022016

Foto: Daniel Alvarez Sanchez Diaz

Konzept

Aladin El-Mafaalani

Religionskritik und Ausgrenzung

Über Religionen können ganz unterschiedliche Botschaften transportiert werden. Wir erleben, dass die zentralen Inhalte von Religionen Barmherzigkeit, Mitgefühl und Liebe sind, dass sie in umfassender Form sinnstiftende Deutungsangebote machen und nicht zuletzt auch gemeinschaftsbildend wirken. Gleichzeitig wurde durch oder im Namen von Religionen regelmäßig viel Unheil angerichtet, Angst und Hass geschürt, wodurch nicht zuletzt auch Ausgrenzung, Gewalt und Verfolgung legitimiert und praktiziert wurden. Entsprechend zeigen Studien, dass religiöse Menschen (auch Muslime) besonders selten kriminelles bzw. abweichendes Verhalten zeigen; allerdings kann extrem orthodoxe Gläubigkeit auch zu Extremismus führen.

Heute erkennen wir die dunkle Seite besonders in bestimmten Strömungen des Islam bzw. bei einigen Muslimen. Derzeit wird immer wieder vor diesem Hintergrund das christliche Abendland gegen den Islam in Position gebracht, um die besonderen europäischen Werte – gemeint sind insbesondere individuelle Freiheit und die offene demokratische Gesellschaft – zu verteidigen. Die Geschichte ließe sich freilich auch anders erzählen. Denn die Demokratie fand bekanntlich ihre systematischen Anfänge in vorchristlichen Zeiten, insbesondere im antiken Griechenland.

Interessant hieran ist nun, dass die Entstehungsgeschichte der Idee von individueller Freiheit und Demokratie offenbar in Europa verortet, aber gerade nicht mit dem Christentum in Verbindung gebracht werden kann.

Interessant hieran ist nun, dass die Entstehungsgeschichte der Idee von individueller Freiheit und Demokratie offenbar in Europa verortet, aber gerade nicht mit dem Christentum in Verbindung gebracht werden kann. Im Gegenteil: Nachdem sich das Christentum in Europa vollständig durchgesetzt hatte, sprechen wir vom Mittelalter – und damit einem Zeitalter, das im Vergleich zur Antike eher einem Rückschritt im Hinblick auf Freiheit und Demokratie entsprach. Die griechische Mythologie und der damit verbundene Glaube an die vielen Götter, die ganz unterschiedliche Perspektiven auf die Dinge haben, die sich streiten und von denen keiner allmächtig ist, schien es begünstigt zu haben, auch die menschliche Gesellschaft in vergleichbarer Weise aufzubauen. Monotheistische Religionen begünstigen offenbar das Gegenteil: Wenn man an den einen allmächtigen Schöpfer und damit an die eine Wahrheit glaubt, dann liegt es nahe, auch auf Erden in ähnlicher Weise zu operieren. Wenn es die eine Wahrheit gibt, dann darf es weder eine Konkurrenzideologie, noch Konkurrenzinteressen geben. Diese Rahmenbedingungen sind strukturelle Hindernisse für die Entstehung einer offenen Gesellschaft, die substantiell darauf gründet, dass es Streit (im Hinblick auf Interessen und Ideen) und Anerkennung (in Hinblick auf die Rechte des Interessenträgers, also des Menschen) zugleich gibt. Erst durch Renaissance und Humanismus, anschließend Buchdruck, Reformation und Aufklärung wurden die christlichen Gesellschaften Europas nach und nach demokratisiert und geöffnet. Was war geschehen? Es fand eine Rückbesinnung auf die vorchristliche Zeit statt. Dichter und Denker setzten sich mit der Antike auseinander (insbesondere mit „den alten Griechen“) und haben festgestellt, dass das Wissen, die Geisteshaltung und die Lebensweise in vielerlei Hinsicht beispielhaft waren. Denn auf die zentralen Herausforderungen und Bedürfnisse der Menschen hatten diese Klassiker bereits etwa 2000 Jahre zuvor Grundlagen und Methoden entwickelt, die verblüfften. Man könnte also eher sagen, dass die Werte, die wir heute positiv mit Europa verbinden, bereits vor dem Christentum ihre Anfänge hatten und sich dann gegen das Christentum umfassend durchgesetzt haben, um sich seither – bekanntermaßen auch mit mehreren verheerenden Brüchen – weiterzuentwickeln. Die christliche Tradition gegen den Islam in Stellung zu bringen, ist also durchaus zu kurz gedacht. Die Randbemerkung sei erlaubt, dass es auch arabische Denker waren, die die Ideen der Antike über die Zeit des Mittelalters konserviert und dann den Zugang zu den Quellen in Europa überhaupt erst ermöglicht haben.

Die Religion kann durch den religiösen Zweifel, der durchaus in den Religionen selbst verankert ist und aus dem heraus die Botschaft Gottes neu interpretierbar bleibt, gebremst werden.

Die Bändigung der Religion durch Recht und Politik erscheint genauso zentral wie die Auseinandersetzung der Religion mit Wissenschaft und Philosophie. Politische Formen der Religion, die von der einzigen Wahrheit ausgehen, daraus die Unterscheidung zwischen Gut und Böse herstellen und in die gesamte Gesellschaft hineinwirken, neigen dazu, die negativen Seiten zu zeigen. Die positiven Seiten erscheinen genau dann, wenn es sich um einen sinnstiftenden Kompass für den Einzelnen handelt und nicht um zeitlose Leitplanken für alle. Gleichzeitig bedarf es grundlegender Offenheit, also einem Verständnis, dass ein bestimmter Glaube, selbst dann, wenn er für den Einzelnen alternativlos erscheint, lediglich eine Option unter vielen ist; und dass selbst das, was unter praktizierter Religiosität verstanden wird, veränderbar ist. Das für den Einzelnen Absolute (Gott) darf also nicht zu Absolutismus führen und damit ein Herrschaftsinstrument werden. Die Religion kann durch den religiösen Zweifel, der durchaus in den Religionen selbst verankert ist und aus dem heraus die Botschaft Gottes neu interpretierbar bleibt, gebremst werden. Neben dieser religionsimmanenten potenziellen Offenheit bedurfte es jedoch auch einer äußeren Kritik. Und genau hierin liegt ein großes Problem unserer Zeit.

In Europa ist man geübt darin, Religionskritik gegen einen dominanten Akteur (nicht selbst als „Gegner“ verstanden) zu üben: die Kirche. Daraus entstanden u.a. auch eine Spaltung innerhalb der Christen sowie unterschiedliche Distanzierungen (Atheismus, Agnostiker u.a.). Religionskritik gegenüber dem Islam ist genauso notwendig wie sie einst gegenüber der Kirche war, sie kann jedoch nicht in gleicher Weise vollzogen werden, denn sie steht vor grundlegend anderen Herausforderungen und ist vielleicht am ehesten (und dennoch mit Einschränkungen) mit der Position der Juden in der europäischen Geschichte zu vergleichen:

Erstens kann man die Kritik nicht an eine hierarchisch organisierte Institution richten, da die islamische Tradition diese zentrale Organisationsform nicht kennt – das gilt für Muslime in Europa in ganz besonderer Weise. Zweitens sind Muslime bereits äußerst divers (positiv formuliert) bzw. gespalten (negativ formuliert). Drittens handelt es sich quantitativ um eine Minderheit. Und viertens ist diese Minderheit in jedem EU-Staat in einer sozial benachteiligten Position, eine marginalisierte Gruppe. Als fünften Punkt könnte man hinzufügen, dass terroristische Organisationen bereits seit den 1990ern sich zum Ziel gemacht haben, die europäischen Muslime von der nicht-muslimischen Bevölkerungsmehrheit durch Angst und Hass zu isolieren, damit sie für Radikalisierung anfällig werden – eine erstaunlich erfolgreiche Strategie, in der die Schwachstellen der offenen Gesellschaften „im Westen“ erkannt wurden. Man könnte nun auch über geopolitische Interessen, internationale Konflikte und großräumige Krisenerscheinungen in der islamischen Welt sprechen. Muslime sind – fast überall auf der Welt – in einer prekären Situation.

Diese Rahmenbedingungen weichen in hohem Maße von jenen vergangener Zeiten ab, so dass die Anwendung gängiger Methoden der öffentlichen Religionskritik kaum von Islamfeindlichkeit und Rassismus zu unterscheiden sind.

Diese Rahmenbedingungen weichen in hohem Maße von jenen vergangener Zeiten ab, so dass die Anwendung gängiger Methoden der öffentlichen Religionskritik kaum von Islamfeindlichkeit und Rassismus zu unterscheiden sind. Formen und Methoden der Kritik, die inhaltlich durchaus berechtigt sein kann, führen im Ergebnis zu Ausgrenzung. Kritik in dieser Form schwächt im Übrigen die gemäßigten und besonnenen Akteure innerhalb der muslimischen Gemeinden. Kritik führt dann also ins Gegenteil.

Das erklärt, warum Islamkritik und Islamfeindlichkeit heute kaum unterscheidbar sind. Kritik als eine Kopie der vergangenen Zeit funktioniert also nicht. Was kann man tun? Die Antwort ist irritierend: Man müsste dem Islam mehr Raum geben – im Prinzip genau das, was ein Großteil der Bevölkerungen Europas ablehnt. Mehr Raum und einen anderen Raum – vom Rand ins Zentrum der Gesellschaft. Es geht also um Inklusion. Wie dies realistisch gelingen kann, ist derzeit kaum zu bestimmen. Es lässt sich jedoch vermuten, dass Gläubige verschiedener Religionen am ehesten eine Ebene der Diskussion finden, in der Wertschätzung und Kritik synchron funktionieren. Vielleicht wird die Gemeinschaftsbildung in Zukunft entlang der Kriterien Glaube und Religiosität an sich vollzogen – unabhängig von Religion und Konfession.

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