Begegnung mit dem „wunderbar komplexen Leben“ (EG 270)
Oder: Was bedeutet Einheit in Zeiten fortschreitender Differenzierung (katholisch-)theologisch?
Die Dynamik einer fortschreitenden Differenzierung der Gesellschaft, beschleunigt durch eine um sich greifende „soziale Logik des Besonderen“1, betrifft auch religiöse Kontexte und verändert damit die Bedingungen von Kirche nachhaltig: Lebensstile und -kontexte pluralisieren sich explosionsartig, ästhetische Präferenzen entwickeln sich derart auseinander, dass manch eine*r an seine oder ihre „Ekelschranken“2 gerät. Sinnkonstruktionen werden immer mehr zur individuellen Aufgabe erklärt und die Wertekanones differenzieren sich bis an die soziale Schmerzgrenze aus. Wir sehen uns einer hochkomplexen und zugleich fluiden Gegenwart gegenüber, der sich die Kirche nicht verschließen kann.
Wir sehen uns einer hochkomplexen und zugleich fluiden Gegenwart gegenüber, der sich die Kirche nicht verschließen kann.
Dennoch stellt für viele Kirchenmitglieder dieses Auseinanderdriften eine große Herausforderung dar, allen voran für kirchliche Verantwortungsträger*innen. Für diese bedeutet die beschriebene Entwicklung eine logistische Herausforderung und stellt herkömmliche, hierarchisch strukturierte Leitungsideale in Frage. Auch die akademische Theologie wird durch die wachsende Differenzierung herausgefordert. Wie heute eine Kirche sein, wenn anhand groß angelegter empirischer Untersuchungen wie etwa den Kirchen-Milieu-Studien deutlich vor Augen steht, dass es keinen kleinsten gemeinsamen Nenner mehr gibt, an dem man sich treffen könnte – weder in der Alltagsästhetik noch den Vorstellungen vom guten Leben oder in religiösen Überzeugungen und theologischen Konzepten? Die letzten Jahre machen diese Spannungen innerhalb der römisch-katholischen Kirche bis hinauf in das höchste kirchliche Leitungsamt sichtbar. Welche Bedeutung hat Einheit als Wesensmerkmal der Kirche angesichts der Situation einer gleichzeitigen Ungleichzeitigkeit in Theologie und gelebtem Glauben?
Die folgenden Überlegungen können diese Frage nicht klären und vielleicht scheinen sie auf den ersten Blick die Situation sogar noch zu verkomplizieren anstatt sie zu erhellen. Möglicherweise sind es aber gerade diese Zuspitzungen, die einen produktiven Umgang mit den Aporien von steigender Differenzierung und Einheitsanspruch möglich machen.
1. Vielfalt ist konstitutiv für christlichen Glauben und Kirche.
Abwehr und Reduktion von Komplexität sind instinktive Reaktionen,3 Menschen brauchen und suchen nach Ordnungen und stellen diese denkerisch her.4 So ist es nicht verwunderlich, wenn auch im theologischen Kontext und in den unterschiedlichen pastoralen Feldern diese (über-)fordernde Situation als eine zu beseitigende wahrgenommen wird. Komplexität und vor allem die damit einhergehende Ambiguität gilt oftmals als etwas, das überwunden werden muss – nicht zuletzt aus ganz pragmatischen Gründen und zur Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit. Einheit, Klarheit und (Handlungs-)Sicherheit sind das Ziel.
Für die Frage nach der Einheit in der aktuellen Kirche ist diese theologische Perspektivenerweiterung jedoch unumgänglich, denn es gilt „Einheit nicht mit ‚Einsheit‘ oder mit Einzahl zu verwechseln.
Zugleich gilt, dass für den christlichen Glauben die Vielfalt mindestens ebenso konstitutiv ist wie die Einheit. Schon „im Gründungsgeschehen von Kirche ist das, was heute in kulturwissenschaftlicher Perspektive unter dem Stichwort ‚Diversität‘ verhandelt wird, grundgelegt“5. Diese urchristliche Diversität, so Margit Eckholt weiter, ermöglichte vielfältige Wege, das Miteinander zu gestalten und zu regeln, und machte „frei von Riten und rechtlichen Regelungen“6. Von Anfang an erweist sich der christliche Glaube dabei als hochgradig ambiguitätsfähig und nutzt diese Unsicherheit theologisch produktiv in den großen Konzilien der Antike: „Es geht immer um ein Aushandeln von Diversität, um die Suche nach Konsensformeln, aber auch um die Freiheit, für neue lokale Entwicklungen offen zu bleiben und mit Brüchen umgehen zu lernen“7. Das war lange Zeit eine der großen Stärken des Christentums. Erst die Durchsetzung einer „exklusivistischen Ekklesiologie in der frühen Moderne, die über das I. Vatikanische Konzil hinaus in das 20. Jahrhundert und die Debatten auf dem II. Vatikanum hineinwirkt, hat diese Gestalt von Kirche umgekehrt.“8 Und noch heute beinahe 60 Jahre nach dem Konzil, das das konstitutive Moment von Vielfalt für diese Kirche wieder deutlich herausgestellt und lehramtlich verbrieft hat, tun sich akademische Theologie wie pastorale Handlungskontexte mitunter schwer, Vielfalt und Pluralität als etwas Wertvolles und theologisch Produktives anzuerkennen und danach zu handeln. Für die Frage nach der Einheit in der aktuellen Kirche ist diese theologische Perspektivenerweiterung jedoch unumgänglich, denn es gilt „Einheit nicht mit ‚Einsheit‘ oder mit Einzahl zu verwechseln.9 Diversität ist zentraler Bestandteil des christlichen Evangeliums.
2. Gemeinschaft situativ verstehen.
Dem Bekenntnis zur Vielfalt und zur Produktivität von Ambiguität können vermutlich viele aus einer akademisch-theologischen Perspektive zustimmen. Jedoch stellt sich die Frage unter der Perspektive des konkreten Kirche-Seins vor Ort nochmal auf eine andere Weise: Wie den Sonntagsgottesdienst gestalten, wenn klar ist, dass jede Auswahl bestimmte Milieus abstößt? Wie Gemeinde denken, wenn sich die weltanschaulichen Spannungen zwischen Mitgliedern als zu groß erweisen? Wie von Communio sprechen angesichts des weitgehenden Verlusts sozialer Kohäsion?
Wie von Communio sprechen angesichts des weitgehenden Verlusts sozialer Kohäsion?
Kaum eine pastorale Grunddimension scheint so sehr durch die Differenzierung angegriffen zu sein wie die Koinonia und so stellt sich die Frage nach der theologischen Einheit in der Vielfalt häufig im Kontext der Suche nach Formen des gemeinschaftlichen Glaubenslebens inmitten der Pluralität von Lebensentwürfen: Wie gelingt Einheit in Form von Gemeinschaft im Glauben, wenn neben ästhetischen und sozialen auch theologische Vorstellungen diffundieren?
Im Hintergrund dieser Frage stehen Gemeinschaftskonzepte, die sich am „Dispositiv der Dauer“10 orientieren und dabei die „hoch situativen Zeitstrukturen der Spätmoderne“11 übersehen. Denkt man Gemeinschaft stattdessen im Kontext eines „Ereignisdispositivs“12, so gerät anstatt einer dauerhaften Bindung an eine Religionsorganisation, die je neu sich konstituierende Glaubenskommunität in den Blick.13 Diese ist strukturell fragil, schwer zu kontrollieren und zeitlich auf den konkreten Anlass hin begrenzt. Allerdings stellt sie im konkreten Vollzug nicht weniger Einheit in Christus und sakramentale Communio dar als traditionelle, auf Dauer gestellte Zugehörigkeitsstrukturen. Situative Vergemeinschaftungen sind zugegebenermaßen in manchem anstrengender, sie gehören jedoch ebenso und seit jeher zum Repertoire kirchlicher Partizipationsformen wie die Gemeindezugehörigkeit von der Kindheit bis ins Altenheim.
Noch ist es für kirchliche Pastoral und akademische Theologie reichlich ungewohnt, mit diesen situativen Komplizenschaften zu rechnen und umzugehen, zumal sie sich jeder Planung weitgehend entziehen.
Noch ist es für kirchliche Pastoral und akademische Theologie reichlich ungewohnt, mit diesen situativen Komplizenschaften14 zu rechnen und umzugehen, zumal sie sich jeder Planung weitgehend entziehen. Im Kontext einer sich stetig ausdifferenzierenden Gesellschaft bieten sie allerdings einen großen Vorteil: Sie müssen die Begründung nicht in sich selbst suchen, sondern werden geeint durch eine bestimmte Situation, ein gemeinsames Problem oder ein geteiltes Anliegen. An der Übereinstimmung des geteilten Anliegens mit dem Evangelium Jesu muss sich christliche Gemeinschaft messen lassen, nicht an der zeitlichen Dauer ihrer Einmütigkeit.
3. Einheit als Summe einzelner Teile und mehr.
Lebensweltliche und ästhetische Differenzierungen machen es unmöglich in einer einzigen Form oder mit einem einzigen Angebot alle Gläubigen gleichermaßen anzusprechen bzw. einen Ort der Beteiligung zu bieten. Pastoral muss deshalb immer Fragment, Stückwerk bleiben; als Summe dieser Teile kommt sie dann ihrem Auftrag nach. Diese Einsicht kann die Kirche davor bewahren, die Einheit in der Vielfalt selbst herstellen zu wollen oder gar zu erzwingen.
… Einheit als ein „Mehr“ zur Summe der einzelnen Teile stellt ein Angebot Gottes dar, auf das es zu reagieren gilt.
Nicht die kirchlichen Mitarbeiter*innen oder die Gläubigen garantieren die Einheit oder können diese erzeugen, sondern Einheit als ein „Mehr“ zur Summe der einzelnen Teile stellt ein Angebot Gottes dar, auf das es zu reagieren gilt. Damit verlagert sich die Frage, was zu tun sei, auf die jeweils aktuellen Möglichkeiten des oder der Einzelnen und führt dazu die eigene Kontingenz zu akzeptieren, Allheitsvorstellungen abzulegen, sich der eigenen Aufgabe genauso bewusst zu sein wie der Angewiesenheit auf andere. Einheit wird dann zu einem Stückwerk aus einzelnen Teilen, das über diese hinausreicht. Konkret heißt das, dass es der Auftrag von Kirche ist, sich darum zu bemühen, möglichst viele verschiedene Formen und Dimensionen anzubieten, ohne eine davon absolut zu setzen oder höher zu bewerten als andere. Diese zielgruppenspezifischen Angebote sind nicht das Gegenteil von Einheit solange deutlich ist, dass jede Form eine unter vielen möglichen ist und jedes Teil über sich selbst hinausweist. Das verlangt Selbstrelativierung und fordert, dass Gläubige sich fremden und vielleicht auch irritierender Lebensstile genauso aussetzen wie dem Abstoßenden und Leidvollen. Einheit bedeutet nicht, alle in den eigenen Wohlfühlbereich einzuladen, sondern fordert im Gegenteil dazu heraus, die eigenen Grenzen zu überschreiten und sich auf das Andere einzulassen. In Evangelii Gaudium schreibt Papst Franziskus dazu: „Er [Christus, T.S.] hofft, dass wir darauf verzichten, unsere persönlichen oder gemeinschaftlichen Zuflüchte zu suchen, die uns erlauben, gegenüber dem Kern des menschlichen Leids auf Distanz zu bleiben, damit wir dann akzeptieren, mit dem konkreten Leben der anderen ernsthaft in Berührung zu kommen und die Kraft der Zartheit kennen zu lernen. Wenn wir das tun, wird das Leben für uns wunderbar komplex und wir machen die tiefe Erfahrung, Volk zu sein, die Erfahrung, zu einem Volk zu gehören.“ (EG 270) Es mag paradox anmuten, aber dieses Verlassen des Gewohnten, diese spontanen und vereinzelten Kontakte mit dem je Akuten und Konkreten sind es, die zusammengenommen Einheit ermöglichen.
Einheit in Zeiten fortschreitender Differenzierung ist möglich, allerdings immer nur situativ, bruchstückhaft und auf möglichst vielfältigen Wegen.
- Vgl. A. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, 47-74.
- Vgl. M. N. Ebertz: Von der Pfarrkirche zur Kommunikationskirche. Soziologische Perspektiven einer zukunftsfähigen Pastoral, in: Bischöfliches Seelsorgeamt Essen (Hg.): Werkstattgespräche Gemeindebilder, Essen: Eigenverlag 2000, 1-28,17.
- Vgl. Th. Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, München 2018.
- Vgl. L. Festinger: Theorie der kognitiven Dissonanz, Bern 22012.
- M. Eckholt: Kirche im Zeichen der Diversität. Systematisch-theologische Perspektiven, in: ZPTh 37-2 (2017) 9-24, 12.
- Ebd. 13.
- Ebd. 14.
- Ebd. 17.
- Wustmans, Hildegard: Unterschiedlichkeit – weitaus mehr als eine Zumutung, Praktisch-theologische Überlegungen zum Umgang mit Diversität, in: ZPTh 37-2 (2017) 25-37, 28. Wustmans bezieht sich hier auf die Wortschöpfung „Einsheit“ von H.-J. Sander vgl. [9] H.-J. Sander, Einführung in die Gotteslehre, Darmstadt 2006, 73.
- Vgl. R. Bucher: Kirchenbildung in der Moderne. Eine Untersuchung der Konstitutionsprinzipien der deutschen katholischen Kirche im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1998, 43ff.
- M. Schüßler: Mit Gott neu beginnen. Die Zeitdimension von Theologie und Kirche in ereignisbasierter Gesellschaft, Stuttgart 2013, 175.
- Vgl. Ebd. 213-220.
- Vgl. auch die Unterscheidung von Religionsgemeinschaft und Pastoralgemeinschaft bei H.-J. Sander: Nicht ausweichen. Die prekäre Lage der Kirche. Würzburg 2002.
- Vgl. G. Ziemer: Komplizenschaft. Neue Perspektiven auf Kollektivität, Bielefeld 2013.