012020

Foto: Ozark Drones/Unsplash

Konzept

Marianne Heimbach-Steins

Christliche Sozialkultur – Ressource für gesellschaftlichen Zusammenhalt und politisches Engagement

Dürfen, ja sollen Christinnen und Christen politisch sein, sich politisch engagieren? Und haben sie etwas spezifisch Christliches in die Politik einzubringen? Christen glauben an einen Gott, der Mensch geworden ist und sich bis hin zum Erleiden tödlicher Gewalt auf das menschliche Leben in seiner Widersprüchlichkeit eingelassen hat. Ein solcher Glaube kann nicht unpolitisch sein, desinteressiert an den Belangen des Zusammenlebens, der Förderung von Gerechtigkeit, der Überwindung von Gewalt.

Ich werde – ausgehend von der aktuellen Herausforderung des Populismus – nach Quellen und Potentialen einer christlichen Sozialkultur fragen, nach Orientierungsansätzen, die sich aus der Botschaft des Christentums für das gesellschaftliche und politische Zusammenleben gewinnen lassen und ein Engagement in der Gesellschaft und für die Gesellschaft ermutigen können.

Vorklärung: Was ist (Rechts-)Populismus?

Populismus ist durch den Anspruch charakterisiert, die wahre „Stimme des Volkes“ zu sein bzw. gegen das Establishment in Staat und Gesellschaft zu Gehör zu bringen; das muss nicht negativ sein, zuweilen ist es in erstarrten politischen Strukturen geradezu notwendig, das Empfinden und die Interessen der Bürgerinnen und Bürger sprachmächtig und wirksam zur Geltung zu bringen, Beteiligung einzufordern und wirksam umzusetzen. Gesellschaftliche Bewegungen können dazu Wesentliches beitragen.

Aber es gilt genau hinzuhören: Ob Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger eingefordert wird oder ob eine bestimmte Gruppe für sich reklamiert, „das Volk“ zu vertreten, ist nicht das Gleiche. Problematisch wird es, wenn die Welt nach sehr vereinfachenden Schemata eingeteilt wird: vertikal in „die da oben“ und „wir da unten“, horizontal in ein „Wir“, das abgegrenzt wird von den „Anderen“ – von den „Eliten“, von Ausländern, Migranten, Muslimen, Homosexuellen, „Genderisten“ etc.

Problematisch wird es, wenn die Welt nach sehr vereinfachenden Schemata eingeteilt wird.

Vor diesem Hintergrund nach einer christlichen Sozialkultur zu fragen, bedeutet auf die Suche zu gehen nach

  • Ressourcen der Differenzierung und der Kritik simplifizierender Muster,
  • Kriterien und Praxen des Zusammenhalts / der Solidarität,
  • einer Sinn- und Zielperspektive der Gesellschaftsgestaltung.1

Was bedeutet „christliche Sozialkultur“?

Um das genauer zu bestimmen, greife ich zurück auf das Gemeinsame Wort der beiden großen Kirchen in Deutschland „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ (1997). Denn darin ist von der Notwendigkeit die Rede, eine „neue Sozialkultur“ (ZSG 26) zu entwickeln und zu fördern. Es werden Koordinaten für den „Grundkonsens einer zukunftsfähigen Gesellschaft“ skizziert, der angesichts zunehmender Individualisierung und Pluralisierung sowie großer sozialer Ungleichheit nicht mehr selbstverständlich vorausgesetzt werden könne. Zu den normativen Elementen eines solchen Konsenses gehöre neben den Menschenrechten, einer freiheitlich-sozialen Demokratie, einer ökologisch-sozialen Markwirtschaft, einem neuen Arbeitsverständnis und der Bereitschaft zu internationaler Verantwortung eben eine „erneuerte Sozialkultur“ (ZSG 156-160). Die Suche nach Ressourcen des gesellschaftlichen Zusammenhalts folgt der Einsicht, dass weder Staat noch Markt alleine es „richten“ können. Die Gesellschaft in ihrer Vielfalt und Heterogenität bildet den Raum, in dem Bindekräfte und Fliehkräfte miteinander im Streit liegen. Deshalb gelte es, die Kräfte des Zusammenhalts zu entdecken, zu aktivieren und zu stärken.

Es werden Koordinaten für den Grundkonsens einer zukunftsfähigen Gesellschaft skizziert, der angesichts zunehmender Individualisierung und Pluralisierung sowie großer sozialer Ungleichheit nicht mehr selbstverständlich vorausgesetzt werden könne.

Dieser Gedanke ist in dem traditionell eher staatsskeptischen sozialkatholischen Denken tief verankert. Es betont

  • die Subsidiarität als Prinzip der Freiheitssicherung und der Stärkung der „kleinen Einheiten“ einerseits gegen freiheitsfeindliche Übergriffe des Staates, andererseits durch verlässliche Hilfe zur Selbsthilfe durch die komplexeren gesellschaftlichen Einheiten,
  • die Solidarität als Prinzip der wechselseitigen Unterstützung sowohl im zwischenmenschlichen Raum als auch mit Hilfe der institutionalisierten sozialstaatlichen Instrumente
  • das Gemeinwohl als Prinzip, das Wohlergehen für alle Mitglieder einer Gesellschaft gegen die Dominanz durchsetzungsstarker Partikularinteressen ermöglichen soll.

Tragende gesellschaftliche Kräfte der Sozialkultur sind nach Auffassung der Kirchen Familien und verwandtschaftliche Netzwerke, Bewegungen und Initiativen, Ehrenamt und Nachbarschaftshilfe.

„Das gemeinsame Moment dieser unterschiedlichen Formen der Förderung des Gemeinwohls besteht in der ihnen zugrundeliegenden Solidarität der Beteiligten.“ (ZSG 156) Eine „erneuerte Sozialkultur“ zu fördern, bedeutet Potentiale wechselseitiger Unterstützung in der Gesellschaft als Bindekräfte des sozialen Zusammenhalts zu identifizieren und zu stärken und zugleich das Bewusstsein für den Wert eines rechts- und sozialstaatlichen Rahmens zu kultivieren, der diese Potentiale fördert und sichern hilft.

Dieses Anliegen hat nichts von seiner Bedeutung verloren: Erfahrungen des Wandels, u.a. durch die migrationsbedingten Herausforderungen, verunsichern viele Menschen.2 Destruktive Einflüsse, v. a. der tief in die Alltagserfahrung europäischer Gesellschaften vorgedrungene Terrorismus, drohen diese zu destabilisieren. Rechtsgerichtete, antidemokratische Kräfte nutzen dieses Klima, instrumentalisieren Ängste und schüren negative Emotionen, um nationalistische Interessen voranzubringen, und untergraben den Zusammenhalt einer offenen Gesellschaft.3 Eben dies ist heute eine weitere Quelle tiefgreifender Verunsicherung.

„Wir können die Dinge ändern“ – Ressourcen gegen den Fatalismus

Gesellschaftliche Situationen der Verunsicherung wecken Angst, zuweilen auch Wut. Sie rufen bei manchen Menschen den Eindruck hervor, einem blinden Schicksal ausgeliefert zu sein, gegen dessen Macht „nichts zu machen“ ist.

Gegen solchen Fatalismus und Pessimismus ist aus christlicher Sicht zu fragen: Wie kann in Verhältnissen, die als nicht gut, bedrohlich, ungerecht erfahren werden, ein Impuls zu veränderndem Handeln (um-)gesetzt werden? Papst Franziskus hat dazu in der Enzyklika Laudato si‘ (2015) Wegweisendes gesagt. Seine Überlegung ist auf die ökologische Herausforderung bezogen, aber sie ist nicht darauf beschränkt:

„Die dringende Herausforderung, unser gemeinsames Haus zu schützen, schließt die Sorge ein, die gesamte Menschheitsfamilie in der Suche nach einer nachhaltigen und ganzheitlichen Entwicklung zu vereinen, denn wir wissen, dass sich die Dinge ändern können. Der Schöpfer verlässt uns nicht, niemals macht er in seinem Plan der Liebe einen Rückzieher, noch reut es ihn, uns erschaffen zu haben. Die Menschheit besitzt noch die Fähigkeit zusammenzuarbeiten, um unser gemeinsames Haus aufzubauen.“ (LS 13)

Der Text vermittelt eine doppelte Grundbotschaft:

  • Die Dinge können sich ändern, weil Menschen befähigt sind zu handeln.
  • Heute ist es Zeit zu handeln; diese Zeit darf nicht versäumt werden.

Die Auswirkungen realer Veränderungsprozesse, die viele Menschen bedrängen, sind zu einem wesentlichen Teil menschlichem Handeln geschuldet. Es kommt darauf an, sie wiederum als Auftrag zu entziffern, die Dinge durch bewusstes Handeln zu ändern. Es gilt, Menschen zu ermutigen, sich vor allem als Akteure, als Mit-Gestaltende der (politischen) Wirklichkeit wahrzunehmen. In christlich-religiöser Sprache formuliert: Verhältnisse, die als nicht gut, ja unerträglich, empfunden werden und nach Veränderung im Sinne größerer Gerechtigkeit rufen, fordern zur Umkehr heraus. Ändern können wir nur dann etwas, wenn wir uns als (potentiell) Handelnde darüber vergewissern, wo wir selbst in Bezug auf die gegebenen Herausforderungen stehen, uns über den eigenen möglichen Beitrag zur Zukunftsgestaltung klar werden und uns darauf hin neu ausrichten.

Gegen Fatalismus und Pessimismus ist aus christlicher Sicht zu fragen: Wie kann in Verhältnissen, die als nicht gut, bedrohlich, ungerecht erfahren werden, ein Impuls zu veränderndem Handeln (um-)gesetzt werden?

Nach christlichem Verständnis darf der Mensch sich trotz seiner zwiespältigen Rolle in der Wirklichkeit diese Fähigkeit zur Umkehr zutrauen, weil er nicht auf sich allein gestellt, sondern mit seiner Verantwortung in eine tragende Beziehung zu Gott eingebettet ist. Zugleich verweist sie den Menschen in den weiten Bezugsraum der menschlichen Gemeinschaft und der Schöpfung: In der Diktion von Papst Franziskus: Die Menschheits-, ja die Schöpfungsfamilie bildet den Rahmen des Handelns und der Sorge für ein gutes und gerechtes Zusammenleben; dieses Beziehungsgefüge, das (unser) Leben erst ermöglicht, gilt es zu erhalten. Sich dessen bewusst zu werden, bedeutet, die Herausforderung zur Zusammenarbeit im Dienst an einer gemeinsamen guten Zukunft zu entdecken und anzunehmen.

Empathie und Realitätssinn

Christinnen und Christen sind also aus ihrem religiösen Selbstverständnis heraus zur Solidarität aufgerufen. Sie gilt vor allem Menschen, die in Angst und Sorge sind (vgl. Gaudium et Spes 1).

Solidarität macht sich die Ängste und die Verunsicherungen des Gegenübers empathisch zu Eigen und schafft damit eine praktische Verbundenheit. Aber sie lässt sich nicht von der Sorge lähmen, sondern fragt, wie den Ängsten zu begegnen und was den Auslösern negativer Emotionen entgegenzusetzen ist, um beides überwinden zu helfen. Um den Käfig der Angst aufbrechen zu können, die jeweilige subjektive Sicht mit einem „größeren Bild“ der Wirklichkeit zu verbinden, braucht es einen Realismus, der Probleme wahrnimmt, ohne sich hoffnungslos darin zu verheddern. Ein christlicher Realismus wächst auf dem Fundament der Hoffnung, die über die Probleme hinausweist und an der Möglichkeit der Veränderung festhält. Es ist die im Osterglauben verwurzelte Hoffnung, dass eben nicht die destruktiven Mächte das letzte Wort behalten, dass nicht Hass und Vernichtungswille obsiegen, sondern ein Leben, das sich nicht dem Recht des Stärkeren, sondern dem solidarischen Einsatz füreinander verdankt.

Solche Solidarität wird vorhandene Herausforderungen weder leugnen noch banalisieren, sondern ehrlich benennen, ohne Ambivalenzen beschönigend „glatt zu bügeln“. Der 2017 verstorbene Soziologe Zygmunt Bauman hat das in einem späten Essay über die Angst auslösenden Migrationen nach Europa prägnant formuliert:

Es gilt, Menschen zu ermutigen, sich vor allem als Akteure, als Mit-Gestaltende der Wirklichkeit wahrzunehmen.

„Die Lage […] ist – für den Augenblick unheilbar – ambivalent. Eine auf Überschaubarkeit und Eindeutigkeit ausgerichtete theoretische Analyse, falls man sie denn praktisch umsetzte, beschwört mehr Gefahren herauf als die Krankheit, die sie heilen möchte.“4

Der Respekt vor den Menschen, die mit den Zumutungen tiefgreifender gesellschaftlicher Wandlungsprozesse leben müssen, gebietet es, sie als Handelnde zu adressieren, sie einzubeziehen und als (potentielle) Mitgestalterinnen und Mitgestalter ernst zu nehmen. Das Ziel muss sein, Beklemmungen zu lösen, die den Blick über die Probleme hinaus verstellen und alles Unvertraute nur als Bedrohung wahrzunehmen erlauben. Praxen der Solidarität können dazu beitragen, ein „größeres Bild“ vom Menschen, von der Gesellschaft und der Geschichte zu entwerfen. Das kann geschehen, wenn Vereinzelung durch Verbundenheit aufgebrochen und einem (aus Angst oder Verunsicherung genährten) Gegeneinander Erfahrungen des Miteinanders entgegensetzt werden – ohne Verteufelung Anderer und neue Feindbilder.

Anerkennung und Verständigung

Der Anspruch der Solidarität muss in den konkreten Gegebenheiten der Zeit immer neu umgesetzt werden. Dazu gehört die Suche nach Modellen des Zusammenschlusses, der Verständigung, der Kooperation. Nur auf einem verlässlichen Fundament der Gemeinsamkeit können auch Konflikte gelöst werden. Die sozialkatholische Tradition setzt eher auf Konsens als auf Konflikt, um Differenzen zu bearbeiten. Das ist nicht zu verwechseln mit einem harmonistischen Gesellschaftsverständnis, das keinen Streit zuließe. Es geht eher darum, wie Dissense ausgetragen und Lösungen gesucht werden sollen: nicht durch (Klassen-)Kampf, sondern durch geordnete Kooperation; nicht durch die Einteilung der Welt in Freund und Feind, sondern auf der Grundlage der Anerkennung des Anderen als Mensch mit gleicher Würde und gleichen Rechten; auch ein ideologischer Gegner, auch eine Konkurrentin um bestimmte Güter bleibt ein (Mit-)Mensch mit gleicher Würde und gleichen Rechten. Ein solches Modell baut auf moralisch anspruchsvollen Voraussetzungen auf, die Christinnen und Christen mit vielen humanistisch denkenden Menschen teilen.

Ein solches Modell baut auf moralisch anspruchsvollen Voraussetzungen auf, die Christinnen und Christen mit vielen humanistisch denkenden Menschen teilen.

Die oder den Andere/n als Andere/n gelten zu lassen, ermöglicht eine Kultur friedlicher Auseinandersetzung und Konfliktlösung: In dem Gegenüber wird zuerst und vor allen Unterschieden ein Mensch – christlich gesprochen: ein Bild Gottes – und insofern ein Gleicher oder eine Gleiche erkannt. Irritierende, vielleicht sogar ängstigende Aspekte des Andersseins müssen nicht ignoriert werden, aber sie sind nachgeordnet gegenüber diesem grundlegend Gemeinsamen. Möglicherweise unumgänglicher Streit ist so zu führen, dass die Würde des Gegenübers gewahrt bleibt. Diese christlich-ethische Grundüberzeugung praktisch wirksam werden zu lassen, bleibt eine stets neu anzunehmende Herausforderung.

Der Schutz der gleichen Würde und der Menschenrechte jeder Person (unabhängig von ethnischer, religiöser und politischer Zugehörigkeit und sexueller Orientierung) muss vor allem in Situationen verteidigt werden, in denen die Gefahr der Missachtung besteht. Das bedeutet: Die grundlegende Gemeinsamkeit im Menschsein verweist zunächst auf die Aufgabe, Solidarität mit Notleidenden und mit Menschen zu praktizieren, die unter Missachtung, Diskriminierung, Ungerechtigkeit leiden. Solidarität braucht die Bereitschaft, Grenzen zu überschreiten – Grenzen des gewohnten Denkens, der Wahrnehmung, des Vertrauten und gesellschaftlich Akzeptierten. Wechselseitige Anerkennung und Solidarität zu üben, setzt starke und positiv bestimmte Identitäten voraus sowie ein Grundvertrauen, sich auf den Anderen hin öffnen zu können. Eine Identität, die sich nur durch Abgrenzung und Ausgrenzung ihrer selbst zu vergewissern weiß, wird immer schwach und angreifbar sein und deshalb im Verteidigungsmodus gegenüber dem „Feind“ verharren. Christliche Gemeinden, Gruppen und Verbände können Orte sein, an denen gemeinsames Handeln und die gegenseitige Vergewisserung über die tragenden Grundlagen dazu beiträgt, Identitäten zu stärken und Anerkennung / Offenheit gegenüber Anderen (Geflüchteten, Migrantinnen und Migranten, Andersgläubigen oder Nicht-Gläubigen, Menschen, die anders leben und lieben) einzuüben und zu praktizieren.

Gemeinschaft, Gesellschaft, Geschichte

In christlicher Sicht gehören die Gegenwart und die Geschichte einer sozialen Gemeinschaft, einer Gesellschaft bzw. eines Volkes notwendig zusammen. Dabei sind nicht nur die Licht-, sondern auch die Schattenseiten, einschließlich der Momente von Schuld und Versagen, in den Blick zu nehmen.

Den Opfern geschehenen Unrechts ist wenigstens rückwirkend Respekt zu zollen; ihre Leiden dürfen nicht der Vergessenheit anheim gegeben werden. Das verlangt die Menschenwürde der Opfer, aber auch die der Täter und der „Mitläufer“: Sie verlangt, auch die Schuld anzuerkennen, die Leiden verursacht oder nicht verhindert hat. Erst unter dem Eindruck des Holocaust haben die moderne Theologie und die kirchliche Verkündigung „nach Auschwitz“ sich der “Leidvergessenheit” auch christlicher Traditionen gestellt (J.B. Metz)5 Das Bekenntnis zu Jesus Christus wird in der Erinnerung des Leidens, im Gedenken an die Opfer ungerechter Gewalt und in der Auseinandersetzung mit der eigenen Schuldverhaftung konkret. Diese Einsicht ist auch unter Christen erst durch schmerzhafte Lernprozesse hindurch gewachsen. Die eigene Schuldverhaftung anzuerkennen, ist kein rückwärtsgewandtes Verharren, sondern eröffnet im Gegenteil die Chance einer humaneren Zukunft: Es geht um Gerechtigkeit für die Opfer und um die (immer prekäre) Hoffnung auf Versöhnung in der Zeit. In diesem Bewusstsein kann Geschichte zum Zeit-Raum der Umkehr werden und die Chance eröffnen zur Auseinandersetzung mit den unversöhnten Anteilen der Vergangenheit, die in der Gegenwart fortwirken.

Es kommt darauf an, wie die Diagnose einer Krise verstanden wird: ob als Impuls zur Neuorientierung, als Entscheidungssituation oder als Zeichen einer Geschichte des Verfalls.

Oft wird die Gegenwart als krisenhaft, ja als Folge einander ablösender oder ineinandergreifender Krisen beschrieben. Papst Franziskus tut das – populistische Bewegungen tun das auch. Es kommt darauf an, wie die Diagnose einer Krise verstanden wird: ob als Impuls zur Neuorientierung, als Entscheidungssituation oder als Zeichen einer Geschichte des Verfalls, wie es kulturpessimistische politische und auch kirchliche Kreise konstruieren. Sie erwarten Heilung in der Wendung zurück, in der vermeintlich guten (oder jedenfalls besseren) alten Zeit, die aber nicht wieder(ge)holt werden kann (und die es realiter nie gegeben hat).

Die Erfahrung der Krise kann aber auch (und darin liegt ihr genuiner biblischer und christlicher Sinn) als Dynamik gedeutet werden, die Unterscheidung, Entscheidung und Neuorientierung notwendig und möglich macht. Darin wird die Gegenwart in ihrer Ambivalenz transparent auf „Wachstumspotentiale“ und menschliche Gestaltungsverantwortung. Die krisenhafte Gegenwart kann zur Chance werden. Geschichte – als vergangene und als zukünftige – bildet mit ihren Licht- und ihren Schattenseiten einen offenen Zeit-Raum gemeinsamer menschlicher Entwicklung: des Ringens um Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden, der Versöhnung zwischen den Menschen und der Menschen mit der Schöpfung. Sie stellt sich als Aufgabe humaner Gestaltung. Für Christen steht sie unter dem Vorzeichen der Hoffnung auf eine nicht vom Menschen selbst zu leistende Vollendung, unter der Verheißung eines allen Menschen zugedachten Heils. Diese Zusage kann entlasten, weil sie vom Zwang der Selbsterlösung und damit zu einer grundlegenden Gelassenheit im Denken und Handeln befreit.6 Zugleich fordert sie dazu heraus, dieser Hoffnung im individuellen und gemeinsamen Leben, im solidarischen sozialen und politischen Handeln glaubhaft Ausdruck zu geben.

  1. Das Folgende basiert im Wesentlichen auf M. Heimbach-Steins: Christliche Sozialkultur zwischen Kommunitarismus und Individualisierung, in: W. Lesch (Hg.): Christentum und Populismus. Klare Fronten?, Freiburg (Herder) 2017, 88-99.
  2. Vgl. H. Bude: Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014.
  3. Vgl. M. Heimbach-Steins / A. Filipovic /J. Becker /M. Behrensen / T. Wasserer: Grundpositionen der Partei „Alternative für Deutschland“ und der Katholischen Soziallehre im Vergleich (ICS AP Nr. 8), Münster 2017. http://www.uni-muenster.‌‌de/imperia/‌md/‌content/‌fb2/c-systematischetheologie/christliche‌sozialwissenschaften/heimbach-steins/‌ics-‌arbeitspa‌piere/ics_ap_8_afd_kathsl.pdf.
  4. Z. Bauman: Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache, Frankfurt/M. 2017: 24
  5. Vgl. v.a. J.B. Metz: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Mainz 51992.
  6. Vgl. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Text-Nr. 94.

futur2 möglich machen

Hinter der futur2 steht ein Verein, in dem alle ehrenamtlich arbeiten.

Für nur 20 € pro Jahr machen Sie als Mitglied nicht nur die futur2 möglich, sondern werden auch Teil eines Netzwerks von Leuten, die an der Entwicklung von Kirche und Gesellschaft arbeiten.

» MEHR ERFAHREN