012013

Editorial

Editorial 01-2013

Liebe Leserinnen und Leser,

Papst Benedikt XVI. stand mit seinem gesamten Wirken für das Zusammenspiel von Glaube und Vernunft: „Wahrheit“ war für ihn die wichtigste Kategorie. Unter Franziskus I., dem neuen Papst, deutet sich bereits nach wenigen Tagen ein grundlegender Perspektivenwechsel an. Seine Herkunft aus Südamerika, sein bescheidener Lebensstil, prägnante Gesten und deutliche Worte in den ersten Tagen seines Pontifikats lassen erkennen, dass es ihm in besonderer Weise um das Zusammenspiel von Glaube und Ethik geht: Gerechtigkeit ist sein zentrales Anliegen. Das ist mehr als eine Akzentverschiebung. Die Koordinaten kirchlichen Handelns könnten sich verschieben, wenn der neue Papst die ihm zur Verfügung stehende Macht nutzt und sich gegenüber den weiterhin existierenden restaurativ-reaktionären Kräften in Kurie und Teilen des Episkopats durchsetzen kann.

„Wahrheit“ ist ein absoluter Begriff, der in der systematischen Theologie verankert ist. Er folgt dem Konzept einer zweiwertigen Logik, die nur „Ja“ oder „Nein“ kennt, nichts dazwischen. Es geht um Einheit, um Zentralisierung und Vereinheitlichung. Die Validierung der christlichen Botschaft erfolgt in diesem Denken top down, über die Hierarchie, also organisatorisch verankerte Machtverhältnisse. Kirchliches Leben zeigt sich in dieser Logik hochgradig formalisiert, standardisiert und ritualisiert. Der hier zugrundeliegende erkenntnistheoretische Ansatz kommt aus einer anderen Zeit. Aus heutiger, systemischer Perspektive ist die Welt differenzierter: Wirklichkeit ist – für endliche Wesen – stets konstruiert, entsteht durch Wahrnehmung, und die ist subjektiv und damit relativ.

„Gerechtigkeit“ ist im Unterschied zu “Wahrheit” eine ethische Kategorie und gehört in die praktische Theologie. Der Gerechtigkeitsbegriff ist relativ. Es geht um Differenzierung: Was gerecht ist, hängt von der jeweiligen Situation, dem Kontext und der Geschichte ab. Sie zeigt sich im Tun. Plausibilität lässt sich nicht deduktiv ableiten, sondern nur induktiv erfahren. Die Validierung der christlichen Botschaft kann in einer pluralen und emanzipierten Welt nur bottom-up, über Wirksamkeit und Relevanz für das Leben der Menschen erfolgen: Kirchliches Leben in dieser Perspektive ist bunt, vielfältig und ständig in Bewegung.

Die Sozialgestalt von Kirche wird sich verändern, wenn Kirche als Bewegung im Kontakt mit der Welt bleiben will. Mit ihr verändert sich auch die überkommene kleruszentrierte Rollenarchitektur, wie wir sie hier in Europa kennen. Kirche wird sich wesentlich dezentraler organisieren als bisher. Sie wird – auch offiziell – die Entwicklung differenzierter lokaler Kirchenkulturen und Rollenarchitekturen zulassen. Der Prozess wird zwangsläufig zu einer grundlegenden Emanzipation der Getauften führen, die Kirche “in die Hand nehmen”. Unterschied und Vielfalt, Innovation und Experiment sind nicht Anzeichen von Zerfall und Untergang sondern Ausweis von Lebendigkeit und Zukunftsfähigkeit.

Das aktuelle Schwerpunktthema „Lokale Kirchenentwicklung und sozialräumliche Pastoral“ beschäftigt sich genau damit. Beide Ansätze stehen für ein verändertes Kirchenverständnis. Sie befördern eine Kirchenentwicklung, die dezentral bestimmt ist, die Bedürfnisse und Ressourcen vor Ort aufgreift und spezifische Lösungen sucht.

Was ist beiden Ansätzen gemeinsam? Was ist das jeweilige Spezifikum oder handelt es sich nur um unterschiedliche Verpackungen? Was sind die Wurzeln? Worin liegen die Unterschiede im methodischen Vorgehen? Zeigen sich Unterschiede bei den Ergebnissen bzw. in den langfristigen Wirkungen? Diesen Fragen widmet sich eine Reihe konzeptionell, methodisch und praktisch orientierter Beiträge, u.a. von Christian Hennecke aus Hildesheim und von Martin Lörsch aus Trier.

Dr. Valentin Dessoy, Mainz
Dr. Gundo Lames, Trier
Frank Reintgen, Köln
Dr. Bernhard Spielberg, Würzburg
Andreas Fritsch, Münster

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