Der Heziloleuchter – Symbol einer eschatologisch fokussierten Kirchenentwicklung
Der Heziloleuchter
Mitten im romanischen Hildesheimer Dom, mitten in seiner großartigen Stabilität und Festigkeit hängt der Sprengstoff. Es ist der berühmte Radleuchter, der im 11. Jahrhundert Bischof Hezilo zugeschrieben wird. Das himmlische Jerusalem, mit seinen 12 offenen Toren, mit der Idee der Stadt Gottes, die in der Offenbarung des Johannes beschrieben wird, ist ja die Zukunftsvision der Wege Gottes schlechthin. Das Ziel der Wege Gottes, so wird hier deutlich, ist nicht Erhalt irgendeiner Kirchlichkeit, sei sie vergangen, zukünftig oder gegenwärtig, sondern es geht um die Zukunft der Menschheit. Am Ende der Zeiten steht nicht eine alte oder moderne Kirchenwirklichkeit, sondern eine Zivilisation der Liebe, eine Stadt als gelebtes Miteinander der Menschen in der Gegenwart Gottes. Ganz explizit wird hier auch betont, dass es in dieser Stadt keinen Tempel mehr braucht – keinen Ort des Kultes: und das deswegen, weil der auferstandene Herr gegenwärtig ist und alles erleuchtet.
Das ist Sprengstoff. Denn hier ist jede Perspektive der Kirchenentwicklung eingespannt in ihren Ursprung, dem lebendigen Christus, und ihrem Ziel: der Gegenwart Gottes unter den Menschen. Er versammelt alle in der Stadt Gottes, im himmlischen Jerusalem. Damit gibt es eine Kriteriologie für jede kirchliche Entwicklung, die nicht in einem traditionalistischen Erhalt einer Kirchengestalt steht, die also nicht die Innenperspektive präferiert, sondern sich ausrichtet auf eine Zukunft, von der her sie die Kriterien empfängt. Damit sprengt der Heziloleuchter jede Kirchenromanik und –romantik von vorne her auf. Eine solche Eschatologie ist dann aber wirksam für die Gegenwart, weil sie jede verengte Sicht der Kirche aufbricht in die Welt hinein und zugleich Hinweise dafür liefert, wie in der jeweiligen Gegenwart der Weg der Kirche hin zu diesem Ziel gedeutet und gelesen werden kann.
Das Volk Gottes auf dem Weg
Das II. Vatikanische Konzil formuliert seine Lehre von der Kirche, die im Geheimnis des dreifaltigen Gottes Ihren Ursprung hat und „Ikone der Dreifaltigkeit“ (vgl. LG 4) ist, sakramental. In ihrem bleibenden und gegenwärtigen Ursprung Christus ist sie „gleichsam Sakrament“, „Zeichen und Werkzeug für die Einheit der Menschheit mit Gott und der Menschen untereinander“ (vgl LG 1). Damit wird aber klar, dass es hier eine umfassende Deuteperspektive für den Weg der Kirche gibt. Was Lumen Gentium als Programmsatz formuliert, ist aber eben nicht irgendein dogmatisches Lehrgebäude, sondern viel mehr: es ist ein Kriterium für jede ihrer Gestalten, vielleicht besser: für jedes Sich-Ereignen des Kircheseins – und verhindert damit zugleich, irgendeine Form zur Norm zu machen. In jeder Zeit muss sich ja erneut erweisen, wie genau diese Einheit zwischen der Menschheit mit Gott erfahrbar wird, und wie sich die Einheit der Menschen untereinander in dieser Gegenwart zeigt und bezeugt.
Kirche ist also nicht eine feste Gestalt, die als Fels durch die Zeiten geschleppt wird, sondern sie will und muss immer wieder über sich hinauswachsen, auf ihre eschatologische Perspektive der Einheit Gottes mit der Menschheit hin.
Kirche ist also nicht eine feste Gestalt, die als Fels durch die Zeiten geschleppt wird, sondern sie will und muss immer wieder über sich hinauswachsen, auf ihre eschatologische Perspektive der Einheit Gottes mit der Menschheit hin.
Das Volk Gottes ist auf dem Weg zu diesem Ziel – das ist ja die geschichtliche Ausfaltung dieser geheimnisvollen sakramentalen Dimension der Kirche, die in der konziliaren Ekklesiologie entfaltet wird. Das Volk Gottes wird dabei vom Geist Gottes geführt, und das ist kein ausrechenbarer Weg, sondern geprägt durch Überraschungen, durch Dramen, durch Tode und Bedrohungen hindurch, wie die Offenbarung des Johannes ja hinlänglich beschreibt. Aber inmitten dieser vielen krummen Wege, dieser bedrohlichen Wegstrecken, bleibt das Zielkriterium, die Vision ja gleich: Zeichen und Werkzeug zu sein für das Kommen jener Stadt, die mehr ist als Kirche.
Denn das ist ja wieder die Pointe einer eschatologischen Ekklesiologie: es geht ja gar nicht um die Kirche, sondern um den Plan, den Gott mit der Menschheit hat – um seine „mission“, die sich auch durch das wandernde und damit sich wandelnde Gottesvolk verwirklichen will: die Einheit aller Völker in Gott, in seinem trinitarischen Leben.
Bei der Renovierung des Domes von Hildesheim fand eine folgenreiche Umordnung statt. Der Heziloleuchter hing vorher über dem Altar – im Chorraum, vielleicht, um die eucharistische Gründung dieses Ziels zu verdeutlichen. Jetzt hängt er über dem (wandernden) Volk Gottes, als Erinnerung, dass das Grundsakrament das Volk Gottes selbst ist, und „von vorne“ und „von oben“ der Herr uns entgegenkommt, und immer wieder neu an das Ziel erinnert und orientiert.
Keine historische Gestalt der Kirche ist also normativ, im Gegenteil – in jeder Zeit gilt es, neu zu entdecken und zu fragen, wie mit den Menschen unserer Zeit die Wirklichkeit der Gemeinschaft mit Gott und den Menschen neu wirklich werden kann.
Keine historische Gestalt der Kirche ist also normativ, im Gegenteil – in jeder Zeit gilt es, neu zu entdecken und zu fragen, wie mit den Menschen unserer Zeit die Wirklichkeit der Gemeinschaft mit Gott und den Menschen neu wirklich werden kann. Es ist diese erhoffte und geglaubte Zukunft, die – symbolisiert im Heziloleuchter – immer wieder leidenschaftlich in diese Bewegung und Suche reißt. Und hier wird deutlich, um wessen Leidenschaft des geht. Es ist die Leidenschaft des ganzen Volkes Gottes, seiner Einsicht, seiner Perspektive: Von hier aus gilt es, weiter zu fragen.
Die Tradition gemeinsam neu entdecken
„Wir denken Kirche von der Tradition her“, so zitiert Dessoy einen nicht näher benannten und gewiß keineswegs fiktiven Kirchenmann. Ja, wir kennen alle diese Perspektive, und verstehen sie vielleicht aber dennoch falsch. Natürlich muss Kirche von der Tradition her gedacht werden, aber was genau bedeutet das? Gemeint ist natürlich nicht eine Fixierung auf bestimmte und überkommene Formen, auf bestimmte Glaubensinhalte und -praxen, sondern auf einen ursprünglichen Vorgang, besser: auf den Ursprung, auf Christus selbst.
Um diesen Ursprung jeweils neu zu entdecken, jeweils neu zu entfalten – darum geht es. Christus aber ist der Gegenwärtige, der uns aus der Zukunft gnadenhaft entgegenkommt und dessen Gegenwart die überraschendsten Neuentdeckungen ermöglicht. Und er will neu entdeckt werden, im Heute. Genau das ist ja die Herausforderung, die auch das II. Vatikanische Konzil dem ganzen Volk Gottes aufgibt: „Im Glauben daran, dass es vom Geist des Herrn geführt wird, der den Erdkreis erfüllt, bemüht sich das Volk Gottes, in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, die es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart und der Absicht Gottes sind“ (GS 11).
Kirche von der Tradition her zu denken heißt also zum einen, die Volk Gottes Theologie des II. Vatikanums zu entfalten. Mit Valentin Dessoy: „Die Getauften sind in Entscheidungsprozesse einbeziehen: Partizipation ist nicht bloß Beiwerk (nice-to-have), sondern Konstitutivum (must-have).“ Und es geht ja nicht allein um eine Partitzipation der Getauften unter sich: „Die Adressaten sind aktiv ins Spiel bringen: Es geht nicht in erster Linie um die Erneuerung der Binnenorganisation, sondern um Anschlussfähigkeit jenseits der Kirchenmauern. Die Adressaten entscheiden über die Relevanz von Kirche“, meint Dessoy.
Denn solche Partizipation hat viel mit dem Geheimnis der Gegenwart Gottes zu tun, an dem alle Menschen teilhaben und somit im Geist eingeladen sind, die durch die Jahrhunderte gewachsene Lebenswirklichkeit dieser Existenz in der Gegenwart Christi je neu zu entdecken und zu entfalten. Und so geht es darum, immer wieder „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen, besonders der Armen und Bedrängten jedweder Art“ (GS 1) zum Ausgangspunkt aller Entwicklung zu machen. Genau das beschreibt ja dieselbe Konstitution in nr. 44 auch als zentrale Aufgabe des Gottesvolkes.
Mich beeindruckt seit Jahrzehnten eine Überlegung Dietrich Bonhoeffers aus dem Jahr 1944. Hier – in einem Brief, den er als Taufpate schreibt – formuliert er sein Unbehagen an einer rein formalistischen Traditionsperspektive. Auch Bonhoeffer denkt die Tradition von der Zukunft her: „Du wirst heute zum Christen getauft. Alle die alten großen Wirte der christlichen Verkündigung werden über dir ausgesprochen und der Taufbefehl wird an dir vollzogen, ohne dass du etwas davon begreifst. Aber auch wir selbst sind wieder ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen… In den überlieferten Worten und Handlungen ahnen wir etwas ganz Neues und Umwälzendes, ohne es noch fassen und aussprechen zu können. Das ist unsere eigene Schuld. Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die Menschen und für die Welt zu sein. Darum müssen die früheren Worte kraftlos werden und verstummen…. Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen – aber der Tag wird kommen – an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert…“ (Widerstand und Ergebung, DBW 8, 435f).
Von unten und nicht von oben: Hierarchie neu denken
Aber diese Erneuerung „von oben“ her zu denken? Ist es wirklich so, dass sich das Volk Gottes „von oben“, von Hierarchien und ihren Vorgaben her erneuert? Genau so ist es nicht – das belegt die Kirchengeschichte sehr eindrücklich. Erneuerung ist ein charismatischer Prozess, ein Prozess der Resonanz des Geistes im Volk Gottes. Alle großen Aufbrüche und Erneuerungsbewegungen wachsen aus dem Geist, der im Volk Gottes Antworten geben will und gibt.
Und da solche Antworten nicht „passend“ sind, stehen sie oft unter Verdacht. Aber hier zeigt sich, welche eigentliche Aufgabe eine Hierarchie haben könnte: die Theologie des Dienstamtes bestreitet ja ohnehin seit dem II. Vatikanischen Konzil die Überordnung der Hierarchie über die Laien. Leider aber bleiben die Bilder eines „Oben-unten“ im Volk Gottes ungeheuer und unheimlich wirkmächtig. Das Gefüge scheint so unbestreitbar „hierarchisch“ von Macht geprägt, und alle Katastrophen und Auseinandersetzungen haben mit diesem Thema zu tun. Dieser lange Schatten darf aber nicht dazu verleiten, Hierarchie aus dieser nahezu häretischen Perspektive zu denken.
Es braucht den entschiedenen Dienst daran, dass Kirche von der Zukunft her gedacht werden kann.
Worum geht es eigentlich? Es geht um die Grundspannung der Tradition und Erneuerung. Hierarchie kann nichts anderes wollen, als die Gegenwart des Ursprungs lebendig zu halten und Prozesse der Unterscheidung zu ermöglichen und zu eröffnen, damit das Kommen des Neuen als Kommen des Christus unterschieden werden kann. Dieser Dienst ist wesentlich, aber es ist ein Dienst, und in den besten Momenten der Kirchengeschichte läßt sich hier erkennen, dass die Spannung zwischen dem Ursprung und seinem je neuem sich Ereignen aus der Zukunft gehalten werden konnte.
Mit anderen Worten: es braucht den entschiedenen Dienst daran, dass Kirche von der Zukunft her gedacht werden kann.