012024

Foto: Marius Masalar/Unsplash

Konzept

Maren Lehmann

Wie kann die nächste Gesellschaft beginnen?

Es ist ein im Wortsinne apokalyptisches Geschehen, das diese Ausgabe zum Thema macht. Eine Apokalypse ist eine Offenbarung, die nicht bloß erlebt, erduldet, erlitten, sondern erhandelt werden muss. Sie erzählt von einem Ende, und sie verlangt – und zwar: mit unwiderlegbarem, keinen Einspruch und kein Ausweichen duldendem Nachdruck –, durch dieses Ende durchzugehen. Denn ein apokalyptisches Ende ist eine Passage, auch wenn sich über das Diesseits dieses Endes Genauestes, über das Jenseits dieses Endes aber nur Ungewisses sagen lässt: eine Passage eben, kein Ziel.

In diesem Sinne muss es, wenn von Apokalypse die Rede ist, auch nicht um einen Gegenbegriff oder um einen dystopischen Gegenfall von Transformation gehen – sondern nur um eine Formvariante. Transformationen werden als Bewegungen verstanden, die nicht bloß Kraft kosten, sondern auch ein Ziel haben, eine Richtung, ein Motiv. Der europäischen Neuzeit leuchtet solche Dynamik als Selbstverständnis so sehr ein1, dass selbst ihrem Sinn nach zirkulär-zyklische Begriffe wie Revolution oder Krise in eruptive Begriffe umgedeutet werden bzw. zu diesen keinen Unterschied zu machen scheinen – einfach, weil ihnen die Richtung fehlt. Das kulminiert in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg, einer Zeit, der es an epochalem Selbstbewusstsein wahrhaftig nicht gebrach und die deshalb auch erhebliche Affinitäten zum Apokalyptischen hatte. Vom Fin de Siècle (Hermann Bahr meint die dunkle Seite des Schönen) konnte man genauso unerschrocken sprechen wie von schöpferischer Zerstörung (Josef Schumpeter meint die vernichtende, besser: die gedächtnislose Seite des Kapitalismus: den Unternehmer als undertaker veralteter und als Protagonist neuer Technologien, worunter nicht zuletzt Machttechnologien zu verstehen sind) oder von verdichteten und daher energiegeladenen Substraten, an die bloß noch ein Funke zu legen sei (Lenin und die russische Avantgarde in der ihnen eigenen finsteren Faszination für’s Fossile meinen revolutionäre Massen als Treibstoff der Moderne).2

Das alles wird zum Begleitgemurmel der entstehenden Soziologie, die sich mit ganz wenigen Ausnahmen (Weber, Mannheim, Elias, Luhmann) für historische und semantische Fragen gleich gar nicht mehr interessiert und sich auf die Seite der offenen – mithin: unbefangeneres, risikofreudigeres Reden erlaubenden – Zukunft schlägt. Das heißt aber auch: Mit der Neuzeit hat die Zukunft schon begonnen, ihr Beginn liegt schon hinter uns, sie ist schon ziemlich gealtert. Die nächste Gesellschaft kann, wie die Zukunft, nicht beginnen3, weil sie schon begonnen hat.

Mit der Neuzeit hat die Zukunft schon begonnen, ihr Beginn liegt schon hinter uns, sie ist schon ziemlich gealtert. Die nächste Gesellschaft kann, wie die Zukunft, nicht beginnen

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Das deutlichste, ja: das entscheidende Indiz dafür, dass die nächste Gesellschaft bereits begonnen hat, ist, dass wir sie überhaupt für möglich halten können. Dieser Hinweis lohnt einige wenige vorangestellte Notizen zum Problem gesellschaftlicher Differenzierung.4 Denn was üblicherweise als moderne Gesellschaft bezeichnet wird, ist nicht einfach eine historische Nachfolgerin älterer Gesellschaftsformen, sondern deren Integration: ein Geflecht, ein Netzwerk von Ordnungsvarianten. Was einander ablöst, so dass von einem Progress gesprochen werden kann, sind nicht die Ordnungsformen selbst, sondern Ordnungs- bzw. Differenzierungsprimate: die stärkste Durchsetzungskraft, mithin die höchste Ordnungsleistung haben immer diejenigen Ordnungsformen, die die größte Varianz von Ordnungs- und Unordnungsmöglichkeiten in sich zu integrieren vermögen. In diesem Sinne sind gesellschaftliche Ordnungen immer durch Differenzierungen integriert, und sie sind umso belastbarer, je variantenreicher ihnen dies gelingt.

Die stärkste Durchsetzungskraft, mithin die höchste Ordnungsleistung haben immer diejenigen Ordnungsformen, die die größte Varianz von Ordnungs- und Unordnungsmöglichkeiten in sich zu integrieren vermögen.

Tribale und segmentäre, ausschließlich dörfliche oder familiale Ähnlichkeiten kennende und tolerierende Gesellschaften sind in diesem Sinne einfach; sie müssen, um ihren Bestand und ihr Selbstverständnis zu sichern, alles Hierarchische, Ständische, Unvertraute ausschließen und wenden sehr viel Energie für diese Ausschlüsse auf. Eine solche auf Ähnlichkeiten gegründete Sozialordnung lässt nur sehr geringe Komplexität zu, sie ist – anders gesagt – sehr schnell damit überfordert, alles auftretende Unvertraute auszuschließen. Gibt man das auf und lässt neben das in tribalen Umständen dominierende Innen-Außen-Prinzip ein ständisches Oben-Unten-Prinzip treten, wird dieser Kraftaufwand reduziert; ergänzt also die Segmentation durch eine Stratifikation, kann die Gesellschaft ein erhebliches Maß an Komplexität innerhalb ihrer eigenen Grenzen bewältigen. Der Preis dafür ist, was seither als soziale Ungleichheit bezeichnet wird; die stratifizierte Gesellschaft ist nicht mehr durch Ähnlichkeit ihrer Strukturformen geprägt, sondern durch Unähnlichkeit – und das ist, so sehr die Leute nicht nur über ihren Status (d.h.: ihren Geburtsstand, ihre Herkunft) identifiziert werden, sondern sich auch selbst mit ihrem Status identifizieren, immer eine Problemanzeige. Das Identifikationsprinzip selbst reproduziert das Problem der Komplexitätsreduktion durch Ausschluss, es reproduziert das Problem der sozialen Grenzen – aber es reproduziert sie jetzt nicht mehr als Außen-, sondern als Binnengrenze der Gesellschaft. Im Ergebnis entsteht eine Sozialordnung, die zwei Grenzvarianten in ihrem eigenen Raum toleriert: die segmentäre Innen-Außen-Grenze und die stratifizierte Oben-Unten-Grenze; diese Sozialordnung ist primär stratifiziert, weil diese Varianzbreite möglicher Grenzen erst in stratifizierten, nicht in segmentären Ordnungen möglich war. Die Innen-Außen-Grenze muss nicht mehr das Selbstverständnis der Gesellschaft als solcher regeln; sie ist in diesem Sinne von ihren Ordnungslasten befreit und kann beginnen, sich innerhalb der stratifizierten Gesellschaft variantenreich und vielfach unkontrolliert zu entfalten (sie dominiert nicht mehr und kommt gerade deswegen viel pluraler vor). Wenn die Gesellschaft schließlich – und eben dies ist der Zeitpunkt, der die Neuzeit beginnen lässt – die Limitationen, die mit der personalen Identifikation segmentärer und stratifizierter Art einhergehen, ebenfalls aufgibt, wenn sie also soziale Mobilität ermöglichen und erwarten will, kühlt sie ihre Binnendifferenzen auf sachliche Codes ab, die je eigene Sinnsphären beschreiben (Systeme), auf indisponibel personalisierende Identifikationen aber verzichten – die Gesellschaft funktionalisiert ihre Ordnungsformen und individualisiert das Ungleichheitsproblem. Die Komplexität innerhalb ihrer eigenen Grenzen steigt nochmals, nicht nur, weil die Sinnsphären ihr Verhältnis zueinander auf organisationale Programme gründen, die Sinn in Verbindlichkeit und Reversibilität übersetzen. Sondern auch, weil jetzt auch die stratifikatorischen Formen ihre Dominanz verlieren, von Ordnungslasten befreit sind und sich innerhalb der Gesellschaft so variantenreich wie nie zuvor entfalten. Funktional differenziert ist eine Gesellschaft also zwar dann, wenn sie über funktionale Codes bzw. durch »distinctions directrices«5 primär integriert ist. Aber das heißt, dass im Schatten dieses Primates ein komplexes Netzwerk segmentärer und stratifikatorischer Ordnungsvarianten liegt, das – von seinen ehemals primären Ordnungslasten befreit – so wirksam ist wie nie zuvor. Es ist wirksam, weil es – Schattenform, die es ist – unterschätzt wird und schließlich schlecht beherrschbar wird; die populistischen Bewegungen der Gegenwart zeigen das.

Funktional differenziert ist eine Gesellschaft also zwar dann, wenn sie über funktionale Codes … primär integriert ist. Aber das heißt, dass im Schatten dieses Primates ein komplexes Netzwerk segmentärer und stratifikatorischer Ordnungsvarianten liegt, das – von seinen ehemals primären Ordnungslasten befreit – so wirksam ist wie nie zuvor. Es ist wirksam, weil es – Schattenform, die es ist – unterschätzt wird und schließlich schlecht beherrschbar wird; die populistischen Bewegungen der Gegenwart zeigen das.

Für alle Differenzierungsprimate gilt, dass sie sich im Zusammenhang bestimmter medientechnologischer Erfindungen durchgesetzt haben und diese Medientechnologien kultivieren, weil sie zu ihren Bestandsbedingungen werden. Das gilt für Verbreitungs- und Verkehrstechnologien hinsichtlich der Durchsetzung von Stratifikation, und es gilt für den Buchdruck, die allgemeinbildende Schule und die Universität hinsichtlich der Durchsetzung funktionaler Differenzierung. Es dürfte also auch gelten für die nächste Gesellschaft. Die, soviel sollte deutlich geworden sein, wäre eine Gesellschaft, in der der Ordnungsprimat funktionaler Codes dasselbe Schicksal erfährt wie die segmentären und die stratifikatorischen Differenzierungsprimate. Wir müssen uns also fragen, ob sich am Horizont der funktional differenzierten, von segmentären und hierarchischen Ungleichheiten durchzogenen Gesellschaft eine Ordnungsform abzeichnet, die die sachlichen distinctions directrices zurückdrängt – und welche Medientechnologie dieses Zurückdrängen betreibt. An dieser Stelle setzen die wenigen Autoren an (ich bleibe im Folgenden bei Peter F. Drucker und Dirk Baecker), die bisher über die nächste Gesellschaft nachgedacht und geschrieben haben. Nicht gesagt ist, dass dieses entstehende Nächste ein völlig Neues ist. Ebenso möglich wäre, und meines Erachtens stehen die Zeichen in diese Richtung, dass diese neue, nächste Medientechnologie das Verhältnis der vorhandenen Ordnungsvarianten neu arrangiert. Es könnte die bisher immer geltende Selbstverständlichkeit eines Differenzierungsprimates aufgeben und aus den vorhandenen Ordnungsvarianten eine Vernetzungsressource machen, deren Binnenstruktur sich situativ laufend ändert. Diese neue Medientechnologie könnte mit der Gleichzeitigkeit segmentärer, stratifikatorischer und funktionaler Differenzen im genauen Sinne: rechnen. Die nächste Gesellschaft wäre dann eine Computergesellschaft, aber der Computer wäre kein ihr gegenüberstehendes und von ihr allenfalls genutztes Instrument, sondern: sie selbst, ein world wide web, das sich alle sozialen Grenzen einverleibt und in dessen Raum sich die funktionale Differenzierung sich nicht zuverlässig gegen segmentäre und stratifikatorische Ordnungsvarianten durchsetzt.

Die nächste Gesellschaft wäre dann eine Computergesellschaft, aber der Computer wäre kein ihr gegenüberstehendes und von ihr allenfalls genutztes Instrument, sondern: sie selbst, ein world wide web, das sich alle sozialen Grenzen einverleibt und in dessen Raum sich die funktionale Differenzierung nicht zuverlässig gegen segmentäre und stratifikatorische Ordnungsvarianten durchsetzt

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Peter F. Drucker hat (nachdem er im Economist erstmals über die nächste Gesellschaft geschrieben hatte6) in seinem Buch über »Managing in the Next Society« (auf das ›in‹ kommt es an, denn es indiziert, dass uns dieses Nächste nicht bevorsteht, sondern umgibt) die Herausforderungen beschrieben, vor denen die moderne, technologisch hochdynamische Gesellschaft aus seiner Sicht steht.7 Die ›next society‹ sei eine Informationsgesellschaft, die eine neue, nächste Wissensgesellschaft bildet – und diese sei eine ganz andere als jene, die seit dem 17. Jahrhundert entstanden ist und sich bis weit ins 20. Jahrhundert gehalten hat. Es geht ihm dabei keineswegs nur um die Frage, was sich für wen durch die Durchsetzung der Computertechnologie ändert. Vielmehr will er beschreiben, welche großen Entwicklungslinien sich in einer Gesellschaft abzeichnen, die vom Computer beherrscht wird, weil sie vom Computer beherrschbar ist – denn alle diese Entwicklungslinien laufen auf den Computer zu und in ihm zusammen, sie werden aber auch alle durch den Computer verändert, es gibt nichts, worauf diese neue Technologie keinen Einfluss hat. »Nichts«, in Luhmanns Worten8, »wird seinen früheren Sinn behalten.«

Drucker eröffnet sein Buch (es folgt 2002 auf den erwähnten Artikel im Economist, und Drucker merkt im Vorwort eigens an, dass es aus Aufsätzen besteht, die sämtlich vor den Anschlägen vom 11. September geschrieben worden waren) mit einer düsteren Prognose: »Wir stehen eindeutig vor Jahren weltweiter Unruhen«, heißt es zunächst. ›Cleverness‹ werde nicht genügen, um damit zurechtzukommen. Es zeichneten sich eine Reihe von ›Trends‹ ab, die die Bevölkerungsstruktur, die Wirtschafts-, Arbeits- und Marktformen sowie die Unternehmens- und Organisationsformen beträfen; diese Trends müssten – man muss ihm das konventionell revoluzzerhafte Sprechen wohl nachsehen, das sich bei ihm wie in jeder Manageransprache findet – ›als Chancen genutzt‹ werden. Man müsse darauf hoffen, darauf wetten, sich darauf einlassen, dass diese Trends stabil sein werden.

Genau besehen ist es diese Ambiguität des wenn/dann, die die ›nächste Gesellschaft‹ für Drucker ausmacht. Sie ist, wenn man so will, ihr Nukleus, ihr ›basic term‹, ihre Grundunterscheidung. Drucker meint, der 11. September habe das erstmals in aller Schärfe gezeigt (so dass er, auch dies ist konventionelle Managerattitüde, die Ereignisse als Beleg seiner Prognose ausgibt, also seine eigenen Thesen eschatologisch – eingangs hatten wir gesagt: apokalyptisch – aufwertet). Das hat uns inzwischen auch die Covid-19-Pandemie klar gemacht oder jedenfalls nahe gelegt. Klassische Kausalitäten verlieren ihren Sinn. Es gibt keine Grenze, die gegen die Materialisierung dieser Ambiguität (etwa: ein Virus; nicht zufällig ein gut etablierter Grundbegriff der Computerpraxis) ein für allemal zu errichten wäre. Damit ist endlich klar, was der Ausdruck ›offene Zukunft‹ seit der frühen Neuzeit gemeint hatte. Die ›nächste Gesellschaft‹ kann nicht beginnen, weil wir nie sicher sein können, dass sie nicht längst begonnen hat, ja: ob sie nicht längst schon wieder Geschichte ist.

Die ›nächste Gesellschaft‹ kann nicht beginnen, weil wir nie sicher sein können, dass sie nicht längst begonnen hat, ja: ob sie nicht längst schon wieder Geschichte ist

Unter den erwähnten Trends hebt Drucker als erstes die Revolution der Informationstechnologie hervor, mit der Pointe, den Begriff der Informationsgesellschaft primär ökonomisch zu verstehen; der ›e-commerce› sei es, der die Welt grundlegend ändere. Der Begriff reagiere auf die volle Ausdifferenzierung der Industriegesellschaft; die Informationsgesellschaft löse diese ab. Entscheidend sei nicht mehr die Maschine, sondern das Medium; deswegen führe es in die Irre, die Informationsgesellschaft eine Computergesellschaft zu nennen. Informationen sind sachlich, zeitlich und sozial höchst instabil; sie entfalten ihre Wirksamkeit durch Operationalisierungen, ohne dass sie determinieren würden, welche Formen der Operationalisierung das genau sein könnten.

Der zweite Trend sei der demographische Wandel, die zahlenmäßige Unterlegenheit der jüngeren Generation gegenüber der älteren (wohlgemerkt: nicht der ganz alten; Drucker interessiert sich für die etwa 50jährigen). Um den Sozialstaat irgendwie zu erhalten, müssten diese Älteren bis jenseits der 70 arbeiten, hätten aber zugleich Berufe, die so lange keinesfalls mehr Bestand haben werden, und in Strukturen, die nichts gemein hätten mit jenen geregelten Work-Life-Balances (Drucker spricht von Nine-to-Five-Jobs), an die sie gewöhnt seien. Sie müssten erhebliche Arbeits- und Flexibilitätslasten tragen, die nicht absehbar waren, als ihre Berufsbiographien starteten. Ihr wichtigster Joker, die Erfahrung ›on the job‹, werde dadurch wertlos oder jedenfalls abgewertet, ohne dass sich sagen ließe, dass Flexibilität selbst irgendein Wert sei. Die jungen Leute kennen zwar demgegenüber das alte Kapital gesättigter Erfahrung (der Ausdruck ›standing‹ passt hier sehr genau) gar nicht mehr, könnten an dessen Stelle aber fast ausnahmslos die formalen Bildungsabschlüsse von Universitäten setzen – und würden das auch rücksichtslos tun. Diese formalen Abschlüsse werden für Drucker also in der ›next society‹ gerade nicht abgewertet, sondern als signalling der Flexibilität – nicht: der Brauchbarkeit – in Rechnung gestellt.

Man lässt sich leiten von denen, die nicht wissen, was sie tun – indem man dieses Nichtwissen beobachtet und in ein Verhältnis zu den Erwartungen setzt, die man an dieses Tun gehabt hatte; also zu den Enttäuschungen, die dieses Tun mit sich bringt. Man setzt, würde ich sagen, (deren) Nichtwissen und (eigene) Verständnislosigkeit in ein Verhältnis zueinander. Den Rest, die ganze Arbeit, ich wiederhole es, machen die Computer.

Das hat wenigstens zwei Effekte: Zum einen gibt es eine deutliche Aufstiegsmobilität unter den Jüngeren, und diese Aufstiegsmobilität wird durch die Flexibilität selbst operationalisiert – formale Abschlüsse (Zertifikate) und schneller Wechsel genügen. Aus dem Blickwinkel der alten Berufsmoral erscheint das als Betrug. In Karrieren umsetzen, so Drucker mitleidlos, lassen sich Leistungen nun mal nicht. Also werden Leistungen in Arbeit münden, nicht aber in Aufstieg. Es gibt, heißt das, ziemlich gute Gründe, die Computer, die so viel mehr leisten, auch die Arbeit machen zu lassen (Drucker warnt deutlich davor, an Nachbesetzungsfragen für Jobs zu hängen, die durch technologische Innovationen ersetzt werden könnten).

Zum anderen verändert das neue Wissen, dieses neue symbolische Kapital – die Konvertibilität von Uniabschluss und Flexibilität und deren Verrechnung in Aufstiegserwartungen, die organisationale Kooperation. Der klassische arbeitsteilige Beruf würde verschwinden, die klassische Matrix von Stab und Linie also auch. Jede Innovation käme von außen, mit den jungen Universitätsabsolventen, die von sich nur sagen können, dass sie wieder gehen werden, wenn sie keine ›Wertschätzung‹ und keine ›Herausforderung‹ erführen. Diese Leute haben Wissen, mit dem sie zwar nichts anfangen können – aber sie wissen, dass dieses Nichtwissen kein Manko, sondern vielmehr ein konkurrenzloser Vorteil ist. Es lässt sich nämlich nur operationalisieren, wenn man sie machen lässt – und dieses Machenlassen kontrastiert jeder klassischen Vorstellung von Autorität oder Führung oder Kooperation (die Grundunterscheidung der digitalisierten Wissensgesellschaft sei nicht mehr ›bosses and subordinates‹, sondern ›seniors and juniors‹, schreibt Drucker). Man lässt sich leiten von denen, die nicht wissen, was sie tun – indem man dieses Nichtwissen beobachtet und in ein Verhältnis zu den Erwartungen setzt, die man an dieses Tun gehabt hatte; also zu den Enttäuschungen, die dieses Tun mit sich bringt. Man setzt, würde ich sagen, (deren) Nichtwissen und (eigene) Verständnislosigkeit in ein Verhältnis zueinander. Den Rest, die ganze Arbeit, ich wiederhole es, machen die Computer.

Das Arbeiten der Computer wäre, für sich genommen, trivial; die Konflikte der Jungen (mit ihren Zeugnissen und ihrer Hybris) mit den Alten (mit ihren Erfahrungen und ihrer Autorität) wären, für sich genommen, unproduktiv. So wird Management zur Sozialarbeit, die beides verbindet; 

Hier, an der Grenze des Gerangels verschiedener Formvarianten von Nichtwissen und Unverständnis einerseits und dem routinierten Arbeiten der Rechner (präzise: der Roboter), siedelt sich nach Drucker das Management der ›nächsten Gesellschaft› an. Denn hier, an dieser Grenze zwischen dem Sozialen des Nichtwissens und dem Sachlichen des Arbeitens entsteht, was Drucker ›society‹ nennt, mit dem von Bill Clinton geliehenen Seufzer: »It’s the society, stupid!«. Das Arbeiten der Computer wäre, für sich genommen, trivial; die Konflikte der Jungen (mit ihren Zeugnissen und ihrer Hybris) mit den Alten (mit ihren Erfahrungen und ihrer Autorität) wären, für sich genommen, unproduktiv. So wird Management zur Sozialarbeit, die beides verbindet; die Ökologie des Managements ist nicht mehr die einzelne Organisation (die kommt vielmehr bestenfalls als physische Umgebung in Betracht, als eher prekäres Habitat der Computer und der Konflikte), sondern die Gesellschaft.

Auf der Grundlage dieser Gesellschaftstheorie des Managements hat Dirk Baecker eine ganze Reihe von Einzelstudien vorgelegt. Er nennt deren vorläufig erste zusammenfassende Publikation denn auch ›Studien zur nächsten Gesellschaft9, im Kontext universitärer Wissenschaft ein Hinweis darauf, dass es sich nicht um eine disziplinäre Arbeit handelt, sondern um eine Arbeit an einem Phänomen, einem Problem, einem Konzept, um studies eben. Da geht es, wie bei Drucker auch, um Organisationen und Unternehmen, um Wissenschaft und Universität, aber es geht auch um Theater, um Architektur, um Familie. Die Studien sind gewissermaßen Sonden in eine Gesellschaft, die zwar modern in dem Sinne einer Weltgesellschaft ist, die alle sozialen Möglichkeiten ein- und nicht ausschließt, die alle ihre Ressourcen aus sich selbst produziert, die aber plötzlich beginnt, alle ihre Formvarianten auf ihr Umweltverhältnis hin zu beobachten. Man weiß nicht, was ein Unternehmen ist, indem man in ihm anheuert; sondern man lernt es, indem man mit ihm verhandelt, Verträge schließt, Prozesse führt. Man weiß nicht, was eine Universität ist, indem man dort einen verberuflichten Studiengang absolviert; sondern man lernt es, indem man in einer Philosophievorlesung (sagen wir, denn das Beispiel ist real) über Michel Serres sitzt und ein Kunstprojekt entwickelt, mit dem man zwar durch die Prüfung zur Vorlesung fällt, aber bei der Kunsthochschule angenommen wird. Usf., eine Vielzahl von Studien, Skizzen, Tests und Sonden (Baecker spricht von ›Kontrollprojekten‹ im Sinne von Versuchen der Beobachtung von ›Nachbarschaftsverhältnissen‹). Die nächste Gesellschaft ist dann das Geflecht solcher Formen des Lernens, das produktiver ist als Wissen – nicht obwohl, sondern weil es das Nichtwissen kommunikativ operationalisiert.

Entscheidend ist: Das Nächste ist das Ungewisse, nicht das Neue. Die ›nächste Gesellschaft‹ ist ein Netzwerk, das das Formale mit dem Flexiblen, das Abstrakte mit dem Provisorischen verknüpft. »Der Fluchtpunkt dieser Überlegungen« … dürfte »die Dämmerung der funktionalen Differenzierung« sein.

Die viel zu beiläufige Rede von Nachbarschaftsverhältnissen10 zeigt, worauf es ankommt und worauf es nicht ankommt. Es kommt an auf ein Verständnis der Verflechtung und der Entflechtung von Grenzen, wobei Grenzen (diese Notiz geht auf Gregory Bateson zurück) weder Abgründe noch Brücken sind, sondern tatsächlich black boxes, in denen etwas geschieht, was auch anders geschehen könnte – und dieses Andere wird bestimmt durch die Umgebungen, die die Grenze jeweils verbindet. Es kommt nicht an auf eine lineare Prozessualität im Sinne eines unentrinnbaren Fortschritts vom Alten zum Neuen; es kommt deshalb auch nicht an auf die Aneinanderreihung von Medienepochen (Sprache, Schrift, Buchdruck, Computer), auf die Baecker sich in der Folge häufig zurückzieht. Entscheidend ist: Das Nächste ist das Ungewisse, nicht das Neue. Die ›nächste Gesellschaft‹ ist ein Netzwerk, das das Formale mit dem Flexiblen, das Abstrakte mit dem Provisorischen verknüpft. »Der Fluchtpunkt dieser Überlegungen«, notiert Christoph Möllers in einer Rezension11, dürfte »die Dämmerung der funktionalen Differenzierung« sein.

 

  1. Vgl. Reinhart Koselleck (1995): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. 3. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  2. Ich verzichte auf Belege; alle datieren zwischen 1890 und 1914.
  3. Niklas Luhmann (1990): Die Zukunft kann nicht beginnen. Temporalstrukturen der modernen Gesellschaft, in: Peter Sloterdijk (Hg.), Vor der Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukunft. Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 119-150.
  4. Vgl., immer noch unerreicht, Niklas Luhmann (Hg., 1985): Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee. Opladen: Westdeutscher Verlag.
  5. Niklas Luhmann (1994): »Distinctions directrices«. Über Codierung von Semantiken und Systemen, in: ders., Soziologische Aufklärung 4. 2. Aufl. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 13-31.
  6. Peter F. Drucker (2001): The Next Society. A Survey of the Near Future, in: The Economist vom 3. November 2001, online nach wie vor hier: https://www.economist.com/special-report/2001/11/03/the-next-society.
  7. Peter F. Drucker (2002): Managing in the Next Society. London: Taylor & Francis.
  8. Luhmann 1990, S. 122.
  9. Dirk Baecker (2007): Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  10. Im Vorwort von Baecker 2007, S. 9.
  11. Christoph Möllers (2007): Und wenn es theoretisch mal hakt, wird er einfach brillant, in: FAZ vom 31.12.2007, online hier: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/und-wenn-es-theoretisch-mal-hakt-wird-er-einfach-brillant-1493580.html

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