012022

Foto: Muhammad Numan/Unsplash

Konzept

Franz-Josef Overbeck

Wort des Bischofs Dr. Franz-Josef Overbeck zum 1. Januar 2022

Liebe Schwestern und Brüder!

Neben der Krise des ökologischen Klimas erleben wir derzeit eine Krise des gesellschaftlichen Klimas.

I.

„Wir haben eine doppelte Klimakrise!“ Dieser Satz hat sich mir vor einigen Wochen eingeprägt. Neben der Krise des ökologischen Klimas erleben wir derzeit eine Krise des gesellschaftlichen Klimas. Die ökologische Klimakrise zeigt sich in steigenden Temperaturen und vielen damit verbundenen Natur-Katastrophen. Die gesellschaftliche Klimakrise erleben wir in den immer hitziger werdenden Auseinandersetzungen zu unterschiedlichen Themen. Es geht unversöhnlicher zu und manche Debatten lösen mittlerweile Verwerfungen und Spal­tungen aus. Viele von Ihnen werden das aus ihrem persönli­chen Umfeld kennen.

Das aus dem Griechischen stammende Wort „Krise“ deutet an, warum die gegenwärtige Zeit so spannungsreich ist: Es kündi­gen sich Veränderungen an, die mit Trennung verbunden sind und entscheidende Weichenstellungen verlangen. Wir spüren derzeit in vielerlei Hinsicht: Das Leben auf dieser Erde verän­dert sich grundlegend – und das wird auch dazu führen, dass sich unser ganz persönliches Leben verändert.

Das Wort „Krise“ deutet an, warum die gegenwärtige Zeit so spannungsreich ist: Es kündi­gen sich Veränderungen an, die mit Trennung verbunden sind und entscheidende Weichenstellungen verlangen.

Auch wenn der ökologische Klimawandel von manchen Personen immer noch verleugnet wird, so sind sich die ernst­zunehmenden Wissenschaftler dieser Welt einig: Unser Pla­net ist bereits derart geschädigt, dass es ohne massive Veränderungen unserer Lebensweisen keine gute Zukunft für die nachfolgenden Generationen auf unserer Erde geben wird. Die Veränderungen, die notwendig sind, werden uns alle noch sehr massiv betreffen.

Derzeit erleben wir durch die fortdauernde Corona-Pande­mie eine weitere massive Krise, die derart dramatisch ist, wie es die Nachkriegsgenerationen in unserem Land bisher nicht kannten. Wir hatten uns daran gewöhnt, dass das Leben in jeglicher Hinsicht beherrschbar ist und sich immer weiter zum Besseren entwickelt. Diese Pandemie aber führt uns vor Augen, wie sehr wir hier einem Trugschluss erliegen: Die Welt und das Leben sind nicht nach Belieben beherrschbar. Wir Menschen sind verletzlich, begrenzt und endlich.

II.

Sowohl die Krise der Corona-Pandemie, als auch die ökolo­gische Klimakrise führen zu heftigen Auseinandersetzungen. Beide Krisen greifen tief in das persönliche Leben ein und verlangen erhebliche Einschränkungen. Ohne Verzicht und persönliche Verluste ist diese Krise nicht zu bewältigen. Das widerspricht unseren tiefsten inneren Bedürfnissen nach gewohnter Sicherheit. Darum erleben wir nun teilweise massi­ve Auseinandersetzungen und Verwerfungen.

Konstruktiv ist eine Kultur, in der jede und jeder bereit ist, einen Wechsel in der Pers­pektive vorzunehmen, unterschiedliche Sichtweisen zuzulas­sen, einander zu verstehen und voneinander zu lernen.

Wir brauchen in den gegenwärtigen Krisen dringend eine Haltung, die die Wirklichkeit ernst nimmt und eingesteht, dass wir an Grenzen des Gewohnten stoßen. Dazu gehört es, Ohnmacht zuzulassen und einander die vielen Ängste und Sorgen zuzugestehen. Es braucht Verständnis für einander, um dann im Dialog gemeinsame Wege zu finden. Ich plädiere des­halb für eine „konstruktive Konfliktkultur“, die das Eingeständ­nis voraussetzt, dass es in schweren Krisen keine einfachen Lösungen gibt und nur im Miteinander eine Lage zu bewältigen ist, die jeden einzelnen überfordert. Konstruktiv ist eine Kultur, in der jede und jeder bereit ist, einen Wechsel in der Pers­pektive vorzunehmen, unterschiedliche Sichtweisen zuzulas­sen, einander zu verstehen und voneinander zu lernen. In einer solchen Kultur lassen sich dann in Konflikten Wege finden, die von allen gegangen oder zumindest mitgetragen werden können. Sie sind verbunden mit neuen Erkenntnissen und Ein­sichten sowie mit dem Wagnis, Vertrautes loszulassen und Neues zu riskieren.

Die großen Herausforderungen des Klimawandels, aber auch der Corona-Pandemie sind Beispiele für Krisen und Konflikte, die wir als Gesellschaft verantwortet und konstruktiv austra­gen müssen. Die Bilder der schrecklichen Flutkatastrophe von Mitte Juli 2021, die auch unser Bistum Essen im Märkischen Sauerland und anderswo hart getroffen hat, bleiben mir und vielen unauslöschlich im Gedächtnis. Gleiches gilt aber auch für die Bilder der vielen Corona-Dramen in den Krankenhäu­sern, den Altenheimen, den Hospizen, aber auch zu Hause. Diese Bilder weisen auf Krisen hin, die nicht einfach lösbar sind – sondern konkretes Handeln verlangen, das zu gravie­renden Veränderungen des Lebens führt. Wenn wir die durch den Klimawandel ausgelösten Katastrophen eindämmen wollen, müssen wir unser Leben verändern. Und das gilt auch für die Überwindung der Pandemie. Es hilft dabei nicht, Krisen zu leugnen. Der Klimawandel ist real und auch das Corona- Virus ist weit mehr als nur ein harmloser Erkältungsvirus. Wenn die Erkenntnisse des weit überwiegenden Teils der Wissen­schaft übereinstimmen, dann ist es verantwortungslos, diese nicht ernst zu nehmen. Die unzähligen Opfer des Klimawandels und der Corona-Pandemie verpflichten uns, ernsthaft nach Wegen zu suchen, um diese Krisen zu bewältigen.

Wir brauchen dazu einen geduldigen Dialog, der das gegenseitige Verstehen ermöglicht.

Die in unserer Gesellschaft zunehmenden Polarisierungen und oft unversöhnlich gegenüberstehenden Meinungen beunruhigen mich sehr. Ich wünsche mir, dass wir Christen dazu beitragen, die dahinter liegenden Ängste offen zu benennen, um dann besonnen miteinander Ausschau zu halten nach neuen Wegen. Wir brauchen dazu einen geduldigen Dialog, der das gegenseitige Verstehen ermöglicht. Was wir überwin­den müssen, ist das gegenseitige Misstrauen. Unterstellungen, Pauschalisierungen, Unsachlichkeiten und Schuldzuweisun­gen helfen nicht. Sie verschärfen Konflikte und machen ein friedliches Miteinander unmöglich. Dass die Kräfte in unserer Gesellschaft wachsen, die Misstrauen säen und auch unse­ren gemeinsamen demokratischen Institutionen nicht mehr vertrauen, macht mir große Sorgen. Wie wollen wir noch zusammenleben, wenn wir einander nicht mehr vertrauen und selbst in grundlegenden Fragen keine Verständigung mehr finden?

Als Christen befinden wir uns selbst auch in einer Krisensituation, die insbesondere durch den Missbrauchsskandal zu einer existenziellen Krise unserer Kirche geworden ist.

III.

Als Christen befinden wir uns selbst auch in einer Krisensituation, die insbesondere durch den Missbrauchsskandal zu einer existenziellen Krise unserer Kirche geworden ist. Krisen kündigen oft einen Zeitenwechsel an. Das lässt sich erahnen am „Synodalen Weg“ der Kirche in Deutschland, ebenso aber auch am „Weltweiten Synodalen Weg“, den Papst Franziskus im vergangenen Jahr begonnen hat. Es geht dabei darum, auf neue Weise die Weite des Evangeliums zu entdecken und zu­gleich mutig und veränderungsbereit unsere Kirche neu zu gestalten.

Gerade die abscheulichen Taten der sexuellen Gewalt, des geistlichen Missbrauchs, aber auch viele andere Leidenser­fahrungen, die über viele Jahrzehnte und Jahrhunderte hin­weg unsere Kirche unheilvoll geprägt haben, fordern uns zu einer neuen Ehrlichkeit auf. Es ist nicht zu leugnen, dass das schreckliche Unheil, das weltweit in unserer Kirche geschehen ist, nach grundsätzlichen Veränderungen verlangt. Der Unmut von so vielen Gläubigen, die sich in diesen Jahren entsetzt und enttäuscht von unserer Kirche abwenden, hat Gründe, die wir Bischöfe und alle Verantwortlichen in unserer Kirche sehr ernst nehmen müssen. Es hilft nicht, mit Abwehrreflexen darauf zu reagieren oder gar denjenigen, die sich nach Veränderungen sehnen, böse Absichten zu unterstellen.

Als Christen befinden wir uns selbst auch in einer Krisensituation, die insbesondere durch den Missbrauchsskandal zu einer existenziellen Krise unserer Kirche geworden ist.

Auch hier zeigen sich die Ängste vor Veränderungen, aber auch der Schmerz über so manche Bewegungslosigkeit und Arro­ganz. Ich bin überzeugt: Als Christen befinden wir uns selbst auch in einer Krisensituation, die insbesondere durch den Missbrauchsskandal zu einer existenziellen Krise unserer Kirche geworden ist. Wir wollen als Kirche Teil einer Welt sein, in der Freiheit und Gleichheit, aber auch die Würde des Menschen eine im Verhältnis zu bisherigen Zeiten viel größere Rolle spielt. Dabei gerät unsere Kirche in schwere Konflikte, weil sich vie­le ihrer Lehren und Überzeugungen einer langen Geschichte verdanken, die letztlich in der Heiligen Schrift und in einer Tradition wurzeln, die mit der Offenbarung Gottes in Verbin­dung stehen. Das betrifft auch viele unserer Strukturen bis hin zum Verständnis des priesterlichen Amtes. Vieles steht massiv in Frage, was bislang nicht hinterfragbar schien. Das macht die Krise so existentiell und dramatisch – und es ist nicht leicht, sie zu lösen.

Wir spüren das auch in unserem Bistum, in unseren konkreten Gemeinden und Pfarreien: Es ist nicht zu übersehen, wie viel hier schon seit Jahren in Frage steht – und sich auch ganz konkret auflöst. Unsere in großer Zahl schon aufgegebenen Kirchen bringen das symbolisch in trauriger Weise zum Aus­druck. Aber wir sehen es auch am kontinuierlichen Sinken der Zahl unserer Priester, wie aber auch am Sinken der Zahl aller anderen pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Vieles steht massiv in Frage, was bislang nicht hinterfragbar schien. Das macht die Krise so existentiell und dramatisch – und es ist nicht leicht, sie zu lösen.

Die wenigen Berufungen zum priesterlichen Dienst sind dabei in besonderer Weise ein alarmierendes Zeichen. Wenn dies so weitergeht, bricht die sakramentale Struktur in unserer Kirche zusammen – schon jetzt ist sie regelrecht bedroht.

Wir stellen uns in unserem Bistum darauf ein, eine deutlich kleinere Kirche zu werden. Wir bemühen uns schon seit vie­len Jahren, Antworten auf die Krise unserer Kirche zu suchen – aber vielleicht sind wir dabei immer noch zu sehr davon geprägt, uns nach einer Kirche der Vergangenheit zurückzu­sehnen. Vor uns liegt aber noch ein herausfordernder Weg, weil die Krise weit mehr ist als eine Kirchenkrise, sondern eine Krise der Religion in der heutigen Zeit. Die religiöse Bedürf­tigkeit der Menschen hat sich derart verändert, dass unsere spirituellen, theologischen, liturgischen oder auch seelsorgli­chen Angebote die meisten Menschen von heute nicht mehr erreichen. Vieles im Raum unserer Kirche trocknet aus oder ist bereits ausgetrocknet. Und doch stimmt mich hoffnungs­froh, dass die Ströme der spirituellen Suche vieler Menschen an Kraft gewinnt – oft allerdings außerhalb unserer Kirche. So durchleben wir also eine Krise, die von uns sowohl spirituell, als auch strukturell Entscheidungen abverlangen wird, die zu einer echten Neu-Werdung unserer Kirche führen müssen.

Wir stellen uns in unserem Bistum darauf ein, eine deutlich kleinere Kirche zu werden. Wir bemühen uns schon seit vie­len Jahren, Antworten auf die Krise unserer Kirche zu suchen – aber vielleicht sind wir dabei immer noch zu sehr davon geprägt, uns nach einer Kirche der Vergangenheit zurückzu­sehnen.

IV.

Angesichts unserer existentiellen Kirchenkrise könnten wir Christinnen und Christen vielleicht eine Vorbildfunktion wahr­nehmen und eine echte konstruktive Konfliktkultur einüben. Auch wenn wir selbst von Ängsten geprägt sind und Verän­derungen fürchten, so leben wir doch von der Verheißung, dass Gott alle unsere Wege mitgeht. Mit dieser Verheißung im Herzen kann die Angst vielleicht kleiner werden und der Mut größer, miteinander etwas zu wagen. So schmerzhaft die Abbrüche und Verluste unserer Kirche auch sein mögen, so bleibt doch Gottes Verheißung bestehen. Deshalb brauchen wir nicht in Resignation zu versinken, sondern können mutig und kreativ Neues suchen und ausprobieren – über den Raum unserer Kirche in ökumenischer und interreligiöser Verbunden­heit hinaus.

Unsere Welt braucht das Vertrauen, dass es eine größere Kraft gibt, die uns hält, trägt und begleitet, und die uns auch Orien­tierung gibt, um menschlich und solidarisch miteinander zu leben. Als Christen glauben wir, dass alle Menschen aus einer persönlichen Gottesbeziehung leben, die inspiriert und trägt. An Jesus Christus lassen sich viele konkrete Orientierungen für das konkrete Leben ableiten – vor allem jene Orientie­rung, sich stets an der Liebe und Barmherzigkeit auszurichten, die das Wohl und die Würde eines jeden Menschen im Blick hat. Aus seiner tiefen spirituellen Gottesbeziehung hat Jesus gelebt und lehrt uns heute, ebenso aus einer spirituellen Tiefe die Wege zu suchen, wie wir heute dem Wohl und der Würde aller Menschen dienen können. Aus dieser Haltung können wir unsere Kirche Schritt für Schritt weiter entwickeln.

Angesichts unserer existentiellen Kirchenkrise könnten wir Christinnen und Christen vielleicht eine Vorbildfunktion wahr­nehmen und eine echte konstruktive Konfliktkultur einüben.

Jesus selbst hat eine große Gelassenheit und Offenheit ausge­strahlt, die er aus seiner Gottesbeziehung empfing. Er hat sich selbst als Weg bezeichnet, der in die Weite und in die Freiheit führt. „Du Herr führst mich hinaus ins Weite“, so heißt es im 18. Psalm. Die Kraft für vieles, was uns aufgegeben ist, kann nicht aus uns selbst kommen, sondern kommt von dem Gott, auf den wir setzen. Wenn wir so auf Gott schauen, dann kann eine Kultur unter uns wachsen, mit der wir Konflikte konst­ruktiv leben und austragen können: Niemand von uns Men­schen weiß die ganze Wahrheit, kennt die Lösungen und die richtigen Wege angesichts so vieler Krisen. Wir dürfen aber auf Gottes Unterstützung setzen, dessen Geist sich zeigen kann in den Perspektiven und Auffassungen anderer, im Ringen um Positionen, im Wechsel der Perspektiven, im gemeinsamen Lernen. Unser Gott ist ein Gott des Weges – und nicht des Still­stands. Seine Wege führen nicht zurück, sondern nach vorn. Der Weg des Volkes Gottes durch die Geschichte war stets ein Weg des Wandels und des Aufbruchs, ein Weg des Loslassens und Abschiednehmens, aber auch ein Weg des Neubeginns.

Der Weg des Volkes Gottes durch die Geschichte war stets ein Weg des Wandels und des Aufbruchs, ein Weg des Loslassens und Abschiednehmens, aber auch ein Weg des Neubeginns.

V.

Im Glauben an die Verheißung, dass Gott uns in Christus und mit Christus auf einen Weg in die Weite führt, wünsche ich Ihnen, liebe Schwestern und Brüder in unserem Bistum Essen, sowie allen, die mit uns verbunden sind, Gottes Nähe und Weggeleit. Von Herzen wünsche ich Ihnen Zuversicht, Gesundheit und Lebenskraft für das vor uns liegende Jahr 2022!

 

Ihr


+ Dr. Franz-Josef Overbeck
Bischof von Essen

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