22018

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Konzept

Gundo Lames

Interaktion, Publikum und Profession – Wie sich Kirchenentwicklung (von unten) ereignet

Kirchenentwicklung ist für Valentin Dessoy ein zentrales Thema, wenn er Diözesen und andere kirchliche Einrichtungen berät. Kirchenentwicklung zu begleiten und auch zu betreiben, sucht vor allem mit den Auftrag gebenden Akteuren einen zielorientierten Prozess von einem Ist- hin zu einem Soll-Zustand zu gestalten, der die Fragen aus dem Ist-Zustand beantwortet haben will.

Im folgenden will ich das Thema Kirchenentwicklung in drei Schritten aufgreifen: Erstens markiere ich das Aufeinander-bezogen-sein von Kirche als Organisation und Bewegung, zweitens das kirchliche Organisation durch Interaktion in dauerhafte Entwicklungsaufgaben hineingestellt ist und dass drittens Kirchentwicklung „von unten“ durch Interaktion die Pluralitäts- und Bewegungsförmigkeit steigern hilft, nicht immer im Einklang mit Entscheidungen des kirchlichen Establishments.

1.

Kirche ist Organisation, ob sie will oder nicht. Sie enthält alle soziologischen Kennzeichen einer Organisation: Sie hat Mitglieder, sie hat eine Hierarchie, sie trifft Entscheidungen, sie bezahlt Mitarbeitende und erwartet dafür Leistungen, sei es in der Pastoral oder in der Verwaltung. Sie stellt Dienstleistungen und Güter her, die durch „Mitgliedschaftsbeiträge“ (hier in Deutschland: Kirchensteuer) finanziert werden.

Sie unterscheidet sich sicherlich von Organisationen, die durch Verkauf von Produkten ihre Gewinnspannen maximieren wollen und ist deshalb eher den Non-Profit-Organisationen zuzurechnen.

In der Regel tragen die Mitglieder aller unterschiedlichen Organisationsteile eine gemeinsame Basisrolle als Getaufte.

Als solche kennt sie auch besondere Mitgliedschaftsrollen. An der Spitze stehen die Rollen des geweihten Amtes in Form von Priestern, die entweder als Bischöfe, Pfarrer, Vikare, Kapläne oder eingesetzt sind. Ihre Rollenträger besetzen in der Regel auch die geistlichen Leitungsämter auf der Ebene der Weltkirche, der nationalen Bischofskonferenzen, der Diözesen, Pfarreien, die nicht selten auch mit Vollmachten in der Personal- und Wirtschaftsführung ausgestattetet sind.

Seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts haben sich neben diesen geistlichen Ämter pastoralbezogen weitere hauptamtliche Dienste entwickelt: die Gemeinde- und Pastoralreferenten und -innen, die selbst wiederum Anteil an Leitungsaufgaben der Kirche auf den unterschiedlichen Ebenen haben können. Diese theologisch-pastoralen Rollen können hier ohne vertiefende Erläuterung zur Professionstheorie als theologische „Profession“ benannt werden.

Neben diesen pastoralorientierten, der seelsorglichen Arbeit dienenden Berufe gibt es in der Kirche auch die wirtschafts- und verwaltungsorientierten Berufe, zudem nahezu alle Berufe der sozialen Arbeit (Caritas und Diakonie) und der Medizin (konfessionell geführte Krankenhäuser) sowie der Wissenschaft (konfessionell geführte Hochschulen und Universitäten), die freilich keine eigenständigen aus der Kirche selbst hervorgegangenen Berufe darstellen, wie z.B. Ökonome, Betriebswirte, Justiziare, Mediziner, Architekten, Verwaltungsleitungen, kaufmännische, juristische, bautechnische … Sachbearbeitungen, Pflegende uvm.

Weiterhin ist z.B. eine Diözese eine Körperschaft des Öffentlichen Rechtes und von daher mit diversen Selbstbestimmungsmerkmalen hinsichtlich ihrer Personal- und Vermögensarbeit ausgezeichnet, die in vielen Fällen auch durch die Staatskirchenverträge abgesichert sind. Zudem sind Diözesen wiederum von weiteren kirchlichen Körperschaften des Öffentlichen Rechts sowie von Verbänden umgeben oder modern gesprochen mit ihnen in unterschiedlichen Zusammenhängen vernetzt. Kirche stellt so ein vielfach verbundenes kooperatives Netzwerk von Organisationen/Körperschaften des öffentlichen Rechtes dar, das abgesteckt durch kirchenrechtliche, staatskirchenrechtliche und staatliche Normen Leistungen als Non-profit-Organisation erbringt.

In der Regel tragen die Mitglieder all dieser unterschiedlichen Organisationsteile eine gemeinsame Basisrolle als Getaufte, somit also als Christen. Neben den hauptamtlichen Mitgliedschaftsrollen existieren die der Ehrenamtlichen sowie die der weder haupt- noch ehrenamtlich Tätigen, die als Mitglieder mehr oder weniger direkt in den Genuss der Arbeit / Leistungen der vorher genannten Mitgliedschaftsrollen kommen. Diese fungieren je nach Angebot und Leistung auch als Publikum der Leistungserbringungsveranstaltungen, deren Ergebnisse sie auch selbst konsumieren können.

Formal gesehen bilden die (alle?) Mitglieder aufgrund ihrer Basisrolle Gemeinschaften von Gläubigen, die in der Regel in Pfarreien oder anderen Gemeinschaftsformen wie Personalgemeinden organisiert und vom Rollenmix wie oben beschrieben durchzogen sind.

Kirche kann sich aber selbst nur schwer erschöpfend als Organisation beschreiben, denn das soziologische Instrumentarium verkennt den bzw. kann den theologischen Wesenskern von Kirche nicht adäquat erfassen.

Hier fällt natürlich auf, dass diese formale Beschreibung keine mehr ist, die eine getreue Abbildung der Praxis sein könnte. Denn Kirche stellt mittlerweile auch Fernstehende, Nichtgetaufte an, wenn auch (noch) nicht in den offenkundigen Verkündigungsfeldern. Bestimmte Aufgaben haben für andere Handlungsfelder Dienstleistungs- und Unterstützungscharakter, so z.B. die Verwaltung für die Pastoral oder die Sozialarbeit und können sich von daher vielfach auf einer hintergründigen Bühne abspielen. Die dort handelnden Personen können diese Aufgaben prinzipiell unabhängig(er) – weil weniger öffentlich beobachtet – von eigener Glaubenspraxis ausüben, was den Mitarbeitenden in der unmittelbaren Verkündigung nicht so ohne weiteres möglich bzw. erlaubt ist. Die Ideen der Gemeinschaften von Gläubigen selbst sind zwar fester dogmatischer Bestandteil in der Ekklesiologie und äußerlich oft in territorial verfassten Gemeinschaften greifbar. Die Qualität dessen, was diese Gemeinschaften nach innen wie nach außen auszeichnet, bleibt vielfach aber unterbestimmt und wird mehr oder weniger mit Hilfe von quantitativen Kennzahlen wie Teilnahme an Eucharistiefeiern, Anzahl der Spenden der Tauf-, Kommunion- und Firmsakramente formal beschreibbar.

Kirche kann sich aber selbst nur schwer erschöpfend als Organisation beschreiben, denn das soziologische Instrumentarium verkennt den bzw. kann den theologischen Wesenskern von Kirche nicht adäquat erfassen.

Als Gründung Jesu Christie will sie von Anfang an bis heute und darüber hinaus Sendung und Sammlung sein, Kirche ad extra und Kirche ad intra, damit alle Menschen das Evangelium hören, erfahren und sich mit ihm identifizieren können. Sie ist sich deshalb nicht selbst Zweck, sondern sie steht im Dienst, dass Evangelium zu bezeugen und es selbst in ihren Grundvollzügen zu leben und in den gesellschaftlichen Zusammenhängen wirksam zu bezeugen. Darum ist sie da, sie ist in dieser Selbstbeschreibung Werkzeug und Sakrament, in der sie ihre Organisation auf Bewegungsfähigkeit trimmen muss und das Publikum aktivieren will, selbst zu Akteuren / Zeugen / … zu werden. Das ist der Moment, wo Kirche auf Interaktion setzt, die scheinbare Starre der Organisation verlassen will, um zu den Menschen zu gehen und um sich mit ihnen einzulassen und auseinanderzusetzen. Dann geht sie in die Welt, ins Außen und bleibt nicht bei sich.

Damit sie das kann, macht sie sich ihre Organisationsförmigkeit zu Nutze, in dem sie dauerhaft die Mittel für Interaktionen dieser Art und Zielrichtung zur Verfügung stellt: Z.B. Profession, ausgebildete Seelsorger und Seelsorgerinnen, Ämter und Dienste. Darüber hinaus wird das Publikum zum sekundären Leistungsträger, in dem ein Teil davon freiwillig und ehrenamtlich mitarbeitet in den jeweiligen Programmen, Aufgaben sowie den damit verbunden Einfällen und Innovationen in der konkreten Begegnung mit möglichst vielen Menschen. Dazu spielt im Hintergrund eine nahezu geräuschlose Verwaltung, damit die Mittel effektiv und effizient eingesetzt werden können.

Organisation und Bewegung spielen ineinander, mindestens idealtypisch und zugleich mit Folgen für die Kirchenentwicklung.

In der Interaktion begegnen sich Seelsorgende, pastorale Leistungserbringende mit allen anderen Mitgliedschaftsrollen. In dieser Sendung sucht Kirche die Menschen in ihren Lebenssituationen auf, in der Sammlung entstehen (christusbezogene) Gemeinschaften, die sich diakonisch und / oder missionarisch verorten und wiederum nach außen wirken können. So spielen Organisation und Bewegung ineinander, mindestens idealtypisch und zugleich mit Folgen für die Kirchenentwicklung.

2.

In der Systemtheorie werden die drei Systemtypen Gesellschaft – Organisation – Interaktion unterschieden.1 Auf der Ebene der Gesellschaft zeigen sich die sogenannten funktionalen Systeme, wie z.B. Wirtschaft, Politik, Recht, unter anderem eben auch Religion, die je spezifische nicht aufeinander übertragbare Funktionen und Leistungen im gesellschaftlichen Kontext übernehmen und für gesellschaftliche funktionale Differenzierung und damit für Bearbeitung von Komplexität sorgen. Das tun sie durch je spezifische Kommunikation mit binärer Codierung, z.B. zahlen / nichtzahlen – Wirtschaft; wahr / falsch – Wissenschaft; glauben / nichtglauben bzw. Transzendenz / Immanenz – Religion.

Religion als gesellschaftliches Teilsystem entwickelt eine Form religiöser Kommunikation, die an der binären Codierung von glauben / nichtglauben bzw. Immanenz / Transzendenz orientiert ist.

Religion als gesellschaftliches Teilsystem entwickelt eine Form religiöser Kommunikation, die an der binären Codierung von glauben / nichtglauben bzw. Immanenz / Transzendenz orientiert ist. Christliche Religion trägt z.B. durch Gebete, Gottesdienste, religiöse Lebensführungsregeln, Gemeinschaftsangebote zur Kontingenzbewältigung in der Gesellschaft beitragen.  Etwas, was im alltäglichen Bezug unbestimmt bleibt und Unsicherheit hervorruft, kann religionsgesellschaftlich auf Transzendenz hin orientiert und durch Glauben auf Bestimmtes, Sicherheitsstiftendes bezogen werden. Christliche Religion bezieht sich dabei auf Jesus Christus und sein Evangelium. Kirche als organisationale Ausdrucksform / Sozialgestalt christlicher Religion sorgt für auf Dauer gestellte am Evangelium orientierte Antworten, die eingekleidet sind in kirchliche Traditionen, Rituale, Dogmen, biblische Interpretationshilfen, Gemeinschafts- und Gemeindebildungen. Diese werden in der Regel in Interaktionen gelebt, also z.B. in Zusammenkünften unter Anwesenden in familiären, pfarrlichen, diözesanen oder gar weltkirchlichen Zusammenhängen.

Hier schien es über hunderte von Jahren vor allem so zu sein, das kirchliche (katholische) Lebensführungsregeln, aktiv tätiger Mitvollzug des Kirchenjahres, Orientierung am Katechismus, eine kaum hinterfragte Identifikation mit den Grundlehren, religiöse Beheimatung stiftende pfarrliche (gemeindliche) Sozialisation milieu- und lebensprägend waren. Religion wurde dort als konfessionelles und den einzelnen bindendes Christsein gelebt. Kirche als Organisation und Interaktion wurden nicht als gegensätzlich oder unverbunden nebeneinander erlebt.

Mit der postmodernen Gesellschaft bricht dieses Schema auf. Es bricht weniger im Kontext der kirchlichen Lehre und Dogmatik sowie der Organisation auf, als vielmehr durch neue Wissensformen und Aufklärung, Freiheit und Individualisierung, Medienvielfalt und Globalisierung, die es den Menschen ermöglichen, wenn sie wollen und ohne persönliche Nachteile sich aus der kirchlichen Bindekraft zu lösen und auf anderen Wegen, ihre über den Alltag hinausgehenden sinnstiftenden Konzepte zu finden.

Die kirchliche Organisation „spürt“ (beobachtet) das erstens anhand organisationaler Programme und zweitens ganz besonders in der unmittelbaren religiösen Kommunikation auf der Interaktionsebene, was als Irritationen auf der Organisationsebene wahrgenommen werden kann. Das sind zum einen die „Bücher“, die geführt werden und statistisch Auskunft darüber geben können, wie die Zahlen der Sakramentenspendungen zurückgehen, wie die Austrittszahlen steigen, aber auch wie die Teilnehmendenzahl von Mitgliedern und Nichtmitgliedern an Pilgerreisen steigen und ähnliches mehr. Das sind zum anderen die inhaltlichen Programme, die auf Innovationen setzen und deren Erfolg oft über intuitive Eindrücke wahrgenommen wird, weniger über ein evaluierbares Qualitätsmanagement. Hier stellt die Organisation Interaktionsmöglichkeiten zur Verfügung. Sie beinhalten entweder neue Offerten an das Publikum, an Mitglieder und Nichtmitgliede oder die professionellen Rollen bearbeiten gemeinsam mit Mitgliedern / Nichtmitgliedern deren (religiöse, geistliche …) Themen so miteinander, dass sie Relevanz für die je eigene Lebensgestaltung gewinnen, wie z.B. die Ausbildung in der Hospitzarbeit, der Hauskreis, der sich um das Wort Gottes versammelt, die Ehrenamtlichen in der Flüchtlingsarbeit usw. … Hier aktiviert Kirche als Organisation vor allem ihre Interaktionsmöglichkeiten. Das tut sie durch zur Verfügungstellung von Deputaten für innovatives Arbeiten und für Sonderaufgaben sowie durch den Wechsel auf pastorale Programme, die orientiert sind z.B. am Sozialraum oder der Netzwerkidee. Organisation zeigt sich so flexibel und agil. Und dennoch wird sie durch Geschehen auf der Interaktionsebene irritiert und zur Kirchenentwicklung angeregt. Wie sich das inhaltlich ereignet, folgt im nun abschießenden dritten Teil.

3.

Die organisationale kirchliche Sozialgestalt sieht sich Fragen und Herausforderungen gegenüber, die sich vor allem in den kirchlichen Interaktionen, in der religiösen Kommunikation unter Anwesenden abspielt. Die oben gezeigten gesellschaftlichen Trends markieren Relevanzeinbußen für die Kirche, die sich unmittelbar in ihren Interaktionen zeigen. Hier liegt ein bislang wenig beachtetes Potential für Kirchenentwicklung, so die Überlegung für diesen Schlussteil.

Die organisationale kirchliche Sozialgestalt sieht sich Fragen und Herausforderungen gegenüber, die sich vor allem in den kirchlichen Interaktionen, in der religiösen Kommunikation unter Anwesenden abspielt.

(Katholisches) Christentum ist zugleich Teil eines pluralisierten religionsgesellschaftlichen Systems, das zusammen mit allen anderen Religionstypen Funktionen in der Gesellschaft erfüllt. Es hat einen Organisationstyp Kirche ausgebildet, der die strukturelle Identität des Christentums durch auf Dauer gestellte Regeln, Sukzessionen, Grundvollzüge und vieles mehr bis in die Zukunft hinein sicherstellen will. Dieser Organisationstyp wie viele andere Non-Profit-Organisationen will explizit Bewegung und damit Interaktion, also eine von der Organisation selbst zu unterscheidende Kommunikation.

Dabei ist ein doppeltes beobachtbar: Erstens kommunizieren Interaktionen und Bewegungen anders als Organisationen oder Gesellschaftssysteme. Deshalb sind zweitens Interaktionssysteme nicht so ohne weiteres durch Organisationen steuerbar, auch wenn die Organisation „ihren“ Interaktionen dafür entsprechende Mittel, z.B. Personen, Räume, Finanzen, … (also auch Profession) zur Verfügung stellt. In Interaktionen ereignen sich Begegnungen unter Anwesenden, die in sich instabil sind, denn es kann jemand dazu kommen oder wegbleiben, das Thema wechseln und ein neues einbringen, usw. Und sie brauchen auch nicht auf Entscheidungen hin zu arbeiten, was aber Kernaufgabe von Organisation ist. In Interaktionen müssen auch keine Regeln aus der Organisation eingehalten werden. Zwei Beispiele sollen nun Kirchenentwicklung aufgrund von Interaktionen illustrieren.

Erstens Schulseelsorge2. Lange kam Kirche ohne Schulseelsorge aus. Kirche galt lange als die Bestimmerin der Schule und ihrer wesentlichen Inhalte. Die, die zur Schule gingen, lernten den Katechismus, lernten Lesen anhand der Bibel und waren zu dem eingebettet in das Zusammenwirken von Pfarrei und Schule und Kirchenjahr. Mit den radikalen Umbrüchen im Verhältnis von Schule und Kirche verlor die Kirche den unmittelbaren Zugriff auf Schule und Bildung, etablierte aber eigene kirchliche Schulen und sicherte den Status des Religionsunterrichtes als eigenständiges Lehrfach grundgesetzlich ab. Dennoch gelang es nicht über diese verbleibenden Maßnahmen, die religiöse Sozialisation der Schüler und Schülerinnen kirchenprägend (-bindend) zu gestalten.

Interaktionen und Bewegungen kommunizieren anders als Organisationen oder Gesellschaftssysteme. Deshalb sind Interaktionssysteme nicht so ohne weiteres durch Organisationen steuerbar.

Stattdessen entwickelten in schulischen Kontexten Professionsträger (Lehrer*innen bildungssystemorientiert sowie Pastorale religionssystemorientiert) zusammen mit Eltern, Schülerinnen und Schülern neue Formen schulischer sowie religiöser Kommunikation, die auf Freiwilligkeit und Bedürfnisorientierung umstellten. Allmählich entstanden ganz unterschiedliche Aktionen aufgrund schulseelsorglicher Interaktionen, die mehr als Eintagsfliegen waren: Elterncafes, Eine Welt Wochen, die auch die unterschiedlichen religiösen Gruppen in Schule und Elternschaft ins Gespräch brachten, ökumenische Arbeitskreise in Verbindung mit dem nachbarschaftlichen Engagement der Schule sowie der jeweiligen Religionsgemeinschaften, Interkulturelle Gruppen, Meditationsräume … Die kirchliche Organisation, hier ihre jeweiligen Ämter und Behörden beobachteten das und versuchten, dieser Entwicklung mit entsprechenden Aktionen gerecht zu werden: Schulseelsorgliche Programme erhielten dann manchmal Referenten oder Referentinnen in den kirchlichen Behörden, die solche Programme dann übergeordnet steuern, bezuschussen, personalisieren sollten. Auch an die jeweiligen Leitungen war und ist zu berichten, ob sich solches freiwilliges Engagement lohne. Zudem wurden Reflexionsprozesse angestoßen, die zum einen Didaktik und Methodik von Schulseelsorge thematisierten und zum anderen die auf der Ebene der Deutschen Bischofskonferenz herausgebrachten Handlungsorientierungen hervorbrachten.3 Hier zeigt sich die Grundbewegung: Interaktionen in Kontexten der Schule bringen Schulseelsorge als neues Handlungsfeld hervor, dass die Pluralität kirchlichen Handelns in der Schule erweitert. Kirchliche Organisation ist nun herausgefordert, wenn sie denn diese freiwilligen Angebote unterstützen will, Kriterien und Richtlinien zu bauen, die klären helfen, z.B. wann Schulseelsorge kirchliche Schulseelsorge ist oder nicht, in welchen Fällen Lehrer oder Lehrerinnen Deputate für Schulseelsorge erhalten oder nicht.

Zweitens Wort-Gottes-Feiern: Patrick Heiser, Soziologe an der Fernuniversität Hagen, hat in einer empirischen Studie Wort-Gottes-Feiern u.a. hinsichtlich der Aktivierung des Publikums sowie der Pluralisierung katholischer Liturgie untersucht.4

Heiser hat zunächst Kirche als ein Mehr-Ebenen-System konzipiert. Es treten auf: Publikum, primär als Rand- und Nichtmitglieder, Organisation im Sinne der Amtskirche, die Interaktionsebene Pfarrei sowie die Professionsebene (Priester). Seine empirische Untersuchung zeigt große Diskrepanzen zwischen organisationalen Vorgaben und der tatsächlichen Gottesdienstgestaltung auf der Interaktionsebene,5 Das zeigt sich daran, dass Wort-Gottes-Feiern in den meisten Fällen regelmäßig gestaltet werden, was der amtlichen Vorstellung, sie seien Ersatzlösungen und nur als eine echte Notlösung anzuwenden, widerspricht. Die Pfarrer begründen dies mit dem Priestermangel, so dass nur mit Wort-Gottes-Feiern ein regelmäßiges Gottesdienstangebot sicherzustellen sei. Die Organisation / Amtskirche lehnt auch die Wort-Gottes-Feiern sonn- und feiertags wegen der sonntäglichen Eucharistiefeiern ab. Allerdings werden sie in 18% der untersuchten Pfarreien regelmäßig an Sonn- und Feiertagen angeboten, ein weiteres Viertel der Pfarreien tut dies im Ausnahmefall, wenn der Pfarrer z.B. krank ist. Die Pfarrer selbst rechtfertigen diese Praxis, indem sie betonen, dass die Versammlung am Sonntag wichtig sei. Hinsichtlich der Kommunionspendung wird trotz gegenteiliger Auffassung der Organisation in mehr als einem Drittel der untersuchten Pfarreien in Wort-Gotte-Feiern Kommunion gespendet. Die Pfarrer begründen das mit den Erwartungen der Teilnehmenden, die ohne Wort-Gottes-Feiern ohne Kommunionspendung nicht als vollwertige Form des Gottesdienstes anerkennen würden. An diesen Fragen zur Regelmäßigkeit, der Wort-Gottes-Feiern sonn- und feiertags sowie zur Kommunionspendung zeigt sich, dass organisationale Normen, hier hinsichtlich der Wort-Gottes-Feiern, auf der Interaktionsebene der Pfarrei nur teilweise um- bzw. durchgesetzt werden. Die befragten Pfarrer, mithin die Profession, argumentieren entweder mit in den Interaktionen mit dem Publikum gewonnenen Erwartungen oder aber mit Hinweisen auf Mangelsituationen (Pfarrer, Versorgung mit Gottesdiensten), die unterhalb des Dilemmas, organisationale Normen einzuhalten oder nicht, auf der Interaktionsebene der Pfarrei bearbeitet und pragmatisch gelöst werden.

So kommt es dann zu lokalen Kirchenentwicklungen, die nicht unbedingt norm- und organisationsgerecht sind. Hier beginnt der produktive Konflikt zwischen Organisation und Bewegung bzw. Interaktion.

Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist das Ergebnis von Heiser hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung von Wort-Gottes-Feiern. Denn auch diese weicht von den inhaltlichen Formularen teilweise ab und generiert werden neue Formen mit neuen Inhalten trotzdem die Wort-Gottes-Feier-Gestaltende, aus dem Publikum gewonnene oder aktivierte Akteure, wiederum mit organisational vorgegebenen Didaktiken und Methoden ausgebildet worden sind.

Kirchenentwicklung zeigt sich also in einer dreifachen Art und Weise am Beispiel der Entwicklung von Wort-Gottes-Feiern.6

  • Zunächst zeigt sich empirisch eine Ökonomisierung in der Einführung und Durchführung von Wort-Gottes-Feiern. Publikumsrollen werden aktiviert und treten als sekundäre Leistungserbringer auf freiwilliger und unbezahlter Basis auf. Zugleich bedeutet das eine zweckrationale Öffnung auf die Werte und Normen der aktivierten sekundären Leistungserbringer.
  • Sodann zeigen sich Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung. Die aktivierten Mitglieder aus dem Publikum fühlen sich ermächtigt, individuell religiös eine eigene Regie zu führen, was wiederum zu einer Zunahme an Pluralität führt. Denn Wort-Gottes-Feiern bieten nicht nur individuellere Gestaltungsmöglichkeiten als Eucharistiefeiern, sondern auch größere Freiheiten, Formen und Inhalte kreativ zu bespielen. Das wird von den befragten Pfarrern auch lobend erwähnt.
  • Schließlich spielt auch die Autonomie der Profession eine wichtige Rolle, die unterhalb der organisationalen Vorgaben auch Formen und Inhalte in der Gestaltung der Wort-Gottes-Feiern nicht nur dulden, sondern auch fördern.   Die Profession ist es schließlich, die für eine pragmatische Anpassung an die Situation vor Ort sorgt und nicht so sehr um das Durchsetzen der organisationalen Normen bemüht ist.

4. Fazit

Die Interaktionsebene im Kontext von Schulseelsorge sowie die im Kontext der Wort-Gottes-Feiern generiert jeweils individuelle und pluralitätssteigernde neue Formen und Inhalte religiöser Kommunikation.

Auf diesen Ebenen können Kommunikationen unterhalb vorgegebener organisationaler Regeln und Normen gespielt und somit auch ausprobiert werden. Diese bewegungsförmigen Entwicklungen verdanken sich den aktivierten Akteuren aus dem Publikum, ihren Vorstellungen und Bedürfnissen sowie der Autonomie der jeweiligen Profession vor Ort, die einerseits pragmatisch an den Erwartungen des Publikums orientiert und andererseits Mängel behebend agiert. Zusammen mit den Rollen des Publikums kommt es dann zu lokalen Kirchenentwicklungen, die nicht unbedingt norm- und organisationsgerecht sind. Hier beginnt der produktive Konflikt zwischen Organisation und Bewegung bzw. Interaktion, der die Organisation vor eine komplexe Steuerungsaufgabe stellt.

Für Beratung bedeutet das, Kirchenentwicklung als Herausforderung für die organisationale Steuerungsarbeit zu begreifen, in der die Bewegungen vor Ort mit der Zunahme von Individualität und Pluralität ermöglicht bzw. auch ermächtigt werden. Möglicherweise findet hier eine Relativierung organisationaler Macht statt zugunsten von dezentralen Entwicklungen.

  1. Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme 1984, Frankfurt/M.
  2. Vgl. zum Folgenden: Gundo Lames, Schulseelsorge als soziales System, Stuttgart 2000.
  3. Vgl. Lames 2000, 212ff.
  4. Vgl. Patrick Heiser, Kirchliche Sozialformen im Wandel. Transformationsprozesse im Mehr-Ebenen-System Kirche am Beispiel Katholischer Liturgie, Münster 2015.
  5. Zum Folgenden: Heiser 2015, 95-119.
  6. Zum Folgenden: Heiser 2015, 232-239.

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