012024

Foto: Aleksandar Popovski/Unsplash

Konzept

Julia Hahmann

Polarisierung – eine soziologische Einordnung

Im September 2022 trafen sich über 4000 Soziolog*innen an der Universität Bielefeld für fünf Tage, um über „Polarisierte Welten“ zu diskutieren. Im Rahmen des zweijährlich stattfindenden Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie diskutierten die Beteiligten in zahlreichen Veranstaltungen, ob und inwiefern diese Gegenwartsdiagnose, dass wir als Gesellschaft bzw. Gesellschaften Polarisierung erleben, empirisch erfassbar und rekonstruierbar ist, wie wir es theoretisieren können – und was nun eigentlich daraus folgt. Dabei machte schon die Ankündigung klar, dass es sich nicht nur um ein komplexes Thema handelt, sondern um viele distinkte, wie sich überlappende, wie interdependent wirkende, zusammenhängende Themen, die es sich genau anzuschauen gilt. Die Soziologie als sozial- wie erkenntnistheoretisch, methodologisch und methodisch plurale Disziplin neigt im Allgemeinen zu komplexen Antworten, zum „ja, aber“ und „im spezifischen Fall“ – dies lässt sich im Kongressprogramm deutlich ablesen (Deutsche Gesellschaft für Soziologie 2021).

Eine simple Feststellung der gesellschaftlichen Polarisierung im Sinne einer Spaltung lässt sich soziologisch scheinbar nicht so einfach tätigen. Dennoch sehen wir Auflösungen traditioneller Ordnungen und Sicherheiten, Grenzziehungen und Ausschließungen, Kämpfe um Repräsentation und Anerkennung und zahlreiche in unterschiedlichem Ausmaß gewaltvolle Konflikte – in Deutschland, Europa und weltweit. Wie sprechen Soziolog*innen denn nun über Polarisierung und gesellschaftliche Umbrüche?

Soziologisch betrachtet ist die Idee gesellschaftlicher Konfliktlinien weder neu noch notwendigerweise bedrohlich.

Soziologisch betrachtet ist die Idee gesellschaftlicher Konfliktlinien weder neu noch notwendigerweise bedrohlich. Die Idee einer segmentierten Gesellschaft entspricht letztlich der Grundidee der ja noch relativ jungen Soziologie, die davon ausgeht und untersucht, wie sich „moderne“ im Kontrast zu „traditionellen“ Gesellschaften ausdifferenzieren (z. B. Durkheim, Weber und Tönnies), wie Handeln dennoch nicht individualisiert, sondern strukturiert abläuft, und wie sich das erklären lässt (klassisch hierzu Webers Begriff des sozialen Handelns) oder wie Gesellschaften aufgrund ihrer spezifischen Strukturen funktionieren (z. B. Parsons). In Teilen soziologischer Theorien wird dies auch immer konflikthaft und/oder ungleichheits- oder machttheoretisch gedacht. Ausgehend von der nicht wirklich soziologischen, weil deutlich früher entwickelten, aber dennoch disziplinär relevanten Klassentheorie nach Marx und Engels (1974 [1848]) existieren in kapitalistischen Gesellschaften verschiedene und letztlich zwei Klassen, die sich durch den unterschiedlichen Besitz an Produktionsmitteln und ihre Rolle in der Produktionssphäre auszeichnen. Die Klassenlage, zwischen Bourgeoisie und Proletariat, führt nun von der objektivierten, faktischen „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“. Letzteres beschreibt ein aus der faktischen Klassenlage geteiltes Verständnis über die eigene, prekäre Situation, die zur Politisierung führt. Aus dem relationalen Klassengefüge, dem Antagonismus zwischen Herrschenden und Beherrschten, entwickelt sich, so die Prognose von Marx und Engels, eine konflikthafte Auseinandersetzung, der revolutionäre Klassenkampf, der die befreite Gesellschaft ermöglichen soll. Nun ist die Revolution offensichtlich nicht eingetreten, dennoch ist die Idee der darin formulierten Spaltung weiterhin wirkmächtig, auch wenn es sich sprachlich-konzeptuell anders äußert (vgl. hierzu z. B. Reckwitz 2017).

Hier werden also bestimmte soziale Gruppen als einheitliche Gebilde mit homogenen Einstellungen, Konsumpräferenzen, Wahlentscheidungen und Verhaltensweisen imaginiert.

Immer darin enthalten ist die Idee, dass eine Spaltung nicht nur unterschiedliche politische Ansichten umfasst, sondern diese an sozialstrukturelle Positionen geknüpft sind (vgl. Mau et al. 2023: 14). Das bedeutet, dass in den Spaltungsdiagnosen davon ausgegangen wird, dass ein spezifisches Milieu über geteilte Haltungen verfügt. Dies passt dann häufig in stereotype Alltagserzählungen und verfängt sich deswegen so gut: Die Großstadtperson (they/them), die sich vegan ernährt und ausschließlich Fahrrad fährt, einen Nagel nicht von einer Schraube unterscheiden kann – Sie können diese Aufzählung vermutlich gedanklich ergänzen. Und genau so gibt es in dieser Polarisierungsidee auch das konservative Gegenstück, das traditionelle Werte aufrechterhalten will, zwischen Einfamilienhaus und Schützenfest mit einem der drei Autos hin- und herfährt, auf keinen Fall das Schnitzel weglassen kann, nicht auf das Z- und das N-Wort verzichten will und dabei weder Homosexualität noch anderes vermeintlich Fremdes akzeptiert. Hier werden also bestimmte soziale Gruppen als einheitliche Gebilde mit homogenen Einstellungen, Konsumpräferenzen, Wahlentscheidungen und Verhaltensweisen imaginiert.

Dieser Antagonismus ist typisch für den öffentlichen Diskurs, entspricht aber nicht der Heterogenität der Gesellschaft. Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser veröffentlichten 2023 eine Studie zu gesellschaftlichem Konsens und Konflikten, in der sie jene Polarisierung genauer untersuchten. Sie identifizierten unter anderem vier Konflikttypen, die verschiedene Ungleichheitsarenen, also thematische Schwerpunkte, in ihrem Bewegungsmodus definieren. Zur genaueren Betrachtung sei auf das Buch verwiesen, aber beispielhaft zeigen sie auf, dass es z. B. den lange bekannten und immer wieder diskutierten „Oben-Unten“-Konflikt gibt, in dem Verteilungsungleichheiten zwischen Arm und Reich thematisiert werden. Des Weiteren unterscheiden die Forscher zwischen „Innen-Außen“, „Wir-Sie“ sowie „Heute-Morgen“. Ungleichheiten zwischen Innen und Außen beschreiben jene, die durch Grenz- und Migrationsregime geschaffen werden. Wer „drinnen“, z. B. in der Bundesrepublik Deutschland oder in der Europäischen Union, geboren wurde oder anhand von Zertifikaten anerkannt ist, verfügt über andere Mitgliedschaften, Rechte und Ressourcen als jene, denen das nicht gilt. Der Kampf zwischen wir und sie bezeichnet Fragen der Anerkennung, indem zwischen Etablierten und Außenseitern unterschieden wird. Hier werden Normalitäten in Frage gestellt, z. B. in der Auseinandersetzung um geschlechtliche Identitäten außerhalb des binären Spektrums von männlich und weiblich. Dabei wird gesellschaftliche Sichtbarkeit neu ausgehandelt, wenn beispielsweise eine geschlechtergerechte Schreibweise wie Leser*innen oder Leser:innen anzeigen soll, dass geschlechtliche Identitäten neben Mann und Frau wahrgenommen, mitgedacht und adressiert werden. Damit wird aber auch festgelegt, wer legitim sprechen darf und wer außen vor bleibt. Die Figur „Heute-Morgen“ bezeichnet Ungleichheiten der Ökologie, also z. B. der Klimakatastrophe, Fragen zur Notwendigkeit veränderter Lebensweisen, jenen von verursachenden und betroffenen Personengruppen. Hierin verbergen sich Fragen der Verteilung von Lebenschancen – wer ist in besonderem Maße vom Klimawandel betroffen, wessen Lebensgrundlage wird entzogen, wer hat Ressourcen, Auswirkungen zu bewältigen? Nun untersuchen die Autoren diese Ungleichheitsarenen genauer und können nachweisen, dass es in vielen Bereichen einen grundsätzlichen Konsens gibt, so etwas wie einen Mittelweg: Zuwanderung ja, aber begrenzt, zum Beispiel.

Gleichzeitig gibt es in jedem Feld von ihnen identifizierte Triggerpunkte, an denen die öffentliche Auseinandersetzung hochkocht und an denen sich die Polarisierungshypothese festmachen lässt.

Gleichzeitig gibt es in jedem Feld von ihnen identifizierte Triggerpunkte, an denen die öffentliche Auseinandersetzung hochkocht und an denen sich die Polarisierungshypothese festmachen lässt. Bei der Genderdebatte ist dies z. B. der Trigger der bereits genannten sprachpolitischen Vorgaben. Dies äußert sich auch in der Hochschullehre in meinen Seminaren zu Geschlechtertheorien, in denen wir verschiedene Formen von Sprachkonventionen besprechen. Auffällig ist im Gespräch die Formulierung „das ist ja in Ordnung, aber ich lasse mir das nicht aufzwingen.“ Das, was da in Ordnung ist, ist die Existenz von Geschlechteridentitäten, aber auch von verschiedenen Formen des sexuellen Begehrens. Insgesamt zeigt sich gesellschaftlich in diesen Bereichen eine Liberalisierung und zunehmende Anerkennung von geschlechtlicher Vielfalt. Was Mau et al. (2023) dann in ihren Analysen identifizieren, ist der Punkt oder das Thema, bei dem die Anerkennung wegbricht und in manchmal offen oder gar aggressiv formulierte Ablehnung kippt. Das sogenannte Gendersternchen scheint einer dieser Triggerpunkte zu sein. Die Ablehnung ergibt sich in den Interviews der Forscher oftmals aus einer wahrgenommenen Bevorzugung quantitativ kleiner Gruppen und folgt der Logik: „Kann ja jede Person machen, wie sie will, aber muss das so laut/öffentlich/fordernd sein?“ Stattdessen sollen z. B. trans Personen damit zufrieden sein, dass sie akzeptiert werden und sich möglichst unauffällig in die Verhaltensweisen der vermeintlichen Normalität einfügen, indem sie sich z. B. eindeutig als Mann oder Frau identifizieren. Hinter der Ablehnung stecken von Veränderung bedrohte Gewohnheiten und die Infragestellung angenommener Sicherheiten – zum Beispiel der Zweigeschlechtlichkeit, der Dominanz der heterosexuellen Zweierbeziehung, der zweigeschlechtlichen Kleinfamilie und vieles mehr. Dass Menschen von diesen Sicherheiten abweichen, ist also in Ordnung. Dass sie jedoch als neue, erweiterte Normalität gleichberechtigt zu sehen und zu hören sein sollen und sie dafür zunächst ein wenig mehr gesellschaftliche Unterstützung benötigen als etablierte Gruppen – das wiederum nicht. Vergleichbar laufen Auseinandersetzungen um Quotierungen, z. B. in Form der Frauenquote oder der Besetzung nach Diversitätsmerkmalen, ab.

Kritisiert wird dabei oftmals, dass es sich bei Anerkennungsfragen um weniger relevante gesellschaftliche Probleme handele, z. B. zu finden in der Frage, ob es denn nicht Wichtigeres und Dringlicheres gäbe. Kritisiert wird, dass es sich um Identitätspolitiken handele (Villa-Braslavsky 2020). Wissenschaftlich kreisen diese Debatten um Fragen von Anerkennung vs. Umverteilung (Honneth/Fraser 2003). Ich möchte an dieser Stelle nicht darauf eingehen, wie sich diese Debatten nun auflösen lassen oder wie ich mich darin als Wissenschaftlerin positioniere. Stattdessen möchte ich auf das Argumentationsmuster hinweisen, das wiederkehrend ist. Mit dem Hinweis auf eine Hierarchisierung von Problemen wird nicht nur das spezifische Anliegen diskreditiert, sondern sowohl die Personen, die sich damit befassen möchten und müssen, als auch die Personengruppen, die es betrifft. Hierzu fallen m. E. zwei Dinge auf: Zum einen könnte man den Spieß ja auch umdrehen und betonen, dass die Unsicherheiten und Ängste, die eine Befassung hervorruft, irrelevant sei im Angesicht der vermeintlich relevanteren Krisen. Warum also müssen wir uns wieder und wieder damit beschäftigen, wo sich gleichzeitig soziale Ungleichheiten verstärken, Menschen offen bedroht oder gar ermordet werden und zahlreiche globale Krisen unsere Aufmerksamkeit fordern? Und zum anderen und mit dem ersten Punkt verknüpft könnten wir stärker darauf achten, wer diese Debatten immer wieder anfacht und die Gesellschaft damit regelmäßig zwingt, sich in die Auseinandersetzung zu begeben und oftmals unterkomplex Stellung zu beziehen. „Ich lass mir nicht vorschreiben, wie ich zu schreiben habe“ endet derzeit vor allem darin, dass Regierungen genau das tun: öffentlichen Einrichtungen, Schulen, Hochschulen vorschreiben (wollen), wie sie zu schreiben haben, wie es z. B. in Sachsen-Anhalt, Hessen und Bayern durchgesetzt oder zumindest diskutiert wird.

Problematisch darin ist meines Erachtens nicht nur der sich darin äußernde Autoritarismus, der dann zum Verbot geschlechtergerechter Sprache führt, sondern zudem, dass die Ablehnung eines Themas mit anderen in Zusammenhang gebracht wird. Genau wie in den Polarisierungsdefinitionen beschrieben, werden homogene Milieus imaginiert, die Freiheiten der Lebensweise von anderen Gruppen, der „normalen Bevölkerung“, einschränken wollen. Auch hier ist ein Befund der Studie von Mau et al. relevant: Denn es gilt zu bedenken, dass nicht (nur) zufällig regelmäßig öffentliche Debatten kippen. Sondern dass es zahlreiche öffentliche Akteur*innen gibt, die ein explizites Interesse daran haben, eine Polarisierung heraufzubeschwören. Mau et al. nennen sie „Polarisierungsunternehmer/-innen“, also jene Akteur*innen, die Polarisierung nicht nutzen, um z. B. Aufmerksamkeit zu erzeugen, sondern deren Ziel die Polarisierung selbst ist.

Den Aufregerthemen und Triggerpunkten zu folgen, sich darauf immer und immer wieder einzulassen und vermeintlich „entzaubern“, statt eigene politische Themen zu setzen, ist eine alltägliche Entscheidung, die wir als politische Subjekte und Vertreter*innen diverser Organisationen – wie auch von Kirche – dringend kritisch  überprüfen müssen.

Den Aufregerthemen und Triggerpunkten zu folgen, sich darauf immer und immer wieder einzulassen und vermeintlich „entzaubern“, statt eigene politische Themen zu setzen, ist eine alltägliche Entscheidung, die wir als politische Subjekte und Vertreter*innen diverser Organisationen – wie auch von Kirche – dringend kritisch  überprüfen müssen. Denn selbst wenn wir nicht von der eindeutigen Polarisierung oder dem einen gesellschaftlichen Umbruch sprechen können, können wir dies sehr wohl aber im Plural – eben von „polarisierten Welten“. Klar ist zudem: Viele Gruppen haben ein Interesse daran, Themen zu besetzen, neue Diskussionen zu eröffnen und auch das Verhalten von Individuen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Anstatt in Relativismus zu verfallen, der jede Form von Veränderung als gleichermaßen abzulehnenden Extremismus bezeichnet, sollten wir endlich ernsthaft differenzieren: Erzwungenes vegetarisches Essen in Kantinen und gewaltvolle Deportation von Menschen mit Migrationsgeschichte bewegen sich in komplett unterschiedlichen Sphären. Die Auswirkungen auf das alltägliche Leben und das konkrete Überleben unterscheiden sich ebenso wie die dahinter liegenden Zwecke. Nehmen wir das doch endlich ernst, denn die sich abzeichnenden Konsequenzen sind es für viele von uns.

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