Von einer fernstehenden zu einer sich interessierenden Kirche
Angesichts der gesellschaftlichen Umbrüche wird ein Reformparadigma gebraucht, das den Suchraum auf die nächste Gesellschaft hin öffnet und die hierfür relevanten Umwelten inkludiert.
Wenn akzeptiert ist, dass die Volkskirche vorbei ist und die moderne Gesellschaft stirbt, sind zentrale Prämissen obsolet, die Reformen bisher bestimmt haben:
- Vom Produktions- zum Lernmodus: Reformen dienen nicht der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung einer ehemals erfolgreichen Produktion, sondern allein dazu, Rahmenbedingungen für ein Maximum an Entwicklung und Innovation zu schaffen. Lernen geht vor Produktivität!
- Vom Generalisierungs- zum Differenzierungsmodus: Waren Reformen bisher auf Einheitlichkeit programmiert, setzt zukünftige Kirchenentwicklung auf Deregulierung und Unterschiede. Vielfalt geht vor Standardisierung!
- Vom Deduktion- zum Induktionsmodus: Wurde Kirchenentwicklung bis dato plandeterministisch als linearer Prozess verstanden, bei dem sich die Zukunft aus dem Bisherigen deduktiv ableiten und dann linear herstellen lässt, geht ein Reformparadigma 2.0 von dynamischen Zukunftsbildern, experimentellen Vorgehensweisen, zirkulären Prozessen und sprunghaften Verläufen aus. Experimentieren geht vor Tradition!
- Vom Exklusions- zum Inklusionsmodus: Wurden Grenzziehungen in der Vergangenheit stets vorgängig vollzogen, ist dies in einem missionarischen Paradigma (also wie in der Zeit des frühen Christentums) nur als Traditionsbildung im Nachgang möglich. Inklusion geht vor Exklusion!
Ein kirchlicher Würdenträger hat die Reformansätze in seinem Bistum einmal so zusammengefasst: „Wir denken Kirche von der Tradition (der Vergangenheit), von innen (der Binnenperspektive) und von oben (der Hierarchie) her.“ Er hat damit die relevanten Kontexte im Exklusionsmodus beschrieben. Im Inklusionsmodus gehen Reformen anders:
- Die Getauften sind in Entscheidungsprozesse einbeziehen: Partizipation ist nicht bloß Beiwerk (nice-to-have), sondern Konstitutivum (must-have) und umso wichtiger, je stärker sich die aktuelle Krise zu einer Stakeholderkrise entwickelt.
- Die Adressaten sind aktiv ins Spiel bringen: Es geht nicht in erster Linie um die Erneuerung der Binnenorganisation, sondern um Anschlussfähigkeit jenseits der Kirchenmauern. Die Adressaten entscheiden über die Relevanz von Kirche.
- Kirche ist von der Zukunft her zu denken: Je schneller sich die Umwelten verändern, desto weniger kann das Zukünftige vom Bisherigen abgeleitet werden. Die Annahmen der Stakeholder über die Zukunft werden gebraucht, um valide Entscheidungen treffen zu können.
Veränderte Prämissen und erweiterte Suchbewegung werden zukünftige Prozesse der Kirchenentwicklung grundlegend verändern.1
„Fernstehend – alles eine Frage der Perspektive“, kann man leichthin sagen. Fern steht mir der- oder diejenige, der oder die eine gewisse Distanz zu mir hat, entweder rein äußerlich als in Metern messbare Entfernung oder auch im übertragenen Sinne als Distanz zu meinen Meinungen und Haltungen. Schön und gut, aber auf wessen Perspektive kommt es denn jetzt an?
Wenn Kirchenleute von „Fernstehenden“ sprechen, dann meinen sie die Menschen, die nicht zum inner circle gehören, zu den regelmäßigen Kirchgängern, zu denen, die sich in irgendeiner Weise freiwillig oder ehrenamtlich im Raum der Kirche engagieren. Es sind Menschen, die sich entweder noch nie für Kirche und christlichen Glauben interessiert haben oder sich aufgrund von schlechten Erfahrungen und Enttäuschungen abgewandt haben. Menschen, die zwar interessiert, aber mit Fragen und Zweifeln auf Distanz bleiben oder die nur punktuell Angebote und Dienstleistungen der Institution Kirche wahrnehmen. Nähe und Distanz wird danach immer vom Ausgangspunkt Kirche gemessen.
In Zeiten der Volkskirche war es die Perspektive der Mehrheit in unserer Gesellschaft: Die Anderen sind die Fernstehenden. Mit veränderten Mehrheitsverhältnissen und dem Ende der Volkskirche vollzieht sich so etwas wie eine „kopernikanische Wende“: Die Kirche ist nicht mehr der Nabel der Gesellschaft, sondern wird zu einer Größe unter mehreren unter den Maßgebenden in der Gesellschaft. Die Zahl der überzeugt lebenden Christen ist schon lange in der Minderheit, die Zahl der registrierten Christen sinkt bald unter die 50%-Grenze der Bevölkerung in Deutschland. Damit ist die Kirche auf einmal die Fernstehende!Kirche kann sich nicht mehr als Mittelpunkt betrachten, um den sich alles dreht, deren Werte und Normen in alle Lebens- und gesellschaftlichen Bezüge hineinragen. Sie ist ein „Planet“ unter vielen und hat sich in die allgemeinen Gegebenheiten zu fügen.
Und das lässt sich nicht nur rein zahlenmäßig nachweisen. Auch die Sprache, die Themen, die Strukturen der Kirche sind fern von denen der Menschen und der aktuellen Gesellschaft. Mystik hat gegen Empirie keine Chance. Hierarchie trifft in der Demokratie auf Unverständnis. Weltliche Shows haben dem gottesdienstlichen Schauspiel quantitativ und qualitativ längst den Rang abgelaufen. Die grundgesetzlich abgesicherte Sonderstellung der Kirche wird zunehmend und ganz offiziell in Frage gestellt: beim „Dritten Weg“ im Arbeitsrecht oder bei der Gewährung von Kirchensteuern oder betreff des konfessionellen Religionsunterrichtes, um nur wenige Beispiele zu nennen.
Kirche kann sich nicht mehr als Mittelpunkt betrachten, um den sich alles dreht, deren Werte und Normen in alle Lebens- und gesellschaftlichen Bezüge hineinragen. Sie ist ein „Planet“ unter vielen und hat sich in die allgemeinen Gegebenheiten zu fügen. Darüber können wir klagen und die „guten alten Zeiten“ wieder herbeisehnen. Aber zum einen wissen wir, dass die alten Zeiten gar nicht immer nur gut waren, zum anderen geht es an der gegenwärtigen Wirklichkeit vorbei, die auch ihr Gutes hat.
„Aggiornamento“ war eines der Schlüsselwörter des Zweiten Vatikanischen Konzils. Dabei geht es um ein Annehmen des Hier und Heute als Gegebenheit und um ein Suchen danach, welche Rolle und Bedeutung Kirche im Hier und Heute einnehmen kann, und wie sie in dieser je aktuellen Situation die Frohe Botschaft zum Menschen bringen kann. Und damit sind wir ganz nah an unserem Ursprung: an der Menschwerdung Gottes in Jesus. Inkarnation ist aggiornamento. Gott geht aus sich heraus in die menschliche Wirklichkeit. Er ist nicht mehr der Fernstehende sondern den Menschen nah.
Der Weg einer Kirche, die sich in der Nachfolge dieses menschgewordenen Gottes sieht, ist damit klar. Sie ist heraus-gefordert: heraus aus der Selbstbezogenheit, hin zu den Themen und Bedürfnissen der Menschen; heraus aus dem Sich-selbst-wichtig-Machen, hin zum Sich-selbst-in-den-Dienst-Stellen; heraus aus festgestellten Dogmen und feststellenden Normen, hin zu bewegten und bewegenden Botschaften und Diensten.Auf diesem Hintergrund habe ich die Vision einer Kirche, die sich interessiert, d.h. die dazwischen, mitten unter den Menschen ist, die sich bewegen lässt – zum einen von der Frohen Botschaft des Reiches Gottes und dem damit verbundenen Auftrag, sie zu den Menschen zu bringen; zum anderen von der konkreten Situation, in die sie hineingestellt ist.
Auf diesem Hintergrund habe ich die Vision einer Kirche, die sich interessiert, d.h. die dazwischen, mitten unter den Menschen ist, die sich bewegen lässt – zum einen von der Frohen Botschaft des Reiches Gottes und dem damit verbundenen Auftrag, sie zu den Menschen zu bringen; zum anderen von der konkreten Situation, in die sie hineingestellt ist. Es ist eine Kirche, die in den Dialog tritt, weil sie sich selbst nicht genug ist, die lernen will, weil die Wahrheit viele Perspektiven kennt, die auch den Konflikt nicht scheut, sofern die darin enthaltenen Spannungen Potential für eine gute Zukunft enthalten.
Kurz: Ich träume von einer Kirche, die sich der Menschwerdung Gottes verpflichtet weiß.