012020

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Konzept

Michael N. Ebertz

Welche ‚Einheit‘, Kirche?

‚Einheit‘ ist schnell postuliert, auch und gerade in der Kirche, Gefahren für ihre ‚Einheit‘ werden schnell an die Wand gemalt. Aus soziologischer Perspektive ist ‚Einheit‘ ein zentrales wie voraussetzungsvolles Konzept. Im Rückgriff auf einige Klassiker sensibilisiert der Beitrag, was ‚Einheit‘ heißen kann und was nicht, und stellt nebenbei Fragen an bestimmte Einheitsfiktionen in der Kirche.

Angesichts der Tatsache, dass sich das Handeln der Anderen normalerweise nicht von selbst so einstellt, wie wir es haben wollen, und die Handlungsmöglichkeiten der Anderen nicht einfach – und schon gar nicht physisch – ohne Weiteres auszuschalten sind (vgl. Tyrell 1980, 62f), ist die Frage nach der ‚Einheit‘ ein, ja das Zentralthema der Soziologie, wenn es um die ‚Einheit‘ von Gesellschaft geht. Dabei sind prinzipiell alle gesellschaftlichen Gebilde im Blick – von der erotischen Paarbeziehung bis zur Familie, von der Nachbarschaft bis zur Kirche und den Großkonzernen der nationalen und transnationalen Weltgesellschaft. Die Frage danach, wie gesellschaftliche Einheit möglich ist, hat allerdings unterschiedliche Antworten gefunden, und trotz dieser Differenzen wird man von der ‚Einheit‘ der Soziologie sprechen können. Vielfalt und Differenzen müssen somit gesellschaftliche ‚Einheiten‘ nicht in Frage stellen, auch nicht die der Kirche. ‚Einheit‘ hat die soziologische Tradition durch soziale ‚Verbundenheit‘, ‚Verbindung‘ oder ‚Gebundenheit‘ übersetzt, ‚Feld‘ (Pierre Bourdieu), ‚Figuration‘ (Norbert Elias), ‚System‘ (Talcott Parsons, Niklas Luhmann) sind die jüngeren Übersetzungen. Die Soziologie fragt deshalb nach den Formen, Medien, Inhalten und Ebenen sozialer Verbundenheit und kann vielleicht Hinweise geben, ob und inwiefern diese Risse zeigt. Nur eine kleine Auswahl von Antworten soll hier angedeutet werden.

Einer der soziologischen Klassiker, Georg Simmel, sah gesellschaftliche Einheit im mehr oder weniger bewussten Wissen und Gefühl der Einzelpersonen zu Grunde gelegt, wenn er schreibt: „Das Bewusstsein, mit den andern eine Einheit zu bilden, ist hier tatsächlich die ganze zur Frage stehende Einheit“ (Simmel 1908, 29). Dieses „Bewusstsein, Gesellschaft zu bilden, ist zwar nicht in abstracto dem Einzelnen gegenwärtig, aber immerhin weiß jeder den anderen als mit ihm verbunden“ (Simmel 1908, 31). Jede Gesellschaft besteht aus einem Geflecht von „unzähligen Beziehungen“ und dem „Gefühl und dem Wissen um dies Bestimmen und Bestimmtwerden dem anderen gegenüber“ (Simmel 1908, 29). Simmel sah „die Einheit des einen Menschen mit dem anderen“ z.B. „im Verstehen, in der Liebe, im gemeinsamen Werk“ (Simmel 1908, 29). Jeder Romantik abhold, sah er doch zwischen den Seelen der Einzelpersonen unüberbrückbare Differenzen: Als „personale Einheiten […] wehren sie sich gegen jenes absolute Zusammengehen in der Seele eines andern Subjektes“. Einheit setzt also ein bestimmtes Maß an Differenzakzeptanz voraus, muss auf ‚Totalidentifikation‘  verzichten. Simmel macht auf diese bleibende Spannung in allen sozialen Verbindungen aufmerksam, die darin liegt, dass „jedes Element einer Gruppe nicht nur Gesellschaftsteil, sondern außerdem noch etwas ist“ (Simmel 1908, 35); dass also die Einzelperson „in keine Ordnung eingestellt ist, ohne sich zugleich ihr gegenüber zu finden“ (Simmel 1908, 38). Das Selbst-Sein der Einzelpersonen wird sogar in der erotischen Ekstase oder in der mystischen Vereinigung mit Gott („Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir und ich bin in euch“, Jh 14, 20) nicht aufgegeben:

„Der religiöse Mensch“, so Simmel (1908, 38), “fühlt sich von einem göttlichen Wesen völlig umfasst, als wäre er nur ein Pulsschlag des göttlichen Lebens, seine eigene Substanz ist vorbehaltlos, ja in mystischer Unterschiedslosigkeit in die des Absoluten hingegeben. Und dennoch, um dieser Einschmelzung auch nur einen Sinn zu geben, muss er irgendein Selbst-Sein bewahren […]: das Eins-Sein mit Gott ist in seiner Bedeutung durch das Anders-Sein als Gott bedingt“.

Einheit setzt ein bestimmtes Maß an Differenzakzeptanz voraus

Die Einheit mit Gott ist genauso wenig differenzlos zu haben wie die Einheit untereinander. Auch hier bleibt ein ‚Außerdem‘. In unserer sozialen Verbundenheit mit einer anderen Einzelperson kann sich dieses ‚Außerdem‘ dem Grenzwert Null nähern – wie beim zölibatären Priester, wenn „seine kirchliche Funktion sein individuelles Fürsichsein völlig überdeckt und verschlingt“, meint Simmel (1908, 37). Oft aber sehen wir dieses ‚Außerdem‘, so Simmel (1908, 34f), gefiltert, wie durch einen Schleier „nicht schlechthin als Individuum, sondern als Kollegen oder Kameraden oder Parteigenossen, kurz als Mitbewohner derselben besonderen Welt und diese unvermeidliche, ganz automatisch wirksame Voraussetzung ist eines der Mittel, seine Persönlichkeit und Wirklichkeit in der Vorstellung des andern auf die von seiner Soziabilität erforderte Qualität und Form zu bringen“. Geht man von diesen Überlegungen Simmels aus und fragt nach der ‚Einheit‘ der Kirche, wird man sie aktuell nicht nur durch Differenzen zwischen den unterschiedlichen ‚Mitbewohnern‘ dieser Kirchenwelt herausgefordert sehen, sondern auch dadurch, dass sozusagen die Anteile des ‚Außerdem‘, des Selbst- und Andersseins der Einzelpersonen jenseits ihrer Rollen als Kirchenmitglieder enorm an Bedeutung gewonnen haben (‚Individualisierung‘ und ‚Singularisierung‘) und immer weniger ‚verschleiert‘ werden können. 

Lässt sich die ‚Einheit‘ der Kirche als eine Verbundenheit im Suchen und Fragen verstehen?

Auch Simmels Blick darauf, dass soziale Einheiten auf Gefühlen basieren können und auf Wissen im Sinne von Gewissheiten basieren müssen (vgl. Berger/Luckmann 1974), werfen Fragen hinsichtlich der ‚Einheit‘ der Kirche auf: Können Glaubensgewissheiten die kirchliche Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit – auch angesichts der Zirkulation konkurrierender Sinndeutungen – noch fundieren? Sind nicht auch die kirchlichen Mitarbeitenden ausgesprochen religiös heterogen orientiert (vgl. Ebertz/Segler 2016)? Lässt sich die ‚Einheit‘ der Kirche als eine Verbundenheit im Suchen und Fragen verstehen (vgl. schon Ebertz 1998; jetzt Halik 2020)?

Andere soziologische Klassiker haben zwischen ‚gemeinschaftlichen‘ und ‚gesellschaftlichen‘ Formen der Verbundenheit unterschieden (vgl. Tönnies 1935). Nicht alle sozialen Gebilde bilden ‚Gemeinschaften‘, auch wenn ihre Repräsentanten sie gern so nennen: Volksgemeinschaft, Schulgemeinschaft, Glaubensgemeinschaft. Als typische Beispiele für Gemeinschaften können Mutter-Kind-Dyaden, Familien, Nachbarschaften, Dörfer, Freundschaften gelten. Das sind – ,weiß Gott‘ – nicht alles Idyllen, aber ihre Marker sind leibliche oder seelische Nähe in Raum und Zeit, woraus ähnliche Gewohnheiten im Wahrnehmen, Denken, Kommunizieren entstehen und die Wahrscheinlichkeit erwächst, ‚mehr‘ als Arbeitskollegen voneinander zu wissen, ja sich wechselseitig – ohne jenen ‚Schleier‘, der jenes ‚Außerdem‘ verdeckt – als ‚ganze Personen‘ zu kennen. Auch Sekten versuchen in diesem Sinne, ‚Gemeinschaften‘ auf religiöser Überzeugungsbasis zu bilden, sind sie doch besitzergreifend-gierig (vgl. Coser 1995) auf die ganze Person, auch auf das ‚Außerdem‘. Möglicherweise bleiben Sekten nicht zuletzt deshalb Minderheiten, weil sie jene Simmelsche Differenzakzeptanz ignorieren.

Gemeinschaften entsprechen dann Formen – so die französische Soziologie – direkter, sogen. ‚mechanischer‘ Solidarität, der die indirekte ‚organische‘ Solidarität kontrastiert (vgl. Durkheim 1996). Sie beruht auf Arbeitsteilung und wechselseitigen Abhängigkeiten von Funktionsträgern, wie wir sie aus Industriebetrieben und Dienstleistungsorganisationen wie z.B. den konfessionellen Wohlfahrtsverbänden her kennen. Durch solche Interdependenzen ist man sachlich aneinander ‚gebunden‘, ohne miteinander – innerlich oder persönlich – verbunden zu sein (vgl. Ebertz 2020). Vielleicht kennt man sich nicht einmal dem Namen nach. Damit wird auf andere Formen der ‚Einheit‘ hingewiesen. Für die künstlich hergestellte organische Solidarität ist eine spezifisch ‚gesellschaftliche‘ Form der Verbundenheit typisch. Max Weber wollte die beiden schweren deutschen Begriffe dynamisieren und sprach von „Vergemeinschaftung“ dann, wenn eine soziale Beziehung „auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligen“ beruht, und von  „Vergesellschaftung“ , wenn eine soziale Beziehung „auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht“ (Weber 1922, 21).

Interaktiv engagierte Kirchenmitglieder – kaum mehr als 10% in Deutschland – weisen vielleicht schwerpunktmäßig – das wäre zu prüfen – ein anderes Muster der Kirchenverbundenheit auf (traditional, affektuell und wertrational) als amtstragende Mitglieder (wertrational und zweckrational) oder als rechenhafte Mitglieder (traditionell und zweckrational)

Diese rein begrifflichen Unterscheidungen ermöglichen es, in den je konkreten sozialen ‚Einheiten‘, etwa einer Kirche, einer Gemeinde, einer Großpfarrei, der verbandlichen Caritas, der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen usw., herauszuarbeiten, auf welchen Motiven der Beteiligten die Verbundenheit beruht, ob es kombinierte Motive sind, ob sie gleichgerichtet sind und auf Wechsel- bzw. Gegenseitigkeit beruhen usw.. Auch ein Wandel in der Verbundenheitsstruktur lässt sich so herausarbeiten. Interaktiv engagierte Kirchenmitglieder – kaum mehr als 10% in Deutschland – weisen vielleicht schwerpunktmäßig – das wäre zu prüfen – ein anderes Muster der Kirchenverbundenheit auf (traditional, affektuell und wertrational) als amtstragende Mitglieder (wertrational und zweckrational) oder als rechenhafte Mitglieder (traditionell und zweckrational). Letztere wollen affektuell oder wertrational gar nicht aktiviert, sondern schlicht in Ruhe gelassen werden (vgl. Schmidt 2019).  Vieles spricht dafür, dass die bisherigen Motive der Kirchenverbundenheit an der ‚Basis‘ aus einer Mischung aus religiösen und lokalistischen Orientierungen zusammengesetzt waren (‚Inkulturation‘), die in den aktuellen Projekten der Kirchenentwicklung hin zu größeren – regionalen – Pastoralstrukturen aufgebrochen werden und Widerstand generieren. Solche Unterscheidungen und Hinweise laden zur Vorsicht gegenüber Unterstellungen ein, die Kirche sei im Kern eine Überzeugungsgemeinschaft und müsse also ausschließlich von einem Geflecht von wertrational aufgeladenen Beziehungen getragen sein. „Rein wertrational handelt“, so Max Weber, „wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt im Dienst seiner Überzeugung von dem, was Pflicht, Würde, Schönheit, religiöse Weisung, Pietät, oder die Wichtigkeit einer ‚Sache‘ gleichviel welcher Art ihm zu gebieten scheinen“ (Weber 1922, 12).

Solange Glaubensprüfungen – wie in den Sekten – unterlassen werden, können Glaubenskonsensfiktionen über gar nicht vorhandenen Glaubenskonsens hinwegtäuschen … So lässt sich für die meisten Kirchenmitglieder unter dem Krummstab gut leben

So geraten bei konkreten kirchlichen Anlässen – z.B. Hochzeiten – Personen – etwa Amtsträger und rechenhafte Mitglieder – miteinander in Kontakt, die ganz unterschiedliche Orientierungen mit der Kirche verbinden. Trotz solcher Differenzen sind sie auf der Interaktionsebene miteinander verbunden, freilich auch als ‘Mit-Glieder’ auf der Ebene der kirchlichen Organisation, die in Deutschland faktisch nur zwei Bedingungen für die Basismitgliedschaft kennt: Taufe und – bei Erwerbstätigkeit – Kirchensteuerzahlung, sieht man einmal von kirchlichen Arbeitsorganisationen wie der verbandlichen Caritas ab, die weitere Mitgliedschaftsbedingungen setzt, nicht aber unbedingt die Taufe. Wenn sie ihre Motive nicht offenlegen und dramatisieren, muss es unter den kirchlich Ge- und Verbundenen nicht zu Konflikten kommen. Selbst die liturgischen Riten können dabei entlasten, weil sie gerade von der Motivationsfrage absehen, indem sie diese erst gar nicht zum Thema oder Sachverhalt machen. Der Ritus hat ‚rite et recte‘ abzulaufen, ohne dass der subjektiv gemeinte Sinn der Beteiligten – etwa der Priester und der ‚Gläubigen‘ – erhoben oder gar zur Bedingung der rituellen Teilnahme gemacht wird. Riten und Rituale entlasten nicht nur von Ohnmacht, sondern auch von der Glaubensmotivation. Sie tabuisieren sie und schützen die Teilnehmenden, zumal in einer Massenkirche, sich als religiös Unmusikalische und theologisch Unwissende bloßzustellen. Solange Glaubensprüfungen – wie in den Sekten – unterlassen werden, können Glaubenskonsensfiktionen über gar nicht vorhandenen Glaubenskonsens hinwegtäuschen. Der Verzicht auf die Dramatisierung von ‚Unglauben‘, mit dem Ratzinger (1958) schon vor gut 60 Jahren mit dem Label „Kirche der Heiden“ kokettiert hat, ist ein Beitrag zur ‚Einheit‘ der Kirche. Diese Präventivwirkung des Nichtwissens und Nichthandelns ist nicht nur im Interesse der Stabträger. Auch für die meisten Kirchenmitglieder lässt sich unter dem Krummstab gut leben.

Grenzen machen soziale Ordnungen als solche unterscheidbar, regeln deren Innen-Außen-Beziehungen und ermöglichen dadurch erst die Entwicklung einer autonomen Binnenstruktur

Kein auf Dauer gestelltes Geflecht an sozialen Beziehungen begnügt sich mit den Motiven der Beteiligten als Chance seines Fortbestandes, es sei denn die Beziehungen erschöpfen sich in purer Interaktion. Eine irgendwie geartete – und sei es eine schweigende – Zustimmung der anderen ist Voraussetzung für eine gewisse Dauerhaftigkeit von sozialer ‚Einheit‘. ‚Zustimmung‘ zieht die Mitverantwortung anderer mit ein und ist eine elementare Form der normativen Grenzziehung. Die Geltung normativer Konstruktionen (vgl. Popitz 1980) wird im Falle der Abweichung durch Missbilligung der Beteiligten oder durch Sanktionen eines darauf spezialisierten Expertenstabs erinnert und garantiert. Normative Konstruktionen haben eine begrenzte soziale Reichweite und unterscheiden nicht nur zwischen ‚richtig‘ und ‚falsch‘, sondern auch zwischen ‚Zugehörigkeit‘ und ‚Nicht-Zugehörigkeit‘. Sie markieren ein ‚Innen‘ und ein ‚Außen‘, d.h. auch Grenzen. Grenzziehung ist deshalb „ein grundlegendes Element jedes sozialen Gebildes, räumlicher wie nichträumlicher Art. Grenzen machen soziale Ordnungen als solche unterscheidbar, regeln deren Innen-Außen-Beziehungen und ermöglichen dadurch erst die Entwicklung einer autonomen Binnenstruktur […] Man kann sich Grenzen als unsichtbare Membrane vorstellen, die gesellschaftliche Einheiten zusammenbinden und über die zugleich ein mehr oder weniger fließender oder stockender Austausch mit der Außenwelt stattfindet“ (Bach 2020, 414). Ordnung durch Grenzziehung und Grenzziehung durch Ordnung wird in der Kirche formell durch das Kirchenrecht repräsentiert, das auch Minimalgebote für alle Mitglieder enthält. Normen sollen die sozialen Beziehungen, d.h. Kommunikationen und Handlungen, koordinieren und die wechselseitigen Erwartungen vor Enttäuschungen sichern. Nicht der Verlust an Gültigkeit dieser Normen, die ja nach wie vor das Kirchenrecht ausmachen, sondern ihr Geltungsverlust auf der Verhaltensebene – etwa am Sonntag und beim Sex – macht die derzeitige Kirchenkrise aus, solange noch keine neuen normativen Konstruktionen entwickelt werden. Hinzu kommt als weitere Dimension des Geltungsverlusts der kirchliche Sanktionsverlust, zumal die Hitzeempfindlichkeit für das Feuer der Hölle ebenso gesunken ist wie die Erwartung, dass dieser postmortale Zustand überhaupt eintreten wird (vgl. Ebertz 2019a). Kirchliche Normen sind für die Normalsterblichen unter den Kirchenmitgliedern keine Zähne mehr, die beißen können. Sanktionsverlust verweist soziologisch auf Herrschaftsverlust. Machtverlust ist soziologisch noch einmal etwas anderes.

Kirchliche Normen sind für die Normalsterblichen unter den Kirchenmitgliedern keine Zähne mehr, die beißen können. Sanktionsverlust verweist soziologisch auf Herrschaftsverlust

In der Regel wird das zeitliche Fortbestehen einer auf Dauer gestellten einheitsstiftenden normativen Ordnung auch durch eine Über- und Unterordnung, also eine einheitliche Herrschaftsstruktur gesichert. Das mag man mit einer ideologisch auf ‚Dienst‘ und ‚Gemeinschaft‘ getrimmten Kirchenmentalität gar nicht (mehr) hören, auf ‚Synodalen Wegen‘ schon gar nicht. Aber jenseits der Interaktionsebene kann ‚Einheit‘ nur dadurch stabilisiert werden, dass der Glaube an die Legitimität ihrer Ordnung – dass sie auch sein soll – erweckt und gepflegt wird, also daran, dass die Übergeordneten auch befugt sind, ‚verbindlich‘ verbindende – ‚Einheit‘ stiftende – Normen zu setzen und ihre Befolgung (‚Gehorsam‘) zu erwarten. de iure ist der Klerus den Laien übergeordnet. Die Sakramentsgnade der Priesterweihe versetze Männer in die „Vortrefflichkeit und Erhabenheit“ eines „Standes“ der „Dolmetscher und Botschafter Gottes“, die „in seinem Namen die Menschen das göttliche Gesetz und die Lebensvorschriften lehren, und selbst die Person Gottes auf Erden vertreten“. So hatte es der nach dem Konzil von Trient (1545-1563) herausgegebene „Catechismus Romanus“ (Buse 1859, 264f) formuliert. Er war bis weit ins zwanzigste Jahrhundert in der römisch-katholischen Kirche gültig und hatte die Priester „mit Recht nicht nur Engel, sondern auch Götter genannt“. Nach derzeit gültigem Kirchenrecht sind „die geweihten Männer, der Klerus, und die Laien […] als zwei Stände scharf voneinander geschieden und in ein Verhältnis der Über- und Unterordnung gestellt. Rechtlich begründet die Ordination der einen die Subordination der anderen […] Was die Logik der ständischen Gliederung an rechtlicher Ungleichheit fordert, kann mit noch so wohlgeformter konziliarer oder nachkonziliarer Gleichheitsrhetorik nicht überbrückt werden. Rechtlich ist der Klerikerstand der Leitungs- und Führungsstand mit Standesvorrechten vor allem in Bezug auf die Leitungsgewalt und auf die verbindliche Lehre“ (Lüdecke 2010, 129). Und die ‚Gemeinschaft‘ der Gläubigen ist im kirchlichen Verfassungsrecht als „communio hierarchica“ (Böckenförde 2006) strukturiert. Auch der Historiker erinnert an die „fundamentale Tatsache, dass die lateinische Kirche primär ‚Rechtskirche‘ und nicht ‚Liebeskirche‘ ist“; und dass sie „in ihrer konkreten historischen Erscheinung Institution, Organisation, hierarchischer Herrschaftsverband ist, unterscheidet sie von allen anderen Religionen einschließlich des orthodoxen Christentums“ (Reinhard 2006,238). Die Einheit der Kirche, so die soziologische Diagnose, ist durch den weitgehenden Geltungsverlust ihrer Normen- und Sanktions- und damit auch ihrer Legitimations- und Herrschaftsstruktur herausgefordert.

Schon der Sinn solcher Instruktionen wird heute nicht mehr verstanden. Dieser Geltungsverlust geht aktuell aber nicht nur von ‚der Basis‘ aus, sondern in vielfältiger Weise auch von den Eliten im kirchlichen Ämtersegment (vgl. nur Ebertz 2018; 2019). So steht die Herausforderung an, innerkirchliche ‚Einheit‘, d.h. Verbundenheit neu zu buchstabieren. Die sogen. ‚Einheitsmodelle‘ zwecks ökumenischer Verbundenheit wären dann Themen eines Folgekapitels …

Die Einheit der Kirche, so die soziologische Diagnose, ist durch den weitgehenden Geltungsverlust ihrer Normen- und Sanktions- und damit auch ihrer Legitimations- und Herrschaftsstruktur herausgefordert …So steht die Herausforderung an, innerkirchliche ‚Einheit‘, d.h. Verbundenheit neu zu buchstabieren

Literatur:

M. Bach, Die Membranen der Gesellschaft, in: Forschung und Lehre 2020, H. 5, 414-415.

P. L. Berger, T. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 4. Auflage, Frankfurt 1974.

W. Böckenförde, Zur gegenwärtigen Lage in der römisch-katholischen Kirche. Kirchenrechtliche Anmerkungen, in: N. Lüdecke/G. Bier (Hg.), Freiheit und Gerechtigkeit in der Kirche, Würzburg 2006, 143-158.

A. Buse (Hg.), Der Römische Katechismus nach dem Beschlusse des Concils von Trient, Erster Band.  Zweiter Teil. Siebentes Hauptstück, Bielefeld 1859.

L. A. Coser, Gierige Institutionen: Soziologische Studien über totales Engagement, Berlin 2015.

É. Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt 1996.

E. Ebertz, Farben der Solidarität, Konstanz 2020.

M. N. Ebertz, In der Frage leben, in: J. Röser (Hg.): Christsein 2001. Erwartungen und Hoffnungen an der Schwelle zum neuen Jahrtausend, Freiburg/Basel/Wien 1998, 232-234.

M. N. Ebertz, Der Kampf um die Kirche – in der katholischen Kirche. Soziologische Perspektiven auf die Debatte um „Amoris laetitia“. In:Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik, 2(1)/2018, 1-18. Online: https://rdcu.be/Lq7u.

M. N. Ebertz, Es geht ums Ganze. In: feinschwarz vom 16.01.2019 online: https://www.feinschwarz. net/es-geht-ums-ganze/.

M. N. Ebertz, Der Kampf um Hölle und Fegefeuer. Ein soziologischer Blick, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 167/2019, 115-124.

M. N. Ebertz/L. Segler, Spiritualitäten als Ressource für eine dienende Kirche. Die Würzburg-Studie, Würzburg 2016.

T. Halík, Christentum in Zeiten der Krankheit, in: http://www.theologie-und-kirche.de/halik-theologie-pandemie. pdf (Zugriff 17.05.2020).

N. Lüdecke, Die Ehe im Plane Gottes und seiner Kirche. Geschlechterverhältnis, Ehe und Ekklesiologie in kanonistischer Sicht, in: B. Heininger (Hg.), Ehe als Ernstfall der Geschlechterdifferenz, Berlin 2010, 115-137.

H. Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft, Tübingen 1980.

J. Ratzinger, Die neuen Heiden und die Kirche, in: Hochland 51/1958, 1-11.

W. Reinhard, Die lateinische Variante von Religion und ihre Bedeutung für die politische Kultur Europas. Ein Versuch in historischer Anthropologie, in: Saeculum 43 (1992), 231-255.

T. Schmidt, Das Mitgliedschaftsparadox, in: D. Gutmann u.a. (Hg.), Kirche – ja, bitte! Innovative Modelle und strategische Perspektiven gelungener Mitgliederorientierung, Neukirchen-Vluyn 2019, 171-182.

G. Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908.

F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, 8., verbesserte Auflage, Leipzig 1935.

H. Tyrell, Gewalt, Zwang und die Institutionalisierung von Herrschaft, in: R. Pohlmann (Hg.): Person und Institution, Würzburg 1980, 59-92.

M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922.

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