Was meint Lokale Kirchenentwicklung – ein theologischer Werkstattbericht
Es könnte ein Strukturbegriff sein. Die Überwältigung durch die Strukturdiskussion führt in der Praxis dazu, dass jeder Neuansatz pastorales Denken eingesogen werden kann in diese laufende Diskussion. Dann würde es bei Lokalen Kirchenentwicklungen immer wieder und gerne um die Fragen gehen, wie man mit weniger Priestern jetzt dazu kommen muss, dass auch Laien Beerdigungen halten dürfen und müssen, dass wir jetzt neue lokale Verantwortliche unter Hauptberuflichen und engagierten Getauften suchen. Kein Zweifel: Diese Fragen stellen sich. Und diese Fragen drängen sich in den Vordergrund. Aber sie sind zutiefst ambivalent. Die schnelle Lösung der Fragen ist möglich auch als „Pflaster“ und pastoralpraktischer Bypass für Mangelsituationen. Dann ginge es also darum, angesichts veränderter Situationen das Gewachsene noch etwas länger zu erhalten, jetzt eben mit der Unterstützung der Getauften Engagierten, die man dazu auch heranbilden könnte. Das ist ein überlastendes Notprogramm. Und genau das ist mit der Rede von Lokaler Kirchenentwicklung nicht gemeint.
Dabei ist eines ganz klar: Ausgangspunkt ist eine Notsituation, die voranschreitet. Es wäre unglaubwürdig und naiv, dies nicht zu sehen. Das Gefüge gemeindekirchlicher Praxis ist an ein Ende gekommen: Je größer Pfarreien und Seelsorgeeinheiten werden, desto deutlicher wird auch, dass die Frage nach dem Vollzug des Christseins, die Formen der Kirchlichkeit, und auch die Frage nach den Ämtern und Diensten ganz neu gestellt und konfiguriert werden müssen. Hier genau setzt Lokale Kirchenentwicklung an.
Mehr als Strukturen
Lokale Kirchenentwicklung steht aber nicht gegen eine Strukturentwicklung. Nein, ganz im Gegenteil. Aber sie sieht die Entwicklung von Strukturen und Verantwortlichkeit, von neuen Sozialformen und der Konfiguration der Dienste einschließlich des priesterlichen Dienstes, als „emergenten“ Prozess, der gründet in einem Weg der Bewusstwerdung des Volkes Gottes. Auch wenn es eine gefühlte Notsituation ist, die das Struktur- und Lebensgefüge bisheriger katholischer Gemeindekirchlichkeit in Frage stellt und in einen Transformations- und Verwandlungsprozess führt, wird doch gerade in dieser Situation deutlich, dass diese Krise auch als Kairòs gelesen werden kann: als Offenbarwerden einer Perspektive der Zukunft, die Gott seinem Volk eröffnet. Dann wäre und ist Lokale Kirchenentwicklung vor allem ein geistvoller Antwortversuch, der damit rechnet, dass es auch heute Gottes Weg und seine Perspektiven sind, die uns auf neue Wege begleiten.
Dann können auch Strukturveränderungen und Strukturentwicklungen, neue Dienste und Ämter „mehr als Strukturen“ sein, weil sie verweisen auf einen komplexen Erneuerungsprozess der „ecclesia semper reformanda“, der getragen ist durch eine aufmerksame Lektüre der Zeichen der Zeit und ihnen entsprechenden Antwortversuchen. Auch Strukturen hätten dann ein spezifisches „Mehr“, weil sie Ausdrucksform einer Entwicklung sind, die Christwerden und Kirchewerden in einer neuen Weise versteht. Denn es geht bei Lokaler Kirchenentwicklung zunächst und vor allem um eine vielfache Conversion des Verstehens kirchlicher Entwicklungsprozesse.
„Proximité“
Wer „lokal“ hört, der kann leicht annehmen, dass es hier „nur“ um ein neues Wort für „Gemeinde vor Ort“ geht. Doch das wäre kurzschlüssig. Es geht hier um eine weiterreichende theologische Ortsbeschreibung. Sie gründet in der Ausrichtung der Botschaft Jesu selbst: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe – Kehrt um, und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15). Lokale Kirchenentwicklung legt damit einen Schwerpunkt auf die innere Qualität gelebter Beziehungs- und Sozialräume. Im Hintergrund steht dabei der französische Begriff der „proximité“: Er knüpft zum einen an die Botschaft vom Reich Gottes an. Nähe ist eben nicht zuerst ein geographischer Begriff, sondern qualifiziert den Ort als Ort des Ankommens Gottes und seines Reiches. Eine Lokale Kirchenentwicklung setzt hier an. Die Menschen an einen bestimmten Ort, in einem bestimmten Lebenskontext sind gerufen, Gottes ankommende Gegenwart und sein Heil in dieser Welt zu bezeugen.
Damit geht es um mehr als um den Erhalt örtlicher Gemeinden – eigentlich geht es um einen Neugründungsprozess oder sogar um einen Werdeprozess. Er setzt nicht bei gegebenen Strukturen an, sondern bei den Christen, ihrer Berufung, Gemeinschaft und Sendung. Und dass dies „örtlich“ und lokal geschehen will, ergibt sich aus der Botschaft von der „Nähe“ des Reiches Gottes. Lokale Kirchenentwicklung meint also zunächst jenen Weg, der die Christen vor Ort entdecken und bewusst werden lässt, dass sie das Reich Gottes und seine Nähe bezeugen und leben können, und so Kirche sind als Zeichen und Werkzeug am gegebenen Ort.
„Wir“
Lokale Kirchenentwicklung weist damit auf ein Selbstverständnis des Kircheseins hin, dass alles andere als selbstverständlich ist. Die aktuelle Diskussion und auch die Tagesrede von der Kirche reduzieren Kirche auf ihre institutionelle und amtliche Dimensionen: Die Kirche ist dann „außerhalb“ von den Gläubigen, den Menschen. Lokale Kirchenentwicklung will hingegen einladen und hineinführen in ein umfassendes Verstehen des Kircheseins. Kirche und Kirchenentwicklung sind nicht zuerst Strukturentwicklung, sondern vor allem eine Entfaltung des Bewusstseins, „dass wir alle Kirche sind“ (Benedikt XVI in Freiburg). Die Strukturen und auch der sakramental-hierarchische Dienst des Priesters stehen im Dienst am Werden und Wachsen des Leibes Christi, der die Kirche ist. Welche Entwicklungsprozesse braucht es also, damit alle Getauften ihre Würde, ihre Gabe und ihre Sendung für den Aufbau des Kircheseins entdecken? Danach fragt Lokale Kirchenentwicklung.
Wandlung begrüßen
Wer von Entwicklungsprozessen spricht, übersieht zumeist, dass solche Prozesse nicht einfach harmonische Fortschreibungsprozesse beinhalten. Es geht nicht um Weiterentwicklungen im Sinne einer Erhaltungslogik der Institutionen. Schon die genannten Stichwörter verweisen auf einen tiefgreifenden Mentalitätswandel, der ansteht, und der gewiß nicht schnell abläuft. Entwicklungswege der Kirche verlaufen nicht nach einem revisionären Muster, aber sie folgen auch nicht einer graduellen Entwicklungslogik. Vielmehr gründet Lokale Kirchenentwicklung in einer Einsicht in die Dramatik einer Kirchenentwicklung, die Maß nimmt am österlichen Geheimnis. Ja, Kirchenentwicklung ist ein Prozess, der Sterben und Tod miteinbezieht, aber dieses Sterben eben zulassen kann, weil es um die Wachstumslogik des Weizenkorns weiß. Kirche ist ja kein Unternehmen, das sich selbst durch Missmanagement abschaffen könnte, sondern ist der Weg, den Gott mit seinem Volk durch die Zeit geht. Dabei gehört die Vorläufigkeit von Sozialformen und Wegen der Glaubensverkündigung nicht zum Mangel, sondern zur eschatologischen Weggestalt.
Lokale Kirchenentwicklung meint also einen Weg, der im Schauen auf Gottes Weg mit seinem Volk einen Entdeckungsprozess ermöglicht: Wohin werden wir hier, an dem Ort, an dem wir leben, uns engagieren, als Volk Gottes geführt und wie gestaltet sich unser Leben als Kirche. Es geht deutlich um einen geistlichen Prozess, einen Prozess des Wachsens im eigenen Christwerden und Kirchesein, in dem Christen ihre Sendung entdecken. Erst dann muss es um die Frage gehen, welche Strukturen wie gestaltet werden sollten, um die Entwicklung dieses Prozesses zu fördern.
1. Grundwerte Lokaler Kirchenentwicklung: Eine faszinierende weltkirchliche Lernerfahrung
Die Wurzeln einer Kultur des Kircheseins, wie sie in den Leitbegriffen Lokaler Kirchenentwicklung skizziert sind, liegen in Erfahrungen einer umfassenden weltkirchlichen Lerngemeinschaft. Und es ist nicht unwesentlich, dass diese Erfahrungen eine ungeheure Faszination ausstrahlen. Sie ergreifen von innen, sie bringen neue Bilder und Visionen hervor, und sind doch zugleich „kleine“ Erfahrungen: Erfahrungen im Volk Gottes, die etwas sehr fragiles und verwundbares in sich tragen. Und natürlich sind sie nicht einfach übertragbar: Weltkirchliches Lernen lehrt keine Rezepte und Modelle, sondern „Zugänge“ und „Werte“, die jeweils neu in die Kultur der Gegenwart einzutragen sind – zu inkulturieren sind… Weil dies kein leichter und schnellgängiger „Umsetzungsprozess“ ist, braucht es eine innere Faszination. Denn sie bringt Leidenschaft hervor, die als Kraftquelle für lange und geduldige Wege des Wachsens notwendig sind.
Den Auferstandenen erfahren
Diese Faszination nimmt ihren Ausgang von einer interessanten und weltkirchlich konsonanten Erfahrung: Die Aufbruchs- und Erneuerungsprozesse haben in der Regel ein echtes spirituelles Markenzeichen. Schon die Erfahrung der lateinamerikanischen kirchlichen Basisgemeinden, dann aber auch die Small Christian Comunities in verschiedenen Teilen des afrikanischen und asiatischen Kontinents leben aus der Erfahrung einer tiefen Spiritualität des gemeinschaftlichen Umgangs mit dem Wort Gottes.
Kennengelernt habe ich diesen Zugang durch das „Gospelsharing“. Und je länger je mehr – und vor allem durch die Hilfe von Protagonisten wie dem verstorbenen Bischof Oswald Hirmer – ich in diese Mystik des Volkes hineingeführt wurde, desto mehr verstand ich neu die ekklesiogenetische Kraft des Wortes Gottes. „Gospelsharing“ entpuppte sich als die Ermöglichung eines Geschehens, in dem Christus durch das Wort Menschen ansprechen, verwandeln, zusammenführen kann – und die eigentliche Mitte ihrer Gemeinschaft bleibt: Ziel ist es, dass die im Wort Versammelten sich senden lassen in das Leben der Menschen und die heilende Christusgegenwart und der Anbruch seines Reiches erfahrbar werden. Entscheidend war hier also – in unterschiedlichen Formaten und Methoden, dass Christen durch eine lebendige Christusbegegnung erneuert und gesandt werden.
Das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen verwirklichen
Wo auch immer, mitten in Südafrika, mitten in Indien oder in den weiten Landschaften des Poitou in Westfrankreich: Dieser Umgang mit der Schrift ermöglicht eine Spiritualität des Volkes Gottes, eine neue Weise der Volksfrömmigkeit – eine Mystik des Volkes Gottes, das sich als Kirche weiß. Damit aber wird erfahrbar und erlebbar, was das Konzil im gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen neu entdeckte: die Potentialität und Reichweite der gemeinsamen Taufe, die ja in der Antwort auf das Wort Gottes besteht. Sie fügt ein in den Leib Christi, sie führt zur Entdeckung der Gaben und Charismen und Dienste in diesem Leib.
Wer erlebt, wie Menschen in allen Teilen der Welt durch das Wort Gottes in eine gemeinsame Wachstumsdynamik geraten, ihre Würde und ihre Gaben entdecken, der bleibt fasziniert. Ich erinnere mich an den Besuch einer basiskirchlichen Gemeinschaft im Herzen Indiens: einfache Männer und Frauen mit ihren Kindern. Wir lasen in der Schrift – und am Ende fragte unser Begleiter: „Wie wirkt sich euer Leben hier im Dorf aus?“ Und dann erzählten sie: von dem See, den sie gemeinsam mit den Hindus im Dorf neu zum fischbaren Gewässer verwandelt haben, von der Straße, die sie für Lastwagen verbreitert haben – und von den Kranken, die niemand besuchen wollte, weil sie so stanken – und die sie als Christen regelmäßig besuchten.
Was hier so klein und fragil, kaum bemerkenswert erscheint, ist dennoch genau das Zeugnis für eine Theologie des gemeinsamen Priestertums. Es könnte fortgeschrieben werden, wo in einer kleinen Gemeinde in Südafrika fast jeder einen Dienst übernimmt, oder wo – wie in Poitiers – Equipes gebildet werden, in denen sich die gemeinsame Verantwortung der Gemeinschaft spiegelt.
Eine Kultur des Vertrauens
Mit den Worten des ehemaligen Erzbischofs von Poitiers lässt sich knapp ausdrücken, welche Herausforderungen sich mit einer solchen Perspektive ergeben: „Entscheidend ist für mich das Vertrauen in den Geist Gottes. In der Firmung empfangen die Firmanden von mir den Heiligen Geist. Sollte ich dem nicht trauen?“ Was bedeutet eine solche Aussage für kirchliche Entwicklungsprozesse? Bischof Norbert Trelle, der im Bistum Hildesheim den Pastoralansatz Lokaler Kirchenentwicklung eingeleitet hat, schreibt in seinem Hirtenbrief:
„Wie geht es weiter? Schnell können unsere Überlegungen wieder dazu verführen, ehrgeizige Pläne, Konzepte und Programme zu entwerfen. Aber nicht wir gestalten die Kirche; der Geist Gottes gestaltet die Kirche – in uns und durch uns. Auf ihn zu hören und ihm zu vertrauen, ist entscheidend für das zukünftige kirchliche Leben. Hinzu kommt: Gott zu vertrauen ist die Grundlage dafür, auch einander vertrauen zu können. Dieses Vertrauen möchte ich ihnen meinerseits ausdrücklich zusichern, wenn Sie an ihrem Ort die Prozesse Lokaler Kirchenentwicklung beginnen. Zugleich bitte ich Sie um ihr Vertrauen für mich und für diejenigen, die mit mir zusammen für das Bistum Verantwortung tragen. Wenn ich an bestimmten Stellen Vorgaben für die Prozesse Lokaler Kirchenentwicklung machen werde, dann tue ich dies, um nach dem Maßstab des Evangeliums Orientierung zu geben. Wir werden lernen müssen, das Vertrauen zueinander zu intensivieren. Wo eine einhellige Sichtweise nicht sofort gefunden werden kann, werden wir noch besser als bisher aufeinander hören müssen. Ich bin zuversichtlich, dass dies gelingen kann. Denn gemeinsam leitet uns die Frage: Welchen Weg führt uns Gott in die Zukunft?“
Die Entwicklung einer Kultur des Vertrauens gehört zu den Grundelementen Lokaler Kirchenentwicklung. Denn dort, wo die Kraft der Taufe und des gemeinsamen Priestertums ins Spiel gebracht werden will, und wo die Charismen und Gaben dem Aufbau des Leibes Christi dienen sollen, dort wo Kirche vor Ort in verschiedenen Gestalten wächst, braucht es das Vertrauen in den Geist Gottes. Diese Kultur des Vertrauens zu entwickeln, darauf kommt es an.
Den sakramentalen Leitungsdienst neu konfigurieren
Lokale Kirchenentwicklung steht nicht im Kontrast zur Theologie und Praxis des priesterlichen Amtes, ganz im Gegenteil. Es gehört zu den wesentlichen Merkmalen einer Lokalen Kirchenentwicklung, dass ein solcher Prozess seinen Anfangsimpuls und seine Kraft erhält durch eine pastorale Option des Bistums, oder doch wenigstens durch den Pfarrer und sein pastorales Team.
Beispielhaft dafür kann die Entwicklung der lateinamerikanischen Basisgemeinschaften gelten, wie auch parallele Prozess in Asien: Es waren und sind Bischöfe und ihr Presbyterium, die gemeinsam eine Pastoral der örtlichen Gemeinden und der Basisgemeinschaften entwickelt und gefördert haben und fördern. Denn gerade die Begründung neuer Ort des kirchlichen Lebens und die Weiterentwicklung von bestehenden Gemeinden zu selbstverantwortlichen Gemeinden setzt voraus, dass der Dienst der sakramentalen Leitung neu verstanden wird: als Dienst der Ermöglichung, als Dienst an der gemeinsamen Bewusstwerdung und an der gemeinsamen Verantwortung des Kircheseins, als Dienst an der Entdeckung der Charismen und Dienste. Gerade die sakramentale Dimension des Dienstes der Leitung, Verkündigung und Heiligung gewinnt hier eine neue Perspektive: Es geht um die Ermöglichung und Befähigung des Lebens der Getauften, ihre Begleitung und Förderung und vor allem darum, dass die Dimension des Kircheseins leben kann aus der Begegnung mit dem Auferstandenen. Das sakramentale Amt findet so seinen neuen Ort als dienende Ermöglichungsgestalt des Wachstums des Volkes Gottes.
Maximum Participation
Partizipation ist zweifellos ein Grundwort der Theologie und der Praxis des II. Vatikanums. Diese tiefgründende Theologie der Partizipation kann man praktisch erfahren in den vielfachen Bemühungen des Aufbruchs, den wir erleben konnten in der asiatischen Kirche. Die Pointe der visionären Perspektive einer Kirche als Gemeinschaft von Gemeinschaften formulierte 1990 die asiatische Bischofskonferenz in Bandung so:
„Die Kirche wird eine Gemeinschaft von Gemeinschaften sein, wo Klerus, Laien und Ordensleute einander als Brüder und Schwestern anerkennen. Sie sind gemeinsam versammelt und vereinigt um das Wort Gottes. Dabei teilen sie miteinander die frohe Botschaft und entdecken Gottes Wille für sich in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld. Sie unterstützen sich gegenseitig in ihrem täglichen Leben. Es ist eine partizipierende Kirche, wo die Gaben und Charismen erkannt und aktiviert werden, um den Leib Christi aufzubauen, die Kirche in der Nachbarschaft.“
Hier ist Partizipation ein wesentlicher Akzent: Es geht nicht nur darum, dass Verantwortliche der Kirche den Gläubigen eine Möglichkeit der Mitbeteiligung geben – es ist grundlegender: Es geht darum, dass von Anfang an ermöglicht wird, dass die Menschen am gegebenen Ort gemeinsam ihre Vision entdecken und entwickeln. Dieses Geschehen zu ordnen und zu ermöglichen, darin besteht der Dienst des pastoralen Teams und besonders des verantwortlichen Pfarrers.
Damit wird sofort klar, dass es bei einer Lokalen Kirchenentwicklung eben nicht um die vorschnelle Gründung und Bildung von örtlichen Gemeinden oder Kleinen Christlichen Gemeinschaften geht. Es geht vielmehr um einen Entwicklungsprozess des Volkes Gottes, der Schritt für Schritt den Weg zu einer selbstverantwortlichen Kirchlichkeit bahnt. Dass am Ende eines solchen Prozesses, über dessen Authentizität zu wachen Aufgabe des Amtes ist, örtliche Gemeinschaften und neue Formen des Kircheseins stehen werden, das belegen die weltkirchlichen Entwicklungen eindrücklich. Sie belegen allerdings auch, dass dort, wo diese Partizipation nicht so weit wie möglich viele Christen miteinbezieht, man doch bei einem pastoralen Positivismus stehen bleibt: Natürlich kann man Formen des Umgangs mit der Schrift einführen und vorschreiben, natürlich kann man Kleine Christlichen Gemeinschaft schnell gründen – aber immer wieder zeigt sich eben dann, dass die innere Kraft dieser Perspektive nicht rezipiert wird.
Lokale Kirchenentwicklung, gerade auch im Blick auf lokale und sendungsorientierte Sozialformen, wird nur gelingen in einem Prozess, der die Verantwortung aller Beteiligten von Anfang an fördert und ins Spiel bringt. Im Hintergrund steht die Erzählung aus der Frühzeit des Christentums: In Apostelgeschichte 6, 1-7 wird deutlich, wie die Apostel die Lösung konkreter Fragen, wie hier der Versorgung hellenistischer Witwen, die Lösung des Problems durch alle Beteiligten ermöglichen. Ein solcher Weg führt zu einer hohen Identifikation und einer hohen Verantwortung für das Ganze der kirchlichen Entwicklung, wie sie in Prozessen Lokaler Kirchenentwicklung angezielt ist.
Inkulturation und Sozialraumorientierung
Zu den eindrücklichsten Erfahrungen des weltkirchlichen Lernprozesses, in dem wir uns seit etwa 7 Jahren aufgemacht haben, gehört der Besuch bei einer Mangyanen Mission im Urwald der Insel Mindoro (Philippinen). Während wir fasziniert dem deutschen Missionar Ewald Dinter zuhören, wie er in einem langen Prozess die Beziehung zu dem Ureinwohnern fand und ihnen das Evangelium anbieten konnte, wird noch einmal ganz deutlich, warum und wie eine lokale Kirchenentwicklung in unseren Breitengraden geschehen wird (oder eben auch nicht). Es wird daran hängen, ob das Evangelium wirklich Eingang findet in die Kultur unserer Zeit und ob eine Pastoral des Volkes Gottes wachsen kann, die von der Kultur unserer Zeit lernt, wie schon Klaus Hemmerle grundlegend – mit Blick auf die Jugendpastoral – formulierte: „Lass mich dich lernen, dein Denken und Sprechen, dein Fühlen und Handeln, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir auszurichten habe“.
Was in Gaudium et Spes im Blick auf die Zeitgenossenschaft des Volkes Gottes mit der Freude und Hoffnung, mit Trauer und Angst besonders der Armen und Bedrängten jedweder Art gesagt wird (GS 1), was im Blick auf die Deutung der Zeichen der Zeit zu einer Aufmerksamkeit für die Menschen und die Deutung ihrer Hoffnungen und Wünsche führt (GS 11), spitzt Gaudium et spes 44 noch weiter zu: Es geht darum das Evangelium neu zu lernen und so zu verkünden aus der empfangenen und gedeuteten Lebenswirklichkeit der Menschen, mit denen wir leben.
Für eine Theologie Lokaler Kirchenentwicklung bedeutet das: Das Kennenlernen und Mitleben mit den Menschen in den jeweiligen Lebensbezügen, das dienende Wahrnehmen der Herausforderungen und Nöte in einem Sozialraum und die Bereitschaft, mit den Menschen zusammen das Evangelium neu zu entdecken – das ist die konkrete pastorale Praxis, die eine innere Erneuerung des Glaubens und des Kircheseins ermöglicht.
2. Das Risiko der Schnittblumenpastoral
So faszinierend diese Entdeckungen waren, so kurzschlüssig war häufig die Rezeption. Sie funktionierte nach dem Prinzip einer Schnittblumenpastoral: Die reife Frucht, die schöne Blüte der langdauernden Pastoralprozesse anderer Kontinente sollte einfach übernommen werden – der Prozess des Wachstums wurde nicht reflektiert. So wurden zum Beispiel kirchliche Basisgemeinden, die in Lateinamerika Ergebnis eines bischöflich initiierten Pastoralprozesses waren, in Europa eingebracht in die Dialektik eines Machtkampfes zwischen „oben“ und „unten“.
In ähnlicher Weise und doch ganz anders kann die Rezeptionsgeschichte der Kleinen Christlichen Gemeinschaften und des Bibelteilens gedeutet werden. Denn diese „pastoralen Südfrüchte“ (Spielberg) aus Asien und Afrika wurden als faszinierende Entdeckungen eingeführt in eine Situation der spirituellen Erschöpfung und einer sich andeutenden Krise der Weitergabe des Glaubens. Entsprechend wurde vor allem ein doppelter Rezeptionsaspekt wahrgenommen: Angesichts fehlender Gemeinschaftserfahrungen schienen kleine Gruppen attraktive Orte christlicher Beheimatung zu sein, und so entstanden schnell „KCG“, die aber eher als eine Art „Selbsthilfegruppen im Glauben“ (Wanke) fungierten. Was hier bei der Rezeption nicht gesehen wurde, war der kirchenbildende und kirchenentwickelnde Ansatz, der hinter der Gestaltung örtlicher Gemeinden stand: Die Verantwortung des gemeinsamen Priestertums, die Verantwortung für das kirchliche Leben im Umkreis der Kleinen Christlichen Gemeinschaften, die Verantwortung für die Dienste – all dies blieb zunächst unbeachtet, und führte dazu, dass Kleine Christliche Gemeinschaften als spirituelle Kleingruppen keine Zukunftsvision für die Kirche von morgen zu sein schienen: Sie bleiben „strukturelle Randsiedler und spirituelle Herzschrittmacher“ (Kehl), und wiesen eine für den deutschen Katholizismus suspekte Nähe zu kirchlichen Bewegungen auf, die sich ja in der Tat als ein Netzwerk vieler kleiner Gruppen darstellen.
Auch das Bibelteilen, das von Missio schon zu Ende der 80er Jahre in die deutsche Pastoral eingebracht wurde, wurde zunächst verkürzt rezipiert: Ob nun als Methode der Bibelarbeit das Bibelteilen lange Zeit als simplizistisch beurteilt wurde, oder ob man die konstitutive Sendungsdimension des Bibelteilens außer Acht ließ, oder ob die konstitutive Beziehungsraumorientierung die Bibelteilengruppen zu Gruppen spirituell Suchender machte, immer wurde übersehen, dass die Bildung örtlicher Gemeinden Ergebnis eines visionären und partizipativen Prozesses unter der Beteiligung möglichst vieler Menschen vor Ort sein musste.
In der Tat sprach die Rezeption von den Nöten und Herausforderungen einer Kirche vor dem Umbruch: Spirituelle Sehnsucht und der Wunsch nach Beheimatung stehen bei diesen Rezeptionsbemühungen Pate, verdecken aber die Potentialität und die Grundwerte eines Ansatzes der Kirchenentwicklung, wie sie in den Ortskirchen Afrikas und Asiens vorangebracht wurde.
Denn in der Tat stehen hinter den Erfahrungen Kleiner Christlicher Gemeinschaften und ihrer spirituellen Verwurzelung in der Schrift pastorale Grundoptionen der jeweiligen Ortskirchen. Und diese pastoralen Grundoptionen führten zu Entwicklungsprozessen, bei denen ein Hauptakzent auf der bewußtseinsbildenden Arbeit mit den Priestern und Hauptberuflichen, und dann auf einer Schulung der Getauften lag.
Exemplarisch dafür, wie Rezeptionsprozesse diese Dimension des pastoralen Prozesses ausblendeten, kann die Weise gelten, wie die Praxis der Verantwortung in örtlichen Gemeinden in Bistum Poitiers zunächst im deutschen Sprachraum rezipiert wurde. Interessant schien die dortige Lösung der Frage zu sein, wie Teams von Verantwortlichen örtliche Gemeinden leiten und dazu beauftragt werden. Ein schneller Übertrag auf die Situation größerer pastoraler Räume führte dann zu ambivalenten Beobachtungen: Auf der einen Seite werden die eingesetzten Verantwortlichenteams oft als Ersatzpfarrer gesehen – auf der anderen Seite entstand der Verdacht, dass mit der Einrichtung der örtlichen Verantwortlichen der sakramentale Dienst des Priesters und seine Leitungsaufgabe in Frage gestellt wird. Das geschah überall da, wo der Weg des Bistums Poitiers auf der Folie ähnlicher Entwicklungen im Kontext des CIC 517,2 gelesen wurde.
Nun ist gerade die Rede von den Leitungsteams nicht zu trennen von einer intensiven und sehr partizipativen theologischen Vergewisserung auf die eigenen Wurzeln (in der Vätertheologie und besonders bei Hilarius von Poitiers) und einem mehr als 10 Jahre dauernden Prozess der Bewusstseinsbildung und einer zielorientierten pastoralen Entwicklung, die auf die Konstitution einer Kirche der Nähe zielt.
So zeigt sich auch hier: Eine Übernahme der strukturellen Ergebnisse (Verantwortlichenteams, örtliche Gemeinden, die Pfarrei als Ermöglichungsraum) ohne den inneren geistlichen und geistigen Prozess, den die Kirche im Poitou gegangen ist, riskiert eine hohe Missdeutbarkeit: Die Rezeption der Strukturen ohne den geistlichen Erneuerungsweg führt nur zu einer Fortschreibung bisheriger Strukturen; man unterschreitet das theologische Niveau zugunsten eines pragmatischen Rettungsversuchs.
3. Kritische Anfragen an die Pastoral im deutschsprachigen Raum
Dort aber, wo die weltkirchliche Lernerfahrung zu einer Einsicht in das sich abzeichnende Paradigma einer partizipativen Kultur des Kircheseins führt, stellt die Vision einer Kirche als Gemeinschaft von Gemeinschaften, wie es die asiatische Bischofskonferenz formulierte, auch selbstverständlich gewordene und soziologisch geprägte Kategorien der postmodernen Kirchenpraxis in Frage. Insofern ergehen gerade durch das Paradigma einer Lokalen Kirchenentwicklung kritische Fragen.
Was ist Gemeinschaft?
Eine erste Frage stellt sich im Horizont des Communioverständnisses. Gerade die Erfahrung örtlicher Gemeinden wie auch der kirchlichen Basisgemeinschaften in Asien, Afrika und Lateinamerika lässt erkennen, dass die europäische Kirchenerfahrung zwischen programmatischem kirchlichem Individualismus einerseits und intensiven Gruppenerlebnissen andererseits changiert. Wir haben uns in unserer hiesigen Kirche an Denkmuster gewöhnt, die tendenziell von einem gemeinschaftsfreien Individualismus ausgeht. Die Rede von „Kasualienfrommen“, treuen Kirchenfernen und entsprechenden kirchlichen Dienstleistern beschreibt zwar soziologisch richtig Zugangswege zur kirchlichen Institution, übersieht aber die zugrunde liegende Taufwürde und die Zugehörigkeit zum Leib Christi. Das innere Bedürfnis nach Zugehörigkeit, das der theologischen Rede vom Leib Christi ekklesiopraktisch entspricht, wird entweder beantwortet durch Verweis auf zentrale Pfarrstrukturen oder auf die Notwendigkeit enger vertrauter Gruppen. Auch der Verweis auf die einheitsstiftende Mitte der Eucharistie ist zwar richtig, aber will ja auch existenziell erfahren werden.
Mit anderen Worten: Die weltkirchliche Erfahrung der örtlichen Gemeinden und kirchlichen Basisgemeinden stellt die Frage nach Beheimatung und Zugehörigkeit in neuer Weise jenseits abgrenzender Individualisierung und vereinnahmender Enge.
Vision und Prozess?
Das Paradigma einer lokalen Kirchenentwicklung stellt auch eine Frage an die Art und Weise, wie Pastorale Entwicklungen entfaltet und begleitet werden. Weltkirchlich ist beeindruckend, mit welcher Leidenschaft und Geduld Ortskirchen pastorale Prozesse über mehr als ein Jahrzehnt begleiten. Die entdeckte Vision führt zu einer strategischen Prozessplanung, zu Bewusstseins- und Schulungsprozessen, die sehr zielgerichtet und mit hohen Einsatz der wenigen Ressourcen durchgeführt werden.
Das unterscheidet sich von einer gewissen Zögerlichkeit deutschsprachiger Pastoral im Blick auf das Ziel pastoraler Bemühung: Es fehlen offensichtlich häufig teilbare Erfahrungen möglicher Zukunft, es fehlen Visionen, die mit anderen geteilt werden können – und damit fehlt eine echte Schwerpunktsetzung. Das wird sichtbar in der Vielfalt der Fortbildungsmöglichkeiten, die nicht den Eindruck erwecken, als zielten sie auf ein gemeinsam zu erreichendes Ziel. Es wirkt eher wie ein bunter Laden postkonziliarer Pastoralpraxis – der rote Faden fehlt.
Auf diesem Hintergrund wird auch deutlich, warum die pastoralen Grundlagenpapiere deutscher Diözesen oft merkwürdig kurzatmig wirken. Es scheint so, als sei die Erstellung von Zukunftsoptionen zwar ein Prozess, aber sobald dann diese Optionen veröffentlicht werden, macht sich das Fehlen einer prozesshaften Strategie der Aneignung negativ bemerkbar: So hat sich eine pastorale Kultur entwickelt, die nicht mehr mit der Kontinuität einer Idee rechnet. Wenn dann die Umsetzung einer pastoralen Option ins Belieben gestellt ist, weil es Prozesse der Relecture und der pastoralen Evaluation nicht gibt, dann bedeutet das doch, dass sich diese Optionen selbst nicht ernst genug nehmen. Es braucht aber die Geduld und Beharrlichkeit, gerade im Blick auf den anstehenden Kulturwandel des Christwerden und Kircheseins, über einen längeren Zeitraum pastorale Begleitung im Blick auf eine Visionsentwicklung zu gewähren.
Was im Blick auf pastorale Strukturen ja genau so geschieht, ist im Blick auf die pastorale Erneuerung bisher nicht gelungen.
Geteilte Vision?
In den Prozessen Lokaler Kirchenentwicklung, die man weltkirchlich beobachten kann, zielt genau diese Bemühung um eine Prozessarchitektur über einen längeren Zeitraum auf eine möglichst breit geteilte Visionsentwicklung. Die Achtsamkeit darauf, dass Christen selbst entdecken und sich zu eigen machen können, was und wie sie in Zukunft Kirchesein können, das ist in unserem Kontext nicht sehr weit entwickelt. Solche Prozesse wecken in unserem Kulturkreis auf dem Hintergrund einer erfahrenen Struktur- und Machtfixierung eher Ängste.
Sind sie begründet? Ich habe den Eindruck, dass gerade dann, wenn es nicht um Strukturentwicklungen, sondern um einen geistlich-geistigen Erneuerungsprozess geht, viele Christen auf das Signal einer größeren Beteiligung warten. Dort, wo wir solche Prozesse gemeinsamer Visionsentwicklung ermöglichen, wächst die Freude des Volkes Gottes an einem gemeinsamen Weg. Denn es gilt ja auch in unserer Kultur: „A vision cannot be taught, it has to be caught“: Visionen müssen innerlich ergriffen werden – was zweifellos längere Wachstumsprozesse beinhaltet – aber dann auch einen gemeinsamen Weg ermöglichen und wahr wird, „dass wir alle Kirche sind“ (Benedikt XVI).
Jenseits der gewohnten Rollenbeschreibungen
Lokale Kirchenentwicklung beschreibt einen Prozess im Volk Gottes, der das gewohnte Rollengefüge neu konfiguriert. Es stellt zunächst die Rede von der Ehrenamtlichkeit in Frage. Dort nämlich, wo Kirche nicht von ihrer Amtlichkeit und ihrer Institutionalität her konstruiert wird, sondern von der lebendigen Wirklichkeit des Leibes Christi, in der alle Glieder ihre Gaben einbringen, und in dessen Dienst sakramentales Amt und Struktur stehen, löst sich die Kategorie der Ehrenamtlichkeit auf. Ausgangspunkt ist dann eben das gemeinsame Kirchesein aller Getauften und die Frage, wie jeder und jede seine Berufung und Verantwortlichkeit für Gemeinschaft und Sendung einbringen kann. Dass hier Menschen in ganz unterschiedlicher Weise ihren Beitrag einbringen, führt dann nicht zu einer Einordnung in Quasihierarchien von Dienstamt, Hauptberuflichkeit und Ehrenamtlichkeit sowie den Konsumenten kirchlicher Dienstleistungen, sondern zur Frage, wie und auf welche Weise jede und jeder seinen Dienst im Gefüge des Leibes Christi geben kann und darin wächst.
So wird in Prozessen lokaler Kirchenentwicklung natürlich auch der Dienst des Priesters und der Hauptberuflichen in ein neues Licht geraten. Denn wie dieser Dienst ausgeübt wird, hängt dann ganz entscheidend davon ab, welches innere Bild des Kircheseins und der kirchlichen Entwicklung in ihnen ist. Das gemeinsame Bewusstwerden möglicher Entwicklungsschritte des Kircheseins und der eigenen Reflexion über den konkreten Dienst in diesem Horizont – das gehört zu den wichtigen Anfragen, die die weltkirchlichen Prozesse einer partizipativen Pastoralentwicklung stellen.
Denn in der Tat gelingen und scheitern Prozesse Lokaler Kirchenentwicklung weltweit mit der Frage, ob und in welcher Weise der Bischof und sein Presbyterium gemeinsam mit den anderen pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sich gemeinsam auf ein Kirchenbild und eine Kirchenerfahrung einlassen können, die von den Werten und Grundhaltungen, die hier benannt worden sind, geprägt sind.
Die kritische Anfrage besteht dann darin, ob Bischöfe und Verantwortliche in den Diözesen diesen gemeinsamen Vergewisserungen mit ihren Priestern und den andere pastoralen Berufsgruppen genügend Aufmerksamkeit und Energie schenken.
4. Die Umkehr zu einer Lokalen Kirchenentwicklung – Schritte auf einem langen Weg
Im Bistum Hildesheim haben wir uns in den vergangenen Jahren auf diesen Weg gemacht. Zweifellos, es ist ein Weg, der sich Schritt für Schritt weiter öffnet. Er begann mit einem ersten Schritt der Umkehr.
Sehen lernen, was wächst
Die Grundannahme, dass kirchliche Entwicklung nicht ein administrativ gestaltbarer Prozess, sondern vor allem ein Weg ist, den Gott mit seinem Volk geht, ein Weg, auf dem Er neues wachsen lässt, führte uns dazu, alle Dechanten und ihre Teams zu besuchen. Die Ankündigung des Besuches löste Fragen aus, und als wir ankamen, war in der Regel die Überraschung groß, als deutlich wurde, dass wir lernen und verstehen wollten, wie die Kirche sich in den verschiedenen Regionen entwickelt: Was in ihr stirbt und was in ihr wächst. Ja, wir begannen einen Weg, auf dem wir hören wollten, was „der Geist den Gemeinden sagt“.
Zugleich kündigten wir einen nächsten Besuch an, um die Prozesshaftigkeit unseres Vorgehens deutlich zu machen: Gemeinsam mit den Dekanatsteams konnten wir intensiver die Entdeckungen und Erfahrungen teilen, die sich auf dem Horizont dieser Besuche für das ganze Bistum zeigen, und sie einzuordnen in die Gesamtentwicklung unserer Kirche.
Diese Besuche brachten eine ungewohnte Sichtweise ans Licht, die dann die konkreten Schritte hin auf ein Paradigma Lokaler Kirchenentwicklung vorbereiteten. Überraschende Perspektiven wurden erkennbar und vermittelbar: dass nämlich unsere Kirche nicht in einem linearen Abbruchsprozess steht, sondern in einem Wandlungsprozess, der sich in der Entwicklung vieler Neuaufbrüche zeigt. Klar wurde allerdings auch, dass diese Entwicklungen sehr ungleichzeitig stattfinden, abhängig von Zeit, Ort, Herausforderungen und Personen. Damit entwickelt sich unsere Kirche aber sehr lokal – und es wurde deutlich, dass auf der einen Seite gemeinsame Orientierungen notwendig und hilfreich sind, und dass es zugleich der Ermutigung bedarf, vor Ort „sehen zu lernen“, dass Gott die Zukunft schon lange vorbereitet hat, um so zu einem mutigen Aufbruch und zu pastoraler Experimentierlust einzuladen.
Bischöfliche Orientierung
Diese unerwartete Perspektive eines neuen Sehens machte sich der Bischof zu eigen, und seine Orientierungen im Hirtenbrief im Jahr 2011 waren ein wichtiger Auftakt für das, was wir seither Lokale Kirchenentwicklung nennen. Die Orientierungen des Bischofs folgten der Logik eines geistlichen Prozesses und dem Glauben, dass es Gott ist, der seine Kirche erneuert. Im Zentrum steht deswegen das Wort des Jesaja: „Seht, ich schaffe Neues, schon sprosst es auf. Merkt ihr es nicht?“ (Jes 43, 18). Konkret gewendet heißt das dann, dass jeder Ort, jede kirchliche Lebenswirklichkeit ein Ort seiner Gegenwart ist, und in einem partizipativen Prozess das jeweilige „Charisma des Ortes“ entdeckt werden will. Der Bischof gab dazu Grundorientierungen, die als Haltungen und Werte einer lokalen Kirchenentwicklung beschreiben wollen: Die Wahrnehmung einer größeren Vielfalt kirchlicher Orte und ihre Sendungsorientierung machen den Weg frei, für eine vielfältige und expeditive Entwicklung, die mit unterschiedlichsten und je anders orientierten Sozialformen rechnet. Damit werden klassische Gemeindekonfigurationen aus ihrer monopolhaften Vorrangstellung herausgenommen und integriert in eine plurales Netzwerk kirchlicher Sozialformen. Zugleich geht es entscheidend darum, dass jeder der kirchlichen Lebenswirklichkeiten seine Sendung und sein Worumwillen neu entdeckt.
Dem Bischof ist darüber wichtig, dass es um einen geistlich geprägten Erneuerungsprozess geht. Lokale Kirchenentwicklung versteht Kirche als verwurzelt in der Christusbegegnung in Gebet und Gottesdienst, vor allem aber auch in einem alltäglich eingeübten Weg der Christusbegegnung: Wie kann das Wort Gottes und der Austausch der eigenen Glaubenserfahrungen zur Grundform kirchlichen und geistlichen Lebens werden.
Diese Verwurzelung in der Christusmitte korrespondiert mit der Orientierung am gemeinsamen Priestertum, an der Taufwürde aller Christen: Kirche ist sakramental gegründet in der Taufe, und lebt aus dem Vollzug des Getauftseins in den Diensten und Charismen, die aus der Kraft der Taufe wachsen und dem das sakramentale Priestertum dienen soll.
Eine solche Kirchenentwicklung, die sich nicht an der Vergangenheit festhält, sondern sich auf Gottes Zukunft mit seinem Volk hin öffnet, verlangt – wir haben es schon zitiert – eine Kultur des Vertrauens, die mit Herausforderung und Konflikt rechnet, und doch zugleich die geistliche Kraft besitzt, sich auf umfassende Prozesse gegenseitigen Hinhörens einzulassen.
Es ist erstaunlich, welche hohe Rezeption dieser Hirtenbrief hat. Das liegt nun aber auch daran, dass dieser Brief schon in der Logik eines angefangenen Weges liegt und auch nachdrücklich weiter eingespielt wurde in die verschiedenen Prozesse und Institutionen des Bistums. Der Brief eröffnete einen Aufbruchsprozess, der mit viel Kraft und Intensität kommuniziert und weiterentwickelt wird.
Erste Versuche der Prozessgestaltung
Denn von Anfang war klar: Wenn wir wirklich einen Prozess initiieren wollen, verlangt dieser Prozess einen sehr langen Atem. Und er verlangt gemeinsame Aneignungsprozesse auf allen Ebenen: angefangen von einer inhaltlichen Kommunikation zwischen allen Verantwortlichen im Bistum über die kontinuierliche Arbeit mit allen Priestern, von der Auflösung gewohnter Versäulungen zwischen verschiedenen Arbeitsbereichen bis hin zur Frage nach einer Neuausrichtung der Schulung und Bildung des Bistums: Es wird deutlich, dass die Richtungsnahme für eine Lokale Kirchenentwicklung einen echten Paradigmenwechsel bedeutet, der uns über Jahre beschäftigen wird.
Doch zugleich ging es darum, erste Schritte zu ermöglichen, wie auch in Dekanaten und Pfarreien Prozesse einer Lokalen Kirchenentwicklung eingeleitet werden können. Denn es geht ja um ganz praktische Wege der Entwicklung, die über die bewährten Prozesse der Gemeindeberatung und Organisationsentwicklung hinausgehen. Sie tendieren auf visionsorientierte Entwicklungsprozesse, die auf ein Miteinander klassischer Beratung und pastoraler Orientierung zielen.
Einige Instrumente haben sich in den vergangenen Jahren entwickelt. Sie wurden entwickelt und an vielen Orten zeigen sich Früchte, die bestätigen, dass diese Werkzeuge für unseren Kontext sehr hilfreich sind:
- An vielen Orten haben inzwischen „Dekanatstage“ stattgefunden, zu denen Interessierte und Verantwortungsträger eingeladen wurden, über den Wandel der Kirche miteinander nachzudenken und die eigene Situation unter der Perspektive des Wandels zu lesen. Der neue Blick auf die Situation, aber auch der Austausch von Aufbruchserfahrungen hat sich als sehr hilfreich herausgestellt.
- In einer Reihe von Pfarreien entwickelte sich der „Kleine Kirchenkurs“, ein Weg der Schulung von Christen, die gemeinsam die Zukunft gestalten wollen. Der „Kleine Kirchenkurs“ vergewissert die eigene Taufberufung, arbeitet an den Kirchenbildern und entwickelt zukünftige Szenarien einer sozialraumorientierten Kirchengestalt. Dabei ist dieser Kurs mehr ein spiritueller Weg, weil auf dem Grund des Nachdenkens ein neuer Zugang zum Wort Gottes und zur Gegenwart des Auferstandenen in der Mitte seines Volkes steht. Im Mittelpunkt steht ein Nachdenken über die Kirchenentwicklung und das Erwachen der eigenen Bilder zukünftigen Kirchenseins. Dieser „Kurs“ mündet in „Zukunftswerkstätten“ oder „Zukunftskonferenzen“, die auf dem Hintergrund des Bildes einer partizipativen Kirche möglichst viele Akteure mit auf den Weg nehmen wollen.
- Besonders begeistert werden auch Kursprogramme aufgenommen, die die Charismen der Gläubigen vor Ort entdecken lassen. An vielen Stellen zeigt sich hier ganz praktisch, wie das Taufbewußtsein gelebt werden kann.
- Schnell wurde deutlich, dass solche Prozesse nur dann gelingen können, wenn die Priester und Hauptberuflichen selbst diesen Weg gehen wollen. Entsprechend liegt ein Hauptgewicht der Fortbildung für Priester und Hauptberufliche in der gemeinsamen Arbeit am zukünftigen Kirchenverständnis, an der theologisch wichtigen Frage nach dem gemeinsamen Priestertum der Gläubigen und dem Priestertum des Dienstes. Es kommt wesentlich darauf an, dass Priester entdecken können, dass ein Weg Lokaler Kirchenentwicklung nicht zu einer Verflachung und Nivellierung des sakramentalen Priestertums führt, sondern zu einer neuen Profilierung, jenseits jeder Konkurrenz zum gemeinsamen Priestertum. Für alle Akteure ist es wichtig, neu zu buchstabieren, was ermöglichender Dienst bedeutet. Auch hier kann die begeisternde Kraft von Exposurereisen nicht hoch genug veranschlagt werden, helfen gezielte Erfahrungen doch, den Horizont des Paradigmenwechsels zu bebildern, der vor uns liegt.
- In den vergangenen Jahren hat sich – mit Hilfe weltkirchlicher Mentoren – eine Schulungsform entwickelt, die wir „Summerschool“ nennen: Teams aus Pfarreien kommen für einige Tage zusammen, um die Vision einer partizipativen Kirche zu entdecken und zu ergreifen – und Werkzeuge und Methoden zu erlernen, mit denen Prozesse eingeleitet werden können. Die Erfahrung gemeinsam erlebter Tage, die geistliche Durchprägung dieser Schulungszeit und das Ineinander von Theologie, Spiritualität und pastoralen Methoden schafft einen fruchtbaren Raum des Lernens und des Umgehens mit einen Prozess Lokaler Kirchenentwicklung.
Auch wenn die hier nur exemplarisch beschriebenen ersten Versuche einer Gestaltung der Prozesse anfanghaft und in Entwicklung sind, zeigen sie doch eine ungeheure Resonanz im gesamten deutschen Sprachraum. Es gibt im Volk Gottes auf allen Ebenen einen großen Bedarf an konkret werdenden Visionen gelungener Zukunft.
5. Der Kairòs Lokaler Kirchenentwicklung
Wenn inzwischen immer deutlicher wird, dass die Zukunft sicherlich eine veränderte Kultur des Kircheseins mit sich bringt, die die Sozialformen der Kirche lokalisiert, vervielfältigt in ein Netzwerk unterschiedlicher Orte des Kircheseins, wenn klarer wird, dass eine europäische Inkulturation der „small christian comunities“ unterschiedlich und doch ähnlich Formen des Kircheseins hervorbringt, in denen die Getauften aus der Fülle des gemeinsamen Priestertums Kirche gestalten und sich als Kirche verstehen, dann ist jetzt der Moment, nach den Werkzeugen und Methoden zu fragen, wie solche Prozesse initiiert und gestaltet werden können.
Diesem Bedarf entgegenzugehen, dazu bedarf es auch der Lernorte, der Schulungsorte, der „Institute“, die dies ermöglichen, vor allem aber vieler Akteure, die aus ihren Erfahrungen heraus solche Prozesse gestalten können.
Die Sehnsucht nach solchen Prozessen, die geistlich geprägt sind, ist auch im Volk Gottes deutlich zu spüren: Es ist eine der beglückenden Grunderfahrungen in allen diesen Prozessen, auf so viele begeisterte, offene und spirituell anspruchsvolle Christen zu treffen, die sich mit Energie auf solche Prozesse einlassen wollen. Sie sehnen sich nach echter Partizipation und Verantwortung, und danach, ihre Charismen und Gaben wirklich einbringen zu können.
Es kann keine Frage sein, dass die Prozesse aus einem Kairòs der Krise erwachsen. Vermutlich wären ohne die geringere Zahl an Priestern und dem Ende eines versorgungsorientierten kirchlichen Gefüges diese Entwicklung nicht möglich: Es ist der empfundene Mangel, der den Aufbruch ernötigt. Doch zugleich legt diese Krise eine Praxis frei, die das II. Vatikanische Konzil prophetisch formuliert und entworfen hat: eine Kirche, die lebt inmitten der Menschen, inmitten dieser Welt und ihr dient als Zeichen und Werkzeug des anbrechenden Reich Gottes.