Von Gedenken und Erneuerung – Überlegungen zu biblischen Grundlagen kirchlicher Innovation
Die doppelte Herausforderung für die Kirche, die Valentin Dessoy beschreibt, ist gegeben, aber überwindbar. Dabei können vor allem biblische Zugänge zum Thema Innovation in den Mittelpunkt gestellt werden, die eigentlich schon lange in kirchlichem Handeln vorhanden sind, sogar wichtiger Bestandteil sind. Im Umgang mit den biblischen Erzählungen können dann auch einzelne Handlungsmaximen für die Kirche gewonnen werden.
Das Gedenken des Bundes im Alten Testament
Ein Schlüsselwort biblischer Theologie des Alten Testamentes findet sich im Bundesschluss mit Noah, in dem Gott die Zusage an seine Schöpfung erneuert: „Meinen Bogen setze ich in die Wolken. […] Erscheint der Bogen in den Wolken, dann gedenke ich des Bundes“ (Gen 9,13-15). Gedenken (herbäisch: sakar, זכר) meint in der jüdischen Tradition nicht nur das bloße Erinnern, also das Betrachten von Vergangenem, sondern auch eine Gegenwärtigsetzung, eine Aktualisierung des Geschehenen. Aus diesem Gedenken entsteht dann die Erneuerung des Bundes, nach der das Leben des Volkes eine neue Qualität erhält. Deutlich wird dies in der Exoduserzählung, an deren Anfang Gott das Stöhnen der versklavten Hebräer hört. Daraufhin „gedachte [Gott] seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob“ (Ex 2,24). Im Anschluss daran beruft er Mose als sein Sprachrohr zur Befreiung des Volkes Israel.
Dabei kommt dem Gedenken des Bundes eine entscheidende Rolle zu. Es bezeichnet Gottes Handeln an seinem Bundesvolk: er erneuert seinen Bund mit seinem Volk. Dabei hat die Erneuerung zwei Perspektiven: der Blick nimmt die Vergangenheit, die Tradition, ernst, verwirft sie nicht als falsch oder weniger lebenswert. Ja gerade aufgrund dieser Vergangenheit, der bisherigen Geschichte Gottes mit seinem Volk, knüpft er daran an und erneuert den Bund, den er mit den Väter und Müttern der vergangenen Zeit geschlossen hat. Erst diese Rückversicherung macht das Handeln Gottes für das Volk wie für die Lesenden verständlich. Die andere Perspektive richtet sich nach vorne. Es ist ein Neuanfang. Die emotionale Bindung Gottes zu seinem Volk wird erneuert, das Leben ändert sich aber radikal. Das Volk soll und wird befreit werden. Die Erneuerung des Bundes macht die Änderung der Lebenswege der Beteiligten notwendig: Mose muss zurück in das Land, aus dem er geflohen ist, und die Israeliten erhalten das Versprechen vom Leben in Freiheit.
Die biblische Tradition nimmt diesen Begriff auf und verweist immer wieder auf die notwendige Erneuerung des Bundes durch Gott, wenn Lebenswege sich radikal ändern müssen. In der babylonischen Exilserfahrung verheißen die Propheten, beispielsweise Jeremia, die Erneuerung des Bundes, wie es sich später in der Rückkehr in die Heimat und im Bau des zweiten Tempels erfüllt.
Die Erneuerung am Höhepunkt der Offenbarungsgeschichte
Selbst die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ist in diese Linie der Erneuerung zu stellen. Die katholische Theologie redet von der abgeschlossenen Offenbarung in Jesus Christus, da Gott nichts Größeres tun konnte, als Mensch zu werden. Dabei erkennt auch sie an, dass Gott weiterhin den Menschen etwas zu sagen hat. Die Vollendung geschieht dann in der Endzeit, im Eschaton, wenn der Messias zurückkehrt, um die Erde endgültig zu verwandeln. Vielleicht ermöglicht daher die Rede vom Höhepunkt, also dem qualitativ bestmöglichen und erkenntlichsten Offenbarungshandeln Gottes in Jesus Christus, für die Kirche den Umgang mit der biblischen Heraus- und Anforderung an eine stetige Erneuerung2.
Mit den biblischen Erzählungen bietet sich für innovatives Handeln ein Vorbild an, dass es möglich macht, der Herausforderung für das System Kirche entgegenzutreten und ein innovationsfreundliches Klima zu schaffen.
Jesus selbst greift auf diese biblische Tradition zurück und liefert damit gleichzeitig eine theologische Blickrichtung für unsere Zeit. Beim Essen mit seinen Jüngerinnen und Jüngern vor seiner Verhaftung, dem letzten Abendmahl, stiftet er den Bund und fordert auf, immer wieder dieses Ereignisses zu gedenken. Dabei steht er vollends in der Tradition des Alten Testamentes: ihm geht es nicht, um eine Erinnerung im Sinne einer musealen Bewahrung, geschweige denn eines bloßen Nachspielens. Er fordert seine Jüngerinnen und Jünger auf, in der Feier des Abendmahles den Bund jedes Mal, nach einer kurzen historischer Entwicklung, jeden Sonntag, zu erneuern. Dabei erfolgt ebenso der Rückgriff auf das Verständnis des hebräischen זכר: Erinnerung an das Vergangene, Gegenwärtigsetzung und Aufnehmen des Auftrages zum Ändern des Lebens in der Christusnachfolge. In dieser Perspektive feiert die Kirche heute immer noch die sonntägliche Eucharistie, als Erinnerung und Neuanfang zugleich.
Mit den biblischen Erzählungen bietet sich für innovatives Handeln ein Vorbild an, dass es möglich macht, der Herausforderung für das System Kirche entgegenzutreten und ein innovationsfreundliches Klima zu schaffen. Dabei lassen sich unterschiedliche Aspekte ableiten.
Wertschätzung der Tradition
Die Rede von der Bundeserneuerung im Alten Testament legt selbstverständlich eine Änderung der Bedingungen an den Tag und hat auch immer etwas mit Abbrüchen von Vorhandenem zu tun. Dabei geschieht diese Erneuerung jedoch immer auf der Basis des Vergangenen, sogar mit einer deutlichen Wertschätzung der vorherigen Bundeselemente. Es ist ein Anknüpfen an das bisherige, aber gleichzeitig wird der lebenswichtige Impuls für das Neue gegeben und deutlich benannt.
Jede Gemeinschaft, Gemeinde und Gruppe muss daher um diesen Kern, also um das, was von der Botschaft verstanden und für wichtig befunden wurde, ringen und sich selbst hinterfragen.
Die Entwicklungen im System Kirche stehen immer in Konkurrenz zum Status Quo. Häufig werden Änderungen als wenig wertschätzend gegenüber dem vergangenen und alten empfunden und daher schnell aus einem Angstreflex heraus abgelehnt. Mit Blick auf das biblische Erneuerungsdenken des Bundes zwischen Gott und den Menschen wird aber eben an die Vergangenheit angeknüpft und die Verbindung zwischen Gott und den Menschen aktualisiert und dies immer wieder aufs Neue. Gleichzeitig greift die Erneuerung den Kern des Bundes auf. Äußerliche Formen ändern sich und als ungenügend empfundene Lebenssituationen ändern sich. Damit lässt sich vor allem nach dem Kern der Botschaft und der Gemeinschaft als Kontinuität fragen, dieser ist es, der gleich bleibt und durch die Erneuerung wieder in der Vordergrund gestellt wird. Dabei ist der Kern der Botschaft nicht leicht zu bestimmen. Jede Gemeinschaft, Gemeinde und Gruppe muss daher um diesen Kern, also um das, was von der Botschaft verstanden und für wichtig befunden wurde, ringen und sich selbst hinterfragen. Eine Besinnung auf diesen Kern und das Voranstellen dieses, zusammen mit einer Akzeptanz der „Zeichen der Zeit“ in aktualisierten Formen und Sprachen, kann der Innovation den Raum geben, den sie zur Entfaltung braucht.
Denken in kürzeren Rhythmen
Das Beispiel der Bundeserneuerung durch Jesus in seinen Abendmahlsworten und vor allem die daraus erwachsene, katholische Tradition der sonntäglichen Eucharistiefeier dient als Bildfläche für einen schnelleren Rhythmus der Erneuerungen und des Wandels. Die Aktualisierung des Bundes findet jede Woche statt. Immer wieder werden innerhalb kirchlicher Institutionen Prozesse ausgelöst, die, ob schon über mehrere Jahre angelegt, einen noch weiter in der Zukunft liegenden Zeitraum neu gestalten sollen. Dabei liegt die Gefahr darin, im Hier und Jetzt Beschlüsse festzulegen, die im Moment der eintretenden geplanten Zukunft längst überholt und auf die geplante Art und Weise nicht mehr durchführbar sind.
Eine Begleitung von Kreativen und Innovativen kann zu einer Erneuerung von Kirche führen, da sie Menschen befähigt, für andere neue Formen und Formate zu entwickeln.
Die biblische Grundlage kann dabei die Forderung nach schnelleren, flexibleren Wandlungsmechanismen unterstützen. Eine Institution, die aufgrund ihrer Organisation in der Lage ist, schneller auf Veränderungen zu reagieren, kann auch in Zukunft ihre Ressourcen besser einsetzen. Wichtige Kapazitäten werden nicht in langwierigen Prozessen verpulvert. Planungen und Zwischenschritte für das kirchliche Handeln durch Dummies und Prototypen schneller auszuprobieren und in einem zweiten Schritt zu evaluieren und anzupassen, können hier eine Möglichkeit der Flexibilisierung geben. Gleichzeitig werden so eine positive Einstellung gegenüber und ein großer Erfahrungsreichtum mit Erneuerungen geschaffen.
Stärkung von Einzelnen
Im Rückgriff auf das Handeln Gottes im Erneuern seines Bundes wird eines deutlich: als Agierende werden Einzelpersonen eingesetzt. Ob Mose, die Propheten oder, als Höhepunkt, Jesus: es sind Einzelpersonen, die zunächst dem Volk, der Masse an Menschen, die neue Qualität des Bundes erschließen sollen. Sie finden neue Formen und Ansprachen, um diesen Bund deutlich werden zu lassen. Dies findet sich auch im Sprichwort „Innovation starts with I“ wieder. Dieser Satz betont das individuelle Handeln in Erneuerungsprozessen. Zum einen beginnt jedes innovative Handeln bei jeder und jedem selbst, zum anderen sind es meist Innovative sowie Gründerinnen und Gründer, die mit ihrer Idee Veränderungen und Erneuerungen herbeiführen.
Es sind Einzelpersonen, die zunächst dem Volk, der Masse an Menschen, die neue Qualität des Bundes erschließen sollen. Sie finden neue Formen und Ansprachen, um diesen Bund deutlich werden zu lassen.
Eine Kirche, die die Fähig- und Fertigkeiten Einzelner ernstnimmt und diese Menschen zum Handeln befähigt, nimmt sich nicht nur selbst in der Rede von einer Charismenorientierung ernst, sondern verhilft dem ganzen System zu stärkerer Bereitschaft zu Wandel und Erneuerung. Eine Begleitung von Kreativen und Innovativen kann zu einer Erneuerung von Kirche führen, da sie Menschen befähigt, für andere neue Formen und Formate zu entwickeln. Damit entsteht eine Lernsituation für alle Seiten: für die Kreativen und Innvotiven, die Gestaltungsfrei- und auch Verwirklichungsräume gewinnen, für die Nutzerinnen und Nutzer der neu geschaffenen Formen, die vielleicht für sich eine bessere Passung des kirchlichen Handels erfahren können, und zuletzt für die Kirche selber, die nicht nur um weitere Handlungsoption für Menschen bereichert wird, sondern auch aus den Entstehungs- und Wandlungsprozessen wichtige Erkenntnisse für zukünftiges Handeln gewinnen kann. Daher kann eine systematische und methodische Begleitung von Einzelpersonen höchst effektiv sein.
Letztendlich ist es unverfügbar
Die Initiative zur Erneuerung geht in den biblischen Erzählungen immer von Gott aus. Er beruft Mose, die Propheten und greift selbst in Jesus in die Geschichte ein. Sein Handeln bleibt dabei in der Gänze für den Einzelnen unverständlich und unvorhersehbar. Theologisch gesprochen, bleibt die Zukunft in Gottes Hand und unverfügbar. Ohne an dieser Stelle den freien Willen aufgeben zu wollen oder sich hinter einen „Gott wird es schon fügen“ zu verkriechen, liegt in dieser Perspektive für kirchliche Innovation ein wichtiger und im Vergleich zu anderen wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Innovationsprozessen entscheidender Moment.
Dabei kann kirchliches Handeln auf vielfältige Formen der Begleitung, beispielsweise in Form geistlicher Begleitung oder Exerzitien, mit diesen Momenten umgehen und auf Erfahrungen zurückgreifen, die beispielsweise im Bereich von Abwägungen unterschiedlicher Ideen nutzbar sind.
Alle innovativen Handlungen sprechen von ähnlichen Momenten: Intuition im richtigen Moment, das Ergreifen einer Chance und Gelegenheit, ein Geistesblitz, ein „Schuppen-von-den-Augen-fallen“ oder auf vielfältige andere Weise. Die kirchliche Geschichte, Spiritualität und auch Praxis kennt für diesen Moment das Wirken des Geistes als Ideen- und Gedankengeber. Dabei kann kirchliches Handeln auf vielfältige Formen der Begleitung, beispielsweise in Form geistlicher Begleitung oder Exerzitien, mit diesen Momenten umgehen und auf Erfahrungen zurückgreifen, die beispielsweise im Bereich von Abwägungen unterschiedlicher Ideen nutzbar sind. Damit können Kreative und Innovative nicht nur methodisch, sondern auch geistlich in den Erneuerungsprozessen begleitet werden. Wichtig dabei ist jedoch, dass in solchen Prozessen nicht alibihaft Gebete oder andere spirituelle Texte zum Thema „Wandel“ im Vorfeld eines Treffens oder einer Sitzung eingebaut werden, sondern das in der Steuerung und Planung von Erneuerungsprozessen bewusst Zeiten für geistliche Begleitungserfahrungen ihren Platz erhalten.
Auch wenn die Herausforderung für das System Kirche bleibt, wird doch eines deutlich: zwar ist Innovation für Kirche keine leichte Übung, aber eigentlich von Anbeginn in die Gene geschrieben. Es gilt die Perspektive zu ändern und sich immer wieder der Erneuerung zu stellen. Gott hat und macht es in der Geschichte mit den Menschen immer wieder. Warum sollten wir uns ihm dann in den Weg stellen?
- Dessoy, V.: Kirche und Innovation – ein Widerspruch? Innovation als organisatorische und theologische Herausforderung, in: futur2, 2/2011.
- Weinhardt, Joachim/Pemsel-Maier, Sabine: Offenbarung. In: WiReLex. Jg. 2016. Link: http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/100066/. S. 4.