022022

Foto: Jason Blackeye/Unsplash

Statements

Daniel Steiger

Es sind nicht die Ratten, die das sinkende Schiff verlassen

Ich glaube, ich beginne ab sofort eine Strichliste zu führen. Ein Strich pro Kolleg*in, wenn auf die Info, dass ich meinen Job bei der Kirche gekündigt habe, die Erwiderung lautet: „Daniel, ich kann dich absolut verstehen und wenn ich selbst nicht nur noch wenige Jahre bis zur Rente hätte, würde ich es genauso machen.“ Vermutlich wird die Strichliste am Ende zwei Dinge verdeutlichen: 1. Bei Kirchens gibt es sehr viele Kolleg*innen, die kurz vor der Rente stehen. 2. Es sind viele – und zwar unabhängig vom Alter –, die schlicht und einfach keinen Bock mehr haben.

Nach reiflicher Überlegung werde ich die Branche wechseln.

Mit 46 Jahren gehöre ich zum jüngeren und dynamischeren Teil der Belegschaft im Bistum Trier. Was auf den ersten Blick positiv klingen mag, ist leider Teil des Problems. Denn mich erwarten noch mehr als 20 Jahre Berufsleben, die ich gerne weiterhin dynamisch und gestaltend zur Verfügung stellen möchte. Aber eben nicht mehr für die katholische Kirche, wie sie sich seit geraumer Zeit darstellt. Nach reiflicher Überlegung werde ich die Branche wechseln.

Dabei begann alles so vielversprechend. Als zweites von sechs Kindern einer ehemaligen Dominikanerin und eines ehemaligen Pallottiner-Novizen, der dann Zeit seines Berufslebens Pastoralreferent im Bistum Limburg wurde, bin ich im Pfarrhaus aufgewachsen, quasi 100% „katholisch sozialisiert“, habe alle möglichen Ehrenämter von Jugend an bekleidet, um schließlich selbst Theologie zu studieren. Mein Glück war allerdings über viele Berufsjahre, dass ich in den vermeintlichen Nischen zuhause war: bei pax christi, in der politischen und praktischen Theologie, bei den großartigen Jugendverbänden, wie z.B. der Katholischen Landjugendbewegung, deren Bundesseelsorger ich sechs Jahre lang sein durfte. Ist es nicht absolut erstaunlich, wie oft in kirchlichen Kreisen von „Nischen“ die Rede ist? Oft existieren sie als eine Art Gegengewicht zum „Zentrum“ und ganz oft werden sie gesucht, um sich darin – weit weg vom „Zentrum“ – einzurichten, überleben zu können, nicht auch noch das letzte Quäntchen Motivation zu verlieren. Was für Fliehkräfte! Was für eine Bankrott-Erklärung für das vermeintliche Zentrum! Dabei bin ich im Laufe der Zeit vielen beeindruckenden Menschen begegnet, die sich ehrenamtlich oder als Lai*innen und Priester einbringen. Nur leider werden es immer weniger, leider können es viele eben nur noch in dieser besagten „Trotzdem-Haltung“ leisten, die arg nach Nische riecht. Manche resignieren, schaffen es aber nicht, sich neu zu orientieren.

In meinen Augen befindet sich die katholische Kirche … in einem Sinkflug, der sich nicht aufhalten lässt.

Die Lage ist schlimm und sie wird immer mieser: Dass viele Baby-Boomer in nächster Zeit in Rente gehen und generell in Deutschland ein Fachkräfte-Mangel herrscht, wird sich doppelt und dreifach negativ auswirken. Denn es kommt verstärkend noch die Tatsache hinzu, dass Kirche als unattraktiver Arbeitgeber kaum mehr (junges) Personal anlockt. Viele Stellen werden frei, kaum jemand bewirbt sich.

In einer solchen Situation lässt sich kein Blumentopf gewinnen. In meinen Augen befindet sich die katholische Kirche, die ja nach ihrem Selbstverständnis deutlich mehr beansprucht als einen Blumentopf, in einem Sinkflug, der sich nicht aufhalten lässt. Einen Grund dafür sehe ich darin, dass der Wille, das Ruder rumzureißen, bei den Entscheidungsträgern mehrheitlich nicht vorhanden ist. Ein anderer ist das Unvermögen. Wenn es sowohl an Willen als auch an Können mangelt, sinkt jede Hoffnung. Das Unvermögen scheint mir einerseits systemisch bedingt – es sitzen eben zu viele Menschen eines ähnlichen Typs an den Schalthebeln: männlich, zölibatär, hierarchisch und männerbündisch organisiert, nicht selten „leicht entrückt“ und überzeugt von Annahmen, die immer schwerer kompatibel sind mit einer demokratisch, divers und gleichberechtigt tickenden Gesellschaft. Andererseits ist es auch ein individuelles Problem, das durch das vorgenannte systemische verstärkt wird, denn es sind ja nicht die Ratten, die das sinkende Schiff verlassen. Es sind häufig die Angepassten, aber leider auch die Enttäuschten, die bleiben.

Leider, aber zurecht wird mit Kirche eher Engstirnigkeit und Einschüchterung assoziiert als eine rundweg befreiende und ermutigende Botschaft, die eigentlich dem Glauben innewohnt.

Was ist heute das Resultat und umso mehr in Zukunft? Ich vermisse Professionalität, z.B. im Sinne einer agilen und digital-unterstützten Arbeitswelt. Ich vermisse Allrounder-Typen, die geerdet sind und sowohl im beruflichen als auch im privaten Kontext ihre Blase verlassen können, weil sie in mehreren Blasen anschlussfähig sind. Von solchen Generalist*innen haben wir zu wenige, ich nenne das Phänomen „die katholische Blasen-Schwäche“. Ich vermisse Motivation, die überspringt und dadurch größer wird. Wo doch der Glaube ein Fundament bietet, von dem aus ich beflügelt aufspielen kann. Ich vermisse eine wertschätzende Haltung gegenüber dem Freiheits-Gedanken, der ein zentraler biblischer und religiöser Gedanke ist. Leider, aber zurecht wird mit Kirche eher Engstirnigkeit und Einschüchterung assoziiert als eine rundweg befreiende und ermutigende Botschaft, die eigentlich dem Glauben innewohnt. Ich vermisse Vorgesetzte, die Subsidiarität verstanden haben und leben, indem sie z.B. Kreativität und Teamarbeit fördern und die sich dafür einsetzen, dass auf den unteren Ebenen eine zuträgliche Arbeitsatmosphäre herrscht. Und insgesamt vermisse ich mehr auf der Höhe der Zeit zu sein, anstelle ideologische Debatten darüber zu führen, ob es sich nun um Zeitgeist handelt oder doch um Zeichen der Zeit.

Bei all meiner Kritik habe ich den Missbrauchs-Skandal noch nicht einmal erwähnt. Vermutlich, weil dieser Skandal offensichtlich wie Fäulnis das System durchzieht und es daher gar nicht notwendig wäre, ihn separat zu nennen. Für meine Entscheidung aber ist er von Bedeutung. Als ich im September 2018 meine derzeitige Stelle als Leiter der Fachstelle für katholische Erwachsenenbildung in Koblenz antrat, wurde wenige Tage später die „MHG-Studie“ veröffentlicht, die in meinen Augen einen wissenschaftlich-basierten Offenbarungseid für die katholische Kirche darstellt. Was ich danach rund um die Initiative, Veranstaltungen zum Thema anzubieten, erlebt habe, finde ich einen Skandal innerhalb des Skandals. Dem Trierer Generalvikar habe ich meine Erfahrungen in einem persönlichen Gespräch unter den Stichworten „Zensur, Bespitzelung, Kontrolle, Misstrauen, Verängstigung, Gängelung, Verlogenheit, inkohärente Strategien“ mitgeteilt und zu jedem einzelnen Stichwort eine konkrete Begebenheit schildern können. Nun ist zwar bereits ein zweites Gespräch terminiert, aber erst nach meinem Ausscheiden aus dem Dienst und erst nach meiner Erkenntnis, dass ich an der Struktur nichts verändern kann bzw. meine Motivation nicht ausreicht, dies weiter zu versuchen.

Traut dieser Hoffnung nicht, werft sie über Bord, blickt und begreift den Abgrund, an dem wir stehen!

Wer bis hierhin gelesen hat, merkt, dass bei meinem Blick auf die Kirche, in der ich mich mein ganzes Leben lang wie ein Fisch im Wasser bewegt habe, ein gewisser Zynismus Einzug gehalten hat. Damit ist für mich ein Punkt erreicht, der ein Abschiednehmen – zumindest von der Kirche als Arbeitgeberin – nahelegt. Ich finde keinen so konstruktiven Zugang mehr, wie ihn z.B. Christiane Florin („Trotzdem! Wie ich versuche katholisch zu bleiben“) oder die geschätzte Regina Laudage-Kleeberg mit ihrer Initiative kirchenkrise.de gefunden haben. Daher machte sich in mir umgehend Erleichterung breit, als die innere Entscheidung gefallen war, komplett die Branche zu wechseln. Momentan kann ich noch gar nicht abschätzen, was dies wiederum innerlich in Gang setzen wird – zwischen noch mehr Distanz zur Institution und wiedergewonnener Nähe zum eigenen Glauben ist manches denkbar.

Am Ende meiner Tätigkeit erwartet mich am 24. November 2022 noch eine spannende Begegnung mit Bischof Georg Bätzing. In der Reihe „Katholisches Forum Koblenz“ darf ich einen Vortrags- und Austauschabend mit ihm zum Synodalen Weg moderieren. Vielleicht frage ich ihn dann, was er in meiner Situation machen würde. Einen weiteren Strich auf meiner Strichliste wird es wohl nicht geben. Dafür ist der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz zu sehr ins eigene System eingebunden und von Amts wegen von der Hoffnung geleitet, die katholische Kirche in absehbarer Zeit doch noch zu verändern.

Mein Rat ist: Traut dieser Hoffnung nicht, werft sie über Bord, blickt und begreift den Abgrund, an dem wir stehen! Vielleicht ist es sogar besser, wenn das jetzige System gegen die Wand fährt. Einen völlig neuen Anfang kann ich mir vorstellen. Der christliche Glaube hat Sprengkraft. Aber bitte handelt der Dramatik der Lage entsprechend mit klarem Blick nach vorne! Good luck und Gottes Segen!

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