22018

Foto: Isaiah Rustad/Unsplash

Konzept

Ursula Hahmann

Die Mehrheit nicht ausschließen – Kirchenentwicklung und Involvement

Heute ist davon auszugehen, dass Menschen, die noch Kontakt zur Kirche haben oder sich für Kirche interessieren, mehrheitlich schwach involviert sind. Sie wollen nicht in der beschriebenen Weise partizipieren, weil es sie nicht berührt. Erst recht gilt das für jene, die der Kirche den Rücken gekehrt haben oder bislang gar keinen Kontakt mit der Kirche hatten.
Dennoch ist gerade auch hier Partizipation wichtig, um eine kontextsensible Entwicklung zu ermöglichen und Inklusion herzustellen. Der Fokus liegt auf der Einbeziehung der Adressaten und weiterer Anspruchsgruppen in Entwicklungsprozesse, insbesondere der adressatenorientierten Gestaltung kirchlicher Formen, Angebote und Leistungen.1

In vielen Bistümern sind in dieser Zeit Prozesse aufgelegt, in denen der Frage nachgegangen wird, wie die Kirche der Zukunft aussehen kann. Die Bezeichnungen dafür sind ebenso vielfältig wie die methodischen Herangehensweisen, z.B.

  • der „synodale Gesprächs- und Veränderungsprozess“ im Bistum Aachen
  • „Zukunftsbild“-Prozesse im Bistum Essen, Magedeburg und im Erzbistum Paderborn,
  • der „Erneuerungsprozess“ im Erzbistum Hamburg
  • „Lokale Kirchentwicklung“ im Bistum Hildesheim
  • der „Pastorale Zukunftsweg“ im Erzbistum Köln
  • „Kirchenentwicklung und Diözesanreform“ in der Diözese Graz.
  • etc.

Den Prozessen ist gemein, dass sie sich breit aufstellen und möglichst viele Menschen teilhaben lassen oder mitnehmen wollen.2 Doch an wen richten sich die Prozesse eigentlich? Wer wird in den Blick genommen und angesprochen? Rechnet man damit, die Gemeinten zu erreichen?

Gedankenexperiment

Machen wir einen kleinen Perspektivwechsel: Sind Sie ADAC-Mitglied? Der ADAC ist mit gut 20 Mio Mitgliedern der mitgliederstärkste Verein Deutschlands und damit annähernd so groß wie eine der großen verfassten Kirchen (23,3 Mio kath., 21,5 Mio evang.). Er gliedert sich in 18 Regional-Clubs. Man stelle sich also Folgendes vor: Der „ADAC Ostwestfalen-Lippe e.V.“ lädt alle Interessierten ein, sich auf einen Zukunftsweg zu begeben: Voll Vertrauen geht der Automobilclub auf alle Menschen zu. Er gibt ihnen Raum, ihre Perspektiven für eine zukünftige Entwicklung des Automobilclubs einzutragen. Der Auftakt findet kommenden Samstag von 9 bis 16 Uhr im „Lenkwerk“ in Bielefeld statt. Danach trifft man sich 14-tägig donnerstags von 19 bis 22 Uhr in Arbeitsgruppen zur Erarbeitung eines Vorschlags für ein künftiges Zukunftbild, das dem Vorstand zur weiteren Bearbeitung vorgelegt wird.

Und? Würden Sie sich dafür anmelden?

Wenn Sie zögern, sich anzumelden, woran könnte das liegen? Vielleicht können Sie mal diesen Fragebogen bearbeiten, der zur Messung des Konstrukts „Involvement“ dient:3

Wenn Sie sich bei den Skalen tendenziell auf der linken Hälfte (bzw. rechts bei Frage 13) sehen, dann können wir bei Ihnen „Low Involvement“ beim Stimulus „Automobilclub“ konstatieren. Könnte das Involvement ein hilfreiches Konstrukt für die methodische Planung von Partizipationsprozessen sein?

Involvement

Involvement gilt als das Schlüsselkonstrukt der Marketingforschung4, denn die Höhes des Involvement bestimmt maßgeblich die Stärke der Informationsaufnahme,  -verarbeitung und -speicherung5, die Voraussetzung für jegliche weitergehende Wirkung – etwa Einstellungsbildung oder Verhaltensabsichten ist. Die Berücksichtigung des Involvements in Entwicklungsprozessen erlaubt eine Erfassung und Differenzierung des persönlichen Engagements von Menschen auf ein Objekt hin.

Die Berücksichtigung des Involvements in Entwicklungsprozessen erlaubt eine Erfassung und Differenzierung des persönlichen Engagements von Menschen auf ein Objekt hin.

Das Involvement ist ein hypothetisches Konstrukt, das die wahrgenommene Relevanz beschreibt, die eine Person einem Objekt – basierend auf ihren immanenten Bedürfnissen, Werten und Interessen – beimisst. Unter Involvement versteht man die „Ich-Beteiligung bzw. gedankliches Engagement und die damit verbundene Aktivierung, mit der sich jemand einem Sachverhalt oder einer Aktivität zuwendet.“6

Das Involvement variiert über Personen, Gegenstände und Situationen: Während die eine in höchste Aufregung gerät, wenn sie Star Wars und die zugehörigen Fanartikel denkt, lässt der Gedanke daran einen anderen völlig kalt. Dieser Mensch hat dafür vielleicht hohes Interesse an Fitness, beachtet aber die AOK-Werbung für entsprechende Kurse nicht. Wieder ein anderer beachtet diese Werbung auch nicht im Herbst, wohl aber Anfang Januar. Die Beispiele zeigen, dass Involvement ein komplexes Konstrukt ist und sich aus verschiedenen Komponenten zusammensetzt7.

Komponenten des Involvements

Person:
Zunächst hängt die Stärke des Involvements davon ab, in welchem Ausmaß persönliche Merkmale – etwa Kenntnisse, Erfahrungen, Interessen, Bedürfnisse und Wertvorstellungen berührt werden. Je stärker dies der Fall ist, desto höher fällt das Involvement aus. Jemand, der sein FSJ bei einer Fair-Trade-Kooperation in Tansania absoviert hat und sich mit hoher Sensibilität für Themen der Gerechtigkeit einsetzt, weist vermutlich ein hohes Involvement gegenüber Kleidung auf – ihm ist wichtig, dass sie fair produziert und gehandelt ist. Die gleiche Person kann beim Thema Gartenmöbel ein sehr niedriges Involvement haben.

Objekt:
Involvement hängt zentral vom Objekt ab – es wird von einem Stimulus ausgelöst. Das Objekt kann beispielsweise das Produkt, die Produktart, eine Institution, die Marke etc. sein. Relevant für das Objektinvolvement sind

  1. das Interesse am Objekt,
  2. der Spaß, die Belohnung bei der Entscheidung,
  3. die Identifikations-/individuelle Ausdrucksmöglichkeit,
  4. das subjektive Risiko, dem man sich mit der Entscheidung aussetzt,
  5. die Wahrscheinlichkeit, dass das Risiko eintritt.

Das Ausmaß des Involvements hängt also nicht vom Stimulus mit seinen objektiven Eigenschaften ab, sondern immer von der Bedeutung, die ein Individuum diesen beimisst.

Das Ausmaß des Involvements hängt also nicht vom Stimulus mit seinen objektiven Eigenschaften ab, sondern immer von der Bedeutung die ein Individuum diesen beimisst.

Deswegen wäre es falsch, Objekte generell in Low- oder High-Involvement-Kategorien zu sortieren. Es lässt sich nur beobachten, dass manche Produkte bei mehr Menschen ein hohes Involvement auslösen als andere. Beispielsweise liegt beim Kauf von Autos i.d.R. wegen des finanziellen Risikos ein hohes Involvement vor, während bei Butter normalerweise kein hohes Involvement festzustellen ist.

Medium:
Die Medien (z.B. Zeitschrift, Fernsehen, Social-Media-Kanal) der Informationsvermittlung haben selber ebenfalls Einfluss auf das Involvement. Vermeidbarkeit (Abschaltbarkeit) sowie Bild-/Textlastigkeit bestimmen, ob Kommunikation unter Low- oder High-Involvement-Bedingungen stattfindet.

Botschaft:
Auch die Art und Weise, wie kommuniziert wird, hat einen Einfluss auf das Involvement. Hier spielt es beispielsweise eine Rolle, ob der Reiz unterhaltsam oder ästhetisch ansprechend ist; ob er eher sachlich überzeugend ist oder ein emotionales Wohlfühlen wachruft.

Situation:
Die Höhe des Involvements hängt schließlich von situativen Faktoren ab. Sucht man beispielsweise ein Restaurant, um schnell einen Happen zu essen, so ist das Involvement vermutlich niedriger als wenn man das Restaurant für die Feier seiner Hochzeit aussucht. Besonders wichtig ist hierbei auch die zeitliche Nähe zur Entscheidungssituation: Vor und nach einer Wahl ist das Involvement höher.

Abb. 1: Involvement-Modell (Trommsdorff (2004), S. 58)

Die Komponenten zusammengenommen ergeben das Gesamtinvolvement, das determiniert, wie intensiv die Auseinandersetzung mit einem Stimulus – etwa einer Werbung oder der Aufforderung, an einem Zukunftsprozess zu partizipieren – abläuft.

Zeitliche Dimension des Involvements

Das objektgerichtete Involvement einer Person kann in seiner Stabilität variieren. Man unterscheidet daher zwischen situativem und andauerndem Involvement. Hohes situatives Involvement wird vor allem durch hohes subjektives Entscheidungsrisiko verursacht. Ein Fehlgriff bei Mineralwasser ist wesentlich unproblematischer als einer bei der Wahl des Physiotherapeuten.

Überdauerndes Involvement entsteht dann, wenn das Objekt eine hohe persönliche Wichtigkeit für die Person aufweist und sie ein kontinuierliches Interesse an ihm hat. Die Anziehungskraft hat dann oft auch hohe emotionale Anteile und/oder das Objekt hat eine hohe Prestigewirkung.

Trifft beides zu, fallen situatives und überdauerndes Involvement zusammen, dann verstärken sich die beiden Effekte und führen zu einer höheren Informationsverarbeitungsintensität.8

Folgen unterschiedlicher Involvement-Ausprägungen

Das Involvement hat eine moderierende Wirkung auf das Verhalten. Da es die Tiefe der Informationsverarbeitung determiniert, ist es wie ein Filter für weiteres Verhalten. Damit hat es auch Einfluss auf Entscheidungsprozesse, die Einstellungsbildung und -veränderung sowie auf nach einer Entscheidung auftretende Phänomene wie Kundenbindung und persönliches Empfehlungsverhalten.9

Informationsaufnahme und -verarbeitung:
Menschen mit niedrigem Involvement lernen zufällig. Sie suchen nicht nach Informationen, sondern schnappen eher nebenher etwas auf. Sie verarbeiten die Informationen nicht aufwendig, stattdessen erinnern sie eher nebensächliche Aspekte wie eine auffällige Gestaltung oder einen attraktiven Kommunikationspartner. Durch das geringe Involvement entzieht sich die Information der gedanklichen Kontrolle. Lernen geschieht hier durch viele Wiederholungen. Anders die hoch Involvierten: Sie saugen die Informationen auf und suchen aktiv nach ihnen. Die Informationsverarbeitung ist kognitiv aufwändig.

Beurteilung und Entscheidung:
Die Beurteilung von Objekten durch niedrig Involvierte geschieht auf Basis von wenigen Merkmalen, während hoch Involvierte viele Attribute des Objektes heranziehen, beurteilen und dann eine Entscheidung treffen. Sie haben dann auch recht enge Vorstellung dessen, was akzeptabel ist, während niedrig Involvierte viele Sichtweisen und Positionen akzeptieren können. Sie haben weniger gefestigte Einstellungen und können daher auch Abweichungen von den eigenen Vorstellungen leichter hinnehmen. Sie streben ein akzeptables Maß an Zufriedenheit an, ihre Wahl kann auch auf etwas fallen, was am wenigsten Probleme verursacht. Dagegen suchen hoch Involvierte die maximale Befriedigung ihrer Bedürfnisse.

Wenn sie wiederholt die gleiche Lösung wählen, liegt das nicht an einer empfundenen Loyalität, sondern daran, dass sie den Aufwand scheuen, der mit der Auswahl einer Alternative verbunden wäre.

Treue:
Niedrig Involvierte haben eine geringere Loyalität zum Objekt. Auch bei hoch Involvierten ist nicht jede Entscheidung extensiv. Bei Wiederholungen wählen hoch Involvierte ohne viel Aufwand jene Lösung, die in der Vergangenheit die höchste Zufriedenheit brachte. Daher ist oft eine hohe Treue bei hohem Involvement zu beobachten. Niedrig Involvierte bauen keine Bindung auf. Wenn sie wiederholt die gleiche Lösung wählen, liegt das nicht an einer empfundenen Loyalität, sondern daran, dass sie den Aufwand scheuen, der mit der Auswahl einer Alternative verbunden wäre. Wenn niedrig Involvierte wechseln, so ist der Grund ihrer „Untreue“ eher in einem Abwechslungsbedürfnis zu sehen. Da sie in ihren Vorstellungen nicht so festgelegt sind, wechseln sie nicht aus Unzufriedenheit, sondern um etwas Neues auszuprobieren.

Involvement und Kirchenentwicklung

In der Kirchenentwicklung geht man in der Anlage der Prozesse immer noch von Hochinvolvierten aus. Ähnlich wie bis die 60er Jahre die Homo-oeconomicus-Prämisse ein ökonomisch-rationales Modell der Entscheidungsfindung in Konsumentscheidungen prägte, wird auch bei dem Design von partizipativen Prozessen vor allem bis ausschließlich an interessierte, sorgsam abwägende und engagierte Christinnen und Christen gedacht.

Man eröffnet einen Raum oder lädt offen ein, ohne das Involvement zu berücksichtigen. Niedrig involvierte Christinnen und Christen nehmen diese Informationen aber nur im geringen Maße wahr, verarbeiten sie kaum und werden sich schon allein wegen des hohen Aufwands nicht beteiligen.

Das kann aber nicht befriedigen. In „Gemeinsam Kirche sein“ heißt es:

„Wir wollen gemeinsam Kirche sein für alle Menschen […] Dabei muss das Ziel klar bleiben: die Gemeinschaft Gottes mit allen Menschen, für die die Kirche ‘Zeichen und Werkzeug’ ist, und die Verbundenheit der Kirche mit ‘Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten’. Wir müssen also noch näher bei den Menschen sein, um ihnen die Gemeinschaft zu eröffnen, in die Gott alle ruft.“10

Wie kann Involvement in Prozessen der Kirchenentwicklung Berücksichtigung finden?

In der Kirchenentwicklung geht man in der Anlage der Prozesse immer noch von Hochinvolvierten aus.

Hilfreich erscheint ein vereinfachendes 4-Felder-Schema als Denkrahmen (Abb. 2). Es unterscheidet zwischen zwei Arten des Involvements:
  1. Dauerhaft-institutionelles Involvement:
    Ausgeprägtes dauerhaft-institutionelles Involvement liegt vor, wenn eine Person eine deutliche Bereitschaft und das Interesse besitzt, sich der Kirche und und ihren Themen und Angeboten auseinanderzusetzen.
  2. Situativ-angebotsbezogenes Involvement:
    Ausgeprägtes situativ-angebotsbezogenes Involvement liegt vor, wenn eine Person anlassbezogen stark interesiert ist, weil sie kurz vor oder nach der Auswahl eines Angebotes steht, das auch die Kirche bietet. Zum Beispiel, wenn sie sich vor der Entscheidung findet, (kirchlich) zu heiraten, sich in der Flüchtlingshilfe zu engagieren oder einen Weihnachtsgottesdienst zu besuchen. Hierbei sollen sowohl konkrete kirchliche Angebote (z.B. Hochzeit, Gottesdienst) einbezogen werden wie weit gefasste, noch nicht als konkrete Angebot entwickelte Bedürfnisse eingeschlossen werden (z.B. gelebte Spiritualität, Transzendenz-Erfahrung, eine warme Weihnachtserfahrung, soziales Engagement).

Während das institutionelle Involvement zeitlich überdauernden Charakter hat, ist das angebotsbezogene Involvement zeitlich begrenzt.

Abb. 2: Involvement-Matrix

1) Hohes institutionelles und hohes angebotsbezogenes Involvement
Menschen mit ebenso hohem institutionellen wie angebotsbezogenen Involvement werden auch derzeit schon gut über Partizipationsformate erreicht. Sie sind oftmals bereit, sich einzubringen und Verantwortung zu übernehmen. Ziel muss es sein, sie weitgehend in partizipative Prozesse einzubinden. Bei der Übernahme von konkreter Verantwortung vor Ort erscheint ein charismenorientierter Ansatz sinnvoll. Dieser Gruppe sollte viel Freiraum für Experimente gewährt werden und sie sollten darin unterstützt werden, eigenverantwortlich die Seelsorge vor Ort zu betreiben.

2) Hohes institutionelles und niedriges angebotsbezogenes Involvement
Menschen mit hohem institutionellen, aber niedriegem angebotsbezogenen Involvement sind loyale Mitglieder und erhalten derzeit viel Aufmerksamkeit, insbesondere einen großen Teil kirchlicher Ressourcen. Von ihnen ist kein entscheidender Impuls für die Führung der Kirche in den Systemwechsel zu erwarten. Sie sollten die Gelegenheit erhalten, auf ihre bewährte Weise den Glauben zu leben und zu feiern – allerdings mit weniger Ressourcenbindung als bisher.11

3) Niedriges institutionelles und hohes angebotsbezogenes Involvement
Menschen mit niedrigem institutionellen Involvement nehmen kirchliche Kommunikation kaum wahr bzw. halten sie für nicht relevant. Sollen ihre Bedürfnisse, Wünsche und Ansprüche dennoch in kirchlichem Handeln münden, so ist diese Gruppe mit hohem angebotsbezogenem Involvement sehr interessant und nochmal zu differenzieren. Bei beiden Differenzierungen ist das Ziel, die Adressat/innen in Entwicklungsprozesse, insbesondere Innovationsprozesse, zu integrieren.

a) Menschen, die unmittelbar davor stehen, ein kirchliches Angebot in Anspruch zu nehmen oder es kürzlich in Anspruch genommen haben (z.B. Taufe, Trauung)
Damit die Bedürfnisse dieser Gruppe in Kirche relevant werden, sollten Innovationen mithilfe der Co-Creation entwickelt werden. Hierbei handeln alle Akteure auf Augenhöhe und entwickeln z.B. in Workshops mittels World Café, Zukunftswerkstatt, Design Thinking o. ä. neue Ansätze. Wichtig ist, dass hierfür nicht offen eingeladen wird, sondern die Leute gezielt gesucht, angesprochen und über passende Anreize motiviert werden.

Berücksichtigt man unterschiedliche Ausprägungen die das Involvement annehmen kann, so reichen offene Partizipationsansätze in der Kirchenentwicklung nicht aus.

b) Menschen, die (temporär) hoch involviert hinsichtlich Angeboten und Themen der Kirche sind – diese aber nicht in Kirche vermuten oder suchen
Dabei handelt es sich um Menschen, die von sich z.B. sagen, dass sie eine Sehnsucht nach einem spirituellen Leben spüren. Ein Teil dieser Gruppierung hat für sich selber eine Lösung gefunden bzw. selbst entwickelt. Diese Nutzer – die sog. Lead User – haben also selber innoviert, weil der Markt oder die Kirche keine adäquate Lösung bereithält. Lead User verspüren Bedürfnisse, die für viele Nutzer*innen relevant werden, früher als die breite Masse.12 Die hier angeratene Lead-User-Methode nutzt das Wissen und die Erfahrung dieser Menschen, sucht sie zu identifizieren und entwickelt mit ihnen gemeinsam neue Lösungen.

4) Niedriges institutionelles und niedriges angebotsbezogenes Involvement
Menschen mit niedrigem institutionellen niedrigem angebotsbezogenen Involvement haben aktuell kein Interesse an kirchlichen Angeboten. Sollen ihre Bedürfnisse dennoch relevant werden, so sind co-kreative Prozesse aufgrund des geringen Involvements keine geeignete Methode.13 Es sind also weniger beteiligungsintensive Ansätze zu suchen, wie etwa Beobachtung (z.B. Heranziehen der Milieustudien) oder Befragung. Ziel wäre es, eine offene Suchbewegung zu starten, die versucht zu ergründen, wie die Kirche dieser Gruppe dienlich sein kann. Ausgangspunkt wäre mit Simon Sinek die Frage nach dem Warum, die versucht zu verstehen, wo gemeinsame Wertvorstellungen liegen können.

Desweiteren ist zu erwarten, dass die Lösungen, die co-kreativ aus Gruppe 3) entwickelt werden, auch für diese Gruppe passend sind, wenn es einen entsprechenden Anlass gibt (z.B. Taufe).

Abb. 3: Involvementspezifische Handlungsempfehlungen

Resümee

Berücksichtigt man unterschiedliche Ausprägungen die das Involvement annehmen kann, so reichen offene Partizipationsansätze in der Kirchenentwicklung nicht aus. Menschen mit niedrigem  Involvement bezogen auf die Kirche oder kirchliche Angebote werden durch sie nicht erreicht. Möchte man dennoch auch Mitglieder mit niedrigem Involvement systemrelevant werden lassen, so sind dafür andere Ansätze zu wählen, die ihre Bedürfnisse und Ansprüche pro-aktiv einfließen lassen.

Hilfreich und notwendig dafür ist auch, diejenigen, die lediglich temporäres und kein überdauerndes Involvement entwickeln, nicht ändern zu wollen oder moralisch zu beurteilen.

Die hier beschriebenen Empfehlungen zielen auf die zu wählende Methodik ab. Der Grad des Involvements gibt noch keine Auskunft darüber, welche Qualität die Bedürfnisse der jeweiligen Gruppierungen haben. Es wäre also unsinnig, beispielsweise alle niedrig Involvierten in einen Topf zu werfen. Vielmehr muss mit der je angeratenen Methodik für unterschiedliche Zielgruppen (bzw. mit ihnen) die jeweils passende Lösung entwickelt werden.

Hilfreich und notwendig dafür ist auch, diejenigen, die lediglich temporäres und kein überdauerndes Involvement entwickeln, nicht ändern zu wollen oder moralisch zu beurteilen, sondern dann, wenn der Bedarfsfall eintritt, adäquat bereit zu sein. Nicht umsonst fragt Jesus in Lk 18,41: “Was soll ich dir tun?”

  1. Dessoy, V. (2018): Partizipation – Schlagwort oder mehr?, in Diakonia 2/2018.
  2. Z.B.: „In seinem Fastenhirtenbrief 2016 hat Kardinal Woelki Elemente seiner Vision für die Zukunft des Erzbistums Köln beschrieben und die Katholiken eingeladen, sich mit ihm auf einen pastoralen Zukunftsweg zu machen.“ https://www.erzbistum-koeln.de/erzbistum/pastoraler_zukunftsweg/leitgedanken/

    „Die Aufgabe wird noch größer, wenn wir uns als Gerufene zu allen Menschen verstehen und folglich die Gesamtbevölkerung des jeweiligen Sozial- und Lebensraumes zur Partizipation zumindest einladen.“ http://www.pastoralplan-bistum-muenster.de/fileadmin/user_upload/pastoralplan/downloads/lpp-tools/Zusatzmaterial_Partizipation.pdf

    Das Erzbistum Hamburg wirbt weiter für die aktive Beteiligung an seinem pastoralen und wirtschaftlichen Erneuerungsprozess und will den Dialog mit den Gemeinden vertiefen. https://www.erzbistum-hamburg.de/Regionaltermin-Hamburg_Erzbistum-wirbt-fuer-aktive-Beteiligung

  3. Vgl. Jaritz (2008), S. 123
  4. Trommsdorff (2004), S. 55, Teichert/Rost (2003), S. 623
  5. Kapferer/Laurent (1985), S. 290
  6. Kroeber-Riel/Weinberg (2003), S. 345
  7. Vgl. Trommsdorff (2004), S. 58ff., Esch (2011), S. 116
  8. Matzler (1997), S. 194
  9. Matzler (1997), S. 211ff
  10. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (2015), S. 55
  11. Es liegt auf der Hand, dass die veränderte Ressourcenzuteilung zu Unwillen führen kann. Entsprechend gilt es bei Veränderungen dieser Art differenzierte Stakeholderanalysen durchzuführen und über Beteiligung und Kommunikation für möglichst große Akzeptanz zu sorgen.
  12. Lehnen (2017), S. 21f
  13. France et al. (2018), S. 358

Literatur

Esch, F.-R. (2011): Wirkung integrierter Kommunikation. Ein verhaltenswissenschaftlicher Ansatz für die Werbung, Wiesbaden 2011.

France, C./ Grace, D., Merrilees, B., Miller, D. (2018): Customer brand co-creation behavior: conceptualization and empirical validation, in: Marketing Intelligence & Planning, Vol. 36 Issue: 3, S.334-348.

Jaritz, S. (2008): Kundenbindung und Involvement. Eine empirische Analyse unter besonderer Berücksichtigung von Low Involvement, Wiesbaden 2008.

Kapferer, J.-N./ Laurent, G. (1985): Consumer’s Involvement Profile: New Empirical Results, Advances in Consumer Research, Vol. 12 (1), S. 290-295.

Kroeber-Riel, W./ Weinberg, P. (2003): Konsumentenverhalten, München 2003.

Lehnen, J. (2017): Integration von Lead Usern in die Innovationspraxis. Eine empirische Analyse der praktischen Anwendung des Lead User-Ansatzes, Wiesbaden 2017.

Matzler, K. (1997): Kundenzufriedenheit und Involvement, Wiesbaden 1997.

Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.) (2015): „Gemeinsam Kirche sein“. Wort der deutschen Bischöfe zur Erneuerung der Pastoral, Die deutschen Bischöfe Nr. 100, Bonn 2015.

Teichert, T./ Rost, K. (2003): Trust, involvement profile and customer retention – modelling, effects and implications, in: International Journal Technology Management, Vol. 26, Nos. 5/6, 2003, S. 621-639.

Trommsdorff, V. (2004): Konsumentenverhalten, 6. Auflage, Stuttgart 2004.

futur2 möglich machen

Hinter der futur2 steht ein Verein, in dem alle ehrenamtlich arbeiten.

Für nur 20 € pro Jahr machen Sie als Mitglied nicht nur die futur2 möglich, sondern werden auch Teil eines Netzwerks von Leuten, die an der Entwicklung von Kirche und Gesellschaft arbeiten.

» MEHR ERFAHREN