022022

Foto: Hal Gatewood/Unsplash

Statements

Regamy Thillainathan

Zusammenbruch – Abbruch – Aufbruch

Der Lärm ist ohrenbetäubend. Von rechts nach links fliegt eine Abrissbirne durch die Wände und die Funken tanzen um die Schweißgeräte. Schon in den vergangenen Jahren als Verantwortlicher für die Berufungspastoral im Erzbistum Köln habe ich keinen Hehl daraus gemacht, dass sich die pastoralen Mitarbeitenden von heute besser frühzeitig mit dem Bild der Baustelle anfreunden sollten. Sie müssen die Ärmel hochkrempeln, anpacken und sich im übertragenen Sinne in den Schmutz des Lebens und auch den Schmutz der Struktur der Kirche hinabbegeben. Da schließe ich mich nicht aus. Im Gegenteil: Trotz aller Frustration erfahre ich eine unglaubliche Genugtuung darin, auf der Baustelle der (deutschen) Kirche zu arbeiten. Baustelle bedeutet, dass etwas Neues geschaffen, ja erschaffen wird. Aber wenn man etwas schaffen will, muss dafür in der Regel auch etwas niedergerissen werden. Die Abrissbirne muss fliegen.

Aber wenn man etwas schaffen will, muss dafür in der Regel auch etwas niedergerissen werden. Die Abrissbirne muss fliegen.

Genau in dieser Phase befinden wir uns gerade. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir auf mehreren Ebenen Grundlegendes in Frage stellen müssen: Können wir uns die Kirche abseits ihrer aktuellen Gestalt vorstellen? Hierbei denke ich beispielsweise an eine Kirche abseits der deutschen Pfarreistruktur. „Form follows function“, ist ein wichtiger Grundsatz der Architektur. Können wir uns vorstellen, dass die Kirche nicht von der Struktur „Pfarrei“ gedacht wird, sondern die Struktur der Pfarrei der Funktion von Kirche folgt?  Natürlich braucht es eine rechtliche Größe, in der Finanzen und Verwaltung gebündelt werden. Die Pfarrei der Zukunft kann und darf meiner Meinung nach aber nur eine dienende Größe sein.

Es muss darum gehen, gesunde, wahrscheinlich auch kleine, vor allem aber lebendige Zellen des Glaubens zu haben, die in aller Unterschiedlichkeit und Geschwindigkeit unterwegs sein dürfen. Diesen Zellen dient die Pfarrei, sodass sie sich so entwickeln können, wie der Heilige Geist es eingibt und strukturiert, und wo jede einzelne ihrer persönlichen missionarischen Sendung folgen kann. So folgt die dienende Form der evangelisierenden Funktion.

Es muss darum gehen, gesunde, wahrscheinlich auch kleine, vor allem aber lebendige Zellen des Glaubens zu haben, die in aller Unterschiedlichkeit und Geschwindigkeit unterwegs sein dürfen.

Da kann es dann sein, dass es in einer Pfarrei vier oder sogar fünfzehn solcher Zellen gibt. Eine davon kann eine Zelle von jungen Leuten sein, die gerade ihr Studium abgeschlossen haben und in den ersten Berufsjahren ihren Glauben leben wollen – und zwar unabhängig von der linearen Wahrnehmung des Lebens, die die Kirche bisher in ihren sakramentalen Vollzügen reflektiert.

Diese lebendige Zelle erhebt aber auch den Anspruch, anderen Menschen von ihrem Glauben zu erzählen und sie zu begeistern. Diesen Wunsch haben auch ihre Kolleginnen und Kollegen, ihre Nachbarinnen und Nachbarn, sodass sie sich zweimal in der Woche treffen und zusammen Gottesdienst feiern. Vielleicht haben sie Sehnsucht nach der Eucharistie und laden einen Priester ein. Oder sie bitten die pastoralen Mitarbeitenden um Unterstützung bei der Gottesdienstgestaltung oder der Katechese.  Ansonsten organisieren sie sich aber selbst und versuchen, interessante Angebote für Menschen in ihrem Alter zu machen, die mehr bieten als die Angebote, mit denen sie sich in ihrem Berufsleben auseinandersetzen. In meiner Vorstellung muss diese kleine Zelle die Möglichkeit haben, ohne große Hürden, enge Vorgaben und elaborierte Konzeptionen einen Schlüssel und Geld in die Hand zu bekommen, um unkompliziert loslegen zu können. Und zwar ohne, dass sie ständig Angst haben müssen, dass das Pastoralteam oder der Pfarrer alles hinterfragen. Ist es notwendig? Darf man das? Passt diese Zelle in unser Pastoralkonzept?

Es ist Zeit für eine funktionale Wende: Die Pfarreistruktur muss sich den Zellen unterordnen.

Bislang herrscht der Anspruch, dass sich jede Zelle der Pfarreistruktur unterordnen muss. Diese feste Form ist historisch gewachsen und ihre Bedeutung in den vergangenen Jahrhunderten soll keinesfalls schlechtgeredet werden. Die Gemeinden hatten in ihrer Geschichte fast immer eine gesellschaftsstabilisierende Funktion. Nach dem Untergang des Römischen Reiches bildete die Einheit von kirchlicher und weltlicher Gemeinde das verwaltungsrechtliche Rückgrat unseres Landes. In fränkischer Zeit gab es das „Eigenkirchenwesen“, das erst im späten Mittelalter langsam aufgelöst wurde. Weit darüber hinaus bildeten die Kirchengemeinde und der „eigene Kirchturm“ einen wesentlichen Bestandteil von heimatlicher Identität. Bis ins frühe 21. Jahrhundert galt der Leitsatz: „Wo meine Gemeinde ist, da ist mein Zuhause.“ Bis heute werden unsere politischen Kommunen „Gemeinden“ genannt – angelehnt an den ursprünglich kirchlichen Begriff.

Die Zeiten, in denen die Gemeinden die Gesellschaft stabilisieren ist spätestens seit dem Niedergang der großen Volkskirchen vorbei. Es ist Zeit für eine funktionale Wende: Die Pfarreistruktur muss sich den Zellen unterordnen. Wenn Jugendliche sagen, dass sie eine Jugendkirche benötigen, dann muss die Pfarrei ihnen diese Struktur bieten können – für das lebendige Funktionieren dieser Jugendkirche ist die Zelle zuständig. Selbstverantwortete Freiheit lautet das Stichwort. Diese selbstverantwortete Freiheit benötigen unsere Gemeinden – das braucht die Kirche von heute mehr als je zuvor.

Selbstverantwortete Freiheit lautet das Stichwort. Diese selbstverantwortete Freiheit benötigen unsere Gemeinden – das braucht die Kirche von heute mehr als je zuvor.

In unserer sozialethischen Tradition kennen wir in diesem Zusammenhang das Subsidiaritätsprinzip. Es ist eines der drei Grundprinzipien der katholischen Soziallehre: Die kleinste Einheit – die Einheit vor Ort – muss gestärkt werden. Dasjenige, was der Einzelne oder die Kleingruppe zu leisten vermag, darf nicht von einer größeren Struktur aufgesogen werden. Es ist dieselbe Funktionalität, die im verfassungsrechtlichen Zusammenspiel von Bund, Ländern und Gemeinden in Deutschland gilt: Was die Gemeinde nicht zu leisten vermag, übernimmt das Land, was das Land nicht zu leisten vermag, übernimmt der Bund. Was der Bund nicht zu leisten vermag, übernimmt die supranationale Struktur Europas.

Dieses Prinzip geht in seinem Ursprung auf den Heiligen Thomas von Aquin zurück. Es bedeutet: Jede kleine Einheit geht ihre Themen und Probleme selbstständig an und bittet lediglich bei Überforderung die höhere Einheit um Unterstützung. Die Kraft dieses Subsidiaritätsprinzips sollte uns auch dringend wieder in der Kirche bewusstwerden. Viel zu häufig wird es heute unterlaufen, indem jede kleine Entscheidung durch die Nadelöhre des Pastoralteams, des Kirchenvorstands oder des Leitenden Pfarrers laufen muss. In der Gemeinde herrscht oft die Regel: Wer die Schlüsselgewalt innehat, hat auch die Macht. Und ohne Schlüssel ist jegliche Initiative dahin. Wie belebend wäre es, die pastorale Schlüsselmacht an die zu geben, die motiviert sind, einen Gestaltungswillen haben und vor Ort sind? Wir brauchen dringend wieder die Kraft der kleinen Einheit und der Ermöglichung von Initiativen.

Der Zusammenbruch ist nicht mehr abzuwenden … Sind wir bereit, die Abrissbirne in die eigenen Hände zu nehmen? Sind wir bereit, eine neue Architektur für diese Gesellschaft zu ermöglichen …?

Bisher wurden wir von der Frage geleitet, wie wir das, was wir jahrhundertelang aufgebaut und liebgewonnen haben, so lange wie möglich aufrechterhalten können. Dabei ist uns entgangen, dass der Abbruch der jetzigen Gestalt der Kirche in Deutschland schon längst eingesetzt hat. Der Zusammenbruch ist nicht mehr abzuwenden.

Jetzt liegt es an uns: Sind wir bereit, die Abrissbirne in die eigenen Hände zu nehmen? Sind wir bereit, eine neue Architektur für diese Gesellschaft zu ermöglichen, in der lebendige Zellen mit missionarischer Leidenschaft ihren Glauben leben und gestalten können?

Dieser herausfordernde Übergang muss konstruktiv gestaltet werden. Er braucht begeisterte BotschafterInnen einer verheißungsvollen Zukunft. In meiner Rolle als Ausbildungsverantwortlicher der Priester in unserem Erzbistum bin ich tagtäglich dankbar, dass ich diese Zukunft mitgestalten darf. Es ist ein Geschenk, dass ich die Bauleute der Zukunft in ihrem Werden begleiten darf.

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