012013

Foto: -tCA-: Zirkus (CC BY-SA 2.0), Bildausschnitt

Konzept

Valentin Dessoy

Lokale Kirchenentwicklung – eine Alternative?

Kritische Überlegungen im Anschluss an den Kongress “Kirche geht … Die Dynamik lokaler Kirchenentwicklung”

Vom 18.-20. Oktober 2012 fand im Ludwig-Windhorst-Haus, der Katholisch-Sozialen Akademie des Bistums Osnabrück, der Kongress Kirche geht … Die Dynamik lokaler Kirchenentwicklung – ein internationales Symposion – statt. Der Autor war für die Tagung als Impuls- und Feedback-Geber angefragt, um die sozial- und organisationswissenschaftliche Sicht in den Kongress einzutragen. Aus dieser spezifischehn Rolle und Perspektive ist der vorliegende Text entstanden.

Der Rahmen: Gut organisiert und vermarktet

Die Veranstaltung steht in einer Reihe, die 2008 unter der Überschrift „Kleine Christliche Gemeinschaften verstehen. Ein Weg, Kirche mit den Menschen zu sein“1 begann und 2010 mit dem Thema „Die Rückkehr der Verantwortung. Kleine Christliche Gemeinschaften und sozialräumliche Initiativen als Kirche in der Nachbarschaft“2 fortgesetzt wurde. Die Wurzeln reichen allerdings in das Jahr 2000 zurück. Damals begann missio Aachen, die Kleinen Christlichen Gemeinschaften (KCG) in Deutschland bekannt und sich für deren Implementierung in den Diözesen stark zu machen.

Träger des Kongresses 2012 waren die Hilfswerke missio, ADVENIAT und das Bonifatiuswerk, die Bistümer Osnabrück und Hildesheim sowie als Ausrichter das Ludwig-Windhorst-Haus. Für die Organisation war das „Nationalteam Kleine Christliche Gemeinschaften in Deutschland“ verantwortlich.

Der Titel des Symposions „Kirche geht…“ war außergewöhnlich, nicht der übliche pastorale Sprachstil, sondern Alltagssprache, kurz, knapp, prägnant, provokativ – und programmatisch: Eine Kirche, die geht, lässt Altes hinter sich und setzt auf (neue) Erfahrungen, um zu lernen. Das macht neugierig.

Entsprechend war das Interesse an der Tagung schon im Vorfeld außerordentlich hoch und die Tagung selbst mit über 200 Teilnehmer/innen absolut ausgebucht. Neben vielen haupt- und ehrenamtlichen Insidern aus der Szene, die sich von früheren Zusammenkünften kannten, waren v.a. auch Fachkräfte (Gemeindeberater, Personalentwickler etc.) insbesondere aus den nordwestdeutschen Diözesen vertreten.

Die meisten von ihnen waren vom Titel und vom Stichwort „Lokale Kirchenentwicklung“ neugierig gemacht und angelockt worden. Dazu war die Veranstaltung als „internationaler Kongress“ angekündigt, was zumindest für die Auswahl der Referenten zutrifft, die aus 4 Kontinenten kamen.

Zum Hintergrund: Kleine Christliche Gemeinschaften (KCG) und BibelTeilen

Das Modell der Kleinen Christlichen Gemeinschaften ist im Anschluss an den Aufbruch des 2. Vatikanischen Konzils parallel in Asien, Afrika und in Lateinamerika (dort „Basisgemeinden“) entstanden.

Die KCGs sind Orte kirchlichen Lebens. Sie verwirklichen Kirche in kleinräumigen, nachbarschaftlichen Bezügen, in denen der Glaube verkündet, gelebt und gefeiert wird. Im Hintergrund steht ein Kirchenverständnis, wie es exemplarisch in Mt 18,20 oder der Emmausgeschichte (Lk 24, 13-35) zum Ausdruck kommt. Das 2. Vatikanische Konzil benutzt dafür die Bilder des pilgernden Gottesvolkes und der Communio, der lebendigen Gemeinschaft (u.a. LG 4).

KCGs leben aus dem Wort Gottes. Daher gehört das Teilen des Wortes Gottes, das BibelTeilen, zu den zentralen Vollzügen. Es ist mehr als eine Methode, es ist ein Weg, die Gegenwart Christi zu eröffnen, zu erfahren und zu leben. Zugleich verweist das BibelTeilen auf die Sendung als Christ, indem das Wort auf die Nöte und Sorgen der Menschen bezogen, Spiritualität und Diakonie wechselseitig miteinander verknüpft werden. KCGs sind offen für alle Menschen in der jeweiligen konkreten Nachbarschaft, deren Bedürfnisse, Anliegen und Themen. Gleichzeitig ist jede Zelle eingebunden in das Kirche-Sein der Ortskirche und lebt aus der Verbindung mit der Weltkirche.

Inhaltlicher Fokus: „Lokale Kirchenentwicklung“ weltweit

Die Tagung selbst war reich gefüllt mit Inputs. Der Donnerstag begann mit zwei Statements zur Dynamik von Kirchen- bzw. Organisationsentwicklung aus theologischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive durch die beiden externen Beobachter, Prof. Dr. Franz Weber aus Innsbruck und Dr. Valentin Dessoy aus Mainz. Hier wurden Kriterien skizziert, wie eine Organisationskultur gestaltet sein muss, um innovative und nachhaltige Entwicklungs- und Veränderungsprozesse zu ermöglichen.

Danach berichtete Jean-Paul Russeil, Generalvikar in Poitiers, gemeinsam mit seinem Team (Gisèle Bulteau, Beauftragte für lokale Gemeinschaften, und Eric Boone, Leiter der theologischen Fortbildung) vom „Weg des Glaubens“ in seiner Diözese. Ausgangspunkt des Prozesses war der Hirtenbrief „Proposer la foi dans la société actuelle. Lettre aux catholiques de France“ der französischen Bischöfe aus dem Jahr 1996. Die Kirche in Poitiers geht seither einen langen, systematisch geplanten, theologisch-spirituell fundierten Weg der Erneuerung, in der die Taufwürde und die Sakramente der Initiation im Mittelpunkt der Entwicklung und des missionarischen Auftrags von Kirche stehen. Dem Ansatz liegt das Kirchenverständnis des 2. Vatikanischen Konzils zugrunde. Die Hirtenaufgabe besteht v.a. darin, die Gemeinschaft aufzubauen und Sorge zu tragen, dass die örtlichen Gemeinden am Leben bleiben. Dem dienen insbesondere auch die Berufung und die Schulung von örtlichen „equips d’animation“. Russeil: „Die Kirche in Frankreich hat keinen Besitz und wenig Geld. Sie kann nur handeln durch Menschen, die sich senden lassen. Dem gilt unsere ganze Kraft.“

Bischof Gilles Côté und Bischof Sithembele Anton Sipuka, der Nachfolger von Bischof Oswald Hirmer, gaben einen spannenden Einblick in die Entwicklung der jungen Kirchen in Asien (Diözese Dariu-Kiunga in Papua-Neuguinea) und Afrika (Diözese Umtata in Südafrika).

Bischof Gilles Côté begeisterte die Teilnehmer/innen des Kongresses nicht nur durch seine Präsenz in der Kommunikation, sondern v.a. durch seine Vision einer partizipativen Kirche und die Entschlossenheit, seine Diözese in diesem Sinne nachhaltig zu gestalten. In anschaulicher Weise erzählte er, wie sich das kirchliche Leben in seiner Diözese Dariu-Kiunga in den letzten Jahren entwickelt hat. Entscheidend ist aus seiner Sicht, dass es einen langfristig ausgerichteten Pastoralplan gibt, der sich auf den gesellschaftlichen Kontext bezieht, alle Bereiche des kirchlichen Lebens in den Blick nimmt und einen kontinuierlichen Entwicklungs- und Entscheidungsprozess in Gang setzt. Hierfür braucht es nach seiner Ansicht zunächst eine klare Analyse der Lebenssituation der Menschen. Zentrales Ergebnis: Gemeinschaft ist in Papua-Neuguinea ein existentieller und kultureller Grundwert, weil Gemeinschaft zum Überleben des einzelnen und der Sippe notwendig ist. Im Blick auf das Leben der Menschen ist dann eine spirituelle Zukunftsvision von Kirche zu entwickeln. Für die Diözese Dariu-Kiunga war dies der communio-Gedanke im Anschluss an das 2. Vatikanische Konzil. Bei der konkreten Ausgestaltung haben dann der Aufbau und die Begleitung kleiner christlicher Gemeinschaften eine hervorragende Rolle gespielt. Sie sind der Königsweg, wie Kirche in Papua-Neuguinea Wirklichkeit werden kann.

Am Freitag gab zunächst Prof. Dr. Hermann J. Pottmeyer einen detaillierten, erhellenden Einblick in den Wandel des Kirchenbildes in und nach dem 2. Vatikanischen Konzil. Seine Kernthesen:

  1. Das Konzil war an der Zeit und seiner Zeit voraus. Genau zu der Zeit, als sich Selbstbestimmung als gesellschaftliche und politische Leitidee durchsetzte und parallel die traditionelle Sozialgestalt von Kirche erste Risse aufwies, entdeckte das Konzil die Kirche wieder als Volk Gottes und als Gemeinschaft der Glaubenden (LG 4), betonte es das gemeinsame Priestertum als Recht und Pflicht aller Gläubigen.
  2. Das Konzil beabsichtigte im Kern eine geistliche Erneuerung, in der „die Gläubigen sich ihrer Berufung zu eigenen Trägern der Sendung der Kirche, auch in Form eigenständiger Initiativen, bewusst werden“.
  3. Weil genau dies zu kurz kam, stockte der Reformprozess insgesamt, speziell in der alten Kirche und ganz besonders bei uns in Deutschland. Die Herausforderungen der Gegenwart eröffnen die Möglichkeit, die Konzilsreform noch einmal ganz neu und ganzheitlich anzugehen und Kirche im Sinne des Konzils weiter zu entwickeln.

Im Anschluss daran lieferte Regens Dr. Christian Hennecke, einen spannenden und anschaulichen Werkstattbericht zur Kirchenentwicklung im Bistum Hildesheim. Nach den bisher vorliegenden Erfahrungen kann Kirchenentwicklung gelingen,

  • wenn sie dezentral angelegt ist und die Herausforderungen vor Ort aufgreift
  • wenn akzeptiert wird, dass sie sich ungleichzeitig ereignet
  • wenn der Prozess partizipativ angelegt ist
  • wenn ressourcen- und wachstumsorientiert vorgegangen wird
  • wenn mit Modellprojekten gearbeitet wird, die begleitet, evaluiert und gefördert werden.

Der Nachmittag stand dann – wie auch der Samstagvormittag – ganz im Zeichen konkreter Projekte, die teils im Plenum (Pfarrei Maria Lourdes, Zürich-Seebach; Pfarrei St. Petrus, Wolfenbüttel) teils auf offenem Marktplatz vorgestellt wurden. Gerade auf dem Marktplatz hatten die Teilnehmer/innen Gelegenheit, sich mit ihren Fragen und Themen einzubringen.

Nach einer ausführlichen Feedback seitens der externen Beobachter gab es zum Abschluss der Tagung einen Vortrag von Alfons Vietmeyer zum Thema „Eine Vision gewinnt Gestalt – Merkmale einer Kirche der Zukunft“, in der er ausgehend von seinen Erfahrungen in der Arbeit mit Basisgemeinden in Mexiko-City die Bedeutung des diakonischen Handelns für die Plausibilisierung von Kirche in heutiger Zeit hervorhob.

Kybernetik 2. Ordnung: Kultur innovativer und nachhaltiger Entwicklung

Betrachtet man die Erfahrungsberichte und Prozessbeschreibungen auf der Folie der zu Beginn der Tagung skizzierten Kriterien innovativer und nachhaltiger Entwicklung3 werden auf der Metaebene Konvergenzen sichtbar:

Die beschriebenen Entwicklungsprozesse basieren auf einem Kirchenverständnis, das dem Communio-Gedanken folgt und das allgemeine Priestertum betont. Kirche entsteht und verwirklicht sich dort, wo Menschen kraft ihrer Taufwürde in Gemeinschaft ihren Glauben verkünden, leben und feiern. Dies trägt der Einschätzung Rechnung, dass sich Kirche in der heutigen Gesellschaft nicht mehr institutionell (top-down) sondern nur noch dialogisch (bottom-up) validieren lässt. „Macht“ ist kein geeignetes Kommunikationsmedium mehr, um die Botschaft und das kirchliche Handeln zu plausibilisieren.

Die Reformprozesse in Poitier und in Dariu-Kiunga waren bzw. sind beide langfristig-strategische angelegt und stützen sich auf einer methodisch fundierten und systematisch betriebenen (Projekt-)Planung. Zugrunde liegt ein langfristig-missionarisches Reformparadigma.

Im Blick auf die Umwelt setzen die Reformen allesamt auf Dialog, auf kleinräumige, adressaten- und lebensweltbezogene Lösungen. Christian Hennecke betont dabei, dass diese Lösungen nur experimentell über Modellprojekte (oder Prototypen) gefunden werden können, in denen Bedingungen variiert, Prozesse begleitet und Wirkungen überprüft werden.

Hinsichtlich der Sozialgestalt setzen alle vorgestellten Ansätze auf dezentrale Strukturen, kleine selbststeuernde Einheiten (etwa KCGs, Basisgemeinden, …), die lose gekoppelt sind. Gleichzeitig wird – wenn man Poitier oder Dariu-Kiunga vor Augen hat – Führung seitens des Bischofs deutlich und pointiert, man könnte fast sagen „autoritär“ wahrgenommen. Er geht voran, steht für den Prozess und sichert die Einheit.

Im Blick auf die Rollenarchitektur zeigt sich eine vergleichsweise hohe Flexibilität. Die Getauften mit ihren Charismen sind die Akteure vor Ort. Sie werden qualifiziert, ermächtigt und gesandt.

Die Prozesse verstehen sich als geistliche Prozesse im Sinne Pottmeyer, sind theologisch und spirituell untermauert. Gleichzeitig wird ein methodisch fundiertes, professionelles Projektmanagement angewandt, um Kommunikation und Transparenz, Beteiligung und Verbindlichkeit zu sichern. Die Kommunikation ist wertschätzend, ermutigend und inspirierend. Das macht die Bewegung so anziehend.

Beobachtungen und kritische Anfragen: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Das fiel zuerst auf: Bei vielen Teilnehmer/innen – auch beim Autor – wurden auf dem Kongress Bilder einer anderen (jungen, kommunikativen, bewegten) Kirche (wieder-)geweckt, einer Kirche, die sich viele erträumen oder in der Vergangenheit erträumt haben: Es gibt noch Hoffnung und wir sind nicht allein. Allein dieses Signal ist wichtig und gut. Es macht einen Unterschied zum allgegenwärtigen Abbruchszenario und zur Klagemauer, die unser Denken beherrscht.

Viele Teilnehmer/innen kannten sich von früheren Kongressen oder aus anderen beruflichen Zusammenhängen. Die Atmosphäre war geprägt von einer hohen Achtsamkeit und Wertschätzung füreinander. Die Teilnehmer/innen waren präsent und traten als überzeugte Christen in Erscheinung. Die Kommunikation untereinander war authentisch, intensiv, „geisterfüllt“. Gesprächsgruppen bildeten sich spontan und wechselten permanent die Zusammensetzung. Networking war angesagt. Man spürte den „Flow“, Teil einer „Bewegung“ zu sein. Das alles war sehr verführerisch.

Der Kongress hatte ein anspruchsvolles und professionell aufbereitetes Programm mit Referenten aus vier Kontinenten. Es gab sehr viel Input, v.a. Erfahrungsberichte, denen man gut folgen konnte, weil sie konkret und praxisnah waren. Dennoch vermissten viele die Möglichkeit nachzufragen, zu reflektieren und das Gehörte im Gespräch zu vertiefen. Das Setting stand damit in gewisser Weise im Widerspruch zum Inhalt: Beteiligung wurde beschrieben, jedoch nur begrenzt praktiziert. Was heißt das? Geht es gar nicht um Beteiligung? Wird hier nach altem Muster Mission betrieben?

Die Beiträge zur Tagung bewegten sich vornehmlich auf der Ebene operativer Beschreibungen. Die Plausibilität der weltkirchlichen Erfahrungen und Modelle birgt auf der Folie des Abbruch-Szenarios, in dem wir uns bewegen, die Versuchung, diese unmittelbar auf unsere Verhältnisse zu übertragen. Die Kontexte in Asien und Afrika und Südamerika, aber auch in Frankreich, unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Geschichte, Komplexität und Dynamik deutlich von den Rahmenbedingungen und Anforderungen der Kirche im deutschsprachigen Raum. Der Versuch, die Modelle kochbuchartig zu übertragen („Schnittblumenpastoral“ [Spielberg] als Lösung 1. Ordnung), wird fehlschlagen, allenfalls „Nischenprodukte hervorbringen“, wie es ein Teilnehmer formulierte. Gebraucht wird eine Analyse der Prinzipien und Wirkfaktoren, die dazu beitragen, dass Kirche andernorts funktioniert. Diese gilt es dann auf den Kontext der Kirche in Deutschland zu übertragen. Es geht um Lösungen 2. Ordnung.

So blieb denn auch der Begriff der „Lokalen Kirchenentwicklung“ – Neues suggerierend – insgesamt eher diffus. Ganz eng gefasst, konnte man den Eindruck gewinnen, dass Lokale Kirchenentwicklung mit kleinen christlichen Gemeinschaften und BibelTeilen identisch sei (LKE = KCG = BibelTeilen). Umgekehrt wurden unter Lokaler Kirchenentwicklung in den Erfahrungs- und Projektberichten alle möglichen Haltungen, Ansätze, Methoden und Projekte gefasst, die seit vielen Jahren (seit Ende der 70er Jahre) bekannt sind (etwa GWA/ Stadtteilarbeit/ Community Organisation/ Netzwerkarbeit) und an vielen Orten mit Erfolg praktiziert werden. „Lokale Kirchenentwicklung“ hat in dieser Verwendung etwas von einem Containerbegriff, der – mit Ausnahme des starken Merkmals „lokal“, also dezentral – so unscharf ist, dass er alles Mögliche umfassen kann – wirklich Neues war kaum dabei.

Dort, wo auf der Tagung die KCGs mit ihrer Spiritualität im Mittelpunkt standen, war deutlich eine Tendenz zur Binnenorientierung wahrzunehmen, was auch von teilnehmenden Beobachtern immer wieder thematisiert wurde. Kennzeichnend hierfür sind spezifische Sprachcodes und Kommunikationsformen als Voraussetzung, um mit ins Spiel zu kommen. Dies birgt zumindest die Gefahr, andere auszuschließen, die sich dem nicht anschließen können. Eine gruppendynamische Exklusion ist nicht weniger destruktiv, als eine hierarchische Exklusion, wie wir sie seitens der Amtskirche erleben. Lokale Kirchenentwicklung, als Arbeitsprinzip verstanden, denkt von den Adressaten aus. Es geht im Kern gerade um Inklusion (nicht Integration): Botschaft und Kirche ändern sich mit den Menschen, die neu gewonnen werden. Sammlung (Spiritualität) und Sendung (Diakonia) sind unauflöslich.

KCGs und Lokale Kirchenentwicklung machen Ernst mit dem Communio-Gedanken. Kirche entsteht v.a. bottom-up, also dort, wo Menschen ihren Glauben miteinander teilen, leben und feiern. Das wirkt glaubwürdig in (Orts-)Kirchen, die arm sind. Dort sind die Menschen, die an Christus glauben, die wichtigsten und vielfach auch einzigen Agenden der Botschaft. In unserer noch immer sehr reichen Beamten- und Angestelltenkirche wirkt der Ansatz wenig überzeugend. Welches Interesse sollten hoch dotierte hauptberufliche pastorale Mitarbeiter/innen haben, eine Entwicklung zu betreiben, die sie auf Dauer (zumindest auf der operativen Ebene) überflüssig macht? Wie können gut bezahlte Profis plausibilisieren, dass Freiwillige ihre Arbeit machen sollen. Ohne die Bereitschaft, eine arme Kirche zu werden, geht das nicht. Und das fängt bei den Hauptamtlichen an.

Diese Überlegung führt zu der Frage, welche Motive und Interessen Menschen antreiben, sich in der Bewegung zu engagieren. Man wird sie sicher sehr differenziert beantworten müssen. Auffällig ist der hohe Anteil an Laien, v.a. Frauen und hauptberuflichen pastoralen Mitarbeiter/innen im Alter 50+, die mit dieser Art von Spiritualität offensichtlich sehr viel anfangen können. Man wird den Eindruck nicht los, dass sich hier alte Träume einer hierarchiefreien Kirche aus den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts Bahn brechen. Obgleich die (wenigen) Bischöfe und Priester, die für die Bewegung stehen, Kultstatus genießen, ist ein antihierarchischer Impuls unverkennbar. Spiritualität ist seit jeher ein sehr kraftvoller Hebel, um in der hierarchisch dominierten Kirche Macht und Einfluss auszuüben, attraktiv v.a. für Menschen, die in dieser Kirche strukturell behindert sind, also Laien(-theologen) und Frauen. Die Bewegung nährt diese Phantasien und nutzt sie. Es besteht zumindest die Gefahr der Instrumentalisierung: Die Psychodynamik der Unterprivilegierten, geprägt durch eine hohe Motivation und vielfältiges Engagement in und für die Kirche und gleichzeitig durch eine sich wiederholende Enttäuschung und nachhaltige Kränkung (Zurückweisung) seitens der Kirchenoberen, droht auch dieser Bewegung. Die entscheidende Frage ist, ob die Bischöfe (und Priester) bei uns vorangehen werden (so tun, also ob, reicht nicht) und was die Protagonisten dazu beitragen, dass dies geschieht? Wo waren die deutschen Bischöfe und Generalvikare während der Veranstaltung? Das ist eine Anfrage an das Design und darüber hinaus.

Wenngleich die Bewegung mit einem hohen spirituellen und moralischen Anspruch auftritt – oder vielleicht auch gerade weil es so ist – , geht es im Hintergrund doch immer auch um Macht und Einfluss, nicht nur operativ vor Ort, sondern auch strategisch und kirchenpolitisch. Das wird offen ausgesprochen. Dabei tritt die doppelte Instrumentalisierung der „Weltkirche“, speziell von Klerikern der Weltkirche, drastisch zu Tage: Während bestimmte Interessensträger (so auch die Veranstalter der Tagung „Kirche geht“) ausländische Bischöfe importieren, um die Kirche bei uns grundlegend von unten zu verändern, importieren die Diözesen (also unsere Bischöfe, auch die der Veranstalter) ihrerseits massenhaft ausländische Priester (womöglich aus den gleichen Ländern), gerade um die Amtskirche möglichst lange so zu erhalten, wie sie ist, Tendenz massiv steigend. Hier stimmt etwas nicht. Es gibt keinen wirklichen Dialog. Der dürfte auch deshalb nicht ganz einfach sein, weil im Zielfoto der Bewegung zwar nicht die doppelte Wirklichkeit von Kirche als communio und ministratio (LG 4) in Frage steht, wohl aber die überkommene Ausgestaltung der Dienstämter, speziell die Rolle des Priesteramtes und der Frauen in der Kirche. Oder etwa nicht?

Fazit: Lokale Kirchenentwicklung – eine Programm?

Die Frage kann nur differenziert beantwortet werden. Lokale Kirchenentwicklung – so scheint es nach dem Kongress – ist ein Begriff, der viele unterschiedliche Ansätze integrieren kann. Das ist seine Stärke, aber auch seine Schwäche. Momentan lebt er von seiner engen Bindung an den Ansatz der KCGs und seinem antihierarchischen Impuls. Das macht sein Spezifikum aus, seine besondere Attraktivität (für bestimmte Menschen), aber auch seine begrenzte Anwendbarkeit. Es ist daher bislang kein wirkliches Programm kirchlicher Entwicklung.

Nach Pottmeyers Einschätzung sind KCGs kein Weg für das Kirchenvolk, über ein Nischendasein würden sie nicht hinauskommen. Wenn das Konzept ein Modell oder präziser, ein Programm kirchlicher Entwicklung werden soll, das breit anwendbar ist, müssen im Kernbereich der Spiritualität die Grenzen geöffnet und die spirituellen Zugänge und Formen differenzierter dargestellt werden.

Das Verhältnis zur Hierarchie ist zu klären, theologisch, organisatorisch und kommunikativ. Gegenwärtig ist die Bewegung noch zu klein, um für die kirchliche Hierarchie gefährlich zu werden. Liberale Kirchenführer können sie noch bedenkenlos unterstützen oder so tun, als ob. Wäre die Bewegung stärker, würden die Menschen im Rahmen breitflächiger lokaler Kirchenentwicklung die Sache selbst in die Hand nehmen, sähe das ganz anders aus. Wenn Leitplanken und Spielräume nicht klar sind, lässt sich zwar besser leben, aber das Risiko feudal-monarchischer Eingriffe und der Instrumentalisierung der Menschen wächst.

Das methodische Instrumentarium ist ausbaufähig. Erkennbar sind bislang nur einzelne Anleihen aus unterschiedlichen sozial- bzw. organisationswissenschaftlichen Kontexten (Projektarbeit, Großgruppenmethoden etc.). Das macht es vielfach beliebig, wie die auf der Tagung vorgestellten Projekte zeigen. Ein Programm lebt von einer Architektur, die sich bewährt hat, und von einem Methodenkoffer, der sich als hilfreich erwiesen hat.

Was bislang fehlt, ist eine empirisch gestützte, valide Bestimmung der Prinzipien bzw. Wirkfaktoren, die zu einer innovativen und nachhaltigen Entwicklung von Kirche führen. In einem ersten Zugang könnten sauber gemachte Feldstudien ein Screening liefern, um sich dem Thema anzunähern. Gebraucht werden dann aber v.a. experimentelle Anordnungen, um die Wirkung bestimmter Faktoren prospektiv unter kontrollierten (variierten) Bedingungen zu erproben und zu evaluieren.

Abschließende Gesamteinschätzung: Lokale Kirchenentwicklung ist ein zukunftsträchtiger Ansatz, derzeit allerdings mehr Versprechen als validiertes Programm. Der Weg zu einer wirklichen Alternative birgt einiges an Herausforderungen und zahlreiche Klippen.

  1. Henneke, C. (Hrsg.), Kleine christliche Gemeinschaften verstehen: Ein Weg, Kirche mit Menschen zu sein, Würzburg 2009.
  2. Henneke, C., Samson-Ohlendorf, M. (Hrsg.), Die Rückkehr der Verantwortung: Kleine Christliche Gemeinschaften als Kirche der Nähe, Würzburg 2011.
  3. Vgl. Dessoy, V., Wie Kirche zu einer lernenden Organisation werden kann – Erfahrungen aus der Praxis kirchlicher OE, in: LebSeel 4/2012, 243-247; Dessoy, V., Organisationskultur und Innovation, in: V. Dessoy, G. Lames (Hrsg.), „Siehe ich mache alles neu“ (Off 21,5). Innovation als Strategische Herausforderung in Kirche und Gesellschaft, Gesellschaft und Kirche – Wandel gestalten Bd. 2, Trier 2012, 84-104.

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