Begrüße Mehrdeutigkeit
Systemisches Denken in unübersichtlichen Zeiten
Ach, wären die Dinge doch bloß einfach und ließe sich doch alles durchschauen, was uns tagtäglich umgibt. Den nachvollziehbaren, individuellen Wünschen nach Erklärbarkeit und Verstehbarkeit steht eine Gesellschaft gegenüber, die – nicht zuletzt getrieben durch die Globalisierung und Digitalisierung – in ihrem vernetzten Zusammenwirken und auch im Zerfallen bekannter Strukturen kaum noch überschaubar und prognostizierbar erscheint. Ähnlich ergeht es Organisationen: Disruption ersetzt Kontinuität, Unsicherheit tritt an die Stelle bisher erlebter Sicherheit. Wie soll man vor dem Hintergrund noch handlungs- und entscheidungsfähig bleiben? Ein Schlüssel hierzu liegt im Zugang zum komplexen Alltag.
Die Situation erscheint paradox. Noch nie gab es so viele Möglichkeiten, sich qua Managementratgeber und Internetrecherche über die Vielfalt an Arbeitsweisen und Organisationsformen zu informieren, und zugleich nehmen Tendenzen zu, diese Vielfalt zu verneinen. „Offline“ wie „Online“ gäbe es unzählige Möglichkeiten, sich in aller Tiefe und Breite zu informieren und auch auszutauschen, doch im Streben nach Orientierung fallen oftmals Wunsch und Wirklichkeit auseinander. In der Praxis sind vor allem zwei Phänomene beobachtbar: Zum einen sorgt die Informationsfülle dafür, dass mit dem Wissen auch das Wissen über die Anzweifelbarkeit des Wissens anwächst. Wer selbst vor einer schwierigen Entscheidung steht oder wer einen Organisationswandel vorantreiben möchte, bleibt selbst nach tage- oder nächtelanger Recherche letztlich verunsichert, wenn es darum geht, wie man sich im eigenen Kontext richtigerweise entscheiden soll oder auch, wie das eigene Unternehmen zukunftsfähig aufgestellt werden soll.
Mit dem Wissen wächst auch das Wissen über die Anzweifelbarkeit des Wissens an.
Hieran anschließend ist sodann ein zweites Phänomen erkennbar. Im Privaten wie im Beruflichen setzen sich Lösungsversprechen durch, die auf Einfachheit und Klarheit setzen. Diese werden neuerdings von „Influencern“ auf den bekannten Plattformen oder auch von Managementvordenkern vertreten, die in ihren Beiträgen und Büchern aufzeigen, wie man „agiler“, „achtsamer“ seine Arbeit gestalten sollte und Organisationen „holokratisch“ umgestalten sollte – um nur die derzeit gängigsten Stichworte zu nennen. In der Argumentationsstruktur ähnlich wie Verschwörungstheoretiker oder auch Vertreter radikaler Parteien haben sie Erfolg, indem sie klare Ursache-Wirkungszusammenhänge konstruieren und vermeintlich einfache Lösungen mit vermeintlich Schuldigen präsentieren – schuld ist im Übrigen immer die klassisch hierarchische Organisation. In dieser Sicht wird eine Eindeutigkeit präsentiert, nach der viele suchen, angemessen ist sie sicher nicht. Doch was ist die Alternative? – Unter Rückgriff auf einige Kernideen des systemischen Denkens wird im Folgenden gezeigt, dass alle Organisationsfragen mit etwas Grundsätzlichem zu starten haben: dem Zugang zur eigenen Komplexität. Wer diese erkennt und ernst nimmt, wird nachvollziehen können, warum Unsicherheiten, Mehrdeutigkeiten und Diversitäten die Basis für angemessenes Entscheiden bilden und deshalb begrüßenswert sind.
Im Privaten wie im Beruflichen setzen sich Lösungsversprechen durch, die auf Einfachheit und Klarheit setzen.
Seit mehr als 50 Jahren hat sich in den Beratungsprofessionen eine Denkweise etabliert, die mit dem Zusatz „systemisch“ versehen wird. In der Familientherapie, im Coaching, in der Führungskräfteentwicklung sowie in der Team- und Organisationsberatung finden sich vielfältige Ansätze, die unter Rückgriff auf systemische Erklärungsmodelle in der Praxis relevante Unterschiede machen. Systemisch zu denken heißt, die Dinge im Zusammenhang, mithin in ihrer Vernetztheit zu sehen. Und es heißt auch, sich mit Hilfe von Theorie zunächst einen Zugang zu den unvermeidlichen Komplexitäten zu verschaffen, um dann Verfahren zu nutzen, in und mit denen intelligente Entscheidungen wahrscheinlicher werden.
Wer Komplexitäten erfassen möchte, sollte sich in den Grundzügen mit Erkenntnis- und Sozialtheorien befassen, wie sie von z.B. Gregory Bateson, Heinz von Foerster, Paul Watzlawick oder auch Niklas Luhmann formuliert wurden. Doch keine Sorge, es geht nicht um die Lektüre vieler tausend Seiten Fachliteratur. Der Trick der genannten systemischen Vordenker besteht zunächst darin, sich von den Verhältnissen zu distanzieren. Sie agieren als Beobachter zweiter Ordnung. Wie Beobachter auf der Tribüne, versuchen sie sich einen Überblick zu verschaffen, welches Spiel auf dem Spielfeld gespielt wird, welche Regeln gelten. Dieser zunächst distanzierte Zugang zur Welt entfaltet seine Wirkung hauptsächlich dadurch, dass er hilft, einen entspannteren, vorurteilsfreien und lernenden Modus in Bezug auf das vielfältige Funktionieren von Systemen (Familien, Teams, Unternehmen) einzunehmen. Gerade in der alltäglichen Praxis kann diese Sichtweise helfen, überhaupt einen angemessenen (Beobachtungs-)Zugang zur Welt, die uns umgibt, zu erlangen. Hierzu zwei Tipps:
Systemisch zu denken heißt, die Dinge im Zusammenhang, mithin in ihrer Vernetztheit zu sehen.
Starte im Modus: „Wie interessant!“
In einer komplexen Welt zu leben, heißt zunächst anzuerkennen, dass vieles nicht so leicht und gut funktioniert, wie man es denkt und sich erhofft. Ein recht bekanntes, systemisches Sprichwort lautet: „Jedes komplexe Problem hat eine einfache Lösung und die ist falsch!“. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass komplexe Probleme nach hinreichend komplexen Lösungen verlangen. Um diese zu finden, muss man zumeist nicht in der Ferne suchen, denn der Alltag hält schon viele Potentiale zur Lösung bereit. Um diese erkennen zu können, bedarf es der Neufokussierung einer Aufmerksamkeit, die oft auf das Nichtfunktionieren gerichtet ist. Wer Probleme sucht, wird diese finden und auf Phänomene stoßen, die Verwunderung und Ärger hervorrufen: „So dumm kann man doch nicht sein!“, „Warum dauert das so lange?“, „Wissen die denn nicht, worum es wirklich geht?“. Wahrnehmungen dieser Art nehmen einen Gutteil des „Flurfunks“ in jeder Organisation ein. Täglich passiert etwas, das Ärger hervorruft. Aber Ärger ist – wie alle Emotionen – schneller als der Verstand, und führt quasi Huckepack eine eigene, einfache, schnelle Lösungsidee mit. Doch wer schnell versteht, hat womöglich nichts verstanden. Wenige Eindrücke und Informationen reichen dem problemfokussierten Beobachter aus, um der Illusion zu erliegen, zu wissen, was los ist und wie eine Lösung aussehen müsste. Was hier hilft, ist der Beobachtungsmodus „Wie interessant!“:
Doch wer schnell versteht, hat womöglich nichts verstanden.
- „Wie interessant, wir stoßen Veränderungsprojekte an, alle sind motiviert dabei und am Ende ändert sich nichts!“
- „Wie interessant, jetzt hat schon die fünfte Fachkraft auf dieser Position nach kurzer Zeit gekündigt!“
- “Wie interessant, alle kritisieren die Hierarchie, aber sie funktioniert schon seit 50 Jahren!“
- „Wie interessant, selbst Fachberater kommen zu keiner eindeutigen Lösung!“
„Wie interessant!“ – Wer diesem Gebot folgt, bringt sich – individuell oder kollektiv – in einen neugierigen Modus. Er sucht nach guten Gründen für weiterhin existierende Probleme, nach guten Gründen für Verzögerungen und für alles, was eben nicht so einfach und eindeutig wie gedacht und erhofft funktioniert. In der Konzeption von Veränderungsprozessen hat es sich bewährt, im Modus „Wie interessant“ Organisationsphänomene zu sammeln und zu priorisieren und die drei bis vier meistgenannten kollektiv zu erforschen.
Fokussiere auf Paradoxien
Wer den ersten Hinweis beherzigt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auf „interessante“ Phänomene stoßen, die als Problem schon länger bestehen, bzw. auf „Baustellen“ der Organisationen stoßen, an denen schon oft gearbeitet wurde, ohne dass diese zufriedenstellend beseitigt werden konnten. Ist dies der Fall, lohnt es sich nach Paradoxien Ausschau zu halten. Kurz gesagt geht es hierbei um nichtlösbare, unvermeidliche Gegensätze. Im Prinzip wird unser gesamtes Leben von Paradoxien geprägt (zugegeben, ohne dass wir dies immer so beobachten …). Leben heißt Leben in Paradoxien – so kurz und knapp kann man eine Haupterkenntnis systemischer Denkansätze zusammenfassen. Man strebt nach Eigenständigkeit und Autonomie und muss sich hierfür permanent in Abhängigkeiten begeben. Für Organisationen trifft dies besonders zu. In ihnen geht es immerfort darum, die vielfältige, widersprüchliche die Paradoxien von Stabilität und Veränderung, Dezentralität und Zentralität, Regelbefolgung und Kreativität oder auch Innovation und Routine zu balancieren.
Das Gebot „Anwalt der Ambivalenz“ zu sein, verschiebt den Fokus stärker auf praktische Fragen der Balancierung zwischen zwei widersprüchlichen Positionen.
Das Gebot „Anwalt der Ambivalenz“ zu sein, verschiebt den Fokus stärker auf praktische Fragen der Balance zwischen zwei widersprüchlichen Positionen. Es lädt Führungskräfte ein, wie auf einer schwankenden Platte immerfort an der Ausbalancierung zu arbeiten: Bleiben alle auf der Seite der Nichtveränderung, so sollte sich die Führungskraft gedanklich wie praktisch für die Seite der Veränderung stark machen beziehungsweise den Preis für die Nichtveränderung in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Sind dagegen alle begeistert auf der Innovationsseite, so sollte sie den Nutzen verlässlicher und effizienter Routinen zur Sprache bringen. Wer sich als „Anwalt der Ambivalenz“ versteht, kann paradoxiebewusste Reflexionsprozesse initiieren – die langfristig tragfähiger sind als einseitige Präferenzen für z.B. nur das Neue und Andere oder nur das Bekannte.
Der Wunsch nach Einfachheit und die Ablehnung von Vielfalt ist oft verknüpft mit einem Wunsch nach Praxisnähe und Handlungsrelevanz. Diesem Wunsch und Denken folgend, wird Theorie als eine störende Verkomplizierung gesehen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Theorien sind zwangsläufig anders als die Praxis – aber ihre Andersartigkeit ist nicht das Problem. Sie ist eine Lösung. Theorien doppeln die Praxis: Sie eröffnen die Möglichkeit, die Zusammenhänge anders als gewohnt – zum Teil kontraintuitiv – zu beobachten. Wenn es gelingt, mit der theoretischen Brille auf der Nase eine neue Sicht auf die bekannte Praxis zu erzeugen, dann erzeugt diese Andersartigkeit eine Differenz, eine produktive Spannung – und damit eine Anleitung zum praktischen, situationsangemessenen Handeln, in dem Mehrdeutigkeiten erwartbar und normal sind.