Einheit – Vielfalt – Spaltung in der Geschichte des Christentums
Die Frage, wieviel Vielfalt die Einheit verträgt, durchzieht die Geschichte des Christentums von Beginn an und sie hat zu vielen Spaltungen geführt. Bevor ich zu der Situation in der römisch-katholischen Kirche komme, will ich kurz verdeutlichen, dass diese bereits das Ergebnis verschiedener Trennungsprozesse ist.
Schon in der Zeit, in der das Neue Testament entstand (1. Jh.), gab es eine ganze Reihe an Konflikten mit Blick auf die mögliche Vielfalt in den Gemeinden. Das Apostelkonzil um das Jahr 45 hatte die schwerwiegende Frage zu lösen, ob jüdische Traditionen für „Heidenchristen“ verpflichtend sind oder ob es verschiedene Gebräuche nebeneinander geben kann. Die Gemeinde von Korinth kam angesichts der Frage, ob man Fleisch, das von heidnischen Opfern verkauft wurde, essen darf oder nicht, an den Rand der Spaltung. Im dritten Jahrhundert spalteten sich während der Christenverfolgungen Ortskirchen in der Frage, ob man solche, die während der Verfolgung ihr Christsein geleugnet hatten, wieder aufnehmen dürfe oder nicht.
Im vierten Jahrhundert war das Christentum rund um das Mittelmeer verbreitet und hatte in verschiedenen Kulturen Fuß gefasst. Fünf Zentren hatten sich herausgebildet: Konstantinopel, Antiochia, Jerusalem, Alexandria und Rom. Je nach Kultur wurde die zentrale theologische Frage, wie Jesus Christus gleichzeitig als Gott und Mensch verstanden werden kann, mit sehr unterschiedlichen Gewichtungen beantwortet, was zu einem erbitterten Streit führte. Kaiser Konstantin nahm das Heft in die Hand und rief im Jahr 325 alle Bischöfe zum Konzil nach Nicaea zusammen. Nicht alle kamen, aber die Anwesenden konnten sich weitgehend einigen. Einhundert Jahre später hatten sich die Gräben so vertieft, dass es nach dem Konzil von Chalzedon im Jahr 451 zur ersten weitreichenden Spaltung kam.
Letztlich führten machtpolitische Konflikte zur Trennung von 1054, die bis heute besteht.
Die Patriarchate von Alexandria und Antiochia gingen eigene Wege. Nach der islamischen Eroberung Kleinasiens fiel Jerusalem weg und die beiden übrig gebliebenen Patriarchate Rom und Konstantinopel stritten sich auch um theologische Fragen, letztlich führten aber machtpolitische Konflikte zur Trennung von 1054, die bis heute besteht. Die lateinische Kirche des Westens betrachtete sich als legitimes Haupt der ganzen Christenheit und sah seine eigenen Kirchenversammlungen als Konzilien der ganzen Kirche.
Innerhalb der lateinischen Kirche gab es im Mittelalter eine große Vielfalt an Gebräuchen, vor allem in der Liturgie. Auch in der Theologie waren große Unterschiede möglich, angelsächsische Denktraditionen waren erheblich anders als französische oder spanische.
Spannungen gab es hier eher ab dem 9. Jh. um die Frage der Stellung von Metropolitanbischöfen und im 11. Jh. um den Einfluss weltlicher Herrscher auf die Besetzung der Bischofsstühle (Investiturstreit), die aber nicht zu Spaltungen führten. Diese gab es erst im Rahmen der Armutsbewegung des 12. und 13. Jahrhunderts, als die Katharer („Ketzer“) eine kirchliche Vermittlung des Heils ablehnten und die Waldenser die Rolle der Laien stärken wollten. Im 15. Jh. überlagerten sich in Böhmen bei den Hussiten nationale und religiöse Konflikte. Mit den Reformationen von Wittenberg, Zürich, Genf und anderen Orten kam es dann im 16. Jh. zu massiven Spaltungen.
Was durchaus als Qualitätssicherung gedacht war, sollte auf Kosten der regionalen Vielfalt gehen.
Erst die Reformation brachte die römisch-katholische Kirche, wie wir sie heute kennen, hervor. Im Konzil von Trient (1545-1563) antwortete sie auf die Reformation mit einer Vereinheitlichung des kirchlichen Lebens nach römischen Vorgaben und unter römischer Kontrolle. Was durchaus als Qualitätssicherung gedacht war, sollte auf Kosten der regionalen Vielfalt gehen. So durften liturgische Traditionen, die nicht älter als 300 Jahre waren, nicht weiter gepflegt werden. Gegen die römischen Zentralisierungsbestrebungen wandten sich im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation vor allem die starken Fürstbischöfe, die sich nicht von Rom bevormunden lassen wollten. Trotz der Überwachung durch die von Rom eingeführten Nuntiaturen hatten sie damit weitgehend Erfolg. Es ist wichtig zu sehen, dass die Kirche der Frühen Neuzeit eine relative Weite an Kulturen zuließ und entwickelte.
Mit der Säkularisation von 1803 kam die Adelskirche an ihr Ende und es gelang Rom im 19. Jh., die in Trient geplante Zentralisierung durchzuführen. Angesichts der durch Revolutionen und Kulturkämpfe bedrängten Kirche kam es jetzt zu Konflikten, die bis heute bestehen. Entscheidend ist nun, dass der römische Machtanspruch vor allem unter Papst Pius IX., der von 1846 bis 1878 regierte, mit einer bestimmten theologischen Richtung verbunden wurde, der sog. Neuscholastik. Zentralisierung bedeutete jetzt auch eine theologische Vereinheitlichung. Der Neuscholastik lag es daran, die übernatürliche Wahrheit des Christentums zu betonen, die allein vom päpstlichen Lehramt letztgültig definiert werden kann. Das Erste Vatikanische Konzil definierte deshalb zwei zentrale Dinge: die Unfehlbarkeit des Papstes in Lehrentscheidungen und seinen Jurisdiktionsprimat, mit dem er über allen Bischöfen stand und diese einsetzte.
Man kann überspitzt sagen, dass die horizontale Spaltung (Rom gegen Lokaltradition) durch eine vertikale abgelöst wurde (liberal gegen ultramontan).
Jetzt gab es keinen Konflikt mehr nur um Zentralismus und Dezentralismus wie bis 1803, sondern hauptsächlich um die liberale oder integrale Richtung der Katholischen Kirche. Während man in Deutschland zwischen „liberalen“ und „ultramontanen“ Katholiken unterschied, nannte man in Rom die Richtungen „politicanti“ und „zelanti“. Man kann überspitzt sagen, dass die horizontale Spaltung (Rom gegen Lokaltradition) durch eine vertikale abgelöst wurde (liberal gegen ultramontan), die bis in die einzelnen Pfarreien zu spüren war.
Für die Geschichte ist nun bedeutend, dass beide Richtungen in jeweils einem Konzil triumphieren konnten. Die Ultramontanen siegten im Ersten Vatikanischen Konzil (1869-1870), was zur Abspaltung der Alt- und Christkatholiken führte, und die Liberalen im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965), was zur Abspaltung der Piusbrüder führte.
Diese Pattsituation hat zumindest in Europa innerhalb der Katholischen Kirche weite Spielräume ermöglicht. In einer Ortsgemeinde hat das Fatima-Weltapostolat ebenso seine Daseinsberechtigung wie die Pax-Christi-Gruppe, auch wenn sich beide wenig zu sagen haben. Niemand bestreitet ihre Zugehörigkeit zur Katholischen Kirche und beide können sich auf ein Konzil berufen. Das ist zunächst einmal eine außerordentliche Leistung. Während es im protestantischen Bereich seit dem 19. Jahrhundert zu einer Vielzahl an landeskirchlichen Gemeinschaften und Freikirchen kam, ist in der Katholischen Kirche noch alles unter einem Dach.
Papst Johannes Paul II. verstand es, beide Flügel des Katholizismus zu bedienen. Während er in dogmatischen Fragen konservativ blieb, war er z.B. in politischen Fragen (u.a. Perestroika) und in der Begegnung mit Jugendlichen sehr engagiert. Ein wesentlicher Grund hierfür war seine Anthropologie, die eine moderne anthropologische Orientierung mit traditioneller katholischer Dogmatik verband. Zwar kam es nach der Veröffentlichung des Katechismus der Katholischen Kirche im Jahr 1992, der stark von römischen Denktraditionen geprägt ist, mit dem Kirchenvolksbegehren und anderen Bewegungen zu einer massiven Kritik, letztlich konnte er aber die Einheit der Katholischen Kirche in einem hohen Maße repräsentieren.
Seitdem ist das schwieriger geworden. Papst Benedikt bediente eher den integralen Flügel, indem er die Theologie zum Kernpunkt seines Pontifikats machte und politisch wenig ambitioniert war. Die Generation Benedikt sprach dementsprechend nur bestimmte Kreise von Jugendlichen an. Papst Franziskus stellte dem gegenüber politische und ökonomische Konflikte in den Mittelpunkt und propagierte in theologischer Hinsicht eine Vielfalt, die – zumindest zu Beginn – die liberalen Katholiken euphorisch stimmte. Der Wechsel der Pontifikate führte bei den Gläubigen zu einer tiefen Verunsicherung. Welcher Richtung wird der nächste Papst angehören? Wird die Einheit der Katholischen Kirche noch gelingen? Die Proteste gegen den synodalen Weg auf der einen und die überzogenen Erwartungen auf der anderen zeugen davon.
Die Bischöfe werden jetzt zwischen Rom und der Ortskirche zerrissen.
Die Bischöfe werden jetzt zwischen Rom und der Ortskirche zerrissen. Nur wenige vermögen es, in theologischer, politischer und pastoraler Hinsicht so profiliert zu sein, dass ihr Bistum als eine Insel der Seligen betrachtet werden könnte.
Dem Synodalen Weg kommt in Deutschland daher die zentrale symbolische Bedeutung zu, dass die Einheit der Katholischen Kirche, die im Konzil von Trient ihr Gepräge erhielt, gelingen kann. Dies wird im Blick auf die Geschichte nur möglich sein, wenn es dem Papsttum gelingt, bei einer klaren, anthropologisch orientierten katholischen Theologie eine Weite in der kulturellen Adaption zuzulassen. In dieser haben dann auch die Bischofskonferenzen und einzelnen Bischöfe die Möglichkeit, für Adaptionen zu stehen und sie zu verantworten. Damit käme auch wieder die Weite der katholischen Einheit in den Blick, die eine Vielfalt möglich macht und Spaltungen verhindert.