012019

Konzept

Ursula Hahmann und Valentin Dessoy

Wenn das Dach zur Last wird

Ein Plädoyer für Weite und Tiefe in der strategischen Ausrichtung der Marke Kirche

In der Generation unserer Großeltern war es noch einfach: Wer um 10 statt um 8 Uhr zur Messe geht, ist kein richtiger Katholik, Samstags wird gebeichtet, Frauen sitzen in der Kirche von den Männern getrennt …

Kirche stand in ihrer spezifischen Ausrichtung für wenige, standardisierte Formate, eindeutige Rollen sowie klare Überzeugungen und Normen, die allgemein bekannt und akzeptiert waren. Wie man dies auch immer aus damaliger oder heutiger Sicht beurteilen mag, Kirche war eine scharf umrissene Marke. Wer sich auf Kirche einließ oder einlassen musste, wusste, was er oder sie bekam.

Mit den Auswirkungen des II. Vaticanum und den gesellschaftlichen Entwicklungen hat sich das Bild und damit das Image der Marke Kirche gewandelt.

Mit den Auswirkungen des II. Vaticanum und den gesellschaftlichen Entwicklungen hat sich das Bild und damit das Image der Marke Kirche gewandelt. In den 1970er/80er Jahren kann man z. B. neben dem althergebrachten auch einen zunehmend selbstbewussten und selbst verantworteten Umgang mit Normen und Regeln beobachten. Man entdeckt zudem neben bewährten Formen des Engagements auch neue Formen z. B. zu friedens- oder umweltpolitischen Themen, zu Fragen der Gerechtigkeit in der einen Welt, man findet freizeitorientierte Gruppen und professionelle Dienste, etwa im Bildungs- oder Beratungskontext. Auch als Gestaltende von Brauchtümern, Feiern und Ferien zeigt man Kompetenz und Einsatz.

Die vormals leicht überschaubare Kirche hatte sich deutlich differenziert. Die Marke Kirche wurde gedehnt und da es unterschiedliche Entwicklungsrichtungen gab, wurde auch das Bild von der Kirche unschärfer. Zeitgleich bröckelt die Basis weg: Die Zahl der Austritte steigt unablässig an, die Zahl der sonntäglichen Gottesdienstbesucher sinkt kontinuierlich – ihr Anteil an den Mitgliedern der katholischen Kirche liegt inzwischen unter 10%.

Inzwischen befindet sich die Kirche fraglos in einer existenziellen Krise. Die Differenzierung ist geblieben, die Positionen sind zunehmend polarisiert, die für Kirche zentralen Formate werden kaum noch genutzt. Die Zahl der Aktiven bricht dramatisch ein. Für die meisten Menschen hat die Kirche keine Relevanz.

Eine Kirche, die sich zur Exklusivmarke für intensive Glaubenserfahrungen bei Hoch-Involvierten entwickelt, schließt andere systematisch aus.

In dieser Situation kommt häufig der Ruf nach Schärfung des Profils, der meist einher geht mit dem Ruf, sich auf das „Eigentliche“ zu konzentrieren – etwa auf Evangelisierung durch Gebet und Anbetung. Eine derartige Schärfung hätte aus marktorientierter Sicht zur Konsequenz, dass man das Produktportfolio – die Anzahl der Formate – deutlich verschlankt. Eine Engführung und eine klare Profilierung hat zudem eine deutliche Fokussierung auf bestimmte Zielgruppen zur Folge. Eine Kirche, die sich zur Exklusivmarke für intensive Glaubenserfahrungen bei Hoch-Involvierten entwickelt, schließt andere systematisch aus. Aus Marketingsicht eine denkbare Variante, allein die Rückkopplung an den Auftrag der Kirche erscheint mit diesem Gedanken schwer verträglich. Aus dem einen Leib, der viele Glieder hat, würde ein Leib mit wenigen, handverlesenen Gliedern exklusiver Ausrichtung.

Eine andere markenpolitische Forderung: die Marke Kirche muss erkennbarer werden. Wo Kirche drin ist, soll auch Kirche draufstehen. Folgt man dieser Maxime, hieße das, die Markenarchitektur so zu konstruieren, dass eine dominante Dachmarke etabliert wird, unter der alle Angebote der Ortskirche – etwa eines Bistums – zu platzieren sind.

Damit ist eine Grundsatzfrage in der Wahl der geeigneten Markenarchitektur berührt: In welchem Verhältnis stehen Dachmarke (Bistum) und Einzelmarke (z.B. Gemeinde, Bildungshaus, Beratungsstelle, Schule etc.) zueinander? Grob lassen sich vier Richtungen unterscheiden, die auf unterschiedlichen Ebenen auch im Mix vorkommen können:

House of Brands
Beim „House of Brands“ führt ein Unternehmen Einzelmarken ohne ein verbindendes Markendach. Das die Marken führende Unternehmen tritt de facto nicht in Erscheinung. Beiersdorf führt z.B. so unterschiedliche Marken wie Nivea, Hansaplast und Tesa. Der Vorteil ist dabei, dass man das jeweilige Angebot klar positionieren kann und es so sehr gut auf die Bedürfnisse der Zielgruppe zuschneiden kann. Nachteilig an dieser Strategie ist, dass für jede Marke eigens Bekanntheit und Image aufzubauen sind (was sehr aufwändig ist) und die verschiedenen Marken nicht voneinander profitieren.

Von „Endorsed Brands“ wird gesprochen, wenn solche eigenständigen Marken zusätzlich von einer anderen – etwa der Unternehmensmarke – gestützt werden. Schwarzkopf ist deutlich sichtbar auf den Produkten der Marken Taft, got2b und Gliss Kur, die je eigene Zielgruppen, Positionierungen und Markenbilder haben.

Den Endorsed Brands ähnlich sind die „Subbrands“, allerdings ist hier die Dachmarke deutlich dominanter. Die Produktmarke übernimmt hier Elemente der übergeordneten Marke in das eigene Markenbild. Beierdorfs Nivea führt z.B. die Subbrands Nivea Sun, Nivea Men.

Beim „Branded House“ (Dachmarkenstrategie) werden alle Angebote eines Unternehmens unter einer Marke geführt – Siemens gilt als ein klassischer Vertreter der Dachmarkenstrategie. Der Vorteil ist, dass das (positive) Image der Marke auf das Produkt übertragen wird. Sie bietet sich an, bei homogenem Leistungsprogramm und homogener Zielgruppe.

Wenn nun heute für das Branded House plädiert wird, um die vielfältigen Angebote der Kirche sichtbarer zu machen, so hat dies im Umkehrschluss Rückwirkung auf die Möglichkeiten, differenziert und zielgruppenorientiert zu agieren.

Es darf bezweifelt werden, dass eine solche Adressatenorientierung, die eine spitze Positionierung bedarf, mit einer dominanten Dachmarkenstrategie zu vereinbaren ist.

Die Kirche ist heute vor allem deshalb in der Krise ist, weil verfasste Religion in der Tradition der Kirchen für den Alltag vieler Menschen nicht mehr relevant ist. Diese Entwicklung ist – angesichts der Ausdifferenzierung der Gesellschaft und den vielen anderen Möglichkeiten zur Lebensgestaltung – im Grundsatz wohl nicht aufzuhalten. Zugleich markiert die Krisenbeschreibung den Schlüssel für den weiteren Weg: Die Kirche steht vor der Herausforderung, die Relevanz für das Leben der Menschen heute wiederzugewinnen. Das geht nicht auf tradierten Pfaden, sondern nur durch Experimente und Innovation. Ausgangspunkt sind die Interessen, Bedürfnisse, Sorgen, Stressthemen und Präferenzen der Menschen. Das heißt in Konsequenz, kirchliches Handeln und auch Formate sind differenziert für verschiedene Milieus bzw. Zielgruppen zu gestalten.

Es darf bezweifelt werden, dass eine solche Adressatenorientierung, die eine spitze Positionierung bedarf, mit einer dominanten Dachmarkenstrategie zu vereinbaren ist.

Anregen mag man sich von der unternehmerischen Praxis. Das Unternehmen Henkel führt im Segment Waschmittel diese Marken:

  • Persil – für strahlende Reinheit
  • Spee – Markenqualität zum kleinen Preis
  • Der weiße Riese – für strahlend saubere und lang anhaltend frische Wäsche
  • Dato – für Gardinen und alles Weiße
  • Sil – der Fleckenentferner
  • Perwoll – Spezialist für das Waschen und die Pflege feiner Textilien
  • Lovables – beste Pflege für Lieblingskleidungsstücke

Vermutlich ist der chemikalisch-stoffliche Unterschied zwischen den unterschiedlichen Marken relativ gering. Zum Beispiel dürften sich Perwoll und Lovables darin kaum bis gar nicht unterscheiden. Der Nutzen liegt in unterschiedlichen psycho-sozialen Funktionen der Marke. Während bei Perwoll eher rational der Schutz der Kleidung im Vordergrund steht, setzt Lovables bei der emotionalen Bindung an die Lieblingskleidungsstücke an. Und so ist jedes Produkt – bei nahezu gleichem funktionalem Nutzen – ein Angebot für bestimmte Präferenzen: Qualität, Preisgünstigkeit, strahlendes Weiß, Spezialistentum für Gardinen, Flecken, Feines, oder Lieblingsstücke.

Der Unterschied liegt also nicht im Kern des Produkts, sondern in der bedürfnisorientierten Ausgestaltung der Grund- und Zusatzmerkmale.

Die Plastizität im Blick auf die Adressat*innen und Lebenswelten bei gleichzeitiger Wahrung der Kernerfahrung, die Fähigkeit zu Tradition durch Innovation hat die Kirche über 2.000 Jahre so erfolgreich und überlebensfähig gemacht.

In der Frage der Markenstrategie für die Kirche geht es also zunächst darum, den tragenden Grund des eigenen Wirkens, den Kern der Hoffnung, zu bestimmen.  Ist diese Verständigung erfolgt, können davon ausgehend verschiedene adressatenorientierte Formen des Kircheseins entwickelt, ermöglicht und unterstützt werden. Diese können sich dann in ihrer Ausrichtung und ihrem Stil deutlich unterscheiden und sich ganz an den Adressat*innen orientieren. Wenn Unternehmen so viel Sensibilität für Kunden bei schnödem Waschmittel aufwenden, dann gelingt das der Kirche sicher auch.

Nebenbei entspricht dies ohnehin der Art und Weise, wie sich die Kirche in der frühen Zeit in unterschiedlichen Kulturen und Erfahrungswelten kontextualisiert und über die Zeiten hinweg immer wieder erneuert hat – die unterschiedlichen Hoheitstitel belegen das: Jesus ist der Christus, der Messias, der Kyrios, der Menschensohn, der Gottesknecht u.v.m.. Und genau dies, die Plastizität im Blick auf die Adressat*innen und Lebenswelten bei gleichzeitiger Wahrung der Kernerfahrung, die Fähigkeit zu Tradition durch Innovation hat die Kirche über 2.000 Jahre so erfolgreich und überlebensfähig gemacht.

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