022021

Foto: Jeremy Bishop/Unsplash

Statements

Pierre Stutz

Zu-Grunde-gehen als Hoffnungskraft 

Mit 38 Jahren ist alles, was ich mir mit viel Idealismus und Willenskraft aufgebaut habe durch eine wochenlange Schlaflosigkeit wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen: Batterien leer, Burnout! Immer wieder schrieb ich in diesen Wochen der Verzweiflung in mein Tagebuch «ich gehe zugrunde, ich halte es nicht mehr aus mit mir!?». Was für ein Zu-Fall als ich im freien Fall über die Predigten des Dominikaner Johannes Tauler (1300-1361) stolperte, der diese drei Worte ganz anders deutet, als Chance im Spannungsfeld von Bangen und Hoffen, den tieferen Grund eines persönlichen und gesellschaftspolitischen Bewusstseinswandel entdecken zu können. Es kam mir vor, wie wenn der Mönch aus Straßburg mich persönlich ansprach und mir sagte: «Ja, mach es endlich, geht deiner Angst vor Liebesentzug auf den Grund, geh deiner Überaktivität als hilfloser Helfer auf den Grund …». Der Weggefährte von Meister Eckhart und Heinrich Seuse legt im Sterbe- und Auferstehungsprozess des «Zu-Grunde-gehens» eine Hoffnungskraft frei, die mir seit 28 Jahren zur Lebenshilfe geworden ist.  

Heute schon geamtet? 

Meine existenzielle Verunsicherung hat mich auf mich selbst zurückgeworfen und mich schmerzhaft konfrontiert mit meinen blockierten Lebenskräften. Dank einer Atemtherapeutin durfte ich ganz klein anfangen und monatelang ein tiefes Ein- und Ausatmen einüben. Ein mühsam-befreiender Prozess, in dem ich eine neue Lebensgrundhaltung ganzheitlich in mein Dasein hineinweben konnte, die ich seither als kämpferische Gelassenheit umschreibe: Es kommt auf mich an und hängt nie alleine von mir ab. Es braucht meine Bereitschaft, jeden Tag neu ein tiefes Durchatmen einzuüben und zugleich darf ich annehmen, dass diese Lebenskunst nicht machbar ist. Wer krampfhaft entspannen möchte, der bleibt gefangen in sich selbst und kann nicht aus seiner inneren Kraftquelle schöpfen.

Zupacken und geschehen lassen, heißt jene uralte spirituelle Tradition, die sich interreligiös entdecken lässt.

Zupacken und geschehen lassen, heißt jene uralte spirituelle Tradition, die sich interreligiös im Daoismus, im Zen und auch in der mystischen Tradition im Juden- und Christentum und im Islam entdecken lässt. Sie ereignet sich nicht nur in meinem Engagement, sondern auch ganz konkret im regelmäßigen Innehalten, in dem ich mit beiden Füssen auf dem Boden stehe, gerade stehe für meine Kraft und meine Verletzlichkeit und mich verbinde mit all den Menschen, die jetzt weltweit für mehr Menschlichkeit und Klimagerechtigkeit ein- und aufstehen. Gerade in Zeiten, in denen die Angst vor einem wachsenden Populismus und einer erschreckenden Fremdenfeindlichkeit mich umzingeln will, versuche ich erst recht und trotzdem, mich zu erinnern an jene göttliche Widerstandskraft, die auch heute in uns geboren werden möchte dank einer Kultur der Achtsamkeit und des Mitgefühls. Ich verwurzele mich jeden Tag in diesen tieferen Hoffnungsgrund, in dem ich dem Schönen auf den Grund gehe und es lustvoll als Geschenk auskoste und in dem ich mein Bangen, meine Verlorenheit und auch meine Gewaltanteile nach ihrem tieferen Grund befrage. Unsere Welt braucht mehr denn je beherzte Menschen, die ihrem Leben, dem Wunderbaren und dem Widersprüchlichen regelmäßig auf den Grund gehen, um nicht in der Resignation und der Frustration stecken zu bleiben. Dies ist ein zutiefst persönlicher Weg, der sich nur dialogisch mit Weggefährt*innen konkretisieren kann.  

Rückzug als Kraftquelle! 

In der spirituellen Tradition wird das Trennende, das Menschen oft einsetzen, um Macht ausüben zu können, durchbrochen durch jene Hoffnungsperspektive, die das Verbindende in aller Verschiedenheit aufzeigt:

  • «Sei du selbst die Veränderung, die du dir für diese Welt wünscht!», heißt jene kraftvolle Verdichtung von Mahatma Gandhi (1869-1948), die einen lebensfeindlichen Dualismus durchbricht, in dem der Grund aller persönlichen und gesellschaftpolitischen Veränderung,  in uns selbst beginnt. Was sich so leicht schreibt, bleibt für mich eine tägliche Herausforderung, in der ich lerne, mich zu schützen vor einer Flut von negativen Meldungen, die mich immer ohnmächtiger werden lassen. Gerade weil die Hirnforschung mir aufzeigt, dass eine negative Meldung «nur» durch fünf positive Nachrichten neutralisiert werden kann, halte ich noch mehr Ausschau nach guten Nachtrichten und erzähle sie weiter … ich finde sie jeden Tag! 
  • «Und mit fast jedem Herzschlag wir mir klarer, dass du Gott uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Innersten bis zum Letzten verteidigen müssen.», schreibt die lebensfrohe und engagierte Jüdin Etty Hillesum (1914-1943), die in Auschwitz umgebracht wurde. Ein mystisch-politischer Weg hebt die Konkurrenz zwischen Gott und Mensch, die patriarchale Religionen immer noch als Machtinstrument verfestigen wollen, grund-legend auf: Dass wir Gott brauchen, ist ja sonnenklar, doch Gott als Schöpferin aller Liebe braucht auch uns, jede und jeden!  
  • Dag Hammarskjöld (1905-1961), 2. UNO-Generalsekretär, eine politische Lichtgestalt des 20. Jahrhunderts, ist mir zum Wegbegleiter geworden im Spannungsfeld von Hoffen und Bangen. Als erster politischer Akt schafft er im UNO-Hauptgebäude in New York einen Raum der Stille, um all sein politisches Handeln in einem tieferen Vertrauensgrund zu festigen. Eintreten in die Stille heißt auch für ihn, zuerst eine innere Unruhe zu durchschreiten, in dem auch Schweres und Trauriges sein darf, ohne es zu bewerten, um dank dem tiefen Ein- und Ausatmen sich erinnern zu können, immer viel mehr zu sein, als was im Moment ist.  

Menschlichkeit JETZT! 

Unsere Welt braucht mehr denn je beherzte Menschen, die ihrem Leben, dem Wunderbaren und dem Widersprüchlichen regelmäßig auf den Grund gehen.

In Zeiten der Verunsicherung lasse ich mich gerne inspirieren und herausfordern von Menschen, Jung und Alt, die nicht Grenzen denken und fühlen, sondern in Möglichkeiten. Deshalb beeindruckt mich, dass am 10. Dezember 1948 die «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte» ausgerufen wurde, die von höchster Aktualität ist. In einer Zeit, in der nach dem 2. Weltkrieg die Hoffnung zerstört und das Vertrauen tief vergraben war, entwerfen Frauen und Männer eine Vision, die seither täglich verwirklicht wird und zugleich leider auch grausam mit Füßen getreten wird. Im International Human Culture Project – www.human-project.net – erhalten Jugendliche durch die kraftvolle Musik von Helge Burggrabe die Möglichkeit, eine tanzende Hommage an die Menschenrechte in einem Community Dance zu entfalten. Dieses Projekt stärkt meine Hoffnung, dass multikulturelle Begegnungen aufzeigen, wofür es sich zu leben lohnt. In unserem gemeinsamen Buch «Menschlichkeit JETZT!» (Patmos 2. Auflage 2021 – Videotrailer), dessen Honorar wir beide diesem Projekt spenden, zeige ich in 13 Ermutigungen auf, wie unsere Welt anders werden kann, zärtlicher und gerechter.

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