Der kluge Hamster sucht die Selbsterhaltung
Der berühmte österreichische Ökonom Joseph Schumpeter hatte eine genaue Idee vom Ende des Kapitalismus. Mit Blick auf die Entwicklung der US-Wirtschaft hielt er 1942 eine klare Tendenz fest: Statt anarchischer Märkte kontrollierten Trusts und Monopole die Industrie. In ihnen erstickten Manager und Bürokraten durch Planung zunehmend jene Orientierung auf „schöpferische Zerstörung“, die den Kapitalismus doch eigentlich am Laufen hielt.
Der vorangegangene Aufstieg des Kapitalismus war für Schumpeter letztlich eine Frage kultureller Wertorientierungen gewesen: Es war der bürgerliche Haushalt, mit seinen enormen Repräsentationspflichten und seiner individualistischen Aufstiegsethik, der die Motivation für jenes riskante Unternehmertum lieferte, das bereit war, die Dinge immer aufs Neue aus den Angeln zu heben. In den seinerzeit keimenden Wohlstands- und Massengesellschaften des Westens sei dieser Antrieb erlahmt, stillgestellt durch die immer einfachere Verfügbarkeit industrieller Massenprodukte und mittelschichtsförmiger Lebensstile. Die Menschen wären daher im Begriff in einer Welt aufzuwachen, in der der Kapitalismus zu Ende gegangen sei ohne, dass sie es bemerkt hätten.
Diese Figur der Transformation auf Grundlage des Wandels materieller Bedingungen und vorherrschender Wertorientierungen kann uns auch heute als Kompass für das Verständnis unserer Gegenwart dienen. Noch geht die Soziologie zeitgenössischer Gesellschaften hinsichtlich dieser beiden Aspekte von einer bemerkenswerten Stabilität aus. Jene auf Massenproduktion und -konsum basierende Lebensweise, die Schumpeter ins Zentrum seiner Überlegungen stellte, hat sich demzufolge seit den 1980er Jahren zwar inkrementell gewandelt: Während beim Wunder von Bern noch alle Spieler der deutschen Nationalmannschaft die gleichen Schuhe trugen, kann sich heute jeder Drittklässler Sportgerät in allen Farben des Regenbogens und bei Bedarf mit eigener Signatur im Internet bestellen. Die schon die bereits laut Schumpeters Beobachtung prägende Vergesellschaftung durch Konsum ist damit freilich nur weiter vorangetrieben worden.
Diese Figur der Transformation auf Grundlage des Wandels materieller Bedingungen und vorherrschender Wertorientierungen kann uns auch heute als Kompass für das Verständnis unserer Gegenwart dienen
Auf der Ebene der Wertorientierung spiegelt die Tatsache, dass der Kapitalismus individueller, differenzierter und vielfältiger geworden ist, den Aufstieg eines kulturellen Primats individueller Selbstentfaltung, das jenseits von Turnschuhen und anderen Konsumprodukten im späten 20. Jahrhundert fast alle Bereiche der Gesellschaft durchdrungen hat. Ob Demokratisierung von Lebenschancen im Bildungssystem, wachsende Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Einzelnen in Bezug auf Körper, Kinder und Karrieren, der Aufstieg von Kreativarbeit oder die Prämierung von Einzigartigkeit in den sozialen Medien – die zentralen Themen der spätmodernen Gesellschaft sind jene der individuellen Selbstbestimmung, der Authentizität und Selbstverwirklichung. Wir leben in einer Zivilisation, die Selbstentfaltung nicht nur fördert, sondern auch fordert.
Von Selbstentfaltung zu Selbsterhaltung
Der Scheitelpunkt, auf den Gesellschaften dieser Art nun seit geraumer Zeit zusteuern und den man im Kontext der Covid19-Pandemie einmal ganz unverstellt beobachten konnte, ist jener, an dem diese Selbstentfaltung vom Versprechen zum Problem wird. So zeichnet sich mit steigendem Druck globaler Polykrisen – also der Gleichzeitigkeit von etwa Klimawandel, Pandemie, Krieg und Versorgungsproblemen wie im Jahr 2022 – eine Veränderung des wertestiftenden Leitmotivs zeitgenössischer Gesellschaften ab.
Wiederum verbinden sich dabei materielle Veränderungen und kulturelle Orientierungen: Was die Welt der natürlichen Dinge angeht, ist uns seit den 1980er Jahren klargeworden, dass unsere Zivilisation der Selbstentfaltung ihre Umwelt alles andere als unberührt lässt. Sie ist vielmehr Triebkraft einer planetaren Destabilisierung, die auch in unseren Breitengraden immer spürbarer wird: brennende Wälder, trockenlaufende Flüsse und überflutete Täler wie in den vergangenen Sommern sind dabei nur die Endmoränen eines gigantischen Krisengletschers, der immer schneller ins Rutschen zu kommen scheint.
So zeichnet sich mit steigendem Druck globaler Polykrisen – also der Gleichzeitigkeit von etwa Klimawandel, Pandemie, Krieg und Versorgungsproblemen wie im Jahr 2022 – eine Veränderung des wertestiftenden Leitmotivs zeitgenössischer Gesellschaften ab
Auf gesellschaftlicher und individueller Ebene zeigt sich zudem immer deutlicher, dass der Anstieg individueller Möglichkeiten im globalen Kapitalismus selbst auch neue Risikolagen erzeugt hat. Die Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern der wirtschaftlichen Transformationen der vergangenen Jahrzehnte gilt als Ausgangspunkt veritabler Selbstgefährdungen der Demokratie. Die wachsende Unkalkulierbarkeit von Lebensentwürfen und der Zwang zur stetigen Selbstoptimierung erzeugen nicht selten Überlastungen bei den Einzelnen, wie etwa der Aufstieg von Burn-out Syndromen belegt. Man muss sich die Situation der Einzelnen wie bei den berühmten Flying-Hamster-Memes und -Videos vorstellen: setzt man zwei Hamster in dasselbe Rad, laufen beide los, scheinbar um die Wette. Erst sieht es nach Spaß aus, doch es dauert nicht lange, bis einer vom anderen überlaufen wird. Der Verlierer stürzt, wird einige Male wie in einer Waschmaschine durchgeschleudert und fliegt dann – Paff!! – in hohem Bogen aus dem Spiel.
Handeln im Zeichen der Selbsterhaltung
Was durch den klimainduzierten Krisengletscher und die fliegenden Hamster der Selbstverwirklichung aufgerufen wird, sind nicht länger die Versprechen der Selbstentfaltung, sondern planetare, gesellschaftliche und individuelle Gefährdungen der Selbsterhaltung. Was nun mit spätmodernen Gesellschaften passiert, wenn diese sich aktiv und kompromisslos an Problemen ausrichten, die sie als Gefahren für Selbsterhaltung definieren, konnte man hautnah in den heißen Phasen der Covid19-Pandemie beobachten. So lange diese als veritable Gefährdung für Gesundheit und Leben wahrgenommen wurde, standen nicht mehr die Industrien der Selbstentfaltung im Fokus. Vielmehr bildeten sie die systemirrelevante Seite einer Neusortierung gesellschaftlicher Arbeit, die vor allem den Infrastrukturkomplex ins Zentrum rückte. Beschäftigte im Gesundheitswesen, den Organen der öffentlichen Sicherheit, den Versorgungsbetrieben, in den Erziehungsberufen und den materiellen Infrastrukturen wurden als selbsterhaltungsrelevante Felder entdeckt.
Man konnte dabei für einen kurzen Moment nicht nur die enorme wechselseitige Abhängigkeit erkennen, die zwischen den einzelnen Teilen der Gesellschaft besteht, sondern vor allem auch eine den Krisenzustand prägende Hierarchie erahnen: Sichtbar wurde schließlich auch eine Spaltung zwischen denen, die es sich leisten können, Anpassungsbedarfe zu verdrängen, weil sie im Homeoffice arbeiten, höhere Energiekosten bezahlen oder in klimafreundlichere Gegenden umziehen können und jenen, die die Stabilisierung der Gesellschaft mit ihrer alltäglichen Arbeit sichern. Sie sind die Virtuosen der Anpassung, denen der Weg der Verdrängung nicht offensteht. Je mehr sich unser Jahrhundert zu einem der Anpassungskrisen entwickeln wird, desto mehr wird ihre Anpassungsakzeptanz freilich zum Normalmodus werden.
… dann stünden wir vor einem veritablen Umbruch von Wertorientierungen: Von der Prämierung von Besonderheit zu einer Besinnung auf das Allgemeine, von der Überhöhung individueller Authentizität zur Betonung wechselseitiger Verpflichtung, vom individuellen Streben zur kollektiven Verantwortung
Schon heute lässt sich erahnen, welche Handlungsorientierungen sich aus dieser Situation ergeben können. So dominierten während der Pandemie bei den systemrelevanten Beschäftigten drei Motive der Kritik. Erstens richtete sich diese gegen eine profitorientierte Lebensweise in jenen gesellschaftlichen Bereichen, die als essentiell für die Bearbeitung von Selbsterhaltungsproblemen gelten. Sinngemäß könne es nicht sein, dass sich Überlebenschancen in der Pandemie an den Handlungsgrenzen profitorientierter Krankenhäuser entschieden. Kombiniert wurde diese Feststellung, zweitens, mit einer Kritik schwacher Staatlichkeit. Im Erschrecken über Maskendeals, fehlende Beatmungsgeräte und schleppende Impfstoffproduktion wurde dabei ein Mangel an Steuerungsfähigkeit auf Seiten des politischen Systems identifiziert. Drittens wurden diese beiden Aspekte als Effekte einer auf Selbstentfaltung fixierten Kultur gedeutet: Die Leute dächten nur an sich selbst und seien zunehmend unfähig, ein realistisches Bild der eigenen Größe zu entwickeln.
Dem entgegengestellt wurde der Wunsch nach einer stärkeren ökonomischen Nivellierung, also einer Verminderung sozialer Abstände und einem insgesamt kompakteren Gesellschaftskörper. Das Ziel einer solchen Perspektive ist nicht die Tilgung sozialer Ungleichheit an sich, sondern ihre Reduzierung auf ein als gerecht empfundenes Maß. Dem beobachteten Verlust politischer Steuerungsfähigkeit soll gar mit einer Stärkung vertikaler Autorität und funktionaler Hierarchien begegnet werden. Man stellt sich die Gesellschaft im Krisenmodus quasi wie ein Krankenhaus vor, in dem ohne Autorität und funktionale Differenzierung schon im Normalbetrieb nichts läuft. Was die grundsätzliche Haltung zu Selbsterhaltungsproblemen angeht, wünschte man sich zudem ihre Entpolitisierung. Der demokratische Streit um die Finanzierung von Krankenhäusern, die Gefahrenabwehr oder die Umstellung auf klimaneutrale Energie müsse zu Gunsten einer Ethik der Tat beigelegt werden.
Sollten hier tatsächlich jene normativen Orientierungen und praktischen Deutungsmuster zum Ausdruck kommen, die die nächste Gesellschaft in immer stärkerem Ausmaß prägen werden, dann stünden wir vor einem veritablen Umbruch von Wertorientierungen: Von der Prämierung von Besonderheit zu einer Besinnung auf das Allgemeine, von der Überhöhung individueller Authentizität zur Betonung wechselseitiger Verpflichtung, vom individuellen Streben zur kollektiven Verantwortung. Wenn ich mich nicht täusche, zeichnet sich hier die adaptive Gesellschaft ab, in der wir irgendwann aufwachen werden.