeiten zum theologischen Diskurs an. Aber das war nun nicht unbedingt hilfreich. Wir fanden uns als Gruppe schnell in die Dynamik der eingangs erwähnten Irritation verstrickt und versanken im Nebel gelernter, aber schon lange nicht mehr reflektierter, theologischer Floskeln.
Im biblischen Narrativ verwurzelt
Dies änderte sich in dem Moment, als eine Teilnehmerin aus der Gruppe das theologische Schaulaufen mit dem Ziel, richtig über Gott zu reden, unterbrach. Sie sei überhaupt nicht dafür, Jörn irgendwas von seinem Gottesbild zu nehmen oder gar zu versuchen, es durch Korrektur in die richtige Spur zu lenken. Sie schlug vielmehr vor, den Spieß einmal umzudrehen und unsere intellektualisierte Art und Weise der Rede von und über Gott, und damit auch über Jörn durch ihn selbst korrigieren zu lassen.
Der Gott, an den er glaubt und von dem er spricht, hat mit Erfahrungen seines Lebens, mit seinem Geschlagensein und mit seinem Gesegnetsein zugleich zu tun.
Sie hätte schon gleich am Beginn meiner Erzählung die Assoziation gehabt, dass Jörn hier doch eine in der alttestamentlichen Tradition überlieferte Glaubenserfahrung vermittle. Die ganze Zeit denke sie schon an die Story vom Kampf des Jakob am Jabbok (Gen 32,23-33). In diesem Kampf Jakobs mit seinem Gott gehe es doch um nichts Anderes als um den Segen. Den erhält er ja letztlich auch, aber – dies sei ihr nun besonders wichtig – doch um den Preis eines Schlages auf die Hüfte. Auf der Grundlage dieser Deutung konnten wir in der Supervisionsgruppe die Parallele zwischen Jörns Glaubenserfahrung und dem biblischen Narrativ erkennen: Der Gott, an den er glaubt und von dem er spricht, hat mit Erfahrungen seines Lebens, mit seinem Geschlagensein und mit seinem Gesegnetsein zugleich zu tun. Wie das biblische Narrativ, so spricht auch Jörn über diesen Zusammenhang, über die paradoxe Gleichzeitigkeit von Leidenserfahrungen und Segen14.
Spaltungen im Gottesbild
Gott schlägt und Gott segnet. Die Supervision und insbesondere die Intervention der Kollegin waren für mich sehr erhellend. Sie machten mir meine theologisch fundierten Tendenzen zu Spaltungen im Gottesbild bewusst. Und auch meine unbewusste Neigung zu pastoraler Machtausübung im Modus der „sanften Macht der Hirten“ 15, die immer schon wissen, was für andere gut ist, wurde nun offenkundig. Beide Intentionen – Spaltung im Gottesbild und pastorale Machtausübung – durchkreuzte Jörn. An seinem persönlichen „Jabbok“ kämpfte er, mitten im Dilemma der Widersprüche in seinem Leben um den Segen. Er vermittelt (nicht nur) mir, dass seine Erfahrungen mit seinem Gott und mit seinem Glauben immer gegenpolig, immer ambivalent, ja paradox sind. In dieser Offenheit und Klarheit war das für mich Neuland und Offenbarung zugleich. Ich denke heute, dass mir meine Tendenz zu Spaltungen im Gottesbild ohne Jörn nicht so bald bewusst geworden wäre. Aber sie stand im Raum, denn es war ja meine Intention gewesen, ihm einen nur guten Gott, einen „lieben“ Gott zu vermitteln. Ich hatte es nicht gemerkt, dass ich im Begriff war, ihm – und damit ja auch mir selbst – die dunklen Seiten seiner Glaubens- und Lebenserfahrung, wie auch die Erfahrungen der Widersprüche seines Lebens zu nehmen16. In seiner Hartnäckigkeit aber konfrontierte er mich damit, dass es diesen idealen, vorrangig nur guten Gott für ihn nicht gibt. Sein Gott schlägt und segnet. Sein Gottesglaube schließt den Zusammenfall der Gegensätze, die „Coincindetia Oppositorum“ (Nicolaus v. Kues) mit ein.
Fazit: Redet bitte nicht von Gott!
Die Begegnungen mit Jörn, und später noch mit vielen anderen mehr, stellen eine gewiss provokante Option, ja eine vielleicht auch irritierende Herausforderung an die Adresse (nicht nur) von Theologen dar. Sie lautet ganz einfach: Bitte … redet nicht von Gott!
Es ist nötig, dass wir uns über den Modus unserer Rede von und über Gott neu bewusst werden.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Mir ist natürlich klar, dass wir in Hinblick auf die Gottesfrage mit einem Rede- oder gar auch Denkverbot nicht weit kämen. Das entspricht auch nicht meiner Intention. Aber es ist mir wichtig, und das habe ich im Kontext relationaler Seelsorge mit vielen Menschen wie auch im multidisziplinär offenen Diskurs der Theologie mit der Psychoanalyse und angrenzenden Sozial-Wissenschaften als Erkenntnis und als Postulat für mich gewonnen: Es ist nötig, dass wir uns über den Modus unserer Rede von und über Gott neu bewusst werden. Für mich ist dies, mit Edward Schillebeeckx und vielen anderen, der Modus der Glaubens-Erfahrung. Unter dieser Prämisse müsste es dann nicht heißen: Redet nicht von Gott, sondern: Tut es im Modus der Erfahrung17. Dies würde den Diskurs über die Gottesfrage von ontologisch-doktrinären Festlegungen befreien und könnte zwischen den Erfahrung der Menschen und dem biblischen Narrativ vermitteln.
Konsequenzen
Abschließend nenne ich einige Konsequenzen für das Reden über die „Hypothese Gott“:
Ich achte zunehmend darauf, nicht mehr über Gott und Gotteserfahrung, sondern über Glaubenserfahrung zu reden.
- Der Gottesbegriff / die Gottesvorstellung, die „Hypothese Gott“, muss in dem Moment irritieren, in dem Gott nicht eindeutig festgelegt und definiert werden kann.
- Glaubenserfahrung ist ohne Irritation, Ambivalenzen und Paradoxien nicht denkbar.
- Gottesglaube, Gottes- und Glaubenserfahrung lassen sich angesichts dieser Grundoption nicht schönreden …
- …und längst nicht jede im biblischen Narrativ übermittelte Glaubenserfahrung ist heilsam18.
- Theologie ist nicht als theoretische „Rede von Gott“ zu verstehen, sondern als Rede und Austausch über praktische Lebens- und Glaubenserfahrungen.
- Theologie ist relational und nicht doktrinal.
- Neben die Dokumente des Glaubens treten deshalb unverzichtbar die „living human documents“, Menschen wie Jörn, ohne die die Rede und die Erfahrung von Gott und von Transzendenz nicht möglich wäre.
- Dieser Ansatz lässt die Versuche objektiver Festlegungen und Definitionen Gottes in klassischen Dualismen und ontologischen Versuchen hinter sich und eröffnet für die Glaubenserfahrung neue Räume, in denen Anwesenheit und Abwesenheit Gottes, und damit die Dynamik von Bindung und Trennung19 keine Gegensätze mehr bilden, sondern Erfahrung und damit auch Wirklichkeit neu konstruieren20.
Betörend
Am Anfang meiner Ausführungen stand die Aussage von Sohie Reus, die feststellte, sie könne nicht an Gott glauben, zugleich aber könne sie auch nicht nicht dran glauben. Damit bringt sie die ganze Ambivalenz ihrer Glaubens- und Redeversuche zum Ausdruck. Jörn bringt diese Ambivalenz ganz ähnlich auf der Grundlage seiner Erfahrungen zum Ausdruck und lehrte mich als Seelsorger und Theologen, auf meine unbewussten Spaltungstendenzen in Hinblick auf die Rede von Gott aufmerksam zu werden. Abschließend möchte ich Michel de Certeau zu Wort kommen lassen. Seine Aussage ist mir seit vielen Jahren ein ästhetisch-theologisches Leitmotiv meines Nachdenkens und Redens über Gott, Gottes- und Glaubenserfahrung geworden. In dessen Folge achte ich zunehmend darauf, nicht mehr über Gott und Gotteserfahrung, sondern über Glaubenserfahrung zu reden. Michel de Certeau bekommt hier das letzte Wort.
„Der Gott meines Glaubens hört nicht auf mich zu betören und die Sehnsucht, ihn zu erfassen, ins Leere laufen zu lassen. Er betört, denn nichts von dem, was ich weiß, ist er. Er lässt ins Leere laufen; denn ich erwarte ihn nicht da, wo er kommt. Begegnungen, Ereignisse, Veränderungen verhüllen und offenbaren ihn. In der Bewegung von so vielen verschiedenen Geschichten ist er DERSELBE, der darin immer als der ANDERE aufersteht“ 21
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Praxis
Vielfalt der Gottesbilder – Ein Zwischenbericht
#whoisgodtoday – mehr als Strukturdebatten
Mit der Gott*-Kampagne erregte die Katholische Studierende Jugend (KSJ) im Jahr 2020 viel mediale Aufmerksamkeit 1. Unter dem hashtag #whoisgodtoday tauschten sich zahlreiche Gläubige über unterschiedliche Gottesbilder aus. Ziel war zunächst die Weiterentwicklung des Verstehens des katholischen Glaubens innerhalb des Verbandes. Die Kampagne zielte darüber hinaus darauf, dass auch andere Menschen sich mit der Thematik auseinandersetzen. Es ist bemerkenswert, dass es mit dieser Kampagne gelang, jenseits von Kirchenstrukturdebatten wirklich ans Eingemachte zu gehen – und das auch außerhalb der Kirchen-Bubble, wie zahlreiche Beiträge in nicht-kirchlichen Medien zeigen. Es ging dabei nicht um das vermeintlich richtige Gottesbild, sondern um die tatsächlich vorkommende Vielfalt in den Lebenswelten junger Menschen. Dabei zeigte sich, wie unterschiedlich ein einzelnes Gottesbild wahrgenommen werden kann und wie unterschiedlich passend Gottesbilder von Menschen erfahren werden.
Feministische Gottesrede – Junge Frauen willkommen?
Die Gott*-Kampagne entstand keineswegs aus heiterem Himmel, sondern wurzelt in der langen feministischen Tradition katholischer Jugendverbände. Im Mai 2011 formulierte etwa die BDKJ-Bundesfrauenkonferenz das Desiderat, weibliche Lebensrealitäten und Erfahrungshorizonte ernst zu nehmen und weibliche Gottesbilder und Identifikationsfiguren in Theologie und Spiritualität anzuerkennen: “Wir fordern die Bezugnahme auf ‘weibliche’ Gottesbilder, denn sie sind wichtig, um Gott nicht nur männlich zu denken, sondern in seiner/ihrer Vielschichtigkeit und Ungreifbarkeit wahrzunehmen.” Und weiter: “Wir fordern die durchgängige Verwendung geschlechtergerechter Sprache. Die […] vielschichtige Wirklichkeit, die Vielzahl von Erfahrungen und weiblichen Vorbildern lässt sich nur mit einer geschlechtergerechten Sprache hinreichend darstellen.”2.
Mit dieser Kampagne gelang es, jenseits von Kirchenstrukturdebatten wirklich ans Eingemachte zu gehen – und das auch jenseits der Kirchen-Bubble, wie zahlreiche Beiträge in nicht-kirchlichen Medien zeigen.
Ausgangspunkt dieser Überlegungen zur Notwendigkeit feministischer Gottesrede war damals, dass Mädchen und junge Frauen die katholische Kirche immer weniger als Heimat für ihren Glauben erleben. Für viele von ihnen war und ist Kirche zunehmend nicht zeitgemäß, irrelevant für ihr Leben oder sogar abschreckend. Es ist für sie nicht attraktiv, sich einer Gemeinschaft anzuschließen, in der sie sich – auch in der Gebetssprache – zweitrangig und marginalisiert fühlen. Die Gottesrede wird damit zu einem Ort, an dem die Korrelation von Leben und Glauben junger Menschen – insbesondere von LGBTIQ+-Personen – radikal in Frage gestellt ist.
Gott ist lebensrelevant – oder Gott ist nicht
Dabei ist es mittlerweile ein Allgemeinplatz: Es braucht eine Korrelation zwischen dem christlichen Glauben und dem Alltag junger Menschen. Dieser Erkenntnis wird aber teilweise zu wenig praktische Beachtung geschenkt, wenn auch bzw. obwohl die Brücke zwischen Glauben und Lebenswelt leicht zu finden bzw. zu gehen ist. Denn die Menschwerdung Gottes meint nichts anderes: Gott wird Mensch, um erkannt zu werden. Gott wird Mensch, damit Verstehen auf Augenhöhe möglich ist – nämlich von Mensch zu Mensch. Natürlich bleibt Gott dabei auch Gott. Denn das ist ja gerade unsere Hoffnung, dass mehr sein kann, als uns Menschen allein möglich ist. Unser jugendverbandlicher Anspruch ist eben auch, dass wir von Gott so sprechen können und dürfen, dass Gott mit unserer Welt, mit der Welt der jungen Menschen etwas gemein hat. Ja, wir können erst dann von Gott sprechen, wenn Gott etwas mit unserer Lebenswelt zu tun hat. Ist Gott nicht damit verbunden, kann Gott im Leben von jungen Menschen keine Relevanz erwirken. Wir erfahren und müssen daher feststellen: Zunehmend betrifft dies heute die Lebens- und Glaubensrealitäten queerer Menschen, Frauen und Migrant*innen. Wir verspielen Möglichkeiten, von der begeisterten Erfahrung Gottes zu berichten. Wir verfehlen unseren Auftrag, weil wir hinter unseren Möglichkeiten zurückbleiben.
Gott ist vielfältig – um der Würde der Menschen willen
Heute können wir sagen: sicherlich braucht es eine weiblichere Sichtweise auf unsere Gottesbilder. Die Betonung von Weiblichkeit in Bezug auf die Gottesrede darf uns aber nicht dazu führen, dass wir Heteronormativität bestärken. Die Betonung weiterer Facetten Gottes neben geschlechtlichen Attributen zeigt die Vielfalt, die hilft, von den engen Normen Abstand zu nehmen. Dann kommt die Vielfalt der Lebenswelten in den Blick. Das verstehen wir unter der notwendigen Korrelation zwischen Lebenswelt und Erfahrung Gottes.
Ist Gott nicht mit unserer Lebenswelt verbunden, kann Gott im Leben von jungen Menschen keine Relevanz erwirken.
Es geht eben um die je einzelne Lebensgeschichte, um die je konkret sich realisierende Würde eines Menschen. Es kann einer christlichen Spiritualität als Grundhaltung nicht um ein Festsetzen gehen, sondern um ein Aufreißen von Vorurteilen, ein Befreien von Zwängen. Die Frohe Botschaft als Botschaft zur Freiheit bedeutet in diesem Themenfeld: Vielfältige Gottesbilder wirken befreiend von Hindernissen, Zwängen und Beeinträchtigungen und ebenso ermöglichend zur Freiheit der Selbstbestimmung von Menschen. Vor diesem Hintergrund hat sich die BDKJ-Hauptversammlung im Dezember 2021 klar positioniert und Konsequenzen gezogen: “In der Amtskirche begegnet uns oft ein eindimensionales, cis-männliches, weißes Gottesbild. Als BDKJ finden wir aber: Gott ist keinem Geschlecht oder einer anderen menschlichen Kategorie zuzuordnen. Gleichzeitig ist jeder Mensch unabhängig seines Geschlechts, seiner Sexualität und Hautfarbe ein Abbild Gottes.”3
Vielfältige Gottesbilder wirken befreiend von Hindernissen, Zwängen und Beeinträchtigungen und ebenso ermöglichend zur Freiheit der Selbstbestimmung von Menschen.
Deshalb möchte sich der BDKJ für ein vielfältigeres Gottesbild aussprechen, um Menschen unterschiedlichen Geschlechts, Sexualität und Hautfarbe einen Zugang zu einer Beziehung mit Gott zu ermöglichen. Vielfältige Gottesbilder heißt für uns: Neben den männlichen und auch weiblichen Gottesvorstellungen soll ebenso einem geschlechtsneutralen Gottesbild Raum gegeben werden, welches sich beispielsweise in der elterlichen Liebe oder der Geisteskraft ausdrückt. Eine Grundlage dafür findet sich mehrfach in der Bibel.” 4. Auf dieser Basis haben wir in den vergangenen Monaten einen Bewusstwerdungs- und Lernprozess in Gang gesetzt.
Gott+ – da geht noch mehr
Viele junge Menschen in den Diözesan- und Jugendverbänden haben sich mit ihrem eigenen Gottesbild befasst. Von der Ortsebene bis zu Multiplikator*innen auf Bundesebene sind junge Menschen in den Austausch darüber gekommen, wie sie Gott erfahren und wie sie Gott glauben. Beispielsweise standen vielfältige Gottesbilder Ende 2022 im Fokus eines mehrtägigen Studienteils der Jahreskonferenz Jugendseelsorge der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der DBK (afj).
Es ging im bisherigen Prozess um mehr als die korrekte orthographische Schreibweise Gottes – auch wenn diese medial besonders adressiert wurde.
Auch die Katholische junge Gemeinde (KjG) führte ihre im Jahr 2021 begonnene Auseinandersetzung um eine Bezeichnung von Gott fort, die jungen Menschen einen Zugang erleichtert bzw. ermöglicht 5. Ziel der KjG ist es, „jungen Menschen brauchbare Impulse für die Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben und die persönliche Entwicklung eines lebensbejahenden Gottes+bildes an[zu]bieten.“ Zuletzt hat der Bundesverband eine Methodensammlung veröffentlicht, die junge Menschen bestärken soll, über Gott in ihrer je individuellen Prägung zu sprechen. Die Sammlung unterstützt dabei, ein für junge Menschen passendes Gottesbild zu entwickeln. Damit ist klar: Es ging im bisherigen Prozess um mehr als die korrekte orthographische Schreibweise Gottes – auch wenn diese medial besonders adressiert wurde.
Vielfalt Gottes – eine Anfrage an die liturgische Sprache
In unserer liturgischen Praxis, in spirituellen Impulsen und Gottesdiensten, ist die Sensibilität für eine Vielfalt von Gottesbildern und -attributionen spürbar gewachsen. Werden hier vielfältige Gottesbilder sensibel verwendet, dann wird das in der Regel positiv wahrgenommen. Junge Menschen hinterfragen hierdurch ihren eigenen Gottesglauben und blicken verändert auf sich selbst. Dabei zeigt sich als Herausforderung für die Zukunft, dass viele vorformulierte liturgische Texte in einseitig-männlichen Sprachbildern verfasst sind. Schmerzlich bewusst wurde die beinahe monopolisierte Herr-Anrede. Sie stellt einen Verlust der biblischen Vielfalt – z.B. Burg in Zeiten der Not (Ps 9,9), Bärin (Hos 13,8), Gebärende (Jes 42,14), Mutter (Jes 66,13), Licht (1 Joh 1,5), Fels meiner Befreiung (2 Sam 22,47), Richter*in (Ps 7,12) – dar. Besondere Herausforderungen sind auch im Sprechen des Kreuzzeichens und des Vater Unser erkennbar geworden. Dem weiten Entwicklungsfeld vielfältiger Gottesrede in spirituellen Impulsen und Gottesdiensten widmet sich daher im September 2023 ein Fachtag für Geistliche Verbandsleitungen im BDKJ.
Mensch. Vielfalt. Zukunft. Gott.
Es gehört zu den zentralen Aufgaben jugendpastoralen Engagements, Menschen in ihrer Identitätsentwicklung lebensförderlich zu begleiten. Die Jugendverbände im BDKJ sind dieser Aufgabe verpflichtet, indem hier der christliche Glaube lebensweltbezogen, partizipativ und selbstbestimmt gelebt wird.
Die Jugendverbände im BDKJ stellen sich daher der Aufgabe, jungen Menschen eine lebendige Gottesbeziehung zu ermöglichen, in der sich niemand zurückgewiesen oder minderwertig fühlt.
Es stellt ein Problem dar, wenn das kirchliche Sprechen von Gott nicht mit den vielfältigen Lebenswelten junger Menschen und ihren persönlichen Erfahrungswelten korreliert. Belassen wir es dabei, verspielen wir die Möglichkeit, dass junge Menschen eine lebensdienliche Erfahrung von/mit Gott erleben; sie haben dann nicht die Möglichkeit, ihre Leben in der Geistkraft Jesu zu deuten. Die Jugendverbände im BDKJ stellen sich daher der Aufgabe, jungen Menschen eine lebendige Gottesbeziehung zu ermöglichen, in der sich niemand zurückgewiesen oder minderwertig fühlt. Dafür braucht es aber vielfältige begriffliche Zugänge und cis-männlich-freie Bilder von Gott. Die Bibel ist hierzu eine wichtige Quelle. Eine solche Vielfalt ist die Basis für eine lebendige Kirchenzukunft – auf der Basis der Erfahrung mit Gott: da ist jemand und ist immer für mich da ist (Ex 3,14).
Praxis
Gott* wohnt nicht im Tabernakel. Gott*suche in Worten und Gesten von Leutetheolog*innen
Wir sitzen in einem Café, die B27 rauscht neben uns, wir träumen sie weg und malen uns einen Park über die vierspurige Stadtautobahn. „Ich habe gestern einen Text geschrieben“, platzt es aus Alessa heraus. Der Text, den sie mir vorliest, und das daran anschließende Gespräch zur jeweils eigenen Gott*suche bzw. zur Heimatlosigkeit in spirituellen und Glaubensthemen bieten wichtige Hinweise für das Anliegen dieser futur2-Ausgabe.
Gott* wohnt nicht im Tabernakel
Suche eine neue Wohnung. Hell soll sie sein, viel Sonnenschein soll es darin geben. Menschen sollen sich darin zuhause fühlen. Es gibt Hausschuhe in allen Größen. Die Wohnung sollte außerdem barrierefrei sein und einen kleinen Garten dabei haben.
Wünschenswert ist eine Solaranlage auf dem Dach und eine Wärmepumpe. Parkplatz brauche ich keinen. Aber eine Abstellmöglichkeit für Ebikes und eine gute Anbindung an den ÖPNV. Danke fürs Suchen-Helfen!
Gott*
Wie und wo über Gott* bzw. Transzendenzerfahrungen sprechen?
Der Text bietet nicht nur einen Einblick in die Gott*suche der Autorin, sondern auch in ihre eigene Leutetheologie. Mit Leutetheologien bezeichne ich die persönlichen Theologien eines/einer jede*n, der/die sich Gedanken über Gott*, Sinn, Religion etc. gemacht und diese reflektiert hat (vgl. weiterführend Kling-Witzenhausen 2020).
Leutetheolog*innen erscheint dann vor allem das als sinnvoll bzw. relevant, wenn es resoniert mit den eigenen Themen und Antwortversuchen auf die persönlichen Lebens- und Glaubensfragen.
Leutetheolog*innen erscheint dann vor allem das als sinnvoll bzw. relevant, wenn es resoniert mit den eigenen Themen und Antwortversuchen auf die persönlichen Lebens- und Glaubensfragen. Auf Seiten der Amtskirchen oder der pastoralen Praktiker*innen stellt sich hier hingegen ein Relevanzverlust ein – man nehme nur die sinkenden Teilnehmerzahlen oder das Wegbleiben bei kirchlichen Angeboten zur Kenntnis oder die Tatsache, dass Kirche bei gesellschaftlich-relevanten Fragestellungen weitestgehend nicht (mehr) als adäquater Gesprächspartner gilt.
Resonanzumkehr
Anstatt aus diesem Relevanzverlust gekränkt hervorzugehen, könnte eine Resonanzumkehr eine neue Sichtweise bieten: Nicht die Leute sollen Resonanz finden bei „uns“, sondern hier wollen wir/ will Kirche in all ihren Facetten von der Welt her lernen (vgl. Gaudium et spes, 44).
Diese Umkehr zeigt sich dann auch in einem Wechsel von einer Theologie im Modus der Verkündigung hin zu einem Modus des Zuhörens bzw. Hinschauens und der gemeinsamen Gottsuche. Gerade im ereignishaften Aufblitzen Gottes und der gemeinsamen Suche, wie sich das Ereignen Gottes einordnen und zumindest fragmentarisch fassbar machen lässt, liegt nicht nur der Clou der oben beschriebenen Begegnung, sondern von Gotteserfahrung allgemein. Hier finde ich die Arbeiten von Michael Schüßler und seine Einsichten zum Ereignisdispositiv und der Wende vom Dispositiv der Ewigkeit über das Dispositiv der Geschichte hin zum Ereignis augenöffnend – auch im oben genannten Text wird Gott* nicht als ewiger Gott in den ehrfurchtgebietenden gotischen Kathedralen oder im Kontext der aktiven Gemeinschaft einer Gemeinde beschrieben, sondern als heimatloser Gott*.
Anstatt aus diesem Relevanzverlust gekränkt hervorzugehen, könnte eine Resonanzumkehr eine neue Sichtweise bieten: Nicht die Leute sollen Resonanz finden bei „uns“, sondern hier wollen wir/ will Kirche in all ihren Facetten von der Welt her lernen.
Diese Suchbewegung drückt sich auch sprachlich bei Leutetheolog*innen aus und findet ihren Niederschlag in den sogenannten Grammatiken einer suchenden Gottesrede, die auch Zögern, Stottern und Satzfragmente zulässt. Gleichzeitig macht der Blick auf Leutetheologien deutlich, dass die Reduktion auf Grammatiken oder Sprache an sich bei der Gott*suche bzw. Gott*rede nicht ausreicht, sondern hier auch Emotionen, Gesten, ja Praktiken an sich unerlässliche Bestandteile sind.
Reziprokes Empowerment als Schlüssel
Was bedeutet dies nun für ein Miteinander, welches nicht in paternalistischem oder maternalistischem „Helfen“ des*der einzelnen Leutetheolog*innen von Seiten der akademischen Theolog*innen und Praktiker*innen mündet? In Anlehnung an die performative Wende könnten hier die Kunst, das Theater etc. gute Lernorte darstellen, wo die Grenze zwischen Bühne und Publikum aufgebrochen und somit aufgehoben wird (vgl. auch die Forschungsarbeiten von Christian Kern und den Beitrag in dieser Ausgabe). Für die hier vorliegende theologische Fragestellung ist ein reziprokes Empowerment anzuzielen – indem beide Gesprächspartner*innen von- und miteinander lernen können und gegenseitig befähigt werden. Diese Art der Präsenz bedeutet gleichfalls auch ein Sich Aussetzen, Erproben, um Worte Ringen, bei dem man sich weder hinter der Kanzel oder dem Schreibtisch noch hinter dem vorab formulierten geistlichen Impuls verstecken könnte. Entsprechend entwickelt sich hier theologisches Handeln und somit auch theologisches Forschen weiter zu einer öffentlichen Theologie (doing public theology), welche ihren Ausgangspunkt in „situativ-explorativen Theologien“ hat: „Bei ihnen besteht zunächst keine Apriori-Ausrichtung an institutionalisierte Themen, Formen und Funktionen, die man übernehmen oder übersetzen müsste. Sie haben, wenigstens anfänglich, etwas Unbestimmt-Offenes.“ (Kern 2021)
Theologien als Werkzeug zur Lebensbefähigung?
Aus kirchenentwicklerischer Perspektive müsste eine Suche nach Schnittstellen und Berührungspunkte zu den Leutetheologien folgen: Wo ereignen sich Bewährungsmomente der Leutetheologien bzw. Theologien allgemein? Wo kommt der Lebensglaube zum Tragen? Und überhaupt: In welchen Situationen ist es nicht peinlich, über Gott zu sprechen? Hier sind theologische Spürnasen gefragt – gerade wenn ritualisierte Formen wegfallen und geprägte Bilder etc. nicht mehr tragen. Dabei gilt wie so oft, wenn es um Teilhabe geht – „Nicht ohne uns über uns“ (vgl. Rath 2022) – Kreativitätspotential inklusive!
Praxis
Irgendwie ein wenig schizophren
Motivlagen und Strategien kirchlich Hochengagierter auf dem Kipp-Punkt
Eine Frau im liturgischen Gewand verteilt Blumen an alte Menschen, die sich sichtlich darüber freuen. So beginnt ein aktueller Kurzfilm von und über Gemeindereferent*innen. Die Seelsorgerin sagt: „Also ich arbeite sehr gerne mit Menschen. Ich mag Menschen und ich arbeite überwiegend mit Demenzkranken, mit alten Menschen und das ist für mich einfach eine ganz wunderbare Arbeit. Wenn man Menschen treffen kann, wenn man ihnen begegnen kann und ihnen auch was schenken kann, und es kommt so viel zurück.“ So beginnt der Film und dieser Grundtenor bleibt durchgehend bei allen Gemeindereferent*innen, die sich in ihm zu Wort melden. Auf meine Nachfrage schreibt mir eine der Kolleginnen, die an dem Projekt mitgewirkt hat: „Ja, unser Film ist sehr positiv. Hauptsächlich deshalb, weil er ja anlässlich unseres 100-Jahre-Jubiläums entstanden ist. Wir wollten damit uns selber feiern, und beim Feiern lässt man ja alles “Aber” weg. Wir wollten zeigen, wie interessant, vielfältig und wertvoll unser Beruf ist. … Ich habe inzwischen mitbekommen, dass es in unserer Berufsgruppe ein positives Echo auf unseren Film gibt. Anscheinend wird der kritische Blick auf die vorhandenen Probleme nicht vermisst. Ich denke mal, wir haben die Schnauze voll davon, uns immer nur mit Missständen zu beschäftigen (und der Öffentlichkeit immer nur ein problemzentriertes Bild der Kirche zu präsentieren), sondern freuen uns, wenn in diesem Film wieder das Eigentliche, das Sinnstiftende, in den Mittelpunkt gerückt wird.“
Die Kollegin, wie auch die vielen, denen der Film gefällt, bestreiten nicht, dass es Missstände gibt. Sie nehmen sie wahr als etwas, das den Blick auf das Wesentliche behindert und sie entscheiden sich dafür, sie zu ignorieren – zumindest im Rahmen dieses Filmprojekts. Sie stellen das Positive des seelsorgerlichen Berufs vor und dies anhand von Beispielen, bei denen es immer um Begegnung mit und Begleitung von Menschen geht. Solange dies geschieht in der Kirche, so verstehe ich die Aussagen des Films, solange bleibt Kirche relevant, und zwar unabhängig von Skandalen, Mitgliederschwund oder welchen innerkirchlichen Problemen auch immer.
Diese und viele andere hoch engagierte Personen in der katholischen Kirche wissen um Vieles, was in der Kirche kaum noch zu ertragen ist und sie benennen es auch.
Diese und viele andere hoch engagierte Personen in der katholischen Kirche wissen um Vieles, was in der Kirche kaum noch zu ertragen ist und sie benennen es auch. Besonders häufig ist dabei die Rede von „Machtmissbrauch“. Nachdem wir uns im Gemeindereferent*innen-Bundesverband längere Zeit mit diesem Thema auseinandergesetzt hatten, haben wir im Mai dieses Jahres entschieden, eine bundesweite Umfrage zu „Erfahrungen mit Machtmissbrauch im pastoralen Beruf“ unter Gemeinde- und Pastoralreferent*innen durchzuführen. Die Umfrage wurde von 936 Personen bearbeitet und die Ergebnisse füllen hunderte von Seiten. Wie sehr Kirche Schaden anrichtet und Leiden verursacht, das wissen diese Kolleg*innen – aus Beobachtung und eigener Erfahrung. Wie viele davon jedoch nicht nur an Mängel, die behoben werden müssten, denken, sondern darin Vorboten oder bereits Merkmale der Auflösung des Systems wahrnehmen, das ist schwer zu sagen. Befinden wir uns vor einem Kipppunkt, auf der Kippe oder sind wir schon im Absturz begriffen? Die ehrlichsten Aussagen dazu fallen in Gesprächen unter vier Augen oder in kleinen Gruppen, in denen man einander vertrauen kann. Ich kenne einige Hochengagierte, zum Teil auch in Sprecher*innenrollen für kirchliche Gruppen, die äußern im direkten Kontakt, dass das aktuelle System Kirche nicht reformierbar ist und beteiligen sich dennoch aktiv an Reformforderungen, -aktionen und -prozessen.
Viele Hochengagierte äußern im direkten Kontakt, dass das aktuelle System Kirche nicht reformierbar ist und beteiligen sich dennoch aktiv an Reformforderungen, -aktionen und -prozessen.
Bisweilen wirkt es fast schizophren. Mein Eindruck ist, dass die eigentliche Dramatik nicht ausreichend und schonungslos in den Blick genommen wird. Denn – was kippt denn da eigentlich? „Nur“ die Zahl der Mitglieder an sich, die Zahl der engagierten Mitglieder, der Respekt vor der Hierarchie, die Bereitschaft, ein Schaf zu sein? Kippen nicht auch die Lehre, die Glaubenspraxis und zunehmend der Glaube? Wer wagt denn die ergebnisoffene Frage zu stellen, ob und wie man heute überhaupt noch von Gott reden kann? Die Wahrnehmung und vor allem die Bewertung dessen, was derzeit geschieht, erfolgt unterschiedlich, divergierend und zum Teil diametral. Reformorientierte sehen Chancen in den Forderungen des Synodalen Wegs; ernüchterte Realist*innen bleiben, solange sie noch Handlungsoptionen im zugrunde gehenden System sehen; im christlich-katholischen Glauben tief Verwurzelte hoffen auf ein Wunder im Sinne einer neuen Gestalt der katholischen Kirche; Traditionalist*innen sehen die „wahre“ Kirche vom Zeitgeist bedroht; Katholikal-charismatische versuchen in Kooperation mit den Traditionalist*innen die „wahre“ Kirche zu sein; Christlich-ethisch Orientierte wünschen sich konfessions- und religionsunabhängige Kooperation mit allen, die sich für die Zukunft unseres Planeten stark machen.
Die meisten nehmen das Zerbröseln der Kirche wahr und wollen es gleichzeitig doch nicht in aller Konsequenz wahrhaben.
Bei denen, die ich nicht nur von außen beobachte, sondern mit denen ich persönlich in Kontakt bin, habe ich den Eindruck, dass die meisten das Zerbröseln der Kirche wahrnehmen und es gleichzeitig doch nicht in aller Konsequenz wahrhaben wollen. An persönlichen Strategien des Zurechtkommens mit dieser Situation erlebe ich u.a. folgende Haltungen und Vorgehensweisen:
- Ich kümmere mich um meinen Bereich und um die Menschen, mit denen ich alltäglich zu tun habe. Ich bin für sie Seelsorger*in, unterstütze sie ihn ihrer ehrenamtlichen Arbeit, wende mich aufmerksam dem zu, wo ich gebraucht werde – u.a. auch in Bezug auf gesellschaftlich-caritative Situationen
- Ich suche mir meine Nische – in der Gemeindearbeit selbst oder auch in der Kategorie, in Ämtern oder als Referent*in, Berater*in u.ä.
- Ich wage pastoralen Ungehorsam (Beispiel: Spendung der Krankensalbung)
- Ich halte durch bis zur Rente und trete dann aus der Kirche aus
- Ich arbeite an meinem persönlichen Plan B – durch ein Zweitstudium, eine Zusatzqualifikation, durch Netzwerken mit dem Ziel, außerhalb von Kirche einen Arbeitsplatz zu finden
- Ich werde krank (Nicht als geplante Strategie, aber rückblickend evtl. so wahrgenommen als einziger Ausweg, der noch blieb)
- Ich kündige
Was auf jeden Fall zunimmt, ist das Bedürfnis, den kirchlichen bzw. pastoralen Beruf zu verlassen. Deutlich häufiger als vor ein paar Jahren sagen vor allem jüngere Kolleg*innen offen, dass sie sich nicht vorstellen können, dauerhaft für die Kirche zu arbeiten.
Dass es zu einer Kirchenspaltung kommen wird, das sagen wenige. Viele benennen immer wieder, was es bräuchte, damit die Kirche in veränderter Form weiterbestehen kann. Aufgeführt werden da z.B. Elemente wie Entklerikalisierung, Geschlechtergerechtigkeit, professionelle Personalführung oder auch kritische Grenzziehung zu katholikalen Strömungen. Dass es dazu tatsächlich kommen wird, das glauben eher wenige. Manche befürchten ein Erstarken der traditionalistisch geprägten Kirche, und zwar vor allem durch evangelikal-katholische Strömungen wie z.B. die Jüngerschaftsschulen. Nachwuchs für pastorale Berufe gibt es aus diesen Kreisen nicht nur, was Priester anbelangt. Die Gegenbewegung dazu sind die, die sich als katholische Christ*innen oder auch ökumenisch (und im Übrigen problemlos unter Einbeziehung von aus der Kirche ausgetretenen Personen) zusammentun und miteinander ihr Christsein leben: in vielfältigen liturgischen Feiern, im Erleben von Gemeinschaft und in sozial-caritativem Tun. Der Übergang ist schon im Gange.
Was auf jeden Fall zunimmt, ist das Bedürfnis, den kirchlichen bzw. pastoralen Beruf zu verlassen.
Die Frage, ob und ggf. wie dieser Übergang konstruktiv gestaltet werden könnte, ist meinem Eindruck nach wenig im Gespräch. Das Interesse an und die Hoffnung auf Kirchenentwicklungsprozesse hat stark nachgelassen. Man hört sich mal den einen oder anderen Vortrag an, liest möglicherweise mal wieder ein Buch, findet die eine oder andere Idee ganz interessant. Aber das war es dann auch.
Das Bild von Kirche, das in Deutschland und weltweit als das zukunftsträchtige vorgestellt wird, ist das der synodalen Kirche. Ich habe nicht den Eindruck, dass es die Engagierten, mit denen ich zu tun habe, so wirklich vom Hocker reißt. Manche setzen ihre Hoffnung in dieses Modell und merken im Erleben der praktischen Ausgestaltung, wie wenig letztlich möglich ist, z.B. was die Mitbestimmung bei Bischofsernennungen anbelangt. Synodal klingt sehr nach „schön, dass wir mal wieder geredet haben“. Nach Demokratie und selbstbestimmten Christsein klingt es eher nicht. Ich nehme kein Szenario oder Zukunftsbild von Kirche wahr, das echte Energien freisetzt. Das Kirchenbild des 19. Jhd., das die Rückwärtsgewandten propagieren, wirkt abschreckend. Die synodale Kirche andererseits wirkt nicht wirklich faszinierend, sondern wird eher wahrgenommen als: „Ist ok, kann man probieren.“ Vielleicht findet man die treffendsten Kirchenbilder in Karikaturen, wie z.B. bei Thomas Plaßmann. Sie ermöglichen ein Schmunzeln, ein Wiedererkennen dessen, worunter man leidet und die Chance, durch Humor einen inneren Abstand zum Trauerspiel zu finden.
Und dann bleibt man halt noch eine Weile, solange man es erträgt und das Gefühl hat, noch etwas Positives bewirken zu können.
Praxis
Aufhören, um neu anzufangen
Der Letzte macht das Licht aus
„Der Letzte macht das Licht aus“ – mit diesem Titel haben einige Seelsorger:innen und ich in den letzten Jahren das Gespräch mit den Haupt- und Ehrenamtlichen in den Pfarreien gesucht und geführt. Ziel war es, die Betroffenen hinzuweisen auf die anstehenden Veränderungen in der Personalbesetzung und der finanziellen Lagen in den Pfarreien und Seelsorgeeinheiten. Denn die Angst war und ist da, dass es in den Seelsorgeeinheiten bald kein kirchliches Leben mehr gibt.
Nun wurde dieses Motto rascher Realität und anders als gedacht. Zwar haben aktuell nicht die Letzten das Licht ausgemacht, wohl aber die Vorvorvorletzten. Denn aus Kostengründen wurden und werden seit Herbst 2022 viele Domkirchen, aber auch kleine Dorfkirchen nachts nicht mehr angestrahlt. Damit werden sie in den Städten und Dörfern unsichtbar. Auch das ist für mich ein Zeichen dafür, dass die Kirche aus der Mitte der Gesellschaft, aus der Mitte des Dorfes verschwindet! Kein Kirchturm mehr, der Orientierung gibt? Kein Licht, dass im Dunkeln die Mystik des Göttlichen aufstrahlen lässt?
Was hier Symbolwert hat, ist in der Realität längst angekommen: Die Kirche in ihrer aktuellen Sozialform ist in Auflösung begriffen.
Was hier Symbolwert hat, ist in der Realität längst angekommen: Die Kirche in ihrer aktuellen Sozialform ist in Auflösung begriffen. Und ich denke, es gibt da kein Zurück mehr. Viele Menschen, die sich noch zur Kirche zählen und denen zumindest punktuell die Kirche wichtig ist, wünschen sich eine Veränderung. Annette Zoch merkt in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung nach dem Ad-limina-Besuch der deutschen Bischöfe richtig an, dass die Gläubigen in Deutschland keine Geduld mehr haben mit der festgefahrenen römischen Leitung der katholischen Kirche.1 Die Gläubigen, die noch bereit sind, sich zu engagieren oder sich Gedanken über die Zukunft der Kirche zu machen, drängen auf Veränderung der Glaubens- und Sittenlehre und der Machtstrukturen. Kurz gesagt: Sie wollen endlich, dass das Kirchenbild des II. Vatikanischen Konzils umgesetzt wird, und auf den Glaubenssinn der Gläubigen gehört wird.
Und diese Veränderung geht nur über die Auflösung der alten Strukturen und Denkweisen.
Und diese Veränderung geht nur über die Auflösung der alten Strukturen und Denkweisen. Ob dieser Transformationsprozess in Kontinuität mit der bisherigen Sozialform möglich ist, oder ob es einen Bruch und einen Neuanfang bracht, ist noch nicht ausgemacht. Es bleibt spannend.
Wer ist denn überhaupt noch da?
Als ich dieses Jahr in einer Pfarrei zur Aushilfe war und dort dem traditionellen Totengedenken mit Gräbersegnung vorgestanden bin, hat eine jüngere Ministrantin zu mir gesagt: „Heute war die Kirche aber schön voll. Das letzte Mal als ich ministriert habe, waren nur vier Leute da“. Da stellt sich natürlich die Frage: Wer ist denn überhaupt noch da in den Pfarreien, wer feiert denn noch die Gottesdienste mit?
Christiane Bundschuh-Schramm geht „im Wesentlichen von drei Mitgliedschaftstypen aus, den sogenannten Kasualfrommen, den regelmäßig Praktizierenden und den Spirituellen Wanderern“.2 Die Kasualfrommen nutzen die Angebote der Kirchen an den Lebenswenden oder zu bestimmten (Krisen-)Zeiten, die Praktizierenden sind die, die in den Gemeinden regelmäßig mitfeiern und da sind, jedoch wählt diese Gruppe immer mehr auch die Angebote aus, die für sie subjektiv ansprechend sind. Die Spirituellen Wanderer wählen sehr gezielt aus allen spirituellen Angeboten, auch außerhalb der Kirchen, aus und vertrauen auf ihre innere Fähigkeit, für sich das richtige zu finden.3
„Heute war die Kirche aber schön voll.”
Der Religionssoziologe Michael Ebertz hat in einer aktuellen Studie erhoben, dass die Christen in Deutschland sich unterschiedlich stark an ihre Kirche gebunden fühlen. Er unterscheidet „von einer ganz engen Bindung über eine kritische Bindung bis hin zu einer Mitgliedschaft lediglich auf dem Papier“. In konkreten Zahlen: „15% der Kirchenmitglieder fühlen sich eng angebunden, 45% kritisch und 40% „haben keine positiven Gefühle der Kirche gegenüber, gehören ihr aber faktisch an“.4
Mit Blick auf diese Erhebungen und Zusammenfassungen lässt sich leicht erahnen, dass es um die Kirchenbindung nicht besonders gut bestellt ist. Die Bindung an die Kirche allgemein, aber auch an die konkrete Kirche vor Ort, ist stark am Abnehmen, und dies relativ rasant. Ein kleiner Kern von Gläubigen und Praktizierenden hält das Gemeindeleben am Leben, doch auch dieser Kern, der vor allem aus älteren Menschen besteht, ist im Schwinden begriffen. „Die Kirche als einen Ort der Gemeinschaft zu erleben, wo man sich aufgehoben fühlt und dem Glauben emotional Ausdruck verleihen kann – das ist eigentlich nur noch bei älteren Menschen so“ resümiert Michael Ebertz (5).5
Ein kleiner Kern von Gläubigen und Praktizierenden hält das Gemeindeleben am Leben, doch auch dieser Kern, der vor allem aus älteren Menschen besteht, ist im Schwinden begriffen.
Dies alles, so man es wahrnehmen will, ist ein deutliches Zeichen für die Auflösung der bisher bekannten und tradierten Sozialgestalt von Kirche. Und umso unverständlicher ist es, dass sowohl Verantwortliche in der Hierarchie der Kirche, aber auch in jedem noch so kleinem Kirch-Ort, gar nicht so genau hinschauen wollen, was sich da vor ihren Augen abspielt. Denn es schmerzt, da ja die Communio, die Gemeinschaftsbildung, die Weggemeinschaft6 konstitutiv zu einer christlichen Kirche gehört. Denn: „Entscheidend ist also in jeder menschlichen Gemeinschaft … das innere Band, das die Gemeinschaft zusammenhält“.7
Diese soziologische Sicht, die auch Bernd Joas deutlich hervorhebt,8 steht als Mahnung im Raum. Jedoch, so glaube ich, ist diese kirchliche Gemeinschaft schon seit längerer Zeit mehr Wunschdenken als Realität. Die real oder gefühlt in den letzten Jahrzehnten noch hin und wieder gefüllten Kirchen und Pfarrheime haben viele darüber hinweggetäuscht, dass es diese kirchliche Gemeinschaft nur mehr rudimentär gibt oder sie sich schon aufgelöst hat. Oder aber abgelöst wurde von einem kulturkämpferischen Traditionalismus, im Sinne des „mia san mia“, in der sich politische Verantwortliche, die sonst selten eine Kirche von innen sehen, beim Bischof melden und fordern, dass selbst im kleinsten Dorf am Sonntag eine Messe stattzufinden hat. Denn das sei wichtig für den Zusammenhalt im Dorf.
Und umso unverständlicher ist es, dass sowohl Verantwortliche in der Hierarchie der Kirche, aber auch in jedem noch so kleinem Kirch-Ort, gar nicht so genau hinschauen wollen, was sich da vor ihren Augen abspielt.
Und die hauptamtlichen Seelsorger:innen?
Die persönliche Beziehung der pastoralen Mitarbeiter:innen zu den Pfarreimitgliedern ist sehr unterschiedlich. Zu einem Teil der Menschen, v.a. zu den regelmäßigen Kirchgängern und den Engagierten in den Gremien und Gruppen, ist der Kontakt eher intensiv und persönlich. Das sind aber in der Regel nicht mehr als 10 bis maximal 20 Prozent der Katholiken einer Seelsorgeeinheit. Mit der überwiegenden Mehrheit der Katholiken kommt es zu einer punktuellen Berührung und einem kurzen Kontakt anlässlich von Sakramenten und Kasualien. Diese, wenn auch punktuellen Begegnungen, sind als Kairos für die Verkündung des Evangeliums zu nutzen.
Aufgrund einiger wissenschaftlichen Studien in den letzten Jahren, bei denen in ganz Deutschland Priester, Diakone und hauptamtliche pastorale Mitarbeiter:innen befragt wurden, kann die Situation der Befragten nun erstmals sehr detailliert und fundiert beschrieben werden. Die Überlegungen zu den Konsequenzen aus der deutschen Seelsorgestudie, die von Baumann u.a. unter dem Titel „Zwischen Spirit und Stress“ die im Frühjahr 2015 veröffentlicht wurden,9 müssen in den kommenden Jahren noch intensiver diskutiert werden, um daraus Handlungsoptionen abzuleiten. Zudem haben sich die gesellschaftlichen und kirchenpolitischen Rahmenbedingungen innerhalb der letzten zwei Jahre, aufgrund der veröffentlichten Missbrauchsgutachten, der Konflikte in manchen Diözesen und der Pandemie massiv verändert.
Vor allem das Priesterbild und auch die priesterliche Existenz sind dadurch in eine Krise geraten.
Vor allem das Priesterbild und auch die priesterliche Existenz sind dadurch in eine Krise geraten. Teilweise durch mangelnde Wertschätzung der Gesellschaft, aber auch durch kritische Anfragen durch das Volk Gottes selbst: wegen ihrer zölibatären Lebensform, wegen aktuellen Skandalen in der Kirche oder einer zugeschriebenen Haltung zu einer nicht mehr verständlichen Sexualmoral. Zudem ist auch die Leitungsfunktion eines Priesters/Pfarrers einem Wandel unterworfen. Mit immer größer werdenden Seelsorgeeinheiten, aufgrund des Priestermangels, und aufgrund staatlicher Vorgaben in Finanz- und Verwaltungsfragen müssen Priester immer mehr Managementaufgaben an Verwaltungsleitungen abgeben. Damit bleibt dem Priester zwar wieder mehr Zeit für die Seelsorge, jedoch muss diese neue Rolle erst noch aktiv angenommen und mit Leben gefüllt werden. „Denn noch gibt es wenige attraktive Formen erprobter Partizipation und gemeinschaftlichen Lebens und Handelns von Priestern und Gläubigen in der Seelsorge“.10
„Die vielen engagierten Priester, die trotz andauernder Missbrauchskrise und zähem Fortschritt kirchlicher Reformen mit Herzblut ihren Dienst tun und der Kirche ein menschenfreundliches Gesicht geben, können am negativen Image offenbar nur wenig ändern. Für viele wird die Situation zur Belastung. Wo soll sich ein Priester im säkularen Umfeld verorten zwischen seinen Rollen als Kultdiener und Seelsorger, Sozialarbeiter und Verwalter?“.11
„Koppelung von Sakramentalität und Macht (ist) heute für die Existenz des katholischen Amtspriestertums offenkundig zum Problem geworden“
Der Pastoraltheologe Rainer Bucher bringt es so auf den Punkt: Die „Koppelung von Sakramentalität und Macht (ist) heute für die Existenz des katholischen Amtspriestertums offenkundig zum Problem geworden“.12
Deutlich sichtbar wurde dies meines Erachtens beim „Synodalen Weg“. Dort wurde provokant die Frage aufgeworfen, ob es denn überhaupt noch Priester brauche. Rasch wurde dann – dogmatisch sauber – nachgeschoben, dass es ja bei der Frage nicht grundsätzlich um die Frage des Priesteramts gegangen sei, sondern um die Frage, welche Art von Priestern das Volk Gottes im 21. Jahrhundert benötigt. Also: auch das Priesterbild in seiner bisherigen Form ist in Auflösung begriffen. Und mit ihm natürlich auch die Bilder von Diakonen, Pastoral- und Gemeindereferenten, deren Proprium sich vielfach ja nur in Abgrenzung zur Vollmacht von Bischof und Priester sich ableitet.
Eine territorial strukturierte Kirche, wie es nun mal die katholische ist, tut sich schwer mit Sozialraum-Pastoral, mit innovativen Ideen, mit kategorialen Diensten, mit Multiprofessionalität. Und mit ihr natürlich auch deren Mitarbeiter:innen. Viele der in der Pastoral hauptberuflich Tätigen gehören nicht mehr zu den Jüngsten und tragen ihre Kirchenbilder aus der eigenen Jugendarbeit und aus Studienzeiten in sich. Wandel, Abschied, Auflösung sind Begriffe, die nicht gerne angegangen werden, da sie meist auch zu Widerständen bei den Ehrenamtlichen führen.
Wie geht eine Kirche in Auflösung?
Und natürlich hinterfragen diese Begriffe auch die Person selbst: War denn alles, was ich in den Pfarreien geleistet habe, umsonst? Habe ich mehr Leute aus der Kirche vertrieben als für die Kirche gewonnen? Wie geht eine Kirche in Auflösung? Macht es noch Sinn, die letzten Jahre meines Berufslebens mich nochmals neu auszurichten?
Viele pastorale Mitarbeiter:innen schwanken meines Erachtens zwischen einem „die Zeiten werden sich schon wieder zu unseren Gunsten ändern“ und dem Wunsch nach einem möglichst raschen Zusammenbruch der aktuellen Sozialform von Kirche in Deutschland. Und natürlich gibt es zwischen diesen beiden Polen alle möglichen Schattierungen von Handlungsmustern und Gedankenspielen. Und damit sind die pastoral Tätigen ein Spiegelbild der Haltungen auch aller anderen Kirchenmitglieder.
Gefangene des Kirchenrechts
Seit Jahrzehnten findet bereits eine Entfremdung zwischen dem gläubigen Volk und den Amtsträgern statt. Da ist auf der einen Seite die Kirche, die Amtskirche, und auf der anderen Seite, da bin ich. Mit dieser Haltung distanziert und suspendiert sich der gläubige Mensch von den Entscheidungen der Kirchenhierarchie. Denn vieles, was Dogmatik und Morallehre der Kirche betrifft, deckt sich nicht mehr mit der Lebenswirklichkeit der Menschen. Mehr noch, manche kirchlichen Aussagen werden als verletzend, diskriminierend, isolierend wahrgenommen.
Denn vieles, was Dogmatik und Morallehre der Kirche betrifft, deckt sich nicht mehr mit der Lebenswirklichkeit der Menschen.
Doch eine Änderung in diesen doch für die westliche Welt drängenden Fragen, auch wenn nur in kleinen Schritten, ist nicht in Sicht. Das hat deutlich auch der Ad-limina-Besuch der deutschen Bischöfe in Rom vom 14.bis zum 19. November 2022 gezeigt. Rom hat die roten Linien aufgezeigt bei Fragen der Frauenordination, bei Fragen zum Zölibat, bei Änderungen der Sexuallehre, bei Fragen zur kirchlichen Anthropologie. Letztlich, so würde ich es bezeichnen, sind wir Gefangene des Kirchenrechts.
In diesem 1983 von Papst Johannes Paul II. erlassenen Kirchengesetzt ist viel festgeschrieben, was in den kirchlichen Diskussionen in Deutschland aktuell zur Debatte steht. Aber kein Synodaler Weg, auch keine Bischofskonferenz kann das Kirchenrecht ändern. Darauf weist der Kirchenrechtler Norbert Lüdecke deutlich hin.13 Er findet es zudem unverständlich, dass sich immer wieder Katholik:innen in den Gremien und Verbänden finden, die sich auf zeitintensive Diskussionen wie den Synodalen Weg einlassen. Denn, so sein Resümee: Egal, was hier mit Mehrheit beschlossen wird – entschieden darüber wird im Vatikan, letztlich durch den Papst.
Egal, was hier mit Mehrheit beschlossen wird – entschieden darüber wird im Vatikan, letztlich durch den Papst.
Von daher möchte man mit Cassian rufen: „Fliehe des Bischofs und der Frauen“.14 Cassian hatte hier natürlich den Mönch in Blick und möchte ihn vor den Versuchungen der Macht, des Eingebundenseins in eine Hierarchie und der Sexualität warnen. Jedoch passt dieser Satz auch in unsere Situation. Dem Bischof „fliehen“ – das machen zurzeit viele Kirchensteuerzahler, aber auch gläubige Katholiken. Den Frauen „fliehen“ haben dagegen die Bischöfe und die Kurie mit dem Papst in Rom über Jahrhunderte gemacht und machen es immer noch. Das Ergebnis sehen wir gerade in den Debatten über Zugänge von Frauen zu allen Ämtern und Funktionen in der Kirche.
Die Unselbständigkeit der Teilkirchen, die nach wie vor zentralistisch geleitete Kirchenmonarchie trägt hier in Deutschland ebenfalls zur Auflösung bei. Wenn man das Gefühl gewinnt, dass noch so viele Debatten, Synoden, Synodale Wege und Gesprächsprozesse keine wirklichen Veränderungen bringen, dann wird auch der letzte gutgesinnte Katholik mürbe und verabschiedet sich oder es bleibt „beim Dauerbejammern einer Kirche, auf die man heilsängstlich nicht verzichten kann“.15
Und nun?
Harald Welzer hat ein Buch mit dem Titel „Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens“ geschrieben.16 Es ist autobiografisch gefärbt. Der Autor reflektiert darin nach einer schweren Erkrankung seine Entscheidung, mit manchen Dingen aufzuhören, damit Neues entstehen kann. Dieses „Aufhören“ im Kleinen wie im Großen der Welt legt er auch seinen Leser:innen nahe.
Ich glaube, genau dieses „Aufhören“ vom Gewohnten ist die größte Herausforderung unserer Kirche und aller seiner Glieder. Und es ist das, was die wenigsten können und wollen.
Der ehemalige Generalvikar der Erzdiözese München und Freising, Peter Beer, hat den Impuls von Harald Welzer aufgegriffen und empfiehlt seinerseits „unserer Gesellschaft eine Kultur des Aufhörens. Und ich glaube, das fehlt auch in unserer Kirche. Es fehlt das entspannte Aufhören mit etwas, das vielleicht früher mal gepasst hat, aber jetzt seine Funktion, seine Bedeutung und Wichtigkeit verloren hat. Wer mit etwas aufhören kann, der muss auch keinen Mangel verwalten. Wer aufhören kann, der kann auch mit etwas anderem neu beginnen“.17
Ich glaube, genau dieses „Aufhören“ vom Gewohnten ist die größte Herausforderung unserer Kirche und aller seiner Glieder. Und es ist das, was die wenigsten können und wollen. Denn der Blick zurück gibt Sicherheit, der Blick nach vorne ist ein Wagnis. Und dann noch die Frage: Was füllt den Raum, der durch das Aufhören von etwas sichtbar wurde? Es gibt daher nicht viele, die einem der 12 Merksätze, die Harald Welzer zusammenfassend formuliert hat, wirklich glauben: „Aufhören sichert das Erreichte. Weitermachen banalisiert es“.18
Von daher nehme ich im Verhalten von vielen Haupt- wie Ehrenamtlichen vor allem eine Verunsicherung wahr und ein konsequentes Festhalten am Überkommenen. Sie wollen retten, was zu retten ist, damit alles so bleibt wie bisher, auch wenn die Mitfeiernden und Teilnehmen von Monat zu Monat abnehmen. Zwar gibt es die kleinen und großen Aufbrüche innerhalb der bisherigen Seelsorgeeinheiten und Kategorien, es wird mal etwas Neues versucht, aber das Alte wird weitergeführt, vielleicht im Umfang reduziert, aber nicht beendet.
Diese Gruppen werden für sich das umsetzen und leben, was sie für sich brauchen. Sie werden sich in Selbstermächtigung ihre Rituale, Liturgien und die Regeln für das Zusammenleben geben
Und daneben wachsen kleine Gruppen von Christen, die sich Jesu Wort verschrieben haben: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich unter ihnen“ (Mt 18,20). Diese Gruppen werden für sich das umsetzen und leben, was sie für sich brauchen. Sie werden sich in Selbstermächtigung ihre Rituale, Liturgien und die Regeln für das Zusammenleben geben. Was diese Gruppen sicher nicht brauchen: ein Kirchenrecht, eine unverständliche Dogmatik, eine Morallehre jenseits aller Wissenschaft und evtl. brauchen sie auch keine Dienste und Ämter der verfassten Kirche. Und doch werden sie sich im Verbund mit anderen Gruppen und ggf. auch der Gemeinde vor Ort als Teil der katholischen Kirche verstehen wollen.
Und das mit dem Licht?
Es gibt eine ganz einfache biblische Antwort für die Zukunft der Kirche:
„Nicht mehr die Sonne wird dein Licht sein, um am Tage zu leuchten, / noch wird dir der Mond als heller Schein leuchten, sondern der HERR wird dir ein ewiges Licht sein / und dein Gott dein herrlicher Glanz. Deine Sonne geht nicht mehr unter / und dein Mond nimmt nicht mehr ab; denn der HERR ist dein ewiges Licht, / zu Ende sind die Tage deiner Trauer. Dein Volk besteht nur aus Gerechten; / sie werden für immer das Land besitzen, / Spross meiner Pflanzung, Werk meiner Hände / zum herrlichen Glanz. Der Kleinste wird zu einer Tausendschaft, / der Geringste zu einer starken Nation. Ich, der HERR, / zu seiner Zeit führe ich es schnell aus“ (Jes 60,19-22).
Praxis
Kirche in der Krise – geht auch das kirchliche Engagement den Bach runter?
Wahrnehmungen einer Organisationsberaterin
Annäherungen
Dass sich die jetzige Form von Kirche in einer massiven und tiefgreifenden Krise befindet, ist hinlänglich und schon seit langem bekannt. Spannend ist derzeit die Frage, ob sich die Institution Kirche selbst abschafft oder ob und wie sie noch zu retten ist.
In diesem Artikel soll der Frage nachgegangen werden, wie die bislang hoch engagierten freiwillig wie auch beruflich tätigen Personen in Kirche die sich abzeichnenden kirchlichen Entwicklungen wahrnehmen, sie bewerten und mit ihnen umgehen.
Als stellv. Leiterin der Beratungsdienste im Erzbistum Paderborn bin ich mit vielen Kolleg*innen im Gespräch, die hauptberuflich im Erzbistum Paderborn tätig sind, sei es in der erzbischöflichen Behörde im Bereich Pastoral, Personal oder Verwaltung, sei es in Einrichtungen oder Verbänden. Viele von ihnen sind auch ehrenamtlich in Gemeinden und pastoralen Räumen aktiv. Durch meine Tätigkeit als Organisationsberaterin begegne ich vielen hauptberuflich und freiwillig tätigen Menschen in Pastoralen Räumen. Darüber hinaus mache ich selbst Erfahrungen in Kirche als Ehrenamtliche im pastoralen Raum und in einem kirchlichen Sozialfachverband. Aus diesen Erfahrungen und Wahrnehmungen erwachsen die eher subjektiven Streiflichter zu den Fragestellungen dieses Artikels.
Wie nehmen die (bislang) hoch engagierten freiwillig wie beruflich tätigen Personen in Kirche die sich abzeichnenden kirchlichen Entwicklungen wahr? Wie bewerten sie diese?
In vielen Gesprächen zeigt sich durchgängig eine Aussage: „Es kann in und mit Kirche nicht so weitergehen wie bisher! Es muss sich endlich etwas ändern.“1
Bei genauerem Nachfragen ergeben sich verschiedene Aspekte, die zu dieser grundlegenden Aussage führen:
Die Veränderungen in der Gesellschaft führten zur Frage, welche Menschen den transzendenten Bezug, den Kirche herstellen will, überhaupt noch bräuchten und ob Kirche dann die Partnerin für die Erfüllung von möglicher spiritueller Sehnsucht sei. Vielen Menschen sei diese Welt genug, so dass Kirche mehr und mehr an Bedeutung verliere.
Die Institution Kirche kämpfe schon lange mit einem Glaubwürdigkeitsproblem. Die Sprache der Kirche sei nicht (mehr) die Sprache der Menschen. Die Sprache in Liturgie und Verkündigung erreiche die Menschen genauso wenig, wie die Sprache im kirchlichen Gesetzes- und Regelwerk. Dazu komme, dass die Botschaft Jesu Christi, die u.a. eine Botschaft von Liebe, Barmherzigkeit und Vergebung sei, für viele Menschen nicht im Agieren der Institution Kirche und mancher ihrer Vertreter*innen spürbar wäre. Botschaft und Taten deckten sich nicht.
Die schon länger bestehende Krise in der Kirche sei in den letzten Jahren durch die Veröffentlichung der MHG-Studie (Studie zum Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche in Deutschland) noch einmal massiv verschärft worden. Die jetzt nach und nach über Jahre veröffentlichten Ergebnisse der Missbrauchsstudien der einzelnen Bistümer würden immer wieder als Einschläge erlebt, die Menschen erschütterten. Die gefühlt „scheibchenweise“ Bekanntgabe von Ergebnissen und das Zögern bei der Aufklärungsarbeit schürten das Misstrauen gegenüber der Kirche als Institution enorm. „Jetzt ist es endlich genug!“ bzw. „Das ist nicht mehr meine Kirche!“ seien geläufige Reaktionen.
Insgesamt wird wahrgenommen, dass die in der Institution Kirche Verantwortlichen […] viel zu lange gezögert hätten, um zukunftsweisende Richtungen, wie z. B. die stärkere Beteiligung der Laien, insbesondere auch der Frauen, an Leitung oder das konsequente Zugehen auf Menschen, die sich von der Kirche entfernt haben, einzuschlagen.
Insgesamt wird wahrgenommen, dass die in der Institution Kirche Verantwortlichen (angefangen in Rom, über den eigenen Bischof und vielfach bis zu den Leitungen in den Pastoralen Räumen vor Ort und in den Bereichen der bischöflichen Behörde) viel zu lange gezögert hätten, um zukunftsweisende Richtungen, wie z. B. die stärkere Beteiligung der Laien, insbesondere auch der Frauen, an Leitung oder das konsequente Zugehen auf Menschen, die sich von der Kirche entfernt haben, einzuschlagen. Immer wieder würden Entscheidungen aufgeschoben, z.T. auch wieder zurückgenommen. Oftmals interpretieren die Menschen dieses Zögern und Zaudern der Leitungen in Kirche als Mittel, um die eigene Macht nicht teilen oder abgeben zu müssen.
Hauptberuflich wie freiwillig Engagierten konnten, trotz Kritik an der Institution Kirche und Nicht-Einverstanden-Sein mit kirchlichen Entscheidungen, lange für sich sagen: „Ich kann hier vor Ort an meinem Platz Kirche positiv gestalten und verändern und damit ein guter Teil von Kirche sein!“ Dieses oftmals gut eingeübte Konstrukt funktioniere inzwischen nicht mehr, da zum einen die Erfolgserlebnisse im eigenen Tun fehlten („es funktioniert alles nicht mehr!“) und zum anderen die vielen Negativschlagzeilen in und über Kirche das eigene Engagement massiv überlagerten. Es sei nicht mehr attraktiv und cool, in kirchlichen Bereichen zu arbeiten oder sich dort zu engagieren. Mehr und mehr seien die Engagierten Angriffen, Hohn und Spott ausgesetzt. Viele ausgeschriebene Arbeitsstellen im kirchlichen Kontext könnten derzeit nicht besetzt werden, weil passende Bewerbungen fehlten. Selbst an Orten, an denen Engagierte sich gut einbringen und viel gestalten können, schlüge ihnen aufgrund der Großwetterlage der Wind ins Gesicht. Ohne eine starke eigene Glaubensüberzeugung, die weiterhin Kraftquelle für das eigene Leben ist, könnten man in diesen rauen Zeiten nicht bestehen.
All diese Wahrnehmungen führen immer häufiger und zugespitzter zu der Aussage, dass Kirche sich unbedingt verändern müsse, damit „nicht alles den Bach runter geht!“ Gleichzeitig herrscht eine große Skepsis vor, ob die Verantwortlichen in der Institution Kirche wirklich bereit seien, die Entwicklungen zu sehen und auf die Menschen zu hören und – noch grundlegender – ob Institution sich überhaupt noch verändern könne. Zu häufig haben die Engagierten offensichtlich keine Veränderung nach vorne, sondern Stillstand, ja bisweilen sogar Rückschritt erlebt.
Wie gehen die Engagierten mit Ambivalenzen, Widersprüchen und Polarisierungen um, die in der aktuellen Situation deutlicher werden? Welche persönlichen Strategien sind beobachtbar?
Erst einmal ist festzustellen, dass jede*r Engagierte für sich persönlich einen Umgang mit der jetzigen Kirchensituation finden muss. Trotzdem lassen sich einige, durchaus auch unterschiedliche Tendenzen des Umgangs bei hauptberuflich und freiwillig Engagierten wahrnehmen:
Hauptberuflich Engagierte, die in ihrer Arbeit im kirchlichen Bereich sehr nah an den Menschen mit ihren Lebensfragen und -nöten sind und hier eine hohe Wirksamkeit für sich erleben, können die Krise der Kirche besser ausblenden als andere.
Hauptberuflich Engagierte, die in ihrer Arbeit im kirchlichen Bereich sehr nah an den Menschen mit ihren Lebensfragen und -nöten sind und hier eine hohe Wirksamkeit für sich erleben, können die Krise der Kirche besser ausblenden als andere. Sie haben das Gefühl, etwas sehr Sinnvolles zu tun, etwas, das auch wirklich funktioniert. Hierzu gehören Mitarbeitende in der Kategorie (z.B. in der Gefängnis- oder der Krankenhausseelsorge) oder in jedweder Form von Beratung.
Auch sind hauptberuflich Engagierte erkennbar, die sehr bewusst und motiviert in besondere Projekte und Initiativen hineingehen. Durch das Heraustreten aus der bisherigen kirchlichen Struktur sehen sie Möglichkeiten, Kirche und pastorale Arbeit zukunftsfähig aufzustellen. Wo es gelingt, diese Projekte und Initiativen organisatorisch, finanziell und personell gut auszustatten und das Verhältnis von Bisherigem und Neuem gut auszuloten, sind Aufbrüche zu erkennen, wie z.B. in sozialen Stadtteilprojekten oder auch in der Arbeit in geistlichen Zentren. Diese tragen zur Zufriedenheit der Engagierten bei und fördern das Erleben von eigener Wirksamkeit.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass immer mehr hauptberuflich Engagierte nach Möglichkeiten der Weiterbildung suchen. Damit wollen sie sich selbst für neue zukunftsfähige Arbeitsfelder fit machen. Bisweilen ziehen sie sich nach einer Weiterbildung auch aus der pastoralen Arbeit in den Gemeinden und pastoralen Räumen zurück und gehen sehr bewusst hinein in andere kirchliche Berufsfelder. Und sie haben durch die Weiterbildung ein weiteres berufliches Standbein entwickelt, um womöglich ganz aus dem kirchlichen Dienst aussteigen zu können.
Andere beruflich Engagierte in der Flächenpastoral befinden sich gefühlt wie in einem Hamsterrad. Die bisherigen Konzepte und Strategien funktionieren längst nicht mehr.
Andere beruflich Engagierte in der Flächenpastoral befinden sich gefühlt wie in einem Hamsterrad. Die bisherigen Konzepte und Strategien funktionieren längst nicht mehr. Die zu erfüllenden Aufgaben werden durch Personalknappheit immer mehr. Hektischer Aktionismus und mehr des immer Gleichen sind die Strategien, um die Kirche zu retten. Im Arbeitsalltag bleibt keine Zeit, um zu stoppen, zu reflektieren und sich wirklich mit der Situation auseinander zu setzen. Oft endet dieses Agieren in der totalen Überforderung, die schlussendlich krank macht. Ausfälle, Burnouts und Depressionen sind inzwischen nicht mehr nur Einzelfälle.
Weiter erlebe ich hauptberuflich Engagierte, die innerlich völlig zerrissen sind. Die Diskrepanz zwischen dem eigenen Bild von Kirche und dem derzeitigen Zustand von und in Kirche führt bei vielen hauptberuflich Engagierten zu Fragen, wie sie mit dieser Zerrissenheit umgehen können, ob ihr Platz noch in dieser Kirche sein kann, ob sie bleiben können oder gehen sollen. Der Anstieg von diesen und ähnlichen Themen in Supervisions- und Coachingprozessen ist deutlich wahrnehmbar.
Gerade bei hauptberuflich Engagierten, die schon lange im kirchlichen Dienst tätig sind, ist ein innerer Ausstieg wahrzunehmen. Oft haben sich diese Menschen viele Jahre lang in der Kirche eingesetzt, haben um Veränderungen gekämpft und sich u.a. an der Hierarchie abgearbeitet. „Ich habe keine Kraft mehr zum Kämpfen!“ oder „Hoffentlich schaffe ich es noch bis zur Rente!“, wird in Gesprächen gesagt. Diese hauptberuflich Tätigen machen irgendwie ihren Job, privat ziehen sie sich vermehrt aus Kirche zurück.
Insgesamt ist festzustellen, dass hauptberuflich engagierte Laien durch ihre berufliche Abhängigkeit vom Arbeitgeber Kirche eher vorsichtig sind mit Kritik. Daher stabilisieren sie durch ihr Verhalten das derzeitige System Kirche.
Darüber hinaus gibt es hauptberuflich Engagierte, die weiterhin das tun, was sie schon immer getan haben, nach dem Motto: „Das war schon immer so!“. Sie blenden die Entwicklungen in Gesellschaft und Kirche aus bzw. bewerten sie mit ihren eigenen Denkschemata. Sie sehen keine Veränderungsnotwendigkeit, weil sich die wesentlichen ‚Wahrheiten‘ des Glaubens nicht verändern. Menschen, die Veränderungen fordern, haben in ihrer Denklogik den Kern der Glaubenswahrheiten nicht verstanden. Insgesamt ist festzustellen, dass hauptberuflich engagierte Laien durch ihre berufliche Abhängigkeit vom Arbeitgeber Kirche eher vorsichtig sind mit Kritik. Daher stabilisieren sie durch ihr Verhalten das derzeitige System Kirche.
Die große Zahl der Austritte zeigt deutlich, dass inzwischen nicht nur die „Kirchenfernen“, sondern auch die Menschen aus dem „inner circle“, die bisher hoch motivierten freiwillig Engagierten, die Kirche verlassen. Neben dem inneren Ausstieg, der das Niederlegen des Engagements zur Folge hat, gibt es eben auch den äußeren Ausstieg, der mit dem Kirchenaustritt aus dieser Kirche besiegelt wird.
Andere freiwillig Engagierte bleiben Mitglied der Kirche, weil es ihnen um den eigenen Glauben geht. Diesen erleben sie für sich als eine Kraftquelle für ihr Leben, sie bleiben auf der Suche nach der Erfüllung der eigenen spirituellen Sehnsucht, oft „trotz allem“.
Die Suche nach einer Nische, in der die freiwillig Engagierten ihren Platz haben, die Suche nach einem Ort, einer Gruppe, in der das eigene Engagement Spaß macht und wirksam ist, wird größer. Erstaunlicherweise gibt es immer noch viele freiwillig Engagierte, die weiter massiv darum kämpfen, ihren Lebens- und Glaubensort mitgestalten zu dürfen, gerade auch gegen die Macht von Klerikern und Verantwortlichen vor Ort.
Insgesamt ist mein Eindruck, dass die Emanzipation der Menschen und damit auch der freiwillig Engagierten weiter stark voranschreitet. Das Verständnis, dass sie selbst Kirche sind, wächst. Auch wenn der Gedanke, ganz auf die Institution Kirche zu verzichten noch nicht sehr ausgeprägt scheint, suchen immer mehr Menschen Orte und Gruppierungen, in denen sie ohne die Strukturen der derzeitigen Kirche ihren Glauben leben und (eine andere, neue) Kirche sein können. Und andere gehen einfach – wohin auch immer.
Kann die jetzige Form der Kirche bestehen bleiben? Welche Knackpunkte werden identifiziert? Wie kommt die nächste Sozialform von Kirche in die Welt?
In den Gesprächen mit hauptberuflich und freiwillig Engagierten wird deutlich formuliert, dass die jetzige Form der Kirche so nicht weiter bestehen bleiben könne und es dringend radikale Reformen in den folgenden Bereichen brauche. Aus Sicht der Engagierten liegen besondere Knackpunkte hier:
Das Leben der Menschen und damit die Menschen selbst und die Situationen, in denen Menschen leben, müssten endlich eine Relevanz für die Kirche in ihrem Agieren und in ihrer Verkündigung haben. Nur wenn sie von den Menschen her denke und agiere, könne sie auch wieder Relevanz für die Menschen haben. Der Anspruch, der im II. Vaticanum in der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ formuliert sei, gelte auch heute noch: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi.“2 Und gerade die Menschen, die eine spirituelle Sehnsucht spürten, bräuchten Orte und Angebote, um diese Sehnsucht zu erfüllen. Hier werde Kirche nicht mehr als Ansprechpartnerin gesehen.
Das Leben außerhalb von Kirche habe sich massiv geändert. Die Welt sei global vernetzt, unsere Gesellschaft werde u. a. durch die Individualisierung der Menschen und demokratische Strukturen geprägt. In diese Welt passe Kirche mit ihrer hierarchischen Struktur und mit ihren z.T. als menschenverachtend empfundenen Regelungen und Gesetzen nicht mehr hinein. Daher brauche es endlich die schon lange geforderten synodalen Strukturen und den Dialog auf Augenhöhe.
Mehr Synodalität würde zum einen bedeuten, dass es keine einsamen Entscheidungen der „Machthaber“ mehr gäbe, sondern auf allen Ebenen gemeinsam entschieden würde. Dazu bräuchte es Beteiligungsformate, die von Anfang an die betroffenen Menschen beteiligten.
Ganz praktisch benötige die Kirche insgesamt eine gute, zielgerichtete Organisation und einen effektiven Ressourceneinsatz.
Hinter den hier benannten Aspekten stünden zentrale theologische Fragestellungen, z. B. die Frage nach dem Verständnis des Priesteramtes und der Frage, wozu Priester in Zukunft gebraucht würde. Und auch die Frage nach dem Verständnis von Sakramentalität einschließlich der Frage, wie Sakramentalität von Kirche zu verstehen sei und wie Kirche als „Zeichen des Heils in der Welt“3 agieren könne.4
Neben all den inhaltlichen Fragestellungen, die hier benannt werden und die sicher noch fortgeführt werden könnten, schwingt in den Gesprächen mit Engagierten etwas mit, was ich als den eigentlichen Knackpunkt benennen möchte:
„Das, was wir benennen, ist nicht neu. Vieles wird schon seit langem besprochen, eingefordert, erkämpft, und es ist gefühlt immer nur in Mini-Schritten nach vorne gegangen. Oft gab es auch Rückschritte. Es dauert alles viel zu lange, es ist eigentlich schon zu spät und wir glauben gar nicht mehr daran, dass die Kirche sich in dem Maße verändern kann, wie es notwendig ist.“
Aus all dem resultiert, dass die Engagierten vielfach nicht mehr an einen sanften Übergang von der jetzigen zur nächsten Gestalt von Kirche glauben.
Aus all dem resultiert, dass die Engagierten vielfach nicht mehr an einen sanften Übergang von der jetzigen zur nächsten Gestalt von Kirche glauben. Dafür sind zu viele Chancen für eine Assimilation vertan worden. In ihren Augen braucht es jetzt radikale Veränderungen, die auch radikale Einschnitte beinhalten. Dass die jetzige Kirche komplett zusammenbricht, ist noch nicht wirklich vorstellbar, auch wenn dieser Gedanke inzwischen häufiger ins Spiel gebracht wird.
Welche Optionen werden diskutiert, wie der Übergang konstruktiv gestaltet werden kann und Risiken gemindert werden können?
Mit Blick auf die oben benannten Knackpunkte wird von vielen hauptberuflich und freiwillig Engagierten beschrieben, dass es in diesen Bereichen nur eine Option gäbe: klare Wegweisungen und inhaltliche und strukturelle Entscheidungen von den an höchster Stelle Verantwortlichen in der Institution Kirche (von den Bischöfe, gerne auch vom Papst). Diese und nachrangig dann alle weiteren verantwortlichen Entscheidungsträger*innen müssten eine zukunftsweisende Richtung einschlagen, die geprägt sei von synodalen, demokratischeren Strukturen, von der Option für die Menschen (die „Armen“) und von der Beteiligung der Betroffenen. Und sie müssten beherzt, engagiert und ehrlich in diesem Sinne handeln. „Leitung muss vorgehen – wenn Leitung nicht vorgeht, kann man irgendwann nur weggehen!“
Am Beispiel des synodalen Weges zeigt sich, wie gerade auch die Engagierten über die Zukunftsfähigkeit der Institution Kirche denken. Einige erwarten keine gewichtigen Entscheidungen und glauben, dass die deutschen Ergebnisse spätestens in Rom wieder „einkassiert“ werden. Andere erwarten, dass die Entscheidungen, die die deutsche Kirche direkt umsetzen könnte, auch wirklich direkt umgesetzt werden. Hier brauche es ein gemeinsames Zeichen in der Kirche von Deutschland. Alle Verzögerungen, auch das Ausbremsen von einzelnen Bischöfen seien ein großes Risiko. Die Menschen, und hier auch die hoch Engagierten, scheinen nicht mehr bereit, diese Reaktionen zu tolerieren. Das Risiko ist sehr groß, dass mit dem Scheitern des synodalen Weges alles infrage gestellt wird: „Wenn der synodale Weg nicht gelingt, dann ist es aus mit der Kirche!“, „Dann habe ich keine Hoffnung mehr!“
Welche impliziten und expliziten Bilder und Szenarien der „nächsten“ Kirche sind wirksam und wie beeinflussen sie Haltung, Mitarbeit und Engagement in der Kirche?
In den Gesprächen mit hauptberuflich und freiwillig Engagierten schwingen verschiedene Bilder und Szenarien mit, die sie in ihrem Denken und Handeln beeinflussen, so u.a.:
Es gibt das große Bild einer Kirche, die für die Menschen da ist. Dieses beinhaltet, dass sich die Kirche auf die Lebenssituationen der Menschen einlässt und dass sie von der Welt, in der sie leben und arbeiten, ausgeht, um ihre Botschaft vom Heil und vom Reich Gottes zu verkünden. So gewinne die Botschaft Relevanz für das Leben der Menschen. Dazu gehörten heute Bedürfnisse wie angesehen und geliebt zu werden, jemanden an der Seite zu haben und nicht allein zu sein; als Mensch geschätzt und nicht nach Leistung eingeschätzt zu werden, schwach sein und sogar scheitern zu dürfen, Vergebung zu erfahren. Die Kirche müsse für der Wert des menschlichen Lebens in seiner Vielfalt und die Erhaltung der Schöpfung stehen.
Die Funktionen (besonders auch Leitungsfunktionen), die in der Organisation von Kirche notwendig sind, seien mit Menschen zu besetzt, die entsprechende Kompetenzen besitzen (unabhängig vom Geschlecht). Darauf basierend seien Weihen zu vollziehen, Beauftragungen auszusprechen und Delegationen zu erteilen. Es müssten verschiedene Arten von Leitung unterschieden werden, so z.B. die organisationale und die geistliche Leitung im Sinne von geistlicher Orientierung. Leitung dürfte nicht mehr per se an das Priesteramt gekoppelt sein, sondern jene übernähmen Leitung, die über entsprechende Kompetenzen verfügten. Mit Blick auf die Fähigkeiten und Charismen der Menschen würden Aufgaben verteilt und Funktionen besetzt (Was kannst du gut? – Wo ist dann dein Platz?).
Für die Engagierten in Kirche ist auch die Frage nach den Strukturen eine wichtige. Hier gibt es das Bild von sehr viel flacheren Hierarchien und von ausgeprägten synodalen Strukturen. So sollten Beteiligung von Betroffenen und gemeinsame Entscheidungsfindung auf breiter Basis gewährleistet sein.
Die nächste „neue“ Kirche brauche viel weniger Regelwerk in Liturgie, Verkündigung und Diakonie, sondern eher eine verständliche, den Menschen zugewandte Sprache und eine Orientierung am Nutzen für die Menschen.
Die nächste „neue“ Kirche brauche viel weniger Regelwerk in Liturgie, Verkündigung und Diakonie, sondern eher eine verständliche, den Menschen zugewandte Sprache und eine Orientierung am Nutzen für die Menschen (Was brauchen die Menschen? Was tut ihnen gut? Was kann dazu beitragen, dass sie von Gott berührt werden? Wie kann die spirituelle Sehnsucht von Menschen gestillt werden?). Zentral sei an dieser Stelle, dass die Verkündigung der Botschaft vom Reich Gottes und das Agieren der Kirchenvertreter*innen deckungsgleich seien, so dass eine neue Glaubwürdigkeit entstehen könne. Dieses Szenario setze voraus, dass Kirche viel experimentiere und neue Dinge ausprobiere, sich mit den Menschen auf den Weg mache und Neues wage – und sich auf diese Weise als Kirche immer wieder neu erfinde.
Diese Bilder und Szenarien beeinflussen in der Weise, dass sie eine Folie für das eigene Engagement sind. Immer da, wo diese Bilder oder Teile davon im eigenen Engagement vorkommen, können die Engagierten wirklich engagiert mitarbeiten und sich einbringen. Immer da, wo diese Bilder kaum oder gar nicht vorkommen, ziehen sie sich mehr und mehr zurück, machen Dienst nach Vorschrift oder steigen ganz aus.
Praxis
Alles wird sich ändern, wenn wir groß sind … Vom Erwachsenwerden in einer Kirche des Umbruchs
Ausgangslage
Die Kirche in Deutschland befindet sich in einem rasanten Veränderungsprozess. Die Phänomene, an denen dies sichtbar wird, sind allgemein bekannt und bedürfen in kirchennahen Kreisen kaum einer vertiefenden Darstellung: ein sich beschleunigender gesellschaftlicher Relevanzverlust, ein Glaubwürdigkeitsverlust durch den nicht enden wollenden Missbrauchsskandal, die enorme Anzahl an Kirchenaustritten, eine als nicht mehr zeitgemäß geltende kirchliche Sexualmoral mit den sich hieraus ergebenden Verwerfungen, die u.a. die Aktion OutinChurch eindringlich sichtbar gemacht hat etc.
Wie geht es hierbei eigentlich denjenigen, die in der Kirche bleiben und sogar hauptberuflich in ihr tätig sind? Zur Beantwortung dieser Frage werde ich nur einige wenige persönliche Schlaglichter beitragen können und auch diese werden angesichts der Kürze des Beitrags sowie der Komplexität heutiger kirchlicher Realität nur holzschnittartig die Situation beschreiben können. Hierbei beschränke ich mich auf die Gruppe der so genannten hauptberuflichen pastoralen Mitarbeiter*innen (Priester, Gemeindereferent*innen, Pastoralreferent*innen) aus der ich selbst komme und mit der ich mich von daher besonders verbunden fühle.
Ist es wirklich so, dass sich Kirche in Auflösung befindet, wie es der Titel des diesjährigen Strategiekongresses formuliert? Dann müssen sich ja auch die Rollen, Stellenbeschreibungen, Selbstverständnisse und Erwartungen an hauptberufliches pastorales Personal in Auflösung befinden. Diesem Gedanken folgend werde ich versuchen, die Situation Hauptberuflicher in Kirche zu reflektieren und Ansätze für die professionelle Zukunft kirchlicher Mitarbeiter*innen zu beschreiben. Die Zeiten des Umbruchs bieten meiner Ansicht nach vor allem eine Chance: endlich erwachsen zu werden.
Blick in den Rückspiegel
Um zu verstehen, in welcher Situation sich viele hauptberufliche Mitarbeiter*innen befinden, lohnt ein Blick zurück, um zu sehen, aus welcher Zeit wir kommen und was unsere Realität maßgeblich geprägt hat.
Ist es wirklich so, dass sich Kirche in Auflösung befindet, wie es der Titel des diesjährigen Strategiekongresses formuliert?
Viele sind, so wie ich auch, in der Kirche Johannes Paul II. und Benedikt XVI. groß geworden und durch diese geprägt. Diese kirchenpolitische Epoche von 1978-2013 war in der Frage kirchlicher Veränderung und deren weltkirchlicher Durchsetzung geprägt von kirchlicher Sanktionierung, Definition von korrektem und angemessenem Verhalten sowie der Stärkung der Zentrale in Rom. Bezogen auf das Selbstverständnis und die Rollenzuschreibung für pastorale Laien sind mir Ereignisse und Entscheidungen haften geblieben: Wie z.B. das Predigtverbot für Laien bestärkt und ihnen stattdessen eine Statio vor Beginn der eigentlichen Liturgie eingeräumt wird, es für wiederverheiratete Geschiedene im kirchlichen Dienst unmöglich war, weiterhin tätig zu sein, die Diskussion um das Priestertum der Frau für beendet erklärt wurde, Kolleg*innen zu einer schnellen kirchlichen Trauung nach der standesamtlichen Hochzeit gedrängt wurden und homosexuelle Kolleg:innen aus Angst vor Repressionen Kirche als Arbeitgeber verlassen haben.
Gleichzeitig hat sich die Zahl der Gemeindereferent*innen und Pastoralreferent*innen in derselben Zeitphase signifikant erhöht, ihr Berufsbild hat sich weiter professionalisiert und die Möglichkeiten des beruflichen Einsatzes haben sich wesentlich erweitert. Diese Gemengelage hat über viele Jahre das Handeln hauptberuflicher Laien geprägt. Für viele war es das Gebot der Stunde, möglichst nicht aufzufallen, abweichendes Verhalten nur in ausgesuchten Situationen zu zeigen und sich eines Umfeldes zu vergewissern, in dem zumindest in Ansätzen die Freiheit des Denkens gelebt werden konnte.
Was ist heute anders?
Diese Epoche ist unwiderruflich vorbei. Angesichts einer sich rasant verändernden Wirklichkeit verändern sich auch Diskurs- und Freiheitsräume für kirchliche Mitarbeitende. Veränderte Partizipationserwartungen tragen hierzu ebenso bei wie die Unmittelbarkeit des Diskurses, wie er in den sozialen Medien erfahrbar ist. Neue Formen der digitalen wie auch physischen Vernetzung (lokal, regional, global) ermöglichen Austausch, Selbstvergewisserung und Kampagnenfähigkeit. In diesen Diskursen erleben sich Mitarbeitende als selbstwirksam und selbstmächtig.
Es wird Zeit einzustehen, dass dieses Ende nun erreicht ist und zum anderen damit auch ein bestimmtes Bild von Hauptberuflichkeit in Kirche an sein Ende kommt.
Gleichzeitig artikulieren auch Leitungsverantwortliche in Kirche immer stärker die Notwendigkeit grundlegender kirchlicher Reformen und werden, zumindest zum Teil inhaltlich wie auch zeitlich befristet, zu Verbündeten pastoraler Laienberufe. Allen gemeinsam ist die große Ratlosigkeit, wie sich Kirche in Deutschland auf Zukunft hin weiterentwickelt und welche Rolle hierin Amtsträger, Leitungsverantwortliche und alle pastoralen Dienste haben werden. Bezogen auf die Zukunft der Kirche wird seit ca. 15 Jahren, z.B. durch den damaligen Bischof von Essen und heutigen Bischof von Münster Felix Genn konstatiert: Eine bestimmte Sozialgestalt von Kirche ist an ihr Ende gekommen. Es wird Zeit einzustehen, dass dieses Ende nun erreicht ist und zum anderen damit auch ein bestimmtes Bild von Hauptberuflichkeit in Kirche an sein Ende kommt.
Pubertät
Mir kommt bei der Wahrnehmung der Wirklichkeit des hauptberuflichen pastoralen Personals gelegentlich das Bild der Pubertät in den Kopf. Wie bei pubertierenden Jugendlichen schwanken die Verhaltensmuster sehr stark zwischen Resignation, Rebellion, Aktionismus und Rückzug ohne das für Außenstehende ohne weiteres erkennbar wäre, warum wann welches Reaktionsmuster vorherrscht.
De facto können heute pastorale Mitarbeitende weitestgehend machen, was sie wollen. Sie initiieren neue pastorale Projekte, vernetzen sich mit Gleichgesinnten, gestalten z.B. die Katechese zusammen mit freiwillig Engagierten neu und entwickeln Angebote in neuen pastoralen Handlungsfeldern. Sie konzentrieren sich z.B. nur auf die Kür und verweigern die Pflicht, sie halten sich nur dann an Vorgaben, wenn sie ihnen nützen, ignorieren Ansprüche der Christen in ihrem Verantwortungsbereich, verwirklichen sich in pastoralen Nischen, verweigern die Auseinandersetzung mit dem Thema Qualität ihrer Arbeit und stellen kirchliche Glaubensinhalte auch öffentlich schonungslos in Frage. Sie erfüllen treu ihren Dienst, machen um ihre Arbeit wenig Aufhebens und sind als Seelsorger*innen nah bei den Menschen.
De facto können heute pastorale Mitarbeitende weitestgehend machen, was sie wollen.
Parallel gibt es auch bei pastoralen Mitarbeiter*innen den Wunsch nach Anerkennung ihrer Arbeit und Person sowohl individuell durch Verantwortungsträger aber auch systemisch im Wunsch nach Anerkennung als bedeutende Akteure pastoraler, seelsorglicher Professionalität. Eine Veranstaltung erfährt dann eben doch dadurch Anerkennung und Aufwertung, dass der Bischof dabei ist. Und ich erlebe mich in meiner Professionalität z.B. besonders geschätzt, wenn mir zugetraut wird, ein großes diözesanes Projekt zu verantworten.
Erwachsenwerden
Es wird Zeit, auch als Berufsgruppen der pastoralen Laien erwachsen zu werden. Erfahrungsgemäß nimmt hierbei die Akzeptanz der eigenen Person sowie der Realität eine entscheidende Rolle ein.
Die zentralen Aspekte in der Wahrnehmung der Wirklichkeit sind meiner Ansicht nach folgende:
- Die Einführung neuer Berufsgruppen hauptberuflicher Laien im pastoralen Dienst hat zu einer weiteren Differenzierung und Ausgestaltung theologischer Berufe und Berufungen, Qualifikationen und Berufsprofilen geführt.
- Die Kehrseite ist, dass heutzutage viele Aufgaben und Zuständigkeiten bei Hauptberuflichen liegen, die ihnen entweder von Christ*innen übertragen oder die sie sich genommen haben. Hauptberuflichkeit verhindert bzw. verunmöglicht so auch freiwilliges Engagement in Kirche.
- Die Zahl der Berufungen zum Priestertum sinkt seit Jahrzehnten und hat vielerorts den viel zitierten Nullpunkt erreicht. Dies gilt in ähnlichem Maße für den Nachwuchs bei Gemeindereferent*innen und Pastoralreferent*innen. Die Konsequenz wird sein, dass die Kirche in Deutschland zukünftig nicht mehr maßgeblich eine Kirche der Hauptberuflichen sein wird. Es wird große pastorale Räume geben, in denen nur noch sehr wenige Hauptberufliche (Priester wie Laien) ihren Dienst tun.
- Für hauptberufliche Laien gilt vergleichbar wie für Priester, dass die Besinnung auf die Charismen, die Menschen von Gott geschenkt sind, leider erst dann ins Bewusstsein dringt, wenn es zu massivem hauptberuflichem Personalmangel kommt.
- Die Professionalität hauptberuflicher pastoraler Mitarbeiter*innen ist Fluch und Segen zugleich. In gleichem Maße, wie diese einer gut gestalteten pastoralen Arbeit und somit den Menschen und ihrem Leben dient, führt sie auch dazu, dass den Laien die Kompetenz in Fragen des Glaubens abgesprochen und ihre Lebens- wie Glaubenserfahrung zu wenig wahrgenommen, geschätzt und akzeptiert wird.
- Eine nicht geringe Zahl an hauptberuflichen pastoralen Mitarbeiter*innen überschätzt die Qualität, spirituelle Tiefe und fachliche Kompetenz ihrer Arbeit. Echtem beruflichen Wettbewerb auf dem freien Arbeitsmarkt würden viele nicht standhalten.
- Viele Mitarbeitende haben kein geklärtes Verhältnis zum Thema Loyalität gegenüber der Kirche und dem konkreten Bistum, in dem sie tätig sind, im Gegenteil: Illoyalität verschafft und erfährt Anerkennung.
Tippingpoint
Aktuell wird beim Thema der beschleunigten Veränderungsdynamik in Kirche davon gesprochen, dass womöglich ein Kipppunkt erreicht ist, der eine Steuerung dieses Veränderungsprozesses unmöglich macht und unweigerlich zum Ende der Kirche führt, wie wir sie in den vergangenen Jahrzehnten gewohnt waren.
Ich möchte abweichend hierzu einen Gedanken einbringen, auf den mich der britische Autor Malcolm Gladwell mit seinem wunderbaren Buch „Tippingpoint. Wie kleine Dinge Großes bewirken können“ (Goldmann Verlag. 5. Auflage 2016) aufmerksam gemacht hat.
Tippingpoints sind einflussbare Stellschrauben, an denen ich bewusst eine (auch positive) Veränderung herbeiführen kann.
Kipppunkte z.B. im Kontext des Klimawandels beschreiben den Moment, in dem bestimmte Entwicklungen irreversibel werden und die Welt unwiderruflich eine andere sein wird. Kipppunkte beschreiben sozusagen die Schwelle, an der sich alles entscheidet.
Tippingpoints hingegen sind einflussbare Stellschrauben, an denen ich bewusst eine (auch positive) Veränderung herbeiführen kann. Sie zeichnen sich durch drei Eigenschaften aus, die der Logik von Epidemien entsprechen: Sie sind ansteckend, kleine Ursachen können große Wirkungen haben und sie lösen exponentielle Veränderungsprozesse aus.
Drei Regeln der Epidemie sind nach Gladwell bedeutsam:
- Das Gesetz der Wenigen, mit denen Veränderungsprozesse beginnen.
- Die Verankerung einer Botschaft, die durch einfache Veränderungen in der Präsentation und Struktur von Informationen gelingt.
- Die Macht der Umstände, die über Möglichkeiten und Willen zur Veränderung entscheiden.
Tippingpoints lassen sich, wenn man die Logik von Epidemien verstanden hat kreieren, um ein bestimmtes Verhalten wahrscheinlicher werden zu lassen. „Letztlich sind die Tippingpoints eine Bestätigung des Potenzials zur Veränderung und der Kraft intelligenten Handelns. Sehen Sie sich die Welt um sich herum an. Sie mag als unbeweglich und unnachgiebig erscheinen. Sie ist es nicht. Mit dem kleinsten Anstoß kann man sie – wenn man den richtigen Punkt findet – kippen.“ (Gladwell, Seite 301)
Was könnten solche Tippingpoints in Kirche sein oder gibt es sie womöglich schon längst?
Veränderungsschritte mit Potenzial
Wenn die dargestellte Diagnose stimmt, ergeben sich mögliche Ansätze für verändertes Handeln und veränderte Rollendefinitionen von pastoralen Mitarbeiter*innen in einer Kirche des Umbruchs.
- Wenn es das Gebot der Stunde ist, endlich erwachsen zu werden, dann ist für mich ein Ausgangspunkt weiterer Überlegungen die Anerkennung des Knowhows zum Thema Führen, Leiten, Personalgewinnung und -entwicklung, Aus- und Fortbildung, Rollenklärung und Stellenprofil etc. in nichtkirchlichen Kontexten. Die Wahrnehmung der Erkenntnisse anderer Disziplinen, Wissenschaften und Forschungseinrichtungen ist dann nicht nur nice-to-have, sondern ein must-have in Kirche!
- Die Zeit der Lippenbekenntnisse ist unwiderruflich vorbei. Hauptberufliche erwarten heute Partizipationsformen und -möglichkeiten, echte Entscheidungsräume, Geschlechtergerechtigkeit, Begegnung auf Augenhöhe und Freiheit im gemeinsamen Diskurs. Diese Ansprüche sind in einer freiheitlichen Demokratie nicht verhandelbar – auch nicht in Kirche. Personalverantwortliche stehen damit u.a. vor der Herausforderung klären zu müssen, wie sie diesen Prinzipien Geltung verschaffen und wie sie mit Mitarbeitenden umgehen, die diesem Anspruch nicht gerecht werden. Bräuchte es nicht z.B. auch den Mut, sich dann von Mitarbeitenden zu trennen?
Hauptberufliche erwarten heute Partizipationsformen und -möglichkeiten, echte Entscheidungsräume, Geschlechtergerechtigkeit, Begegnung auf Augenhöhe und Freiheit im gemeinsamen Diskurs. Diese Ansprüche sind in einer freiheitlichen Demokratie nicht verhandelbar – auch nicht in Kirche.
- Transformation ist das Gebot der Stunde. Hierzu bedarf es eines größeren (auch externen, siehe den ersten Spiegelstrich) Knowhows. Es braucht jetzt Programme, in denen Personen als Transformationsmanager*innen ausgebildet und befähigt werden, um als Letzte ihrer Art den Übergang hin zu einer Kirche des Volkes Gottes aktiv zu gestalten. Pro Pfarrei/pastoraler Raum wäre eine Person (besser noch ein Team) zu identifizieren, deren Kernaufgabe darin besteht, diesen Übergang verantwortlich zu begleiten.
- Es bedarf einer Auseinandersetzung darüber, was Loyalität in Kirche bedeutet und zwar jenseits der Diskurse, die bezogen auf die Überarbeitung der kirchlichen Grundordnung derzeit geführt werden. Hier geht es meiner Ansicht nach vor allem um Haltungsfragen: Können Menschen an meiner Art, wie ich mein Leben gestalte, wie ich in Konfliktsituationen handle, wie ich mit Menschen umgehe, die anderer Meinung sind als ich etc. erfahren, dass ich mich bemühe, mein Leben und damit auch meine Hauptberuflichkeit im Geiste Jesu zu gestalten? Diese Klärung gilt gleichermaßen für Mitarbeitende wie für Führungskräfte und Amtsträger.
- Der Fachkräftemangel wird sich auch im Kontext hauptberuflicher pastoraler Mitarbeiter*innen weiter verschärfen. Eine Konsequenz ist bereits heute, dass wir nicht nur Spitzenpersonal in Führungsverantwortung haben. Eine systematische Förderung und Qualifizierung von Führungskräftenachwuchs tut daher not.
- Es ist in der Forschung unbestritten, dass Frauen in Führungspositionen einen Unterschied machen. Daher gilt kurz und knapp: Fähige Frauen an die Macht!
Die Pubertät ist bekanntermaßen eine, zum Glück für viele Eltern, zwar anstrengende aber auch glücklicherweise endende Phase. Im Idealfall finden Eltern und Kinder wieder neu zusammen. Und irgendwann gründen die Kinder ihren eigenen Hausstand. Es liegt in der Verantwortung aller Beteiligten dafür Sorge zu tragen, ob sie auch zukünftig noch gerne nach Hause zurückkehren und ob die Eltern ihre Rolle neu definieren. Die Entscheidung ist derzeit offen!
Praxis
„… es kann gar nicht schnell genug gehen!“
Was passiert, wenn nichts passiert
„Es kann gar nicht schnell genug gehen!”1 so lautet die Antwort einer Engagierten der Initiative „Frauen(t)raum“ in der Begegnungskirche Köllerbach”2 im Bistum Trier auf die Frage, ob man aktuell einen Zusammenbruch der Amtskirche beobachten könne.
Sie wollte damit zum Ausdruck bringen, dass nach ihrer Einschätzung die traditionelle römisch-katholische Gemeinde und Pfarrei und insbesondere die kirchenleitenden Personen in den Bistümern viel zu träge und gestrig sind, als dass diese noch adäquat auf die Herausforderungen und Bedarfe reagieren könnten oder wollten.
Beschleunigter Zusammenbruch
Die ständig steigende Zahl von Kirchenaustritten ist jedoch nur eines von vielen sichtbaren Zeichen einer inneren Zersetzung und eines massiven Abbruchs von volkskirchlicher Praxis.
„Es kann gar nicht schnell genug gehen“, so denken wahrscheinlich auch nicht wenige derjenigen, die aus den Kirchen, insbesondere der römisch-katholischen Kirche, austreten.3 Die ständig steigende Zahl von Kirchenaustritten4 ist jedoch nur eines von vielen sichtbaren Zeichen einer inneren Zersetzung und eines massiven Abbruchs von volkskirchlicher Praxis. Auch ist zu beobachten, dass von der Aufbruchstimmung in der Folge des vor 60 Jahren eröffneten Zweiten Vatikanischen Konzils in der römisch-katholischen Kirche im deutschen Sprachraum kaum noch etwas zu spüren ist. Dazu kommt ein ängstliches Erstarren in feudalistisch-bischöflichen Macht- und Entscheidungsstrukturen innerhalb der deutschen Bistümer, das auch durch die zu lobenden Initiativen und Papiere des Synodalen Weges nicht wirklich aufgebrochen wird.
Weitere Anzeichen sind die überbordende Bürokratisierung in den Ordinariaten, außerdem die bei einem großen Teil der Seelsorgerinnen und Seelsorgern wahrzunehmende Lähmung und bleierne Müdigkeit, die Restaurationstendenzen, sowohl innerhalb des jüngeren Klerus als auch bei einem nicht zu unterschätzendenden Teil der Gläubigen und vieles mehr.
Wenn man zu alledem noch die deutlich zurückgehenden Ressourcen beim Personal und bei den Finanzen betrachtet, kann ich nicht anders als zu konstatieren, dass die Gestalt der nachkonziliaren römisch-katholischen Kirche gerade in einem rasanten Tempo implodiert.
Wenn man zu alledem noch die deutlich zurückgehenden Ressourcen beim Personal5 und bei den Finanzen betrachtet, kann ich nicht anders als zu konstatieren, dass die Gestalt der nachkonziliaren römisch-katholischen Kirche gerade in einem rasanten Tempo implodiert. Sie tut es immer noch viel zu leise, denn die meisten Kirchenaustritte geschehen in Stille und lösen bei den ausgetretenen eher Traurigkeit und eine gewisse Schwermut aus. Auch beispielsweise der Rückgang der Gottesdienstbesucherzahlen oder Gremienmitglieder vollzieht sich leise. Die Menschen kommen einfach nicht mehr. Bei den kirchlichen Gebäuden dämmert den inner- und außerkirchlichen Fachleuten mittlerweile, dass wir schon Jahrzehnte von der Substanz leben und eine Riesenwelle von notwendigen Investitionen oder alternativ Schließungen auf die Bistümer und in der Folge auf die Gesellschaft zukommen, weil sich die Kommunen dann mit nicht mehr genutzten, oft ortsbildprägenden Kirchen und Gebäuden befassen müssen, deren Finanzierung durch die Kirche und die Betreuung durch Ehrenamtliche nicht mehr möglich sein wird.
Auch beim Personaleinsatz des kirchlichen Personals bekommen wir die Quittung für mangelnde strategische Personalförderung und -betreuung, für die Diskriminierung von nicht-männlichen Personen und für die Mängel beim Personaleinsatz und den daraus folgenden Konflikten. Besonders deutlich wird dies beim Personaleinsatz und der Betreuung der Priester. Weder gibt es dort eine Art von kirchlicher Mitarbeitervertretung, noch eine auf der Höhe der Zeit befindliche Besoldungs- oder Urlaubsordnung. Auch gibt es (fast) keine Beteiligung der Gemeinden, in denen ein Priester eingesetzt wird. Nicht zuletzt ist die Funktion und die Rolle eines kanonischen Pfarrers durch das römische Kirchenrecht fast absolut geschützt, was ebenfalls dringend einer Überprüfung und Neuordnung bedarf.
Und was die kirchliche Führungskultur betrifft, läuft immer noch das Meiste zielgenau auf die alleinige und un- oder wenig kontrollierte Entscheidungskompetenz des feudal-bischöflichen Amtes auf Bistumsebene und auf die Entscheidung des mit einer immensen Machtfülle ausgestatteten Pfarrers auf lokaler Ebene hinaus. Beide, Bischof und Pfarrer sind damit hoffnungslos überfordert. Wie könnten sie es angesichts der Herausforderungen auch nicht sein? Wo die Machtfülle des Pfarrers vor Ort durch Gremien eingehegt wird, sind diese meist in einem Kirchenbild verhaftet, das den eigenen Kirchturm über alles stellt. Geld für innovative pastorale Experimente freizugeben, ist für solche Gremien nur schwer vorstellbar.
All das vollzieht sich meist leise, was verständlich ist, aber fatalerweise sind alle diese Vorgänge höchst gefährlich und brisant.
All das vollzieht sich meist leise, was verständlich ist, aber fatalerweise sind alle diese Vorgänge höchst gefährlich und brisant. Denn ähnlich wie bei der Baufälligkeit eines Gebäudes der Aufenthalt im Gebäude oder in der Nähe des Gebäudes mit erheblichen Gefahren verbunden ist, so ist der Zusammenbruch der aktuellen Gestalt der Kirche nicht ungefährlich, wie die vielen Verwundungen belegen, die Menschen erlitten haben.
Die Analyse kann nicht klar und scharf genug sein und muss auch so kommuniziert werden, weil es nicht nur um kleine kosmetische Veränderungen der Gesamtausrichtung geht, sondern weil der unkoordinierte Zusammenbruch (oft ohne erkennbare strategische Alternativen der Bistumsleitungen) unnötig immer neue Verwundungen hervorbringt.
Was tut daher Not?
Vieles was sich ändern muss, ist im Kontext des Synodalen Weges auf der Tagesordnung und muss hier nicht wiederholt werden. Ich möchte mich beschränken auf einen Aspekt, der in meinen Augen oft zu kurz kommt, nämlich den der Notwendigkeit von Schutzzonen und Schutzräumen für pastorale Innovation und pastorale Experimente!
Es braucht geschützte Orte und Räume für alle Menschen, Initiativen und Projekte, die für das Ankommen der Kirche im 21.Jahrhundert stehen und sich Menschen zuwenden, die nicht zur klassischen Zielgruppe gehören.
Es braucht geschützte Orte und Räume für alle Menschen, Initiativen und Projekte, die für das Ankommen der Kirche im 21.Jahrhundert stehen und sich Menschen zuwenden, die nicht zur klassischen Zielgruppe gehören. Es braucht Schutzzonen für Initiativen, in denen sich die Kirche nicht mit sich selbst beschäftigt, sondern die Anliegen und Bedarfe der Menschen zu ihrem Anliegen macht.
Solche Projekte6, von denen es in den Bistümern viele gibt, sind oft aufgrund des hohen persönlichen Engagements Einzelner lokal entstanden und zum Teil mit kirchlichen Projektmitteln befristet finanziert. Der Unterschied zur Finanzierung pfarrlicher oder kategorialer Seelsorge ist der, dass bisher keine Pfarrei über die Verwendung ihrer (i.d.R. großzügigen) Mittel Rechenschaft ablegen muss, die Projekte hingegen schon. Ein weiterer Unterschied ist der, dass mit dem Projektende das Projekt oft vor dem Aus steht, weil es sich in direkter Konkurrenz zur Finanzierung pfarrlicher Aufgaben befindet.
Es braucht daher eine Anerkennung der Tatsache, dass sich kirchliches Engagement im Territorium nicht nur parochial ereignet, sondern, dass es weitere und alternative Gemeindeformen und Herausbildungen von Kirchorten/Kirchinitiativen geben kann und geben muss.
Sollte dieser Schutzraum nicht von den Leitungsverantwortlichen auf Bistumsebene und in den Pfarreien zur Verfügung gestellt werden, wird sich der leise aber hochgefährliche Zusammenbruch der Kirche weiter beschleunigen.
Und dies muss sich in der Verteilung der Ressourcen (Personal, Geld und Raumangebot) widerspiegeln. Die alternativen Gemeindeformen und anderen kirchlichen Ausdrucksformen brauchen genau diesen geschützten Raum, brauchen eine Brandmauer, brauchen einen Schutzzaun, damit sie eine Chance haben, im Raum der Kirche zu wachsen und Wurzeln zu schlagen. Sollte dieser Schutzraum nicht von den Leitungsverantwortlichen auf Bistumsebene und in den Pfarreien zur Verfügung gestellt werden, wird sich der leise aber hochgefährliche Zusammenbruch der Kirche weiter beschleunigen.
Praxis
Überzeugen statt belehren: Wege zu nachhaltigem Handeln
Alle Fakten liegen auf dem Tisch. Die regelmäßigen Sachstandsberichte des Weltklimarats (IPCC) werden immer eindringlicher. Wir haben nicht mehr viel Zeit, eigentlich gar keine mehr, um die Folgen des Klimawandels einzudämmen und das 1,5-Grad-Ziel doch noch zu erreichen. Der Klimawandel bereitet auch großen Teilen der Gesellschaft immer mehr Sorgen. Und auch die Politik hat endlich erkannt, dass nun dringender Handlungsbedarf besteht und mahnt zu mehr Tempo. Aber warum dauert dann alles so lange und warum wird häufig nur geredet und nicht gehandelt?
Warum dauert dann alles so lange und warum wird häufig nur geredet und nicht gehandelt?
Innerhalb der memo AG stellen wir uns diese Frage fast täglich. Warum kaufen Menschen immer noch zu viele konventionelle Produkte? Warum bestehen nach wie vor so viele Vorurteile gegenüber nachhaltigen Produkten? Warum zählt häufig nur der Preis, obwohl doch die Vorteile nachhaltiger Produkte und nachhaltigen Handelns längst bekannt sind?
Hürden nachhaltigen Handelns
Ein Beispiel ist das Thema Recyclingpapier. Hier gibt es zahlreiche Studien, die den ökologischen Nutzen bei der Herstellung und Verwendung von Papierprodukten aus 100 % Altpapier (mit Blauem Engel) belegen. Wälder, Klima und Biodiversität werden dadurch geschützt. Dennoch hören wir immer wieder das Argument, Recyclingpapier sei doch grau und staubig und schlecht für Drucker. Das ist längst widerlegt: Recyclingpapier steht Frischfaserpapier in nichts nach, hat aber im Gegensatz dazu viele ökologische Vorteile, v.a. dass bei der Produktion kein frischer Zellstoff verwendet wird und damit die Wälder entlastet werden.
Häufig erleben wir auch, dass bei einer nachhaltigen Beschaffung von Büroprodukten bei Gewerbekund*innen letztlich nur der Preis ausschlaggebend ist. So landen dann in einem Büro nicht die qualitativ hochwertigen, reparierbaren und ergonomischen Bürostühle, sondern die vermeintlich günstigere Variante. Wir müssen uns aber vergegenwärtigen, dass bei derartigen Produkten die Folgekosten für Umwelt und Klima externalisiert werden und auch die Menschen, die am Anfang der Wertschöpfungskette stehen, die Kosten tragen müssen. Würden die Schäden, die „billige“ Produkte verursachen, eingepreist, wären nachhaltige Produkte günstiger.
Wer sich aber einmal ernsthaft auf das „Abenteuer Nachhaltigkeit“ eingelassen hat, kann bestätigen, dass nachhaltiges Handeln eine Bereicherung und keine Einschränkung ist.
Was uns auch nicht weiterhilft, ist die Diskussion des „Verzichts“. Gerade im Zusammenhang mit nachhaltigem Handeln wird von „Verboten“ und „Verzichten“ gesprochen. Das schreckt viele Menschen ab, da sie darin einen Verlust ihres Lebensstandards sehen. Klar ist, dass in Zukunft weniger mehr sein muss: weniger Ressourcenverbrauch, weniger Flächenbedarf, weniger Fleisch, weniger (Flug-)Reisen – die Liste kann beliebig fortgesetzt werden. Wer sich aber einmal ernsthaft auf das „Abenteuer Nachhaltigkeit“ eingelassen hat, kann bestätigen, dass nachhaltiges Handeln eine Bereicherung und keine Einschränkung ist. Und das gilt für Privatpersonen wie Unternehmen und Organisationen gleichermaßen.
Lösungen für mehr nachhaltiges Handeln
Um es also unseren Kund*innen so einfach wie möglich zu machen, nachhaltig einzukaufen und nachhaltig zu handeln, überzeugen wir durch Information und nicht durch Belehrung. Der erste Schritt zu mehr verantwortungsvollem Handeln ist Wissen, das wir unseren Kund*innen in möglichst einfacher, verständlicher und übersichtlicher Form vermitteln. Sie finden es in unseren Onlineshops direkt bei den Produkten, in Newslettern, sonstigen Werbemedien, in unseren sozialen Netzwerken und in unserem memo Nachhaltigkeitsbericht, der alle zwei Jahre erscheint.
Auch die Kosten behalten wir für sie im Blick, was in Zeiten unterbrochener Lieferketten, Rohstoffengpässen und immer weiter steigender Energiepreise gar nicht so einfach ist. Dennoch verzichten wir bei zahlreichen Produkten bewusst auf einen höheren Gewinn, damit nachhaltige Produkte für die breite Gesellschaft leistbar sind und bleiben. Serviceleistungen wie der Versand in unserem Mehrweg-Versandsystem „memo Box“ und die Zustellung in immer mehr deutschen Städten per Elektrolastenrad bieten wir sogar ohne Aufpreis zu unseren Versandkosten an und tragen die Mehrkosten sowie den weiteren Aufwand selbst. Wirtschaftlicher Erfolg ist wichtig, da wir nur so Arbeitsplätze erhalten und nachhaltige Maßnahmen umsetzen können. Diese gibt es nicht umsonst, aber wir setzen sie aus Überzeugung um. Auf diese Weise wollen wir auch anderen Unternehmen zeigen, dass nicht kurzfristige Gewinnmaximierung, sondern nachhaltiges Wirtschaften zum Erfolg führt. Als Unternehmen nehmen wir zum Teil erheblichen Aufwand in Kauf, um nachhaltige Maßnahmen umzusetzen. Und nicht immer amortisieren sich die Kosten dafür oder erst sehr viel später. Aber das sollte generell nicht der Antrieb sein. Wir machen das mit Freude, weil wir davon überzeugt sind, dass wir als Versandhandel ein Teil des Problems sind, aber auch unseren Beitrag zur Lösung des Problems leisten können. Und wir wollen seit über 30 Jahren und auch in Zukunft nicht auf Kosten der nachfolgenden Generationen, der Umwelt und des Klimas leben und arbeiten.
Für uns sind das Engagement und die Arbeit in einem immer größer werdenden Netzwerk nachhaltiger Unternehmen und Organisationen essentiell, um die Entwicklung einer nachhaltigen Gesellschaft voranzutreiben.
Unser aktueller memo Nachhaltigkeitsbericht 2021/22 trägt den Titel „Gemeinsam Handeln“. Für uns sind das Engagement und die Arbeit in einem immer größer werdenden Netzwerk nachhaltiger Unternehmen und Organisationen essentiell, um die Entwicklung einer nachhaltigen Gesellschaft voranzutreiben. So sind wir beispielsweise seit vielen Jahren Mitglied beim B.A.U.M. e.V. und beim BNW e.V., die sich für nachhaltiges Wirtschaften in Unternehmen jeder Größe einsetzen. Die Zahl dieser Unternehmen wird immer größer und am Ende werden die verlieren, die sich nicht zukunftsfähig ausgerichtet haben. Das Gemeinschaftsgefühl, das u.a. durch die Netzwerkarbeit entsteht, ist einer der wichtigsten und stärksten Treiber der nachhaltigen Transformation.
Ein Blick in die Zukunft
Lassen Sie uns zum Schluss noch einen Blick in die Zukunft werfen. Wir schreiben das Jahr 2050. Ich denke immer wieder daran, dass eine kluge Frau Anfang der 2010er Jahre einmal auf die Frage, ob die Transformation denn ein Können oder ein Muss sein würde, geantwortet hat, dass es wohl eher ein Muss sein würde. So ist es dann auch gekommen. Nachdem wir nach immer dringlicher werdenden Apellen der Wissenschaft zu zögerlich in der Umsetzung des Klimaschutzes waren, sind wir irgendwann an den Punkt gekommen, wo gehandelt werden musste.
Mehrere heiße und trockene Jahre hintereinander haben weiteren Wassermangel und Dürren mit Ernteausfällen nach sich gezogen. Die erste Pandemie – Covid-19 – ist dank fortschreitender medizinischer Entwicklung und einer doch noch gerechten Verteilung der Impfstoffe weltweit besiegt. Aber immer wieder treten andere Zoonosen auf, da wir vor allem der Tierwelt zu lange zu nah gekommen sind. Einige Teile der Erde sind kaum mehr bewohnbar, vor allem aufgrund des gestiegenen Meeresspiegels. Immerhin konnten wir aber den weiteren Eintrag von Plastik in die Gewässer stoppen und auch einen Großteil des Mülls durch verschiedene Techniken wieder herausholen. Dieses Material dient nun als Recyclingmaterial zur Herstellung verschiedener neuer Produkte. Kreislaufwirtschaft ist mittlerweile völlig normal. Es gibt kaum mehr Müll und der, der entsteht, ist jetzt ein wichtiger Rohstoff. Nach wie vor benötigen wir jedoch eine Unmenge an Energie, die jedoch weitestgehend aus 100 % erneuerbaren Quellen gewonnen wird. Die Politik konnte doch noch die notwendigen Weichen stellen und so werden nur noch die energieintensiven Industrien zentral versorgt. Alles andere erfolgt dezentral, z.B. durch gebäudeeigene Solar- und Photovoltaikanlagen. Auch unsere Mobilität hat sich verändert. Vor allem in den Städten haben Fußgänger*innen und Radfahrer*innen Vorfahrt. Der ÖPNV wurde auch in den ländlichen Räumen intelligent ausgebaut und angepasst. Im Bildungswesen ist der Bereich Nachhaltigkeit ein wichtiger Baustein jedes Schulfachs.
Wir haben zumindest ganz im Sinne von SDG 17 (Partnerschaften zur Erreichung der Ziele) begriffen, dass wir – trotz fortschreitender Erkundung des Weltalls – nur eine Heimat haben, die nur dann geschützt und bewahrt werden kann, wenn wir alle an einem Strang ziehen.
Die memo AG gibt es nach wie vor. Unser Bekanntheitsgrad in Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten erheblich gestiegen – auch weil die Menschen gezielt darauf achten, was und bei wem sie einkaufen. Wir ermöglichen verantwortungsvollen Konsum für alle. Verändert hat sich unser Sortiment. Verkauften wir vor 30 Jahren noch überwiegend Büromaterial an gewerbliche Endverbraucher*innen, sind es heute fast ausschließlich Produkte des täglichen Bedarfs. Das papierlose Büro ist dank digitaler Technik Wirklichkeit geworden. Papier und Kartonagen gehören auch in der Logistik weitestgehend der Vergangenheit an. 2021 nutzten rund 25 % unserer Kund*innen unser Mehrweg-Versandsystem „memo Box“. Heute sind es nahezu 100 %. Auch bei anderen Händlern hat sich Mehrweg im Versand durchgesetzt. Die Zustellung von Waren auf der letzten Meile erfolgt mit verschiedenen Zustellfahrzeugen, die emissionsfrei unterwegs sind – und das Elektrolastenrad ist eine Variante vor allem in Städten und Ballungsräumen. Wir haben im Jahr 2016 die Zusammenarbeit mit Radlogistik-Unternehmen begonnen und 2022 bereits in 13 Städten auf diese Weise ausgeliefert. Heute arbeiten wir in nahezu allen deutschen Städten auch dank vereinheitlichter Technik mit entsprechenden Partnern zusammen.
Die Welt ist nach wie vor kein Paradies. Wir haben die 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (SDGs) noch nicht vollständig erreicht. Es gibt immer noch Armut und kriegerische Auseinandersetzungen in Teilen dieser Welt, bei denen es meist um wertvolle Rohstoffe und um Wasser geht. Aber wir haben zumindest ganz im Sinne von SDG 17 (Partnerschaften zur Erreichung der Ziele) begriffen, dass wir – trotz fortschreitender Erkundung des Weltalls – nur eine Heimat haben, die nur dann geschützt und bewahrt werden kann, wenn wir alle an einem Strang ziehen.
Praxis
Auf dem Weg zur ökologischen Umkehr Schöpfungsverantwortung im Erzbistum Köln
Als Mitarbeitender eines katholischen Bistums ist die Konfrontation mit Krisen mittlerweile zum Liniengeschäft geworden. Neben den vielen innerkirchlichen Krisen beschäftigen uns auch die Flutkatastrophe aus dem letzten Jahr, die andauernde Corona-Krise und die schreckliche Ukraine-Krise. Ist es angesichts dieser schlimmen und sich überlagernden Krisen richtig, in diesen Tagen auch noch in der Kirche über Lösungen der Umwelt- und Klimakrisen zu sprechen, wo gleichzeitig eine immer stärker werdende Angst vor einer Gas- und Energieknappheit oder einer Inflation herrscht?
Diese Frage beantworte ich mit einem ganz klaren “Ja!”. Es ist sogar zwingend notwendig. Die Wucht, mit der die durch den Klimawandel verstärkten Unwetter, Hitzeperioden oder Dürren bei uns angekommen sind, ist erschreckend. Zustände herrschen, die in den nächsten Jahrzehnten zunehmen werden und die Menschheit vor noch weitaus größere Herausforderungen stellen werden. Wir müssen uns immer wieder bewusstmachen, dass die Klima- und Umweltkrise die größten und vor allem lebensbedrohlichsten Krisen sind, die wir haben, vor allem, weil sie irreversible Schäden an unserer Erde verursachen. Und doch hindern andere Krisen uns immer wieder am Handeln in diesem Bereich. Papst Franziskus stellt uns in seiner Enzyklika Laudato si‘ dazu die entscheidende Frage: „Welche Art von Welt wollen wir denen überlassen, die nach uns kommen, den Kindern, die gerade aufwachsen?“ (LS 160)
Welche Art von Welt wollen wir denen überlassen, die nach uns kommen, den Kindern, die gerade aufwachsen?
In den letzten Jahren haben wir Kirchen in verschiedenen Krisen gezeigt, dass wir noch schnelle Hilfe für Menschen in Not bieten können. Sehr positiv haben wir in den letzten zwölf Monaten die große Solidarität und Hilfsbereitschaft für die Opfer der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen beobachten können. Auch viele Kirchengemeinden und kirchliche (Jugend-)Verbände, einzelne Christinnen und Christen bieten bis heute ihre tatkräftige Unterstützung, Unterkünfte oder Spenden an. Es scheint auf den ersten Blick, dass wir Christinnen und Christen in dieser Krise das Gleichnis des barmherzigen Samariters verstanden haben: bedingungslose Hilfe für die Opfer ist selbstverständlich.
Gleichzeitig wage ich aber einen zweiten Blick, einen ganzheitlichen, und dann müssen wir uns ehrlich eingestehen, dass wir als Kirche eigentlich auch Teil der Räuberbande in dem Gleichnis sind, weil wir uns am Raubzug an der Schöpfung aktiv beteiligen. Wieso? Durch die vielfache Ignoranz oder das Nicht-Ernst-Nehmen unserer Schöpfungsverantwortung sind die deutschen Diözesen im Vergleich zu Städten oder Kommunen schlecht aufgestellt. Dabei ist Schöpfungsverantwortung ein urchristliches Thema. Durch die beachtliche CO2-Emission im Betrieb kirchlicher Gebäude mit häufig veralteten fossilen Heiztechniken, durch unser Konsumieren und durch die Dienstmobilität schädigt auch die Kirche das Klima. Durch eine radikale ökologische Umkehr verhindern wir nicht die Klima- und Umweltkrise, aber wir leisten unseren Beitrag, dass wir die Auswirkungen und somit Leid abmildern. Deswegen ist es wichtig, in diesen Krisen die Querschnittskrise nicht aus den Augen zu verlieren.
Wollen wir als Kirche in den nächsten Jahren nicht noch mehr Glaubwürdigkeit verlieren, müssen wir unsere ökologische Schuld ehrlich anerkennen.
Zusätzlich besteht die Gefahr, dass bei Nicht-Beachten der Umwelt- und Klimakrise durch die Kirche die nächste innerkirchliche Krise entsteht. Denn wollen wir als Kirche in den nächsten Jahren nicht noch mehr Glaubwürdigkeit verlieren, müssen wir unsere ökologische Schuld ehrlich anerkennen. Wir benötigen eine radikale sozial-ökologische Umkehr. Dabei helfen kein weiteres Formulieren von Handlungsempfehlungen durch die Bischofskonferenz und auch kein Laudato-si‘-Zitate-Bingo in Predigten und Flyern. Da helfen Bischöfe, die sich weigern, das Flugzeug zu benutzen, und nur in dringenden Fällen mit dem Auto fahren. Da hilft es, Fleischkonsum in allen kirchlichen Einrichtungen auf den Sonntagsbraten zu reduzieren. Da helfen Kirchengemeinden, die ihre großen Gas- und Ölheizungen einfach ausschalten und die eingesparten Betriebskosten in eine Photovoltaikanlage und elektrische Sitzheizung investieren. Da helfen Christinnen und Christen, die endlich “Nein” sagen zum unökologischem Handeln ohne „ja, aber …”.
In einem Zukunftsweg darf das herausforderndste gesellschaftliche Thema der Zukunft nicht fehlen.
Ein erster großer Schritt auf institutioneller Ebene wurde dafür im Erzbistum Köln im November 2020 gegangen. Durch die Einsetzung einer Vision mit dem Ziel ein klimapositives und nachhaltig schöpfungsfreundliches Erzbistum Köln zu werden, hat unser Erzbischof ein deutliches Signal an die Verwaltung des Bistums und die Kirchengemeinden gesandt. Motiviert wurde die Erstellung dieser Vision von vielen Gläubigen, die zum pastoralen Zukunftsweg im Erzbistum kritisch zurückmeldeten, dass in einem Zukunftsweg das herausforderndste gesellschaftliche Thema der Zukunft nicht fehlen darf. Somit wurde die Schöpfungsverantwortung ein fester Bestandteil des Zukunftsweges mit dem Ergebnis eines konkreten Auftrags an das Erzbistum Köln für das Jahr 2030.
Bei der Erstellung der Vision wurde weniger geprüft, was wir erreichen können, sondern vielmehr gewagt auszusprechen, was wir als Christinnen und Christen in unserer Verantwortung für Gottes Schöpfung erreichen müssen. Dabei wurde in Anlehnung an die Enzyklika Laudato si‘ ein ganzheitlicher ökologischer Ansatz gewählt. Die Gefahr, dass nach einzelnen Leuchtturmprojekten mit guter Außendarstellung, die Bemühungen wieder eingestellt werden, sollte somit vermieden werden. In den sechs folgenden Handlungsfeldern wurden dabei der Einfluss der Kirche auf Umwelt und Klima ermittelt und kurz- und langfristige Ziele gesetzt:
- Energie & Gebäude
- Beschaffung
- Biodiversität
- Mobilität
- Bildung und Pastoral
- Umweltmanagement
Um eine ganzheitliche sozial-ökologische Umkehr im Erzbistum zu erreichen, muss die Schöpfungsverantwortung als Querschnitts- und Schwerpunktthema gesetzt werden. Dabei ist die harte Erreichung des formulierten Zieles der Vision bis 2030 gar nicht unbedingt das Wichtigste, sondern vielmehr die schnellstmögliche Änderung unseres Handelns in all unserem Tun. Wenn das gelingt und wir die Dringlichkeit einsehen, dann kann eine Kirche aufgrund der vielen Multiplikatorinnen und Multiplikatoren vor Ort viel mehr schaffen als ihr zugetraut wird und auch das herausfordernde Ziel eines klimaneutralen Gebäudebestandes bis 2030 wird realistischer.
In der Praxis ist für eine ökologische Umkehr viel Bewusstseinsbildung und Kommunikation notwendig. Die meisten Diskussionen auch in kirchlichen Kreisen enden leider doch wieder bei der Frage nach der (kurzfristigen) Finanzierung. Dabei wird mittlerweile immer deutlicher: Am teuersten wird es, wenn wir nichts tun! So wird es auch bei den Kirchengemeinden sein. Sicher sind für die Umstellung hohe Investitionen notwendig, die in den nächsten zehn Jahren schmerzen werden, weil sie den Spielraum für andere Bereiche verkleinern. Diese Investitionen sind aber notwendig, um langfristig den Betrieb bei steigenden Energie- und CO2-Kosten aufrecht erhalten zu können.
Es wird aber auch deutlich, wie verschwenderisch die Kirchen insbesondere in den sakralen Gebäuden mit Energie umgegangen sind.
Der Angriffskrieg von Russland in der Ukraine und seine globalen Auswirkungen – insbesondere der Gasknappheit – werden die Dringlichkeit des Energieeinsparens und Umstellung auf erneuerbare Energien beschleunigen. Schon jetzt merken einige Kirchengemeinden, dass diese ihre Kirchenheizung im nächsten Winter nicht mehr bezahlen können und somit abgestellt werden. Dabei wird aber auch deutlich, wie verschwenderisch wir Kirchen insbesondere in den sakralen Gebäuden mit Energie umgegangen sind. Die Beheizung von großen Räumen mit einer Luftheizung führt dazu, dass das gesamte Luftvolumen aufgewärmt wird und nur ein sehr kleiner Anteil der Energie wirklich zum Erwärmen der Gottesdienstbesucherinnen und Gottesdienstbesucher aufgebracht wird. Dabei gibt es praktikable alternative Lösungen, zum Beispiel durch Sitzheizungen, welche die Gottesdienstbesucherinnen und -besucher direkt am Platz erwärmen, wodurch über 90 % der bisherigen Heizenergie reduziert werden kann. Auch in großen Pfarrzentren, Kitas oder anderen Einrichtungen wird sich in den nächsten Monaten zeigen, wer auf einen sinnvollen Verbrauch von Energie geachtet hat. Noch besser aufgestellt sind dabei die Kirchengemeinden, die ihre großen Dachflächen nutzen, um mit Photovoltaikanlagen ihren eignen Strom zu produzieren. Hätten die Kirchen ihre Dächer in den letzten zehn Jahren sinnvoll für die Erzeugung von Strom eingesetzt, dann wären die steigenden Herausforderungen beim Betrieb der Gebäude jetzt deutlich geringer.
Die Deutsche Bischofskonferenz hat die Dringlichkeit, Notwendigkeit und das Potenzial der Schöpfungsverantwortung nicht ansatzweise erkannt.
Das Erzbistum Köln ist dabei aber keine Ausnahme. Auch die anderen deutschen Bistümer haben im Bereich Nachhaltigkeit viel Nachholbedarf. Zwar starten viele Bistümer aktuell mit der Entwicklung von Klimaschutzkonzepten, eine umfangreiche überdiözesane Zusammenarbeit findet dabei aber nicht statt. Dabei hätten die deutschen Bistümer eine große Chance, das Potenzial von Synergien zu nutzen, da alle Bistümer vor den gleichen Herausforderungen stehen, wenn sie klimaneutral werden wollen. Der Grund, warum das Erzbistum Köln in den letzten zwei Jahren eine ganze Abteilung aufgebaut hat und jetzt großflächig aktiv wirkt, liegt an der Herangehensweise. Anstatt ein neues eigenes Konzept zu entwickeln, wurden andere bereits bestehende Konzepte von Kirchen kopiert. Anstatt neue Lösungen zu finden, wurde in Kommunen oder Kirchen gesucht, ob schon gute Ansätze in anderen Orten bestehen. Somit konnten viel Zeit und auch Ressourcen eingespart werden. Noch sinnvoller wäre die Einrichtung einer Koordinationsstelle auf der Ebene der Deutschen Bischofskonferenz. Diese Stelle könnte alle Bistümer verknüpfen, den Austausch stärken und dafür sorgen, dass kleinere oder weniger nachhaltig aktive Bistümer von den ambitionierteren Bistümern lernen. Die evangelische Kirche Deutschlands hat im letzten Jahr gezeigt, dass eine solche Zusammenarbeit sinnvoll ist, inklusive der Ausrufung eines gemeinsamen Ziels (klimaneutral zu werden bis 2035). Hier muss man als Außenstehender leider feststellen, dass die Deutsche Bischofskonferenz die Dringlichkeit, Notwendigkeit und das Potenzial der Schöpfungsverantwortung nicht ansatzweise erkannt hat. Für viele Bistümer wird dies in den nächsten Jahren zu immensen ökonomischen Herausforderungen führen und im schlimmsten Fall zu einem weiteren Glaubwürdigkeitsverlust der katholischen Kirche.
Wenn wir als Kirche und als Christinnen und Christen radikal authentisch eine ökologische Umkehr vorleben, dann können wir Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.
Dabei müssen wir als christliche Kirche die Klimakrise nicht nur als Krise verstehen, sondern vielmehr als Chance. Sozial-ökologisch leben vereint so viele christliche Tugenden, wie (intergenerationelle und globale) Nächstenliebe, Dankbarkeit für und Freude an Gottes Schöpfung, Achtsamkeit, Einfachheit, etc. Wenn wir als Kirche und als Christinnen und Christen radikal authentisch eine ökologische Umkehr vorleben, dann können wir Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. Dies gelingt nicht, wenn Letzteres die einzige Motivation für die Umkehr ist. Dann endet das Vorgehen schnell im Greenwashing, also dem Versuch, sich ein grünes Mäntelchen umzuhängen und ein umweltfreundliches und verantwortungsbewusstes Handeln nur vorzugeben.
Stattdessen müssen wir uns ganzheitlich auf den Weg zur ökologischen Umkehr machen. Auch mit der zusätzlichen Motivation, die wir als Christinnen und Christen aus einer Schöpfungsspiritualität heraus gewinnen können, denn – so formuliert es Papst Franziskus in seiner Umweltenzyklika passend, „es wird nicht möglich sein, sich für große Dinge zu engagieren allein mit Lehren, ohne eine “Mystik”, die uns beseelt, ohne “innere Beweggründe, die das persönliche und gemeinschaftliche Handeln anspornen, motivieren, ermutigen und ihm Sinn verleihen.” (LS 216)