022012

Foto: sarah faulwetter: soft coral (CC BY-NC-SA 2.0), Bildausschnitt

Konzept

Georg Singe

Systemtheoretische Reflexionen zu Transformationsprozessen in Kirche und Diakonie unter Berücksichtigung der Chaostheorie

Rasante Entwicklungen im Kontext gesellschaftlicher Globalisierungsprozesse bilden für das gesellschaftliche Teilsystem der Religion, die Organisationssysteme der Kirchen und im Speziellen auch für die Systeme kirchlicher Sozialarbeit in Caritas und Diakonie eine große Herausforderung.

Die verantwortlichen Leitungsebenen versuchen in ihrer je spezifischen Form angemessen auf die Veränderungen zu reagieren und zielgerichtet von den jeweils festgelegten inhaltlichen und strategischen Zielen die Systeme zu steuern. Interessant dabei ist das eigene Selbstverständnis derer, die steuern. Die jeweiligen Theoriemodelle der Möglichkeiten und Grenzen, Systemveränderungen zu initiieren, zu begleiten und zu transformieren stehen im Mittelpunkt der Reflexion. Allen ist bewusst, dass grundsätzliche Strukturveränderungen anstehen. In Folgenden werden ausgehend von der systemischen Theorie, insbesondere von der Chaostheorie, Leitlinien der Transformationsprozesse vorgestellt, die sich auf der Metaebene der Beobachtung 2. Ordnung als adäquate Strategie zu der inhaltlichen Tiefenstruktur der christlichen Botschaft darstellen lassen.

Analyse gegenwärtiger Herausforderungen

Im Zuge der gesellschaftlichen Herausforderungen sind für die Religionssysteme, die Kirchen und die Systeme von Caritas und Diakonie insbesondere deren Transformationsprozesse zu analysieren. Dabei stellt sich die grundlegende Frage, ob und wie diese Prozesse gesteuert werden können. Betrachtet man die derzeitigen Strategien der Initiatoren, denen eine adäquate Transformation wichtig ist, so sind diese in der Regel auf einem monokausalen Ursache-Wirkungsprinzip aufgebaut. Die Komplexität und Ambivalenz der postmodernen Gesellschaftsentwicklung wird in der Regel nicht genutzt, oft sogar eher als bedrohlich empfunden. Da auf dem Hintergrund das gesellschaftliche Wirken der Religionen und Kirchen vor allem von der Durchsetzung entsprechender Machtansprüche geprägt ist, finden Transformationsprozesse statt, deren Strategien eher auf Selbstbehauptung und Selbsterhalt des Systems als auf den offenen Diskurs mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen ausgerichtet sind. Dieser Strategie kommt entgegen, dass auch von wissenschaftlicher Seite die Säkularisierungstheorie in ihrer klassischen Ausformung nicht mehr trägt, die gesellschaftliche Entwicklung der Bedeutung der Religion zu beschreiben „Der Abschied von der Säkularisierungstheorie wird auch in den Geschichts- und Religionswissenschaften auf breiter Front vollzogen.“ (Pollack 2011, S. 2) Der Religionssoziologe Pollack plädiert in dieser Auseinandersetzung für eine adäquate Weiterentwicklung der Säkularisierungstheorie, vor allem im Hinblick auf die Verankerung ihrer makrosoziologischen Aussagen in der handlungstheoretischen Mikroebene (vgl. Pollack 2011 S. 41).

Eine rein religionssoziologische Analyse wird aber nicht hinreichend sein, die grundsätzliche Dynamik der Transformationsprozesse zu verstehen. Um der Komplexität dieser Prozesse gerecht zur werden, ist es hilfreich, die Kybernetik 2. Ordnung heranzuziehen, um auf einer Metaebene der Beobachtung die Entwicklungsdynamik dieser sozialen Systeme zu beschreiben. Dafür ist die Rezeption der Systemtheorie von Luhmann innerhalb der Theologie sehr bedeutsam (Hermelink 2008).

Die Bedeutung der Autopoiese Sozialer System

Bereits Niklas Luhmann hat für das Religionssystem als gesellschaftliches Teilsystem das biologische Modell der Autopoiese lebender Systeme von Humberto Maturana herangezogen, um die grundlegenden Funktionsweisen der Selbstorganisation sozialer Systeme theoretisch zu beschreiben (vgl. Luhmann 1977; 1984). Luhmann verwendet den Begriff der Autopoiese sowohl für biologische Organismen, wie auch für psychische und soziale Systeme. Komplexe Systeme sind in ihrer Organisation so strukturiert, dass sie sich selbst ständig neu aus ihren eigenen Elementen erzeugen. Es handelt sich um organisatorisch geschlossene, selbstorganisierende Systeme. Die Reaktionen im System reproduzieren die Komponenten, die das System braucht, um sich selbst mit nun genau diesen Komponenten am Leben zu erhalten. Autopoietische Systeme sind durch ein Netzwerk der Produktion ihrer eigenen Bestandteile definierte Einheiten. Die autopoietische Organisation des Systems ist das Ergebnis seiner inneren Funktionsweisen der Selbsterzeugung seiner eigenen Bestandteile. Neben dieser zyklischen Organisationsform ist das Merkmal der operationellen Geschlossenheit wesentlich. Zur Aufrechterhaltung ihrer Existenz benötigen Organismen keinerlei „Informationen“ von außen. In allen Aktivitäten bezieht sich das System auf sich selbst. Dabei ist das System strukturell plastisch, im Rahmen der Bedingungen des Systems können die konkreten Strukturen variieren. Systeme können wachsen, indem sie lernen, sich zu differenzieren. Wenn diese Modifikationen aber zur Zerstörung der zyklischen Organisation führen, zerfällt das System. Autopoietische Systeme existieren als operative Einheiten aber immer in Abhängigkeit zu weiteren Systemen, in die sie eingebettet und an die sie strukturell gekoppelt sind. Kommunikationen in diesem äußeren System können zu Deformationen im anderen System führen. Diese Deformationen werden aber in einer Weise kompensiert, indem das System nur auf die ihm selbst zur Verfügung stehenden Möglichkeiten struktureller Modifikationen zurückgreift. So besteht keine determinierte Situation. Durch die äußeren Bedingungen werden die inneren Systemmöglichkeiten weder spezifiziert noch determiniert, sondern lediglich selektiert.

Bei diesem Prozess der Interaktion mit den äußeren Gegebenheiten sind autopoietische Systeme homöostatisch; sie versuchen ihre eigene Organisation so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Dies gelingt nicht durch eine Anpassung an das äußere System, sondern in der Reorganisation einer eigenen, mit den äußeren Bedingungen kohärenten Struktur.

Bei der Anwendung des Konzeptes der Autopoiese ist aber auf eine Differenz zwischen biologischen Systemen einerseits und psychischen und sozialen Systemen andererseits hinzuweisen. Im Gegensatz zu biologischen Systemen sind psychische und soziale Systeme auch von Sinnkonstruktionen geprägt. Die Komplexität der selbstreferentiellen Operationen in diesen Systemen wird in der Form von Sinn verarbeitet. Die Einführung des Begriffs Sinn bewirkt eine Differenzierung, die über die Beschreibung der autopoietischen Struktur der Systeme hinausgeht und auf den konsensuellen Bereich psychischer und sozialer Systeme abhebt (vgl. Luhmann 1984, S 92ff). Dieser entsteht durch die Interaktion sozialer Systeme in der gegenseitigen Repräsentation der jeweiligen Kognitionsbereiche. In diesem Sinne besteht die grundsätzliche Möglichkeit, dass sich zwei Systeme verstehen. Nur auf diesem Hintergrund ist die Betrachtung sozialer Systeme in ihrer Selbstorganisationsdynamik möglich. Für Luhmann ist es wichtig, dass soziale Systeme in ihren Elementen immer aus Kommunikationen bestehen, die Sinn konstruieren. Die gesamte Gesellschaft ist nun gekennzeichnet durch die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionssysteme, die sich alle in ihrer eigenen Autopoiese in Differenz zu anderen sozialen Systemen weiterentwickeln. Sie tun dies durch den Gebrauch unterschiedlicher Codes, die für das jeweilige System zentral sind. Wie für das Rechtssystem die Differenz zwischen Recht und Unrecht alle Kommunikationen des Systems gestaltet, so ist für das Funktionssystem der Religion die Differenzsetzung von Transzendenz und Immanenz die zentrale Codierung.

Chaostheorie als Modell für Transformationsprozesse

Innerhalb dieser Prinzipien der Selbstorganisationsdynamik Sozialer Systeme kommt den Phasen der Übergänge eine besondere Bedeutung zu. Instabile Phasen der Systementwicklung, die von außen oftmals als Krisen wahrgenommen werden, bilden intern aber den entscheidenden Impuls für eine selbstorganisierte Strukturveränderung des Systems. Um diese Phasen systemtheoretisch in die Reflexion einbeziehen zu können, sind die Ergebnisse der Chaosforschung nützlich, die mittlerweile auch in den Human- und Gesellschaftswissenschaften eine breite Resonanz finden. Der Chaosforschung gelingt es, die Phänomene der inneren Strukturphänomene und Gesetzmäßigkeiten des Chaos selbst zu beschreiben und zu erforschen. Damit hat sich die Blickrichtung der Wissenschaft fundamental geändert. Im Mittelpunkt stehen nicht mehr die mechanischen Gesetzmäßigkeiten und Kausalitätsprinzipien der Wirklichkeit in den stabilen Phasen der Systementwicklung, sondern die Übergänge von Ordnung ins Chaos, und vom Chaos zur neuen Ordnung. Die innere Dynamik und die strukturgebende Kraft chaotischer Entwicklungen sind geprägt von Selbstähnlichkeit auf den verschiedenen Ebenen der Beobachtung. Selbstähnlichkeit und Selbstreferenz sind strukturgebende Merkmale chaotischer Systeme. Diese Erforschung chaotischer Systeme geschieht interdisziplinär. Mathematiker studieren biologische Systeme, Physiker beschäftigen sich mit der Neurophysiologie, Neurophysiologen nutzen die Mathematik. Die Erforschung des Komplexen in seinen chaotischen Grundzügen wird durch die Möglichkeiten differenzierter Computersimulationen erleichtert. Die fraktale Geometrie ermöglicht in der computergestützten Auswertung nichtlinearer Gleichungen, die komplexen Informationen und Daten der Entwicklung eines sich selbstorganisierenden Systems zu verarbeiten und die instabilen Phasen der Systemumbrüche und Veränderungen der inneren Struktur aufzuzeigen.

Die Chaostheorie ist eine recht junge Theorie. Sie wurde in den 70er Jahren formuliert. Einer der Pioniere dieser Theorie war Benoît B. Mandelbrot. Die Theorie ist so einfach wie komplex. Sie zeigt, dass die Welt in all ihren chaotisch erscheinenden Entwicklungen sehr wohl geprägt ist von inneren Ordnungsmustern und klaren Regeln, die mittels nichtlinearer Gleichungen dargestellt werden können, so dass von einem deterministischen Chaos gesprochen werden kann. Diese inneren Ordnungsmuster des Chaos bilden die Grundlage für die Selbstorganisationsprozesse, die die gesamte Evolutionsgeschichte der Menschheit auf der Mikro-, Meso- und Makroebene in jeweils selbstähnlicher fraktaler Struktur betreffen. (vgl. Jantsch 1979; Briggs u.a. 1990; Küppers 1996; Peitgen u.a. 1998)

Metaebene der Analogie christlicher Botschaft zur Chaostheorie

So kann davon ausgegangen werden, dass das Modell der Autopoiese und der Chaosforschung auch für die Transformationsprozesse religiöser und kirchlicher Systeme ein viables Konzept sind, die Selbstorganisation dieser sozialen Systeme zu beschreiben.

Dieses Verständnis ermöglicht eine prozessorientierte Begleitung der Transformation und Selbstorganisation der Systeme, die sich wie alle anderen sozialen Systeme der monokausalen Steuerung entziehen. Als Grundhaltung der Beobachter setzt dies ein Vertrauen in die Selbstorganisationskraft voraus. Diese Offenheit eines solchen Wirklichkeitsverständnisses entspricht auf analoger Ebene einem dynamisches Gottesverständnis einer evolutionsorientierten Prozesstheologie, deren Grundlage von Alfred North Whitehead gelegt wurde. Die Schöpfungstheologie ist nicht von einer creatio ex nihilo geprägt, sondern im Sinne einer creatio continua als ein ständiger Prozess der Entstehung von neuen Systemen, systemtheoretisch als „creatio in Chaos“ zu verstehen. So wird ein Sprechen des Wirkens Gottes im Chaos in metaphorischer Form möglich (vgl. Ganoczy 1995; Singe 2000). Diese dynamische Sicht bedeutet eine veränderte Sicht auf alle Versuche, religiöse und kirchliche Systeme steuern zu wollen.

Interventionen sind in diesem Kontext nicht als Versuche direkter Beeinflussung der Teilsysteme zu verstehen, sondern als Irritationen, die in den jeweiligen Systemumbrüchen die Selbstorganisationskräfte unterstützen. Dabei muss den Akteuren bewusst sein, dass sie das Ergebnis ihrer Intervention nicht kontrollieren können. Ein Verzicht auf die rigiden Versuche im Sinne eines Interventionskonzeptes autokratischer oder bürokratischer Systeme, die Krisen in den Griff bekommen zu wollen, ist notwendig. Die Teilsysteme müssen sich in ihrer je spezifischen Form und Freiheit so entfalten können, wie es für die Identität des Systems notwendig ist. Dabei vollzieht sich die Identitätsbestimmung des Systems implizit in der Dynamik der Selbstorganisation und kann nicht mehr deduktiv über ein metaphysisches Modell abgeleitet werden. Alle Versuche einer inhaltlichen Identitätsbestimmung von außen wird das System im Sinne seiner strukturellen Geschlossenheit nicht aufnehmen. Ein solches Verständnis ist anschlussfähig an die aus der Tradition der Mystik stammende Gewissheit, dass Glaube in seiner Freiheit immer schon als eine innere Erfahrung gelebt, verstanden und dargestellt wird.

Selbstorganisation im Teilsystem von Diakonie und Caritas

Die bisherigen Überlegungen führen zu grundlegend neuen Impulsen für eine strukturelle und ethische Fundierung der Transformationsprozesse von kirchlichen Systemen, insbesondere von Diakonie und Caritas. Es hat sich gezeigt, dass die sozialen Systeme innerhalb des gesellschaftlichen Subsystems der Religionen einer differenzierten Reorganisation im Hinblick auf das Steuerungsprinzip der Selbstorganisation bedürfen. Dies gilt vor allem auch für die sozialen Systeme der Diakonie und Caritas, die an der Systemgrenze zwischen den Subsystemen Religion und Sozialstaat agieren (vgl. Starnitzke1996). Auf drei Ebenen können die chaostheoretische Sichtweise und weitere empirische Forschungen der Beobachtung und Analyse von Prozessen der Selbstorganisation dazu einen Beitrag leisten.

  1. Auf der Mikroebene individuell handelnder Subjekte wird ein vernetztes Denken und Handeln individualistische in strukturelle Problemlösungsansätze transformieren. Die Bedeutung der Handlungen einzelner Menschen nimmt ab und die Analyse der Gesamtkommunikationen steht im Mittelpunkt der Beobachtung. Interventionen stellen nur Irritationen dar, die von der intuitiven Steuerung der handelnden und urteilenden Subjekte geprägt sind, wenn sie sich dem Prozess der reflexiven Selbstbeobachtung aussetzen. Die strukturellen Veränderungen im System vollziehen sich aber unabhängig von diesen Irritationen nach den Regeln der Selbstorganisation. Praktisch bedeutet dies den Abbau eines hierarchisierten Expertentums zu Gunsten eines Systems der Selbstorganisation aller Beteiligten.
  2. Auf der Mesoebene der sozialen Systeme und Organisationen sind Prozesse der ständigen Selbst- und Fremdbeobachtung gefragt, die eine Flexibilität in den weiteren Handlungsvollzügen ermöglichen. Da die Praxis diakonischer Arbeit vor allem in Vereinen, Gruppen und Organisationen geleistet wird, ist eine Rezeption der Konsequenzen auf dieser Ebene von großer Bedeutung. Die Gruppen- und Organisationssoziologie sowie die Gruppendynamik haben bereits Modelle entwickelt, wie diese Arbeit aussehen kann. Eine Übertragung in den Kontext diakonischer Arbeit der Kirchen mit ihren speziellen Rahmenbedingungen der Systementwicklung religiöser Subsysteme in modernen komplexen Gesellschaften steht aber noch am Anfang. Es bleibt die Aufgabe weiterer Forschung, wie es gelingen kann, Personen und Gruppen verstärkt mit einer Reflexionskompetenz auszustatten, so dass sie zu einer Beobachtung zweiter Ordnung fähig sind. Nur auf diese Weise können sie in ihrer Subjektivität die Steuerungsfähigkeit im Prozess der Selbstorganisation sozialer Systeme erhalten und kompetent nutzen.
  3. Auf der Makroebene der sozialen Systeme der Diakonie und der christlichen Kirchen kann es angesichts der Selbstorganisationsdynamiken nicht um das Ziel gehen, Systemstabilität zu gewährleisten. Vielmehr sind Lernprozesse der Instabilitätsgestaltung notwendig. Dazu gilt es, besonders auf den verschiedenen Leitungsebenen die Verantwortung und Kompetenz der Aufgabe einer linearen Strukturbildung und Prozessbeherrschung zu verändern. Führung besteht in der Gewährleistung eines offenen Regelsystems, das in der Strukturierung der Rahmenbedingungen und der Ermöglichung freier Selbstorganisation die Balance zwischen Stabilität und Instabilität findet. Dies kann auch elementare Strukturveränderung bedeuten, wie sie von Menschen, die beginnen, in Netzwerken zu denken, immer wieder gefordert wird. Soziale und religiöse Reformbewegungen, die innerhalb des gesellschaftlichen Subsystems religiöser, kirchlicher Strukturen wirken, sind ein lebendiges Zeugnis dieser Selbstorganisationsdynamik.

Caritas und Diakonie haben sich mit ihrer Entwicklung der neuen Leitbilder in einer Form positioniert, die durchaus eine Basis für ein Steuerungsprinzip gemäß der Kybernetik zweiter Ordnung im Sinne des Selbstorganisationsprinzips ermöglicht. In ihrem Verständnis als intermediäre Organisationen und gleichzeitig als soziale Bewegungen gegenüber dem gesellschaftlichen Subsystem der Politik können sie ihre Kräfte der Selbstorganisation entfalten und gerade in gemeinsamer Kooperation ein starkes Gewicht in der gesellschaftlichen Systementwicklung erhalten.

Rückgebunden bleibt diese Praxis an die implizite Ethik, wie sie von Foerster in seiner Kybernetik zweiter Ordnung grundgelegt hat. Die implizite Ethik kann in einem zweiten Schritt im Rahmen diakonischer Praxis theologisch als Freiheitsgeschichte gedeutet werden. In dieser Dimension ist die Praxis offen für transzendentale Erfahrungen in der Evolutionsgeschichte, die über sich hinaus weist auf ein umfassendes Ganzes (vgl. Baudler 2011). Diese Emergenz der Systementwicklung findet ihren Ausdruck in den Geschichten, Bildern und Metaphern christlich religiöser und theologisch begründeter Gottesrede, die ihrerseits für die Praxis eine Basis der Komplexitäts- und Kontingenzbewältigung menschlicher Wirklichkeit bilden. Diese ethische und theologische Dimension der Bedeutung der Selbstorganisation für die Systeme der Diakonie und ihrer wissenschaftlichen Theoriebildung muss theologisch weiter vertieft und inhaltlich präzisiert werden.

Solidarität, Ökologie und Spiritualität

Die theologische Vertiefung der systemtheoretischen Betrachtung der diakonischen Systeme hat nochmals die ethische Dimension des diakonischen Handelns herausgestellt. Die gesellschaftspolitische Verantwortung des diakonischen Handelns der Kirchen ist unter diesem Blickwinkel auf dem Hintergrund der Selbstorganisation in der individuellen Positionierung der jeweiligen Beobachter des Systems zu bestimmen. Die vielen Phasen der Instabilitäten sind von einer Identität geprägt, die sich an den impliziten, ethischen Positionen der Individuen festmachen lässt. Sie müssen sich ständig neu den chaotischen Entwicklungen Sozialer Systeme im Großen und Kleinen stellen. So werden Transformationsprozesse der Systeme ermöglicht. Innerhalb des theologischen Systems begründet sich diese Offenheit durch die Vergewisserung der Zusage Gottes, in der Schöpfung durch seinen Geist wirken zu können. Dieses Vertrauen in die Selbstorganisation sozialer Systeme begründet eine neue Spiritualität, die für das diakonische Engagement prägend ist. Die Selbstorganisations- und Chaostheorie impliziert neue Möglichkeiten, Impulse für die Praxis des diakonischen Selbstvollzuges der Kirchen im Hinblick auf ihre gesellschaftspolitische Verantwortung zu geben. In der Beobachtung der derzeitigen Situation des Systems der Diakonie treten drei neue Herausforderungen für die Praxis in den Mittelpunkt, die Impulse für eine Neubestimmung diakonischer Identität geben können.

  1. Der Anspruch solidarischen Handelns ist neu zu buchstabieren
  2. Die ökologische Dimension sozialer Systeme bekommt einen neuen Stellenwert
  3. Diakonie als soziales System eröffnet neue Räume der Spiritualität

Diese Neubestimmung geschieht im gleichzeitigen Bewusstsein der Relativität dieses Versuches der Identitätsfindung. Denn es lassen sich zwar auf der Steuerungsebene erster Ordnung durchaus neue Impulse beschreiben, die sich aber aus dem Blickwinkel der Beobachtung zweiter Ordnung als relative Größen herausstellen, da die Gesamtentwicklung selbstorganisiert die Strukturen herausbildet, die für das Teilsystem zum Überleben notwendig sind.

a) Solidarität

In den letzten Jahrzehnten ist deutlich geworden, dass der Prozess der Individualisierung nicht automatisch mit einem Prozess der Entsolidarisierung einhergeht. Die Individualisierung ist nicht mit Individualismus und Egoismus gleichzusetzen. Nicht ein gänzlicher Verfall der Solidarität, sondern ein Wandel der Praxis der Solidarität ist zu beobachten. Das globale Bewusstsein weltweiter Verflechtungen im Wirtschafts- und Finanzsystem führt zu neuen Formen der Solidarisierung der Verantwortung für die eine Welt. Der alte Spruch „Lokal handeln, global denken“ ist bei vielen kirchlichen Gruppen zur inneren Haltung geworden, Bündnisse über die Grenzen der kirchlichen Systeme hinweg gewinnen an Bedeutung und deren Wirksamkeit verstärkt sich durch die weltweite Vernetzung über die medialen Formen des Internets. Innerhalb des Modernisierungsprozesses nimmt Solidarität vielfältige Formen an. Dabei ist deutlich, dass dieser Prozess nicht gesteuert ist. Er entwickelt sich selbstorganisiert über die Kommunikationen der individuellen Systeme im Kontext der gesellschaftlichen Teilsysteme. Solidarität ist geprägt von den Ressourcen individueller Systeme und von den aktuellen Lebenslagen der Personen, die eine Solidaritätsbindung eingehen. Diese ist solange stabil, wie sie für die Selbstorganisation des individuellen Systems von Bedeutung ist. Solidarität muss jedem einzelnen „etwas bringen“, sie ist nicht mehr in erster Linie zweck- und zielorientiert, sondern gerade auf dem Hintergrund des universalen Anspruchs vor allem gefühls- und erlebnisorientiert. Beobachter der Transformationsprozesse von Caritas und Diakonie tun also gut daran, die fortschreitende Individualisierung nicht für mangelnde Solidarität verantwortlich zu machen, sondern als Bedingung moderner Formen von Solidarität zu verstehen. Um Solidarität weiter zu fördern ist die neuzeitliche Rationalität danach zu befragen, inwieweit sie solidaritätsfördernde oder -verhindernde Strukturen unterstützt. Klar ist, dass die heutige Vergötterung der Ökonomie mit ihrer auf Effizienz- und Effektivitätssteigerung basierenden Gewinnlogik solidaritätsverhindernd wirkt. Kulturelle Identitäten und Ressourcen gesellschaftlicher Solidarität bleiben in der Dynamik der Systemlogik des freien und globalen Marktes auf der Strecke. Dieser Eigendynamik der kapitalistischen Rationalität können nur starke Systeme einer solidaritätsstiftenden alternativen Kultur entgegentreten. Impulse für die Stärkung dieser Systeme alternativer Kultur könnten von den Kirchen ausgehen. Sie können aus ihrem ureigenen Selbstverständnis heraus die Transformationsprozesse gesellschaftlicher Teilsysteme zu universaler Solidarität anregen.

b) Ökologie

Der Prozess der Selbstorganisation der solidaritätsverhindernden Dynamik der Vergötterung der Ökonomie spielt vor allem auch im Hinblick auf die fortschreitende Umweltzerstörung eine zentrale Rolle. Auf dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen ist es wichtig, in diesem System der ökologischen Kommunikation den Ansatz einer „Diakonie an der ganzen Schöpfung“ in den Alltag diakonischer Praxis der Gemeinden zu übertragen. Dieser Ansatz hat eine lange Tradition in der Arbeit der kirchlichen Gruppen im ökumenischen konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Damit ist ein Bildungsauftrag verbunden, der von vielen Gruppen und kirchlichen Einrichtungen vorangetrieben wird. Ganzheitliche Ansätze einer ökologischen Lebenskultur spielen dabei für den Erfolg dieses Bildungsanspruches eine entscheidende Rolle. So geht es darum, eine „Kultur der Hoffnung“ (Hinkelammert 1999) zu fördern, in der die Irrationalität der Verabsolutierung der neuzeitlichen Rationalität und des neoliberalen Marktes entlarvt werden. Dies wird umso eher möglich, als die zunehmende Naturzerstörung im Kontext der wirtschaftlichen Entwicklung gesehen wird. Dabei stecken die systemtheoretischen Diskurse der Versöhnung von Ökonomie und Ökologie noch in den Kinderschuhen und werden oftmals instrumentalisiert für die Eigendynamik der Logik des ungebremsten Wirtschaftswachstums. Die alte Idee, dass ein Ökosozialprodukt das Bruttosozialprodukt als Messlatte für gelungene Lebensvollzüge ablösen könnte, ist mehr denn je eine vage Hoffnung.

Wie eng diese Kultur der Diakonie an der Schöpfung verbunden ist mit einer weiteren Dimension der Diakonie, die erst neuerdings ins Blickfeld der aktuellen Diskussion gelangt, hat Matthew Fox schon in den 80er Jahren mit seinem Ansatz der Schöpfungsspiritualität aufgezeigt. Fox geht den spirituellen Dimensionen einer Diakonie an der Schöpfung nach und beschreibt diese als Heilung und Befreiung für Menschen in der Ersten Welt, indem sich neue Pfade der Lebensgestaltung eröffnen. So soll an dritter Stelle auch dieser Aspekt der spirituellen Dimension der Diakonie näher beleuchtet werden.

c) Spiritualität

Der Ansatz der Selbstorganisation mit der Eigendynamik der Entwicklung sozialer Systeme stellt für das aufgeklärte Subjekt der Neuzeit, das eher in klassischen Rationalitäten monokausale Zusammenhänge sucht, um die Welt zu verstehen und sein Handeln danach auszurichten, eine große Herausforderung dar. Die Notwendigkeit des sich Einlassens auf diesen offenen Prozess der Dynamik der Systeme setzt das beschriebene Vertrauen in die schöpferische Kraft des Chaos voraus. Diese schöpferische, kreative Kraft in der Selbstorganisationsdynamik kann theologisch gedeutet werden und ermöglicht so eine besondere Affinität zu christlichen Sinnentwürfen. So wird auch von theologischer Seite in der derzeitigen inhaltlichen Fachdiskussion um den diakonischen Anspruch der Kirchen vor allem die spirituelle Dimension reflektiert.

Die Wiederentdeckung des Geistes in der Theologie als die schöpferische Kraft des Kosmos ist nicht nur eine Reaktion auf die vielen verstärkten Bemühungen religiöser Sekten, Freikirchen und charismatischen Erneuerungsbewegungen, die vor allem in Lateinamerika und Afrika zunehmend Menschen ansprechen. Sie ist auch eine Antwort im Prozess der kommunikativen Öffnung der Theologie auf die Entwicklungen in der Gesellschaft hin, wie sie beim II. Vatikanischen Konzil vor 50 Jahren grundgelegt wurde. Die Wiederentdeckung der Spiritualität hat mehrere Dimensionen. Sie ermöglicht eine religiöse Kompetenzentwicklung, die für die Transformationsprozesse diakonischer Systeme der Kirchen prägend ist. Religiöse Kompetenz bedeutet dabei, die Handlungsfähigkeit an den Grenzen zu den Strukturen der alltäglichen Lebenswelt vor allem angesichts der Bedrohung von Sinnstrukturen wieder zu gewinnen. Da religiöse Kompetenz immer an die soziale Kompetenz der Strukturierung alltäglicher Lebenswelt gekoppelt ist, kann sie beschrieben werden als eine Rückführung von Erfahrungen unbestimmbarer Komplexität in bestimmbare Sinnwelten der Religiosität, in denen Alltagswelten unter solidarischen und ökologischen Prämissen sich zu neuen stabilen gesellschaftlichen Teilsystemen entwickeln. Aus diesem Blickwinkel der Spiritualität ist auch die derzeitige Ökonomisierung der Lebenswelten, der sich Diakonie und Caritas in ihrer Professionalität nicht verschließen können, stets in ihrer Dienstfunktion für das Religions- und Gesellschaftssystem zu analysieren und zu verstehen.

Neben diesen inhaltlichen Entwicklungen der Identitätsausbildung diakonischer Systeme sind strukturelle Voraussetzungen zu bedenken, wenn diese systemtheoretischen Grundlagen für die Praxis der Transformationsprozesse nutzbar gemacht werden. Die Umsetzung dieser gesellschaftlichen Funktion der Diakonie bedarf unter systemtheoretischen Gesichtspunkten verschiedener struktureller Voraussetzungen.

Strukturelle Voraussetzungen der Transformationsprozesse

1. Die diakonischen Systeme der Kirchen müssen sich in ihrer eigenen Selbstreflexion der Notwendigkeit offener Systemgrenzen bewusst sein. So kann die Wahrnehmung sozialer Not und sozialer Probleme über den Rahmen der eigenen Systemgrenzen hinweg im Gemeinwesen und der Gesellschaft stattfinden. Diese Öffnung ist ein Strukturmerkmal dynamischer Systeme, deren Ordnungsgefüge durch ständige Fluktuation aufrechterhalten werden. Die Identität eines Systems besteht in der strukturellen Geschlossenheit bei gleichzeitiger energetischer Offenheit, so dass die Formulierung der Identität der Diakonie als strukturell geschlossenes System durch den energetischen Austausch mit der Umwelt in ständiger Bewegung ist und bleibt, da alle Kommunikationen des Systems mit anderen Systemen selbstorganisiert verarbeitet werden. Dieser Verarbeitungsprozess ist komplex und von ständigen instabilen Phasen geprägt, die vor allem durch die internen Kommunikationen der Subjekte bestimmt werden. Dabei bilden die Theorien der Diakonie- und Caritaswissenschaft Attraktoren, innerhalb deren Bahnen sich das System auf verschiedene, unvorhersehbare Lösungen einpendeln kann. Die Gesamtentwicklung des Systems ist aber irreversibel, auch wenn der Prozess der Selbstorganisation nie abgeschlossen sein wird.

Strukturell bedeutet diese Sicht für das einzelne Subjekt im Erleben der instabilen Phasen große Unsicherheiten und erfordert eine Offenheit und Lernbereitschaft. Das Konzept der Lernenden Organisation verknüpft diese Sicht individueller Lernprozesse mit strukturellen Veränderungsprozessen von gesellschaftlichen Systemen und Organisationen.

2. Für das Konzept der „Lernenden Organisation“ (vgl. Senge 1996) ist die Differenzierung zwischen individuellem Lernen und organisationalem Lernen entscheidend. Individuelles Lernen ist der Prozess der Generierung von affektiv-kognitiven Urteilsstrukturen und der behavioristisch erforschbaren Handlungsstrukturen. Lernen findet als selbstorganisierter Prozess durch neurophysiologische Veränderungen im neuronalen Netzwerk des Gehirns statt.

Organisationales Lernen ist der Prozess der fortdauernden Steuerungsfähigkeit eines sozialen Systems, seine Funktionalität im ständigen Austausch mit der Umwelt zu erhalten. Diese Steuerungsfähigkeit bezieht sich auf das Organisationswissen, die Handlungs- und Problemlösungskompetenz und die Unternehmenskultur einschließlich der Sinn- und Wirklichkeitskonstruktionen. Zwischen individuellem und organisationalem Lernen besteht eine offene Kommunikation, die in kooperativen Formen von Netzwerken und nicht mehr in hierarchischen Organisationsstrukturen stattfinden muss, da nur so alle Ressourcen im System genutzt werden können. Denn der Erfolg einer lernenden Organisation besteht nicht in der Summe aller Prozesse, sondern in der innovativen Kreativität einzelner Teile, neue Wirklichkeiten zu generieren, die eine Weiterentwicklung der gesamten Organisation ermöglichen. Damit ist die Wirklichkeitskonstruktion der Organisation in ihrer Identität einem ständigen Wandel unterworfen. Organisationen, die in Beziehung zu ihrer Umwelt nicht lernfähig sind, scheitern. Organisationen sind auf Prozesse der Selbstorganisation angewiesen. Als soziale Systeme sind sie sinngesteuerte Handlungssysteme, die auf den Kommunikationen individueller Systeme aufbauen. Sie stehen mit der Umwelt über permanente Interaktionen in Verbindung. Die Verarbeitung dieser Interaktionen zwischen System und Umwelt geschieht über systeminterne Schemata. Interaktionen des Systems mit der Umwelt haben keinen direkten linearen Einfluss auf die weitere Entwicklung. Dadurch kann die Komplexität und Umwelt auf das reduziert werden, was für das System von Bedeutung ist. Grenzziehung und selektive Schließung gehören damit zu den wesentlichen Mechanismen der Selbstorganisation sozialer Systeme. Für die in einer Organisation Verantwortlichen bedeutet dies, die vielfältigen, komplexen und dynamischen Einflussfaktoren auf eine lernende Organisation zu steuern. Die Chaostheorie bietet auf die Frage der Steuerungsfähigkeit dieser Prozesse eine Antwort. Eine genaue Zustandsbeschreibung, in welcher Phase sich ein System befindet, ist nicht möglich. Ebenso wenig lässt sich sagen, wie sich das System weiterentwickelt. Alle Beteiligten im System tragen mit ihren Kommunikationen in einem ständigen Fluktuationsprozess dazu bei, dass eine Neustrukturierung des Systems stattfindet. Kleinste Veränderungen in einem Subsystem können große Auswirkungen auf das Gesamtsystem haben. Turbulenzen und nichtkalkulierbare Umwelteinflüsse beeinflussen das Organisationslernen in einer unvorhersehbaren Weise. Diese prinzipielle Offenheit schafft aber Raum für kreative neue Lösungen, wenn diese Selbstorganisationsdynamik nicht durch hierarchische oder bürokratische interne Strukturen behindert oder sogar verhindert wird. Verantwortliche einer Organisation können auf der Basis dieser Theorie des Organisationslernens ihre Managementaufgaben gestalten. Es geht vor allem um die Kontextsteuerung der Selbstorganisationsprozesse. Dies wird möglich durch die Offenheit,

  • Komplexität zuzulassen,
  • Verarbeitungsprozesse multipler Einflussfaktoren zu fördern
  • systemisches Denken mit analytischer Vernunft zu verknüpfen
  • hierarchie- und systemübergreifende dynamische Austauschprozesse anzuregen
  • Autonomie der Teilsysteme in ihrer Verantwortung und Kompetenz zu stärken
  • Visionen und kreative Lösungsstrategien zu ermöglichen.

Das Konzept Lernender Organisationen, das vor allem in der Wirtschaft seit Jahren für Erfolge bei der Neuorganisation von Unternehmen sorgt, ist erst in geringem Maße auf kirchliche Systeme übertragen worden. Aber gerade für die komplexen Aufgaben der Teilsysteme von Diakonie und Caritas ist dieser systemische Ansatz von großer Bedeutung für den Erfolg Sozialer Arbeit in der Gesellschaft. Soziale Arbeit in ihrer Ausprägung als diakonische Dienste kirchlicher Systeme können mit ihrem Anspruch und ihrer Vision einer gerechten, umweltverträglichen und spirituellen Lebenskultur Knotenpunkte in den Netzwerken einer lernenden Gesellschaft werden, in der die Fixierung der Wirtschaftssysteme auf die Globalisierung, Markt- und Gewinnorientierung nicht das Überleben des Gesamtsystems in Frage stellen. Die institutionellen Kirchen und Organisationen müssen sich dabei selbstreflexiv in Frage stellen, inwieweit sie ihren ureigenen Anspruch universaler Solidarität umsetzen.

So ist die weitere Entwicklung des diakonischen Systems der Kirchen in der Gesellschaft vor allem davon abhängig, inwieweit die Eigendynamik der Beteiligten zu ihrer vollen Entfaltung kommen kann und sich in den Strukturen der Gruppen, Gemeinden und Organisationen Räume öffnen, in denen die Dimensionen christlicher Diakonie erfahren werden können.

Zusammenfassung

Eine Theologie der Selbstorganisation religiöser, kirchlicher und sozialer Systeme muss sich in ihrer eigenen Theoriebildung als selbstreferentielles autopoietisches System betrachten. Die Theologie kann mit der metaphorischen Rede von Gott im Chaos und der identitätsstiftenden Praxis christlicher Handlungsvollzüge einen Beitrag zur Entwicklung einer transklassischen Rationalität leisten. Diese beschreibt, versteht und erforscht auf der Basis der Chaostheorie die Selbstorganisation der Natur und der Menschheit systemtheoretisch. So können die Phasen der Instabilität von sozialen Systemen genutzt werden, neue Ordnungen aufzubauen. Religionen, Kirchen, Caritas und Diakonie brauchen bei den aktuellen Systemkrisen nicht rückwärtsgewandt zu versuchen, eine alte, überholte und nicht zukunftsfähige Systemstabilität aufrecht zu erhalten. Sie können sich vielmehr vertrauensvoll auf die Kräfte der Selbstorganisation einlassen und diese in ihrer kreativen Kraft der Neuschöpfung als Wirken Gottes in der Welt interpretieren. Mit dieser Offenheit, Kreativität und Ästhetik der Systementwicklungen ist – theologisch gesprochen – der Raum beschrieben, in dem vom Wirken des Geistes Gottes gesprochen werden kann. Die Emergenz dieser Selbstorganisationsdynamik sozialer Systeme ist die Chance und Herausforderung für eine Gerechtigkeit und Solidarität, die einen universalen Anspruch impliziert und sich im spirituellen Geist eines globalen ökologischen Bewusstseins verankert weiß.

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