22018

Foto: Bryan Goff/Unsplash

Statements

Wilhelm Krautwaschl

Organisationstheorie ist nicht alles, aber immer wieder hilfreich

Angesichts der Tatsache, dass ich als Bischof, genauer gesagt, als österreichischer Bischof eingeladen worden bin, einen kleinen Beitrag – auch zur Würdigung von Valentin Dessoy – zu verfassen, muss ich einige Anmerkungen voranstellen. Denn – so lehrte mich ein guter Freund und Dogmatikprofessor: wichtig ist für vieles der Plan – und Vorbemerkungen machen deutlich, unter welchen Voraussetzung ein Plan umgesetzt werden soll. Wer meint, in diesen Zeilen “Hochwissenschaftliches” aufgelistet zu erhalten, der sollte gleich jetzt zu lesen aufhören. Ich denke assoziativ und hinterlege meine Gedanken vielfach mit Erfahrungen. Die Begrifflichkeit ist daher bei weitem nicht so exakt wie es von einem “Bischof” in üblicher Vorstellungswelt erwartet werden kann und darf.

Österreich ist anders

Die Diözese Graz-Seckau ist territorial in Österreich die größte: auf den rund 16.000 km² gibt es große Dialekt-, Mentalitäts-, Kirchenbindungs-, Konfessionszugehörigkeits-, Bevölkerungsentwicklungs- und andere Unterschiede. Zu meinen, dass es im deutschen Sprachraum überall die “gleiche Denke” gäbe ist schon deswegen eine falsche Annahme, weil es bei uns heißt: “das gleiche Denken”. Und der Unterschied ob man “Topfen” sagt oder “Quark” oder “Käsesahne” ist alles andere als nebensächlich. Es gibt auch große Unterschiede in der Mentalität: wir gehen – so wird uns nachgesagt – in Österreich die Dinge prinzipiell langsamer, um nicht zu sagen “schlampiger” an, auch wenn wir dann – siehe Allergen-Verordnung der EU – die Dinge dann sogar vielleicht perfektionistischer umsetzen wollen, weil wir uns halt den deutschen Nachbarn gegenüber im Hintertreffen fühlen.

Klagen und Jammern hat zum Teil kathartische Wirkung, kann aber auch dazu führen, dass man sich selbst ins Abseits stellt und handlungsunfähig macht.

Auch kirchlich ist das so: die Säkularisation lief im beginnenden 19. Jahrhundert anders ab, die Reformation hat andere Spuren in der kirchlichen Landschaft hinterlassen als im heutigen Deutschland.

Das, was Papst Franziskus nicht müde wird zu betonen, gilt ebenso für den deutschen Sprachraum und genauso für die Diözese Graz-Seckau: das, was Konkretisierung des Glaubens anlangt, gestaltet sich auf einem Kontinent, in einer Region usw. ganz anders aus als in einer anderen Gegend desselben Landes. Ganz abgesehen davon, dass es bei uns halt durchaus Pfarren gibt, die zwar in der Luftlinie “nur” 10 km auseinanderliegen, zwischen denen aber eine Bergkette liegt, die zur Folge hat, dass man 40-50 km zu fahren hat um von einem Ort zum nächsten zu gelangen.

“Es muss sich was ändern” – aber wehe es ändert sich was

Zu “granteln” ist wohl ein Kennzeichen gelernter Österreicher – der “Herr Karl” des Kabarettisten Helmut Qualtinger ist zumindest hierfür legendäres Beispiel und vielleicht auch über die Grenzen der Alpenrepublik hinaus. “Wir jammern auf hohem Niveau” bezeichnete mein Vorgänger im apostolischen diese Lebensart immer wieder. Klar: Klagen und Jammern hat zum Teil kathartische Wirkung, kann aber auch dazu führen, dass man sich selbst ins Abseits stellt und handlungsunfähig macht.

Gott sei Dank gibt es Hilfsmittel, die uns Organisationstheorie usw. an die Seite geben. Gott sei Dank wissen wir aber auch darum, dass diese Mittel zum Zweck sind, der Botschaft des Evangeliums heute in unserer Heimat neu Relevanz zu verleihen.

Als ich einmal in einer Psychologiestunde einer Maturaklasse vor der Reifeprüfung mit den Schülerinnen der Bildungsanstalt für Kindergartenpädagogik, heute Elementarpädagogik darüber debattierte, ob die Kirche mit ihrer Sexualmoral neurotisierend sei, meinte ein- und dieselbe Schülerin zu Beginn der Stunde: “Der Papst soll seinen Mund halten zu diesen Fragen, er kennt sich ja nicht aus”. Und am Ende der Stunde: “Wir sind jung. Wir brauchen Orientierung. Und wir haben niemanden, der sie uns gibt.” Ich antwortete darauf: “Das ist interessant: Auf der einen Seite vernehme ich den Hilferuf nach Klarheit und Orientierung, so unter dem Motto: ‘Bitte sag was, Papst, damit wir wissen, wo es langgeht!’ aber: Wehe dem Zeitpunkt, zu dem er was sagt.”

So ähnlich erlebe ich vielfach – nicht nur in kirchlichen Milieus1 – die Rufe nach Veränderung angesichts der überbordenden Verwaltungsagenden, die einem Pfarrer zugemutet werden, angesichts der größer werdenden Räume in die Priester hinein gesendet werden: Viele schreien und vielfach dieselben kritisieren das, was verändert werden soll. Vielleicht auch deswegen, weil sich die Änderungen anders abgeben und anfühlen, als was man sich selbst vorgestellt hat, weil Verantwortliche anders agieren (müssen) als jene, die nicht notwendigerweise den Überblick (episkope) auf das Ganze haben müssen … Der laut schallende Ruf nach Veränderungen verhallt oft stumm in der Erwartung, dass sich ja nichts ändert, weil ich persönlich mich dann ja auch herausgefordert weiß, mich bewegen, Einstellungen ändern zu müssen usw.

Das “es war immer schon so” – zumindest im letzten Jahr – und die damit verbundenen Schuldzuweisungen des 3. Kapitels des ersten Buches der Bibel, dass “die anderen” die Fehler verursacht hätten, ist fast eingegraben in die erbsündliche Realität des Menschen, damit er sicher sein kann.

Mitte und Peripherie

Die Auseinandersetzungen, denen sich Papst Franziskus gegenüber weiß, könnten meines Erachtens vielfach auch auf einem solchen Hintergrund betrachtet werden: “Solange er das sagt, was ich mir denke, ist er in Ordnung.” In einer immer komplexer werdenden Gesellschaft mit ihren Veränderungen ist es meines Erachtens eigentlich nachvollziehbar, dass das eigene Ich und damit die eigene Idee leicht zum “non plus ultra” aufsteigt. Die Gefahr ist tatsächlich größer werdend, dass mehr und mehr Menschen von sich meinen, der Nabel der Welt zu sein, jener archimedische Punkt, um den sich alles dreht und von dem aus sich alles bewegen lässt. Denn: an diesem Ort stehend muss ich selbst mich ja nicht bewegen. Aber – und das sagte ja auch schon der Papst: erst von den (existentiellen) Peripherien aus wird das, was wir “Mitte” nennen mit einem neuen Blick betrachtet.

Für einen aktiven Anti-Sportler wie mich ist diese Aufforderung unseres Papstes nicht nur Gehirntraining, sondern sollte tägliche Herausforderung sein: denn das Evangelium, das uns Jesus verkündet, ist in bäuerlicher Umgebung mit anderen Lebenskonsequenzen verbunden als in städtischem Milieu, in dem keiner den Nachbarn kennt und weit mehr sich mit jenen verbunden weiß, deren “Freund” er ist in einem sogenannten “sozialen Netzwerk”.

Der Analysen haben wir genug

Eine letzte Vorbemerkung – und die Hälfte der Zeichenhöchstzahl für meinen Beitrag ist damit schon fast erreicht: mich hat schon als Student die Analysiererei “genervt”. Denn: was helfen mir die genauesten Untersuchungen, wenn ich dann keinerlei Anwendung vorgeschlagen erhalte, aus der deutlich wird, wie es gehen könnte. Freilich kann gesagt werden: das ist nicht die Aufgabe (pastoraltheologischer) Wissenschaft, aber bloß zu konstatieren, dass vieles anders geworden ist, hilft mir in meinem Dienst als Priester und auch als Bischof eigentlich recht wenig – das merke ich ohnedies, auch wenn ich die Prozentzahlen nicht exakt weiß. Hinzu kommt dann oft, dass der Komplexität heutigen Denkens mit einfachen Antworten zu begegnen versucht oder aber einem eingetrichtert wird, dass ohnedies alles leicht wäre, wenn nur die Weihezulassungskriterien verändert würden, also die anderen sich geändert hätten.

Ich jedenfalls kann mich in meinem Dienst und damit in meiner Verantwortung nicht davor drücken, unter den gegebenen Umständen denken zu müssen bzw. zu dürfen, ohne dass mit gleich Rückständigkeit bescheinigt wird.

Ich jedenfalls kann mich in meinem Dienst und damit in meiner Verantwortung nicht davor drücken, unter den gegebenen Umständen denken zu müssen bzw. zu dürfen, ohne dass mit gleich Rückständigkeit bescheinigt wird. Ich muss mich dabei aber auch “ausstrecken nach dem, was kommen wird” und kann also auch nicht bloß fixierend-bewahrend einhergehen. Wie ich mich auch wende: es passt sicher entweder den einen oder den anderen nicht – und dann wird “aus vollen Rohren” geschossen, mal von denen die üblicher Weise “progressiv” bzw. “links” sich titulieren lassen – “Solange sich nichts an der Ämterfrage ändert, sind wir nicht bereit, weiterzudenken” -, mal von denen, die sich im fein zurecht gezimmerten Kästchen des “konservativen”, “rechten” Flügels kirchlicher Heimat ergehen – “Du bist halt auch einer der Bischöfe, für die das geweihte Amt nicht notwendig erscheint.”

Inhalte

Viel Platz für Inhaltliches bleibt nun wirklich nicht mehr – aber auf den eben benannten Hintergründen müsste ich eigentlich nur mehr markante Sätze von V. Dessoy hinstellen und die LeserInnen einladen, diese mit den Augen zu lesen, die ich eben vorgelegt habe.

“Die zentrale Herausforderung für die Zukunft besteht darin, die Frohe Botschaft für die Menschen heute erfahrbar zu machen und so zur Sprache zu bringen, dass sie Plausibilität und Relevanz gewinnen kann, gerade auch bei denen, die sich von der Kirche abgewendet haben oder gar nicht mehr christlich sozialisiert sind. Das ist nicht trivial und passiert nicht von alleine.”2

“Kirchenreformen, die dem österliche Sendungsauftrag Mt 28,19 und den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gerecht werden, erfordern ein Reformparadigma, das langfristig-strategisch, offensiv-missionarisch und experimentell-wirkungsorientiert angelegt ist. Der qualitative Sprung: Kirche muss (neu) lernen, sich von der Zukunft her zu denken, Veränderung und Entwicklung als zentrale und bleibende Aufgabe zu verstehen. Dreh- und Angelpunkt ist die Frage, wie die Menschen heute für die Frohe Botschaft und für die Mitarbeit am Reich Gottes gewonnen werden können.”3

Ich hoffe aber auch, dass nicht “Strukturveränderung” mit “Kirchenentwicklung” verwechselt wird

In unserer Diözese haben wir in den letzten Jahren aus einer Perspektive, die in diesen beiden Zitaten grundgelegt ist, begonnen uns neu zu orientieren. Systematisch – und damit alles andere als üblich, denn auch ich bin mich vorher ergangen im “Man sollte, man müsste …” oder konkret: “Die Diözesanleitung sollte, müsste …” um damit auch auszudrücken: “Ich [!] weiß es ja, aber man fragt mich ja nicht …”. Davor konnte ich mich als Verantwortungsträger nicht mehr drücken: ich musste mir all das, was ich dem “neuen Bischof” unbedingt sagen wollte selbst sagen … Ich habe viele Erfahrungen machen dürfen, machen müssen. Dafür – und auch für die Fehltritte in diesen Prozessen – bin ich dankbar. Als jemand, der eine Zeitlang Pfarrer, aber auch in klassischen Aufgaben der territorialen Seelsorge tätig war, habe ich so manches, was mir begegnet ist – Erfahrungen und An-Fragen – ernst genommen und begonnen, diese aus dem Geist des immer “neuen Evangeliums”, in das wir vom Geist Gottes eingeführt werden, zu bedenken und anzupassen. Und aus der Frage der Dechanten4, was denn angesichts der vielen Veränderungen in kirchlicher Verwaltung, durch IT-Vernetzung etc. nun ihre spezifische Aufgabe sei, ergab sich Schritt um Schritt letztlich die Notwendigkeit in ein Nachdenken über die Art und Weise einzutreten, wie wir uns als Kirche im Heute unserer – steirischen – Gesellschaft verstehen. Der sogenannte “Weg2018” hin zum 800. Geburtstag unserer Diözese im heurigen Jahr war als Vehikel hierfür mir schon in die Wege meines Bischofsamtes gelegt. Ich glaube jetzt – gegen Ende der Konzeptionsphase – sagen zu können: trotz des Affentempos, das wir uns auferlegt haben – manche Prozesse wurden zwar kleinteilig schon vorher begonnen, aber im Februar 2017 allesamt in eine Systematik gebracht – sind Straßen neu angelegt worden und harren darauf, befahren und begangen zu werden. Wir hoffen, dass das Gebet und die Begleitung vieler die Weichenstellungen, die vorgenommen wurden, als richtige für uns im Heute erkennen lassen. Ich hoffe aber auch, dass nicht “Strukturveränderung” mit “Kirchenentwicklung” verwechselt wird: die eigentlich notwendige Mentalitätsänderung oder soll ich sagen “Bekehrung” zum Evangelium hin ist nicht nur Dauerauftrag, sondern auch eine enorme Anstrengung für eine wohlstandsgesättigte jahrhundertealte und traditionsgeschwängerte Gestalt von Kirche, die uns viel Segen die Zeit herauf gebracht hat. Dies anzugehen als Zukunftsperspektive, die anziehend wirkt, gerade als Bischof, der sich herausgefordert weiß den Seinen erstmals seit den Schrecknissen des Zweiten Weltkriegs sagen zu müssen: “Es wird nicht mehr nur ‘mehr’ werden, wir werden auch reduzieren müssen!”, ist einer extremen Gratwanderung zu vergleichen, für die es keine Ausbildung gibt.

Organisationstheorie als Hilfe

Kirche ist nicht einfach nur Organisation. Kirche ist eine gottmenschliche Wirklichkeit. Gerade aber weil sie aus Menschen gebildet wird, “funktioniert” diese Seite eben auch mit menschlichen Prinzipien. Das ist nicht zu leugnen, muss aber in entsprechender Weise immer wieder allen in Erinnerung gerufen werden. Denn die Ausflüchte sich davonzustehlen aus konkreten Umsetzungsschritten “weil wir eben Kirche sind und daher nicht einfach einer unter Menschen üblichen Institution zu vergleichen” sind mannigfaltige und ähnlich gefährlich wie zu meinen, dass die eine geoffenbarte Wahrheit auf ewige Zeiten sich inmitten der Menschheit zu erweisen hätte und daher alles wohlbestallt und für alle Zeiten wohlgefügt ist. Es ist aber tatsächlich auch möglich “in den anderen Straßengraben” zu fallen und zu meinen, dass mit besserer Organisation und besserer Struktur, besseren Abläufen und Prozessbeschreibungen Kirche zurechtgezimmert und nach heutigen Vorstellungen neu positioniert werden könnte. – In den vergangenen Monaten habe ich mich daher immer wieder auch als jemand erlebt, der es beiden Extrempositionen nicht recht machen wollte und auch nicht konnte. So wie sich das Wort Gottes in eine konkrete menschliche Situation inkarnierte, damals im Heiligen Land Fleisch wurde, so können und dürfen wir im Vertrauen auf den Beistand des Heiligen Geistes heute leben mit einem, der lebt. Gott sei Dank gibt es hierbei Hilfsmittel, die uns Organisationstheorie usw. an die Seite geben. Gott sei Dank wissen wir aber auch darum, dass diese Mittel zum Zweck sind, der Botschaft des Evangeliums heute in unserer Heimat neu Relevanz zu verleihen.

  1. Ich bitte meine Begrifflichkeit jenseits von Fachverständnissen zu verstehen. Beim Begriff “kirchliche Milieus” habe ich keineswegs alle Sinus-Milieu-Studien im Hinterkopf und alle möglichen soziologischen Untersuchungen, sondern verwende den Begriff “einfach” in mehrerlei Sinn des Wortes.
  2. Kirche braucht Profis – aber keine Gemeindereferenten. Skizze einer neuen Rollenarchitektur, in: das magazin 4/2017
  3. Dessoy, V.: Kirche könnte gehen …, in: C. Hennecke, T. Tewes, G. Viecens (Hrsg.), Kirche geht … Die Dynamik lokaler Kirchenentwicklung, Würzburg 2013, 23-42.”3
  4. Bekanntlich ist das Einzige, was Deutsche und Österreicher trennt die gemeinsame Sprache: Dechanten sind Dekane.

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