012020

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Konzept

Jan-Christoph Horn

Die Welt, ein Pluriversum. Chantal Mouffe und ihre agonistische Perspektive  

„Achtung, rechtspopulistisches Gedankengut!“ Manchmal wäre ein solcher Aufkleber gut zu gebrauchen. Ein Demokratieverständnis, das darauf basiert, zwischen schwarz und weiß keine Schatten zu kennen, kann nicht ganz helle sein.1 Dieser Politikstil heißt: Spaltung.

Was sind die Alternativen? Konkret: Gibt es linke, demokratische Denker*innen? Sind diese hilfreich(er), um die postmoderne, poststrukturalistische Herausforderung der Spannung zwischen Anschauung und Bewertung, zwischen wahr und falsch, Einheit und Trennung konstruktiv zu denken und daraus Politik – auch Kirchenpolitik – gestalten zu können?

Ja. Es lohnt sich, Chantal Mouffe, belgische Politikwissenschaftlerin und über den akademischen Auftrag in England hinaus in Europa und Lateinamerika für Solidarität, Gleichheit und Gerechtigkeit engagiert, kennenzulernen.2

Es gibt somit eine Pluralität an Wahrheiten, die alle gleichzeitig und gleichermaßen wahr sind.

Chantal Mouffe orientiert sich in ihren als postmarxistisch bezeichneten Arbeiten stark an den französischen Dekonstruktivisten, allen voran Jacques Derrida. Dessen Leitbegriff Différance bezeichnet – philosophisch gewendet aber an dieser Stelle verkürzt gesagt – die Unterscheidbarkeit aller Dinge. Wenn aber alles Unterscheidbar ist, ist es sinnlos, die Dinge auf eine allem zugrundeliegende „erste“ Unterscheidung zurückführen zu wollen.

Damit verliert das Bestreben nach einer „wahren“ Unterscheidung zu fragen an Bedeutung – nicht aber die Unterscheidung an sich, da sie sinnstiftend ist. Das Lesen eines Textes zum Beispiel braucht Sinnzusammenhänge, um verstanden zu werden, sonst bliebe er eine aneinandergereihte Zeichenfolge. Das Lesen besteht aus Différance. Denn der von der Autor*in (vielleicht) gemeinte Sinn wird nicht mit den Zeichen mittransportiert. Der Text sagt nichts, aber liefert alles mit. Die Interpretation des Textes sagt mehr über die Leser*in als die Autor*in. Es gibt somit eine Pluralität an Wahrheiten, die alle gleichzeitig und gleichermaßen wahr sind. Man kann sich vorstellen, dass ein solches Textverständnis die Didaktik des Deutsch-Unterrichts revolutioniert hat.

Dieses dekonstruktivistische Grundprinzip der sinnstiftenden Unterscheidbarkeit aller Dinge wendet Chantal Mouffe auf politische Prozesse an. Das klingt dann so: „Die entscheidende Frage ist meiner Ansicht nach nicht, wie man einen Konsens ohne jede Exklusion herstellen kann, würde das doch die Konstruktion eines Wir ohne ein korrespondierendes Ihr erfordern. Das jedoch ist unmöglich, da die Konstitution eines Wir (…) stets die Abgrenzung von einem Ihr voraussetzt. Die zentrale Frage lautet demnach, wie die für jedwede Politik konstitutive Unterscheidung zwischen uns und denen so gestaltet werden kann, dass sie mit der Anerkennung des Pluralismus vereinbar ist.“ (28)3

Die zentrale Frage lautet demnach, wie die für jedwede Politik konstitutive Unterscheidung zwischen uns und denen so gestaltet werden kann, dass sie mit der Anerkennung des Pluralismus vereinbar ist

Unter dieser Perspektive erhält die Frage der Auflösung der Spannung zwischen Einheit und Spaltung eine komplett neue Färbung. Denn „Meinungsverschiedenheiten über die Interpretation der gemeinsamen ethisch-politischen Prinzipien sind nicht nur legitim, sondern notwendig. Sie eröffnen den Bürgern unterschiedliche Identifikationsmöglichkeiten und sind der Stoff, aus dem demokratische Politik gemacht wird.“ (30) „Die Frage lautet nicht, wie man im Widerstreit der Interessen einen Kompromiss aushandelt oder wie man einen ‚rationalen‘, das heißt alle einschließenden Konsens ohne jede Exklusion erzielt. Entgegen dem, was viele Liberale gerne glauben wollen, liegt die Besonderheit demokratischer Politik nicht in der Überwindung des Wir/Sie-Gegensatzes, sondern in der unterschiedlichen Art und Weise, in der diesem Gestalt gegeben wird.“ (31)

Mouffe geht dabei über die Denkweisen anderer linker, politischen Philosoph*innen hinaus. „Der größte Makel der von Arendt und Nietzsche beeinflussten agonistischen Ansätze ist, dass sie nicht in der Lage sind, den Charakter der Auseinandersetzung um die Hegemonie zu erfassen, weil ihr Hauptaugenmerk auf dem Kampf gegen die Beendigung der Debatte liegt.“ (38) Sie spricht selber von der Radikalisierung der Demokratie: das Aushalten der Agonistik – des fortdauernden Wettstreits – gegenüber der Suche nach einer stabilen Hegemonie – Ordnung – der Verhältnisse. „Man könnte es den ‚Augenblick des Politischen‘ nennen: die Erkenntnis des konstitutiven Charakters gesellschaftlicher Gegensätze und der Unauslöschlichkeit des Antagonismus.“ (42)

Die Grundhaltung also ist diese: „Um das Politische in seiner antagonistischen Dimension zu erfassen, muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Welt kein ‚Universum‘ ist, sondern ein ‚Pluriversum‘.“ Diesen Satz auf die Kirche angewandt, lässt mit der Zunge schnalzen: „Um die Kirche zu erfassen …“

Die Grundhaltung also ist diese: „Um das Politische in seiner antagonistischen Dimension zu erfassen, muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Welt kein ‚Universum‘ ist, sondern ein ‚Pluriversum‘.“ (49) Diesen Satz auf die Kirche angewandt, lässt mit der Zunge schnalzen: „Um die Kirche zu erfassen …“ Da wird es schnell konkret, weil aus dieser Haltung anderes Verhalten folgt. „Um sich eine Weltordnung im Sinne einer Pluralität hegemonialer Blöcke überhaupt vorstellen zu können, muss man sich von der Idee verabschieden, dass diese Teil einer übergreifenden, moralischen und politischen Einheit sein müssten.“ (51) Mouffe hält dem üblichen demokratischen Vertragswesen zum Beispiel vor, letztlich eine multipolare Hegemonie zu schützen. Ihre Idee der Agonistik erinnert eher an ein diskursives Netzwerk.

Mouffes politisches Denken beinhaltet den Abschied von einer zentralen Idee: der Überwindung bestimmter Ansätze, um einem anderen das gebührende Recht zu verschaffen. Sie plädiert für einen neuen Blickwinkel: „Wir müssen uns von dem Anspruch verabschieden, der Prozess der Demokratisierung müsse in der weltweiten Übernahme des liberalen, demokratischen Modells westlicher Prägung bestehen. Die Demokratie kann in einer multipolaren Welt eine Vielzahl an Formen annehmen, da das Ideal der Demokratie in verschiedenen Kontexten auf unterschiedliche Weise realisiert werden kann.“ (58)

Was hier über demokratische Prozesse gesagt wird ist leicht auf die Kirche übertragen: Es gibt nicht die eine Idee von Kirche. Nicht ob rechts oder links, oben oder unten ist die Frage, sondern wie ein konstruktives Spannungsfeld multipler Ekklesiologien gelingt. „Als Konsequenz (…) ergibt sich die Notwendigkeit eines pluralistischen Ansatzes, der die Möglichkeit multipler Artikulationen (…) ins Auge fasst.“ (66f) Papst Franziskus klingt nicht unähnlich. Und erinnert es nicht grundsätzlich an die Uridee des Katholischen, welche Einheit, nicht Einheitlichkeit bedeutet?

Was hier über demokratische Prozesse gesagt wird ist leicht auf die Kirche übertragen: Es gibt nicht die eine Idee von Kirche. Nicht ob rechts oder links, oben oder unten ist die Frage, sondern wie ein konstruktives Spannungsfeld multipler Ekklesiologien gelingt.

So sollte man „nicht einfach nur in Unterschieden (…) denken, sondern in Divergenzen. Die Bedeutung der Unterscheidung zwischen ‚Divergenz‘ und ‚Unterschied‘ (…) liegt darin, dass eine ‚Divergenz‘ ein Spannungsfeld zwischen den Dingen erzeugt, die sie unterscheidet. (…) Eine pluralistische Sichtweise, die auf dem (…) agonistischen Ansatz beruht, erkennt an, dass Divergenzen der Ursprung von Konflikten sein können, behauptet jedoch, dass diese Konflikte nicht notwendigerweise in einen ‚Kampf der Kulturen‘ münden müssen.“ (72) „Ein agonistischer, pluralistischer Ansatz sollte das Pluriversum aus dem Blickwinkel der hostipitality betrachten, als den Ort, an dem es zu einem agonistischen Aufeinandertreffen einer Vielzahl von Polen kommt, die miteinander konkurrieren, ohne dass einer von ihnen den Anspruch erhebt, den anderen überlegen zu sein. Dieses agonistische Aufeinandertreffen ist eine Konfrontation, deren Ziel weder die Auslöschung noch die Assimilierung des anderen ist, und in der die Spannungen zwischen den verschiedenen Ansätzen zur Förderung jenes Pluralismus beitragen, der eine multipolare Welt charaktierisiert.“ (73) Wachstum – nicht nur kapitalistischer Natur – ereignet sich nicht durch den Sieg, sondern durch den Diskurs. Gastfreundlich, wie man Jaques Derridas Begriff der „Hostipitality“ verstehen kann.4

Statt zerreißender Spaltung oder fader Konsensorientierung plädiert Mouffe also für eine agonistische Stabilität der Ideen. Das Wachhalten des Diskurses. Formen der Identifikation anstatt essentieller Identität (vgl. 79). Die Entwicklungsspirale anstatt einem Zielpunkt. Die Auseinandersetzung mit anstatt dem Rückzug aus (vgl. 115ff). Demokratie hat dann nicht nur repräsentativen Charakter, sondern kommt zu ihrem wahren Kern, wenn sie die Unterschiede für die Sache der Demokratie vorantreibt (vgl. 182ff). Unterschiede machen Dinge erkennbar. „Für mich ist das gegnerische Modell konstitutiv für demokratische Politik. Natürlich sollten wir die Opposition von Links und Rechts nicht als eine essentialistische ansehen. (…) Was wirklich auf dem Spiel steht, ist die Zurkennntnisnahme der gesellschaftlichen Spaltung und die Existenz antagonistischer Konflikte, die nicht durch rational angelegte Verfahren des Dialogs überwunden werden können.“ (204)

Einheit als Vielfalt, Spannung anstatt Spaltung … Es geht weder um Stillstand durch Entscheidung noch Stillstand wegen fehlender Entscheidung … Es geht um die Entscheidung, aus der Unterscheidbarkeit aller Dinge kein Problem, sondern etwas Produktives zu machen.

Einheit als Vielfalt, Spannung anstatt Spaltung –  Chantal Mouffe regt an, neu über die Bedeutung von Richtungsdebatten nachzudenken. Sie beobachtet z.B. im arabischen Frühling eine diskursive Kraft für die gesellschaftliche Entwicklung und nicht einfach nur den Versuch des Sieges des immer gleichen Typus von Demokratie (vgl. 161ff). Konsens ist kein Ziel. Der Diskurs hat seinen Wert an sich, auch wenn klar ist, dass er objektiv/rational ununterscheidbar bleiben wird.

Bei aller Kürze dieser Darstellung, den noch offenen Fragen, die sich mit Blick auf das Theoriegebäude stellen (z.B. die Fragen nach der Rechtfertigung von Opfern und der Gerichtsbarkeit unter agonistischen Vorzeichen) und dem, was man Mouffe vorwerfen kann, nämlich philosophisch über produktive Spannungen im politischen Diskurs zu reden ohne eine praktische Konfiguration dessen vorzulegen: Die Lektüre von Chantal Mouffe regt an, über die Ausrichtung kirchenpolitischer Debatten nachzudenken. Es geht weder um Stillstand durch Entscheidung noch Stillstand wegen fehlender Entscheidung. Sie fügt eine weitere Denkart hinzu. Es geht um die Entscheidung, aus der Unterscheidbarkeit aller Dinge kein Problem, sondern etwas Produktives zu machen. Das ist ein anspruchsvolles Programm, dem wir in den kirchlichen Richtungsdebatten zur Zeit sehr grundsätzlich nicht genügen. Es fehlt uns an risikobereiter Haltung dem eigenen Standpunkt und Mut zur Offenheit der Andersartigkeit des Anderen gegenüber.

Doch der immer vorausgehende Gott lädt in seine Nachfolge ein. Wer versucht, Gott ein- oder gar zu überholen und an seiner statt für Klarheit zu sorgen, wird müde daran, wirr davon und wild dabei. Bleiben wir in der Differenz, aber bleiben wir in der Differenz nicht stehen. Bleiben wir also bei dem, was geht. Da geht doch was. Das ist anstregend und aufreibend und aufregend genug.

  1. Vgl. den Beitrag von Marianne Heimbach-Steins in dieser Ausgabe.
  2. https://de.wikipedia.org/wiki/Chantal_Mouffe.
  3. Alle Seitenzahlen beziehen sich auf: Chantal Mouffe: Agonistik. Die Welt politisch denken. Suhrkamp, Frankfurt 2016.
  4. Dirk Quadflieg: Die Frage des Fremden. Derrida und das Paradox der absoluten Gastfreundschaft. In Andreas Niederberger / Markus Wolf: Politische Philosophie und Dekonstruktion. Transcript, Bielefeld 2007. Seiten 27–38. DOI https://doi.org/10.14361/9783839405451-002.

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